Leseprobe iFamZ | Linde Verlag

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Beratung | Unterbringung | Rechtsfürsorge

SCHWERPUNKT

Zehn Jahre Familien- und Jugendgerichtshilfe

Hochkonflikthafte Eltern

Auswirkungen von Hochkonflikthaftigkeit auf das Erleben von Kindern

Möglichkeiten, Chancen und Grenzen der Besuchsmittlung

Einbindung von Kindern in die Befassung der Familiengerichtshilfe

Kindschaftsrecht

Neuerungen nach Erfüllung der Mitteilungspflicht nach § 21 UVG?

Erwachsenenschutzrecht

Vier Jahre Erwachsenenschutzrecht – Stimmungsbilder aus der Praxis

Erleichterungen für Seniorenkredite

UbG/HeimAufG/Medizinrecht

Freiheitsbeschränkung durch Medikation?

Ehe- und Partnerschaftsrecht

Überwachung im Zusammenhang mit einem vermuteten Ehebruch

Erbrecht

Über den frei werdenden Anteil aus der Minderung des Pflichtteils

Internationale Aspekte

Vollstreckbarerklärung eines weißrussischen Unterhaltstitels

Peter Barth | Judit Barth-Richtarz (†) | Susanne Beck | Astrid Deixler-Hübner | Robert Fucik Michael Ganner | Christian Kopetzki | Edeltraud Lachmayer | Matthias Neumayr Felicitas Parapatits | Ulrich Pesendorfer | Martin Schauer | Patrick Schweda 18. Jahrgang / Juni 2023 / Nr. 3

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Abschied von Judit Barth-Richtarz

Nicht immer gehen die Editorials leicht von der Hand. Heute steht die Redaktion allerdings vor der schlimmsten und auch schwierigsten Situation, vor der ein Vorwort stehen kann. Wir müssen von einer unserer Fachredakteurinnen endgültig Abschied nehmen.

Judit Barth-Richtarz war seit Beginn dieser Zeitschrift die Fachredakteurin für jenen Teil, der das ganz Besondere an dieser Fachzeitschrift ausmacht: die interdisziplinären Beiträge. Sie war dazu als Erziehungswissenschaftlerin, Heilpädagogin in einem Ambulatorium für Kinder mit Entwicklungsverzögerungen, Leiterin des Studiengangs Kinder- und Familienzentrierte Soziale Arbeit der Fachhochschule Campus Wien, psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberaterin mit Schwerpunkt in der Beratung von Scheidungseltern, RAINBOWS-Gruppenleiterin für Kinder in Krisen, Elternberaterin nach § 107 AußStrG, Studienautorin zur gemeinsamen Obsorge, Supervisorin für Kinderbeistände und in der Aus- und Fortbildung für die Kinder- und Jugendhilfe sowie Familiengerichtshilfe Tätige wie keine andere geeignet.

Judit Barth-Richtarz ist nicht mehr. Und es erscheint fast frivol, davon zu reden, welche Lücke sie in dieser Zeitschrift hinterlassen wird, angesichts der Lücke, die sie in ihrer Familie hinterlässt, die nun nur noch aus Vater und zwei Kindern besteht. Ihnen gilt unser Mitgefühl, ihnen wünschen wir viel Kraft bei der unvermeidlichen Neuausrichtung. Mit dieser immensen Aufgabe ist die Situation für die iFamZ nicht zu vergleichen. Wir werden unsere bewältigen (zumal die Serie von Beiträgen zum Jubiläum der Familiengerichtshilfe, die sie alle noch auf den Weg gebracht hat, noch einige Hefte umfassen wird), wie auch die Hinterbliebenen nach unseren Hoffnungen ihre Lage meistern werden müssen und werden. Dazu wollen an dieser Stelle auch Redaktion und Verlag ihr Mitgefühl und ihre besten Wünsche übermitteln. Für das nächste Heft dürfen wir auch schon einen ausführlichen Nachruf ihres akademischen Lehrers Univ.-Doz. Dr. Helmuth Figdor in Aussicht stellen –eine ebenso hochkarätige wie verdiente Würdigung.

Bleibt für das Vorwort „business as usual“: Was findet sich im Heft? Zur Mitteilungspflicht des KJHT im Unterhaltsvorschussrecht zeigt Neuhauser, iFamZ 2023, 128, die Grenzen der Mitwirkungspflicht und des Neuerungsverbots auf, Weitzenböck, iFamZ 2023 143, setzt seine Stimmungsbilder aus der Praxis anlässlich vier Jahren Erwachsenenschutzrecht fort, und Wild, iFamZ 2023, 149, stellt die auf Beseitigung von Altersdiskriminierungen abstellenden Erleichterungen für Seniorenkredite vor. Schweda, iFamZ 2023, 163, befasst sich mit dem rechtlichen Schicksal der Pflichtteile der Nachkommen eines Pflichtteilsberechtigten nach dessen berechtigter Pflichtteilsminderung und im noch von Judit Barth-Richtarz initiierten Projekt „Zehn Jahre Familien- und Jugendgerichtshilfe“ finden sich gleich vier Beiträge (Loidl zu hochkonflikthaften Eltern, iFamZ 2023, 173; Gruber/Miesenböck zu den Auswirkungen von Hochkonflikthaftigkeit auf das Erleben von Kindern, iFamZ 2023, 176; Weiss zu Möglichkeiten und Grenzen der Besuchsmittlung, iFamZ 2023, 180, und Zierer zur Einbindung von Kindern in die Befassung der Familiengerichtshilfe, iFamZ 2023, 182).

Aus der Fülle der Rsp sind hervorzuheben: Entscheidungen des VfGH, der in iFamZ 2023/83 keine verfassungsmäßigen Bedenken gegen die Genehmigungsbedürftigkeit der Rechtshandlungen Betroffener hegt, wohl aber die zwingende Reihenfolge der Obsorgebetrauung in §178 ABGB aufhob (iFamZ 2023/90 mit Reparaturvorschlägen dazu in Susanne Becks Anmerkungen), des deutschen BVerfG zu iFamZ 2023/84, das eine ausgewogenere Sanktion für Kinderehen verlangt, als sie die deutsche Rechtslage bietet, des EuGH zu iFamZ 2023/125, der den Zuständigkeitsverbleib nach rechtmäßigem Umzug in einen anderen Mitgliedstaat auf Anfrage eines luxemburgischen Gerichts – auch das ist grenzüberschreitend – klärt, und des OGH, etwa zur Anhörung recht junger Kinder (iFamZ 2023/92), zu (nicht gewährter) pflegschaftsgerichtlicher Genehmigung für ein Rechtsgeschäft, bei dem eine Verminderung des Kindesvermögens nicht ausgeschlossen ist (iFamZ 2023/94), zur (ausnahmsweisen) Zulässigkeit einer Übertragung des Pflegschaftsaktes nach Erhebungen (iFamZ 2023/96), zur Suche nach geeigneten Erwachsenenvertretern (iFamZ 2023/104), zu einer (unzulässigen) Überwachung des Hörner fürchtenden Ehemanns weit über die Beauftragung eines Detektivs hinaus (iFamZ 2023/114), zur „Aufteilung“ des Familienhundes (iFamZ 2023/111) oder zu zwei grenzüberschreitenden Fällen, zufälligerweise beide mit Weißrussland (iFamZ 2023/126, 127) – Judikatur quer durch die Sparten, die die iFamZ abdeckt!

Feedback freut Herausgeber und Redakteure immer, selbst wenn es einmal ein kritisches ist. Von berufener Seite (dem Vorsitzenden des Fachsenats) wurden wir darauf hingewiesen, dass der Beitrag von Fritz/Mayerhofer, Kindesrückführung –Die Aufgaben des Sachverständigen, iFamZ 2023, 116, nicht dahin verstanden werden dürfe, dass häufiger Gutachten in den Eilverfahren, die nach dem einschlägigen Rechtssatz (RIS-Justiz RS0074532, beginnend mit 1 Ob 550/92, zuletzt 6 Ob 230/11h, 6 Ob 13/23i uva) „unter weitgehender Ausblendung von Sach- und Rechtsfragen zu führen“ sind, eingeholt werden sollten. Erstrichter sind zwar in ihrer Verfahrensgestaltung frei von Vorauskontrolle, doch ist das Rückführungsverfahren nicht eben dazu bestimmt, Gutachter zu bestellen. Wird allerdings ein SV herangezogen, dann tut es ihm gut, zu wissen, was er im Rückführungsverfahren allenfalls sinnvoll beitragen kann und was in diesem Verfahren kein Thema sein darf. Unter dieser Prämisse bleibt die Redaktion dabei, dass der Beitrag hilfreich ist.

Und dabei, dass wir uns weiterhin bemühen, viele hilfreiche Beiträge zu präsentieren.

iFamZ-Redaktion und Linde Verlag

EDITORIAL Juni 2023 125

Grundrechte und Familie

Rechtsprechung

● Gerichtliche Genehmigungspflicht von wichtigen Angelegenheiten in der Personensorge –keine verfassungsrechtlichen Bedenken128

● Mangelnde Regelungen zu Folgen und Fortführungsmöglichkeiten von nach inländischem Recht unwirksamen Auslandskinderehen128

Kindschaftsrecht Neuerungen nach Erfüllung der Mitteilungspflicht nach § 21 UVG? Franz Neuhauser 128 Rechtsprechung

● Unterlassene Gewinnentnahme 129

● Keine Aufrechnung mit Überzahlung im Unterhaltsverfahren129

● Mischunterhalt (Kind in Österreich, Vater in Dänemark)130

● Ersatz von Kosten der vollen Erziehung131

● Neue Regelbedarfssätze 131

● Verfassungswidrige Obsorgebestimmung des ABGB132

● Alleinobsorge nach Auszug eines Elternteils aus der gemeinsamen Wohnung136

● Verfahrensrechtliches zur Entscheidung über Obsorge und Betreuung136

● Obsorgeentziehung zur Verhaltenssteuerung bei Eltern?138

● Pflegschaftsgerichtliche Genehmigung eines Schenkungsvertrags zwischen dem Vater und den durch die Mutter vertretenen Kindern?138

● Abholung des Kindes für den Urlaub bei grenzüberschreitendem Kontaktrecht140

● Zuständigkeitsübertragung nach bereits durchgeführten Vernehmungen?141

Steuern, Beihilfen und Sozialleistungen

● Antrag auf Änderung der Anspruchsdauer für Kinderbetreuungsgeld142

● Pflegekarenz schädlich für einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld142

● Nachweis von Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen142

● Uneinigkeit zwischen dem Betroffenen und dem Erwachsenenvertreter über die Anfechtung einer Schenkung auf den Todesfall

● Beschluss auf Einleitung des Erwachsenenschutzverfahrens151

● Personenidentität zwischen dem Rechtsbeistand im Verfahren und dem einstweiligen Vertreter151

● Rechtliches Gehör der Angehörigen der betroffenen Person151

● Praktische Schwierigkeiten bei der Suche nach geeigneten Erwachsenenvertretern rechtfertigen keine Einschränkung des Ablehnungsrechts von Rechtsanwälten151

● Kein Ablehnungsrecht bei „Stopp“-Vermerk auf der Liste der Wiener Rechtsanwaltskammer für besonders qualifiziert eingetragene Rechtsanwälte153

● Grenzen der Berücksichtigung des Wunsches der vertretenen Person bei Einräumung eines Veräußerungs- und Belastungsverbots154

● Zustellung der pflegschaftsgerichtlichen Genehmigung erst nach dem Tod des Betroffenen –Beschluss wirkungslos

UbG/HeimAufG/Medizinrecht

Rechtsprechung

● Keine nachträgliche gerichtliche Überprüfung einer nicht durchgeführten besonderen Heilbehandlung

155

155

● Keine Freiheitsbeschränkung durch Medikation, wenn die sedierende Wirkung nicht eintritt?156

● Unmittelbarkeitsgrundsatz und Verfahrensergänzung vor dem Rekursgericht157

Ehe- und Partnerschaftsrecht

Rechtsprechung

● Nacheheliche Aufteilung – Zuweisung eines Haustieres157

● Nacheheliche Aufteilung 60:40 zugunsten der Frau (Doppelbelastung)158

126 INHALT Juni 2023
Rechtsprechung
Erwachsenenschutzrecht Vier Jahre Erwachsenenschutzrecht – Stimmungsbilder aus der Praxis (Teil II) Johann Weitzenböck 143 Erleichterungen für Seniorenkredite Wolfgang Wild 149
Rechtsprechung
151

● Ehegattenunterhalt:SteuergutschriftalsTeilderUnterhaltsbemessungsgrundlage–Anrechnung vonfiktivenMietzahlungenalsNaturalunterhalt159

● ÜberwachungimZusammenhangmiteinemvermutetenEhebruch160

● NachehelicheAufteilung:ÜbertragungvonLiegenschaftseigentum162

Erbrecht

Über den frei werdenden Anteil aus der Minderung des Pflichtteils eines noch lebenden Pflichtteilsberechtigten – Aus der Erbrechtspraxis des Dr. S. PatrickSchweda163

Rechtsprechung

● SchenkungaussittlicherPflicht164

● HeilungdesFormmangelseinesgerichtlichenTestaments165

● GemischteSchenkungenimHinzu-undAnrechnungsrecht165

● Keine(Nachtrags-)AbhandlungüberhalbenMindestanteil167

● VerjährungdesPflegevermächtnisses168

● KeineHeilungdesformungültigenTestamentseinesBetroffenen168

● VerjährungdesAnspruchsgegendenGeschenknehmernach§789ABGB169

● KeineRekurslegitimationvonPflichtteilsberechtigtenbeiBestellungeinesPosteritätskurators170

● KostenersatzfürPflegeleistungen170

Internationale Aspekte

Rechtsprechung

● BeginnderDreimonatsfristmitUmzugdesKindes;ZuständigkeitstransfernachUmzug170

● VollstreckbarerklärungeinesweißrussischenUnterhaltstitels–keineOrdre-public-Widrigkeit einerÜberalimentierung;keineVollstreckungeiner„Geldstrafe“nachdemHUÜ170

● AnpassungeinesBruchteilstitels172

Interdisziplinärer Austausch

Schwerpunkt: Zehn Jahre Familien- und Jugendgerichtshilfe

Hochkonflikthafte Eltern

AlexandraLoidl173

Die Auswirkungen von Hochkonflikthaftigkeit auf das Erleben von Kindern

MichaelaGruber/ElkeMiesenböck176

Möglichkeiten, Chancen und Grenzen der Besuchsmittlung

ClaudiaWeiss180

Die Einbindung von Kindern in die Befassung der Familiengerichtshilfe

AstridZierer182

IMPRESSUM: Interdisziplinäre Zeitschrift für Familienrecht

Herausgeber- und Redaktionsteam

LStA Dr. Peter Barth (Chefredakteur; Aktuelles), Dr. phil. Judit Barth-Richtarz † (Interdisziplinäres), Mag. Susanne Beck (Rechtsprechung Obsorge- und Kontaktrecht, Abstammungs- und Adoptionsrecht), Univ.-Prof. Dr. Astrid Deixler-Hübner (Ehe- und Partnerschaftsrecht; Gewaltschutz; Verfahrensrecht), LStA Dr. Robert Fucik (Internationales Familienrecht; Verfahrensrecht), Univ.-Prof. Dr. Michael Ganner (UbG/HeimAufG/Medizinrecht), Univ.-Prof. DDr. Christian Kopetzki (Grundrechte), Dr. Edeltraud Lachmayer (Steuern, Beihilfen und Sozialleistungen), Vizepräs. Hon.-Prof. Dr. Matthias Neumayr (Unterhaltsrecht, Unterhaltsvorschussrecht; Sozialleistungen), Dr. Felicitas Parapatits (Rechtsprechung Erwachsenenschutzrecht), Dr. Ulrich Pesendorfer (Kindschaftsrecht; Rechtsprechung Grundrechte), Univ.-Prof. Dr. Martin Schauer (Erwachsenenschutzrecht, Heimvertrags- und Altenrecht), Dr. Patrick Schweda (Erbrecht)

Beirat: Dr. Martin Adensamer, DGKS Mag. Dr. Gertrude Allmer, Mag. Dr. Christian Bürger, Univ.-Prof. Dr. Susanne Ferrari, Univ.-Doz. Dr. Helmuth Figdor, Univ.-Prof. Dr. Max Friedrich, Univ.-Prof. Dr. Rudolf Forster, Dr. Marion Gebhart, Dr. Werner Grabher, Dr. Wolfgang Hoke, Dr. Andrea Holz-Dahrenstaedt, Mag. Susanne Jaquemar, RA Dr. Christine Kolbitsch, Dr. Oskar Maleczky, Mag. Franz Mauthner, Univ.-Prof. Dr. Walter J. Pfeil, Univ.-Doz. Dr. Arno Pilgram, LStA Dr. Johannes Stabentheiner, Mag. Martina Staffe, Dr. Markus Vašek, Dr. Michael Stormann, Dr. Werner Vogt, DSA Mag. Dr. Monika Vyslouzil, Mag. Johannes Wallner, Univ.-Prof. DDr. Lieselotte Wilk

Medieninhaber, Herausgeber und Medienunternehmen: Linde Verlag Ges.m.b.H., A-1210 Wien, Scheydgasse 24; Telefon: 01/24 630 Serie, Telefax: 01/24 630-23 DW, E-Mail: office@lindeverlag.at, http://www.lindeverlag.at

DVR 0002356. Rechtsform der Gesellschaft: Ges.m.b.H., Sitz: Wien

Firmenbuchnummer: 102235x

Firmenbuchgericht: Handelsgericht Wien, ARA-Lizenz-Nr.: 3991, ATU 14910701

Gesellschafter: Anna Jentzsch (35 %) und Jentzsch Holding GmbH (65 %)

Geschäftsführer: Mag. Klaus Kornherr, Benjamin Jentzsch

Erscheinungsweise und Bezugspreise

Erscheint sechsmal jährlich.

Jahresabonnement 2023 (6 Hefte) zum Preis von EUR 142,50 (Print) bzw. EUR 163,– (Print & Digital) – jeweils inkl. MwSt., exkl. Versandspesen).

Einzelheft 2023: EUR 39,30 (inkl. MwSt., exkl. Versandspesen).

Abbestellungen sind nur zum Ende eines Jahrganges möglich und müssen bis spätestens 30. November schriftlich erfolgen. Unterbleibt die Abbestellung, so läuft das Abonnement automatisch ein Jahr und zu den jeweils gültigen Abopreisen weiter. Preisänderungen und Irrtum vorbehalten.

Ausgabe 3/2023

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Personenbezogene Bezeichnungen

Das iFamZ-Team ist in den Beiträgen um eine möglichst ausgewogene Verwendung der weiblichen und männlichen Form bemüht. Anzeigenverkauf und -beratung

Gabriele Hladik, Tel.: 01/24 630-719

E-Mail: gabriele.hladik@lindeverlag.at

Sonja Grobauer, Tel.: 0664/78733376

E-Mail: sonja.grobauer@lindeverlag.at

P.b.b. Verlagspostamt 1210 Wien – Erscheinungsort Wien

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Druckerei Hans Jentzsch & Co GmbH, 1210 Wien, Scheydgasse 31, Tel.: 01/278 42 16-0

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Mehrfach umweltzertifiziert (www.jentzsch.at)

INHALT Juni 2023 127

RECHTSPRECHUNG Grundrechte und Familie Ulrich Pesendorfer

§ 250 Abs 3 ABGB; Art 2 StGG; Art 7 B-VG

Gerichtliche Genehmigungspflicht von wichtigen Angelegenheiten in der Personensorge – keine verfassungsrechtlichen Bedenken

VfGH 27. 2. 2023, G 336/2022

iFamZ 2023/83

Die Antragstellerin behauptet einen Verstoß des § 250 Abs 3 ABGB gegen den Gleichheitsgrundsatz gem Art 2 StGG und Art 7 B-VG: Es sei gleichheitswidrig, dass das Gesetz in wichtigen Angelegenheiten der Personensorge zusätzlich zur Zustimmung des Erwachsenenvertreters eine Genehmigung durch das Pflegschaftsgericht verlange. Dies gelte insb im Hinblick auf Anträge auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft, wenn dadurch die Staatenlosigkeit des Antragstellers beseitigt werden könne.

Vor dem Hintergrund der stRsp des VfGH (vgl VfSlg 4730/1964, 11.492/1987, 18.154/2007) lässt das Vorbringen der Antragstellerin die behauptete Verfassungswidrigkeit als so wenig wahrscheinlich erkennen, dass der Antrag keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Dem Gesetzgeber ist nicht entgegenzutreten, wenn er – zum Schutz der vertretenen Person – in wichtigen Angelegenheiten der Personensorge eine Genehmigung durch das Pflegschaftsgericht vorsieht, sofern nicht Gefahr im Verzug vorliegt.

Art 13 Abs 3 Nr 1 dEGBGB; Art 6 Abs 1 dGG iFamZ 2023/84 Mangelnde Regelungen zu Folgen und Fortführungsmöglichkeiten von nach inländischem Recht unwirksamen Auslandskinderehen

BVerfG 1. 2. 2023 1 BvL 7/18

Das deutsche Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen ist mangels Regelungen zu den Folgen und Fortführungsmöglichkeiten von nach inländischem Recht unwirksamen Auslandskinderehen mit dem dGG unvereinbar.

Art 13 Abs 3 Nr 1 dEGBGB idF Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen vom 17. 7. 2017 ist verfassungswidrig, weil Regelungen über die Folgen der Unwirksamkeit einer hierunter fallenden Minderjährigenehe, etwa über Unterhaltsansprüche, und über eine Möglichkeit fehlen, die betroffene Auslandsehe nach Erreichen der Volljährigkeit auch nach deutschem Recht als wirksame Ehe führen zu können.

Art 13 Abs 3 Nr 1 dEGBGB lautet: „Unterliegt die Ehemündigkeit eines Verlobten (…) ausländischem Recht, ist die Ehe nach deutschem Recht unwirksam, wenn 1. der Verlobte im Zeitpunkt der Eheschließung das 16. Lebensjahr nicht vollendet hatte (…).“

Die Vorschrift bleibt zunächst mit gerichtlich festgelegten Maßgaben zu Unterhaltsansprüchen in Kraft. Dem Gesetzgeber wurde aufgegeben, bis spätestens 30. 6. 2024 eine verfassungskonforme Regelung zu schaffen.

Neuerungen nach Erfüllung der Mitteilungspflicht nach § 21 UVG?

FRANZ NEUHAUSER*

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, ab wann ein amtswegig vom Gericht eingeleitetes Verfahren zur Herabsetzung oder Einstellung der Unterhaltsvorschüsse nach Erfüllung der Mitteilungspflicht nach § 21 UVG vorliegt. Eine nähere Auseinandersetzung mit dieser Frage ist deswegen angezeigt, weil gelegentlich von zweitinstanzlichen Gerichten vertreten wird, dass das durch den KJHT vertretene Kind, das Rekurs gegen den Beschluss über die Herabsetzung oder Einstellung der Unterhaltsvorschüsse erhebt, bereits in der Mitteilung nach § 21 UVG die im Rekurs erhobenen Einwendungen vorbringen hätte müssen und unzulässige Neuerungen vorliegen würden.

I.Grundlegendes

* Mit der Erstattung einer Mitteilung über dem KJHT bekannt gewordene Tatsachen erfüllt der KJHT (nicht etwa das Kind!) die ihn nach § 21 UVG treffende Mitteilungspflicht. Eine derartige Mitteilung des KJHT nach § 21 UVG ist kein verfahrensleitender Antrag (iSd 8 AußStrG), schon gar nicht ein solcher des vorschussberechtigten Kindes. Die bloße Mitteilung des KJHT nach § 21 UVG an das Gericht bewirkt also nicht, dass ein Verfahren anhängig ist.

Ob das Gericht allenfalls durch die Mitteilung nach § 21 UVG Anlass findet, amtswegig (!) ein Verfahren zur Herabsetzung oder Einstellung der gewährten Unterhaltsvorschüsse einzuleiten, ist weder dem Kind selbst (als Partei eines der-

artigen [möglichen künftigen] Verfahrens) noch dem mitteilungspflichtigen KJHT zum Zeitpunkt der Erstattung der Mitteilung bekannt. Nach stRsp haben die mitteilungspflichtigen Personen die möglichen konkreten Auswirkungen der mitgeteilten Tatsachen auf das Vorgehen des Gerichts nicht zu prüfen. 1

In Verfahren, die von Amts wegen eingeleitet werden, hat das Gericht den Gegenstand des Verfahrens spätestens in seiner ersten Verfahrenshandlung gegenüber der Partei deutlich zu bezeichnen (§ 8 Abs 3 AußStrG). Dies findet in der Praxis iZm Verfahren zur Herabsetzung oder Einstellung von Unterhaltsvorschüssen kaum bis nie statt.

Vor einer derartigen deutlichen – nach außen in Erscheinung tretenden – Bekanntgabe durch das Gericht an die Partei, dass das Gericht ein Verfahren amtswegig einleitet, wodurch die Parteien in die Lage versetzt werden sollen,

GRUNDRECHTE UND FAMILIE Juni 2023 128
*OAR Prof. Franz Neuhauser ist Spezialist der Stadt Wien, MA 11, für Fragen des Unterhalts- und Unterhaltsvorschussrechts sowie Leiter des Konkurs-Teams der MA 11, dessen Aufgabe die Sicherung und Durchsetzung von Unterhaltsforderungen gegen insolvente Schuldner ist. 1 Statt vieler zB LG Linz und LGZ Wien EFSlg 168.767.

ihre Parteienrechte wahrzunehmen,2 besteht für die Parteien kein Anlass und auch keine – verfahrensrechtliche –Verpflichtung, Vorbringen (zB zu einem allfälligen ausbildungsbedingten Mehraufwand des Kindes) zu erstatten.

Geschieht keine deutliche Bekanntgabe durch das Gericht an die Partei, dass das Gericht ein Verfahren amtswegig einleitet, und erfährt die Partei (nach für sie nicht wahrnehmbaren Erhebungen des Gerichts) erst durch eine vom Gericht amtswegig vorgenommene Entscheidung (zB die amtswegige Herabsetzung oder Einstellung der Unterhaltsvorschüsse) vom amtswegig eingeleiteten Verfahren, besteht für die dermaßen im erstinstanzlichen Verfahren nicht gehörte Partei volles Neuerungsrecht. 3

Diese volle Neuerungserlaubnis kann nicht etwa dadurch umgangen werden, dass das Vorbringen bereits in der nach §21 UVG zu erstattenden Mitteilung zu erstatten gewesen wäre und damit nunmehr unbeachtlich sei. Zum einen erstattet nämlich der mitteilungspflichtige KJHT zur Vermeidung von Haftungen des Rechtsträgers (idR eines Bundeslandes) die Mitteilung, nicht das Kind. Zum anderen ist im Verfahren zur Herabsetzung und Einstellung der Unterhaltsvorschüsse nicht der KJHT Partei, sondern das Kind, vertre-

ten durch den KJHT. Und drittens ist zum Zeitpunkt der Erstattung der Mitteilung nach § 21 UVG nicht einmal bekannt, ob es überhaupt zu einem Verfahren kommen wird.

II.Aus der Praxis

Die in der Praxis in diesem Zusammenhang anzutreffende Vorgangsweise, dass der KJHT anlässlich der Mitteilung nach § 21 UVG über das Eigeneinkommen des Kindes weiters bekannt gibt, dass von ihm Klärungen zur Frage eingeleitet wurden, ob das Kind ein ausbildungsbedingter Mehraufwand trifft, der das anzurechnende Eigeneinkommen verringert, ist nicht nur zulässig, sondern zur Verringerung des insgesamt anfallenden Aufwands auch sinnvoll. Eine Rechtspflicht zu einer derartigen Vorgehensweise dem Gericht gegenüber, die die Anwendung des Neuerungsverbots rechtfertigen würde, trifft den KJHT aber nicht. Selbstverständlich bleibt der KJHT im Rahmen der lege artis auszuübenden Unterhaltsvertretung dem Kind gegenüber verpflichtet, ausbildungsbedingten Mehraufwand zu thematisieren und abzuklären sowie in weiterer Folge in das gerichtliche Verfahren einzubringen, sofern ein solches vom Gericht überhaupt amtswegig eingeleitet wird.

§ 231 ABGB

Unterlassene Gewinnentnahme

OGH 28. 2. 2023, 4 Ob 228/22s

iFamZ 2023/85

Den unterhaltspflichtigen Vater trifft die Pflicht, eine ihm mögliche Gewinnentnahme nicht zulasten der unterhaltsberechtigten Tochter zu unterlassen.

§ 231 ABGB

iFamZ 2023/86

Keine Aufrechnung mit Überzahlung im Unterhaltsverfahren

OGH 20. 4. 2023, 2 Ob 20/23i

Da ein Begehren auf Rückzahlung zu viel gezahlter Unterhaltsbeiträge nicht im Außerstreitverfahren, sondern im streitigen Verfahren geltend zu machen ist, ist auch eine entsprechende Aufrechnungseinwendung des Unterhaltsschuldners im außerstreitigen Unterhaltsverfahren unzulässig.

Der Vater des 2004 geborenen E. war ab 1. 1. 2021 zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 1.050 € verpflichtet. Aufgrund der Kündigung durch seinen Arbeitgeber bezieht er seit Mai 2022 Arbeitslosengeld iHv 1.880 € monatlich.

Der Vater beantragte, seine Unterhaltspflicht ab Mai 2022 auf monatlich 399 € herabzusetzen. Seit seiner Kündigung zum 30. 4. 2022 bemühe er sich – bisher ohne Erfolg – um einen adäquaten neuen Arbeitsplatz, lebe aber bis auf Weiteres von der Arbeitslosenunterstützung und seiner berufstätigen Ehefrau. Den Stamm seines Vermögens greife er zur Aufrechterhaltung seines Lebensstandards bisher nicht an. Erträgnisse aus Vermögen lukriere er nicht. Der Erlös aus dem Verkauf seiner Eigentumswohnung liege unangetastet in einem Safe. Er beabsichtige, damit in der Steiermark eine Wohnung zu erwerben, weil er sich dort um seine Eltern kümmern werde müssen. Auch Unterstützungsleistungen seiner Ehefrau seien bisher aufgrund seiner sparsamen Lebensweise noch nicht erforderlich gewesen. Den bisher geschuldeten Unterhalt leiste er nur unter Vorbehalt weiter. Er biete aber – zur Erreichung einer gütlichen Einigung – für die Monate Mai

bis Juli 2022 einen monatlichen Unterhalt von 570 € und – unter der Prämisse einer Neuanstellung ab August 2022 – eine anschließende Neubemessung an.

E. sprach sich gegen eine Herabsetzung aus. Eine allenfalls bloß kurze Arbeitslosigkeit führe nicht zur Herabsetzung der Unterhaltsverpflichtung. Ausgehend von vom Vater vorgelegten Einkommensunterlagen begehrte E. für den Zeitraum von 1. 1. 2021 bis 30. 4. 2022 einen Unterhaltsrückstand von 1.168 €.

Der Vater erhob gegen den begehrten Unterhaltsrückstand keinen Einwand, ersuchte aber um „Gegenverrechnung“ der ab 1. 5. 2022 unter Vorbehalt geleisteten, 570 € übersteigenden Zahlungen im Zeitraum Mai bis Juli 2022 und „Berücksichtigung“ des nach erfolgter Aufrechnung noch verbleibenden Betrags von 272 € bei der Entscheidung.

Das Erstgericht setzte den Unterhaltsrückstand für den Zeitraum von 1. 1. 2021 bis 30. 4. 2022 mit insgesamt 1.168 € fest und wies den Herabsetzungsantrag des Vaters (nur) betreffend den Zeitraum von Mai bis Juli 2022 ab. Zwar habe der Vater seine Anstellung verloren, allerdings verfüge er über die Möglichkeit, sein beträchtliches Barvermögen aus einem Wohnungsverkauf zu nutzen, und könne von seiner Ehefrau unterstützt werden.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Vaters teilweise Folge, setzte seine Unterhaltspflicht für den Zeitraum von Mai bis (richtig:) Juli 2022 auf 570 € herab, wies den Antrag des Sohnes auf Leistung rückständigen Unterhalts für den Zeitraum von 1. 1. 2021 bis 30. 4. 2022 ab sowie den (Rekurs-)Antrag des Vaters, den Sohn zur Rückzahlung zu viel gezahlten Unterhalts über 272 € zu verpflichten, (richtig:) zurück und verwies die Unterhaltssache dem Erstgericht zur Entscheidung über den – bisher unerledigt gebliebenen – Herabsetzungsantrag des Vaters betreffend den Zeitraum ab (richtig:) 1. 8. 2022 nach Verfahrensergänzung zurück. Den Unterhaltsrückstand habe der Vater nicht bestritten. Der nicht bloß kurzfristige, auch nicht saisonal bedingte Verlust des Arbeitsplatzes sei eine wesentliche Umstandsänderung und führe zur mit 570 € angemessenen Unterhaltsneubemessung. (…)

Der vom Sohn angerufene OGH änderte den Beschluss des Rekursgerichts dahin ab, dass er den Vater verpflichtete, seinem Sohn zusätzlich zu dem mit 1.050 € monatlich festgesetzten Unterhaltsbetrag für den Zeitraum von 1. 1. 2021 bis 30. 4. 2022 einen weiteren Gesamtbetrag von 1.168 €

KINDSCHAFTSRECHT Juni 2023 129
RECHTSPRECHUNG Kindesunterhalt und UVG
Neumayr
2 Vgl etwa Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG2, § 8 Rz 28. 3 StRsp; s statt vieler zB LG Eisenstadt, LG Linz und LGZ Wien EFSlg 168.596.
Matthias

zu zahlen. Die Aufrechnungseinrede des Vaters wurde ebenso zurückgewiesen wie der (Rekurs-)Antrag des Vaters, den Sohn zur Rückzahlung von 272 € zu verpflichten. Zusätzlich zur vom Rekursgericht verfügten Aufhebung hinsichtlich des Zeitraums ab 1. 8. 2022 wurden die Entscheidungen der Vorinstanzen auch betreffend den Antrag des Vaters auf Herabsetzung seiner Unterhaltspflicht von 1. 5. 2022 bis einschließlich 31. 7. 2022 auf monatlich 399 € zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgehoben.

Der OGH wies den Revisionsrekurs des Vaters wegen Fehlens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung zurück.

1. Den von den Vorinstanzen für den Zeitraum von 1. 1. 2021 bis 30. 4. 2022 mit 1.168 € bemessenen Unterhaltsrückstand ziehen die Parteien nicht in Zweifel.

2. Aufrechnung

2.1. Das Ersuchen des Vaters um „Gegenverrechnung“ der ab 1.5. 2022 unter Vorbehalt geleisteten, 570 € übersteigenden Zahlungen im Zeitraum von Mai bis Juli 2022 ist als Aufrechnungseinrede zu qualifizieren, deren inhaltliche Berechtigung das Rekursgericht (in der Begründung) bejaht und daher (im Spruch) das Begehren des Minderjährigen auf Zahlung des Unterhaltsrückstands abgewiesen hat.

2.2. Im Außerstreitverfahren ist mangels einer § 391 Abs 3 ZPO entsprechenden Bestimmung die einredeweise Geltendmachung von (nicht in diesem Verfahren zu entscheidenden) Gegenforderungen aber unzulässig (RIS-Justiz RS0006058). Ein Begehren auf Rückzahlung zu viel gezahlter Unterhaltsbeiträge ist nicht im Außerstreitverfahren, sondern im streitigen Verfahren geltend zu machen (RIS-Justiz RS0114452). Auch eine entsprechende Aufrechnungseinrede des Unterhaltsschuldners im außerstreitigen Unterhaltsverfahren ist daher nicht zulässig (vgl RIS-Justiz RS0114452 [T3]). Die dennoch erhobene Aufrechnungseinrede des Vaters, mit der er die „Gegenverrechnung“ der 570 € übersteigenden, unter Vorbehalt geleisteten Unterhaltsbeträge mit dem inhaltlich unbestrittenen Unterhaltsrückstand anstrebt, ist daher ebenso wie sein Rückzahlungsbegehren über 272 € mit Beschluss zurückzuweisen (RIS-Justiz RS0006058 [T5]). (…)

4. Einbeziehung des Wohnungsverkaufserlöses in die Unterhaltsbemessungsrundlage

4.1. Grundlage für die Bemessung des Unterhalts ist in erster Linie das Nettoeinkommen des Unterhaltspflichtigen, also die Summe aller dem Schuldner tatsächlich zufließenden Mittel unter Berücksichtigung unterhaltsrechtlich beachtlicher Abzüge und Aufwendungen (RIS-Justiz RS0013386 [T46]). Erlöse aus dem Verkauf eines Vermögensgegenstands sind nicht als Einkommen zu behandeln, weil sie nur eine Umschichtung der Vermögenssubstanz bewirken (RIS-Justiz RS0113786 [T10]). Der Vermögensstamm ist bei der Unterhaltsbemessung regelmäßig nicht zu berücksichtigen, außer das sonstige Einkommen des Unterhaltspflichtigen reicht zur Deckung des angemessenen Unterhalts des Unterhaltsberechtigten nicht aus (RIS-Justiz RS0113786). Auch wenn der Unterhaltspflichtige selbst sein Vermögen angreift, um damit die Kosten der von ihm gewählten Lebensführung zu decken, dient dieses Maß der Inanspruchnahme (auch) als Grundlage für die Bemessung des Unterhaltsanspruchs (RIS-Justiz RS0013386 [T27]).

4.2. Ob der Vater nun tatsächlich Teile des Verkaufserlöses zur Bestreitung seines Lebensunterhalts heranzieht, lässt sich dem erstgerichtlichen Beschluss letztlich nicht eindeutig entnehmen. Einerseits wird zwar festgestellt, die aus dem Verkaufserlös der Eigentumswohnung stammenden Ersparnisse des Vaters seien noch vollständig vorhanden. Andererseits wird aber ausgeführt, durch deren Verwahrung in einem Safe sei dem Vater der Beweis, dass er nicht doch Teile davon für seine Lebensführung verwende, nicht gelungen. Es fehlt daher letztlich an einer eindeutigen Feststellungsgrundlage, um die Berücksichtigung von Teilen des Verkaufserlöses

bzw der – im Revisionsrekurs auch angesprochenen – Möglichkeit, daraus Erträgnisse zu lukrieren (vgl dazu 6 Ob 6/21g, Rz 9 mwN), abschließend beurteilen zu können.

5. Einbeziehung eines (allfälligen) Unterhaltsanspruchs des Vaters gegen seine Ehefrau

5.1. In die Unterhaltsbemessungsgrundlage sind auch Unterhaltsempfänge des Unterhaltsschuldners einzubeziehen, wenn es um die gegen ihn gerichteten Unterhaltsansprüche seiner Kinder geht. Dies gilt auch für Sachleistungen und Naturalunterhaltsleistungen (RIS-Justiz RS0107262 [T8, T11]; RS0113068). Es sind aber nur solche Zuwendungen als die Bemessungsgrundlage erhöhend miteinzubeziehen, auf die der Unterhaltsschuldner einen Rechtsanspruch hat (RIS-Justiz RS0107262 [T15, T20]). Grundsätzlich sind nur tatsächlich hereingebrachte Unterhaltsleistungen zu berücksichtigen, es sei denn, der Elternteil hätte die Hereinbringung seines eigenen Unterhalts schuldhaft unterlassen, sodass im Sinn der Anspannungstheorie vorzugehen wäre (RIS-Justiz RS0107262 [T5]). Die Anwendung des Anspannungsgrundsatzes orientiert sich am Maßstab eines pflichtbewussten, rechtschaffenen Familienvaters (RIS-Justiz RS0113751 [T17]).

5.2. Ob der Vater tatsächlich Unterhaltsleistungen seiner Ehefrau erhält, ist den Feststellungen, die im Wesentlichen lediglich vom Zurverfügungstehen von Leistungen der Ehefrau sprechen, ebenfalls nicht eindeutig zu entnehmen. Anspannungsfragen stellen sich daher (noch) gar nicht.

6. Das Erstgericht wird daher im weiteren Verfahren zunächst eindeutige Feststellungen iZm der tatsächlichen Nutzung des Verkaufserlöses durch den Vater und allfälligen (rechtlich geschuldeten) tatsächlichen Unterhaltsleistungen seiner Ehefrau zu treffen haben. Erst im Anschluss daran wird allenfalls zu prüfen sein, inwieweit der Vater auf eine gewinnbringende Veranlagung des Verkaufserlöses aus der Wohnung oder die Hereinbringung von Unterhaltsleistungen von seiner Ehefrau anzuspannen ist.

§ 231 ABGB

iFamZ 2023/87

Mischunterhalt (Kind in Österreich, Vater in Dänemark)

OGH 21. 2. 2023, 2 Ob 10/23v

Ein Mischunterhalt ist auch dann zu bilden, wenn sich der in einem anderen Staat lebende Unterhaltspflichtige aufgrund des dort höheren Preis- und Einkommensniveaus ungefähr gleich viel „leisten“ kann wie ein in Österreich wohnhafter Unterhaltspflichtiger. Maßgeblich sind nämlich die im Vergleich zu Österreich höheren Lebenshaltungskosten, die eine Reduktion der Unterhaltsbemessungsgrundlage erfordern.

Das Kind lebt mit seiner Mutter in Österreich. Der Vater lebt in Dänemark, hat keine weiteren Sorgepflichten und verdient (umgerechnet) 2.305 € im Monat.

1. Zutreffend haben die Vorinstanzen den Unterhaltsanspruch des in Österreich lebenden Kindes gem Art 3 HUP 2007 nach österreichischem Recht beurteilt (vgl RIS-Justiz RS0128723). Das HUP 2007 ist nach dessen Art 2 allseitig – und daher auch im Verhältnis zu einem Nichtvertragsstaat wie Dänemark – anzuwenden (vgl 3 Ob 104/17s, iFamZ 2017/240, 414 = RIS-Justiz RS0131701).

2. Nach stRsp sollen bei der Bemessung des Unterhaltsanspruchs im Ausland lebender Kinder eines im Inland wohnenden Elternteils die Unterhaltsbeiträge einerseits in einem angemessenen Verhältnis zu den durchschnittlichen Lebensverhältnissen und zur Kaufkraft im Heimatland der Kinder stehen und andererseits die Kinder am Lebensstandard des in Österreich lebenden Unterhaltsverpflichteten teilnehmen lassen (RIS-Justiz RS0111899 [T1, T7]). In solchen Fällen ist ein Mischunterhalt zu bilden, der sich nach den Bedürfnissen der Unterhaltsberechtigten und dem verbesserten Nettoeinkommen des Unterhaltspflichtigen richtet.

KINDSCHAFTSRECHT Juni 2023 130

Gleichzeitig muss auch auf den Umstand Rücksicht genommen werden, dass im Aufenthaltsstaat des Unterhaltsberechtigten ein niedrigeres Kaufkraft- und Preisniveau besteht (4 Ob 191/20x, iFamZ 2021/3, 15 Rz 31). Nichts anderes kann umgekehrt gelten, wenn die Kinder in Österreich leben und es das Wohnsitzland des Unterhaltspflichtigen ist, in dem ein höheres Einkommens- und Preisniveau herrscht (3 Ob 109/20f, iFamZ 2020/186, 357 Rz 27 mwN). Bei der Unterhaltsberechnung nach diesen Grundsätzen handelt es sich um eine Ermessensentscheidung des Gerichts ohne konkretes Berechnungssystem (vgl RIS-Justiz RS0111899 [T12]).

2.1. Der OGH hat bei vergleichbarer Sachverhaltskonstellation (unterhaltsberechtigte Kinder in Österreich, unterhaltspflichtiger Elternteil in Dänemark) in der Entscheidung 8 Ob 30/16v, iFamZ 2017/142, 309, einen Abzug von 20 % von der Unterhaltsbemessungsgrundlage als sachgerecht erachtet, um das (dort festgestellte) erheblich unterschiedliche Preisniveau in Österreich und Dänemark (rund 30 bis 35 % Unterschied) angemessen zu berücksichtigen. Die Bemessungsgrundlage sei nicht um die gesamte „Kaufkraftdifferenz“ zu verringern, vielmehr sei eine Erheblichkeitsschwelle zu berücksichtigen. Aus der Rsp zum Mischunterhalt ergibt sich, dass unter dem Begriff „Kaufkraftdifferenz“ in der Regel die Differenz zwischen den Preisniveaus in den beiden Ländern zu verstehen ist.

2.2. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Feststellungen des Erstgerichts, dass die Lebenshaltungskosten in Dänemark rund 25% höher sind als in Österreich, sich ein Däne aufgrund des in Dänemark höheren Durchschnittseinkommens aber statistisch annähernd gleich viel leisten kann wie ein Österreicher. Die Vorinstanzen haben daraus den unzutreffenden Schluss gezogen, dass kein „Mischunterhalt“ zu bilden, sondern der Unterhalt nach der allgemein üblichen Prozentsatzmethode auszumitteln ist.

Entscheidend ist aber nach der dargestellten Rsp nicht, ob sich der in einem anderen Staat lebende Unterhaltspflichtige aufgrund des dort höheren Durchschnittseinkommens statistisch gesehen ungefähr gleich viel „leisten“ kann wie ein in Österreich wohnhafter Unterhaltspflichtiger, sondern ob dieser Unterhaltspflichtige höhere Kosten zur Finanzierung des täglichen Lebens aufwenden muss als ein in Österreich wohnhafter Unterhaltspflichtiger. Von Relevanz ist damit das vom Erstgericht festgestellte, im Vergleich zu Österreich um 25 % höhere Preisniveau in Dänemark.

2.3. Unter Berücksichtigung der Erheblichkeitsschwelle und unter Hinweis darauf, dass es sich um eine Ermessensentscheidung ohne konkretes Berechnungssystem handelt, erachtet der Senat im vorliegenden Fall eine Reduktion der Unterhaltsbemessungsgrundlage um 15 % sachgerecht, was zu einer Bemessungsgrundlage von (gerundet) 1.960 € führt (85 % von 2.305 €). In Anwendung der Prozentsatzmethode ergeben sich die aus dem Spruch ersichtlichen Beträge.

2.4. Dass der Vater mit dem ihm nach Abzug der zugesprochenen Unterhaltsbeträge verbleibenden Betrag von über 1.800 € pro Monat unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten in Dänemark nicht das Auslangen finden könnte, behauptet er im Revisionsrekurs nicht.

3. Die Ausführungen des Vaters zur angeblich unterlassenen Berücksichtigung der „stark angestiegenen unterschiedlichen Inflation in Dänemark und Österreich“ werden den Anforderungen an eine gesetzmäßig ausgeführte Rechtsrüge nicht gerecht.

4. Die Erhöhung des (von einem serbischen Gericht festgelegten) Unterhalts von 100 € auf die nunmehr zugesprochenen Beträge verstößt entgegen den Ausführungen im Revisionsrekurs nicht gegen den ordre public. Weder der Umstand, dass aufgrund des Wechsels des Aufenthaltsorts des Kindes eine Neubemessung des Unterhalts vorzunehmen war (vgl nur Art 3 Abs 2 HUP 2007), noch die Behauptung, dass der nach dänischem Recht auszumes-

sende Unterhaltsbeitrag weit geringer wäre, indizieren einen Verstoß gegen den ordre public.

§ 19 Abs 1 RpflG; § 231 ABGB; § 43 B-KJHTG iFamZ 2023/88 Ersatz von Kosten der vollen Erziehung

OGH 28. 2. 2023, 1 Ob 263/22s

Das Verfahren über den Ersatz von Kosten der vollen Erziehung und der Betreuung von jungen Erwachsenen nach § 43 B-KJHTG fällt als Unterhaltsverfahren in die Zuständigkeit der Rechtspfleger. Auch wenn es sich bei diesem Kostenersatzanspruch nicht um einen Unterhaltsanspruch handelt, haben dieselben Grundsätze wie für die Bemessung der gesetzlichen Unterhaltsverpflichtung der in Anspruch genommenen Eltern zu gelten.

§ 231 ABGB; §§ 7 Abs 1 Z 1, 19 Abs 1 UVG iFamZ 2023/89 Neue Regelbedarfssätze

OGH 21. 2. 2023, 10 Ob 5/23t

In die Richtwertformel zur Berücksichtigung des Eigeneinkommens des Kindes bei der Bemessung der Höhe des Unterhalts(vorschuss)anspruchs sind aus Aktualitätsgründen diejenigen Werte einzusetzen, die sich aus der 2021 veröffentlichten Kinderkostenanalyse ergeben.

Da das 2006 geborene Kind seit 1. 10. 2021 über ein anrechenbares Nettoeinkommen von monatlich 726 € (inkl anteiliger Sonderzahlungen) verfügt, setzte das Erstgericht die Unterhaltsvorschüsse im Zeitraum von 1.1. 2022 bis 30. 6. 2022 auf monatlich 177 € herab.

Das Rekursgericht setzte die Unterhaltsvorschüsse im genannten Zeitraum auf monatlich 185 € herab. Der vom Kind geforderten und auf den Ergebnissen einer Kinderkostenanalyse 2021 beruhenden Heranziehung des vom Senat 43 des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien empfohlenen Regelbedarfssatzes von 570 € monatlich sei zu erwidern, dass der Kinderkostenanalyse eine andere Fragestellung zugrunde liege und die nunmehr empfohlenen Regelbedarfssätze nicht nachvollziehbar gewichtet seien. Stattdessen seien die bisherigen Regelbedarfssätze anzusetzen, wobei eine seither eingetretene Teuerung durch Erhöhung von monatlich 8 € zu berücksichtigen sei.

Der vom Kind angerufene OGH setzte die Unterhaltsvorschüsse im Zeitraum von 1. 1. 2022 bis 30. 6. 2022 auf monatlich 210 € herab. (…)

2.1. Der – vom Erstgericht nach der Prozentwertmethode berechnete – Unterhaltsanspruch des Kindes gegenüber dem Vater unter Außerachtlassung eines Eigeneinkommens ist der Höhe nach nicht strittig. Der Anspruch auf Unterhalt mindert sich insoweit, als das Kind eigene Einkünfte hat oder unter Berücksichtigung seiner Lebensverhältnisse selbsterhaltungsfähig ist (§ 231 Abs 3 ABGB). Eigeneinkommen vermindert den gesamten (in Geld und Betreuung im weitesten Sinn bestehenden) Unterhaltsanspruch (RIS-Justiz RS0047440), sodass dieses nicht bloß vom Geldunterhaltsanspruch abgezogen werden kann. Bei einfachen Lebensverhältnissen ist das Eigeneinkommen des Minderjährigen seit der Entscheidung eines verstärkten Senats zu 1 Ob 560/92 auf die Leistungen des geldunterhaltspflichtigen und des betreuenden Elternteils im Verhältnis zwischen dem Durchschnittsbedarf der Altersgruppe, der der Minderjährige angehört, und dessen Differenz zur Mindestpensionshöhe anzurechnen (RIS-Justiz RS0047565). Die verbleibende Unterhaltspflicht wird damit ausgehend von der Mindestpensionshöhe abzüglich Kindeseinkommen und multipliziert mit der Geldbedarfsquote (Regelbedarf dividiert durch Mindestpensionshöhe) berechnet („Richtwertformel“; RIS-Justiz RS0047565 [T7, T8]; RS0047440 [T14]). Diese Berechnungsmethode bildet freilich nur eine Orientierungshilfe, die nach den besonderen Umständen des Einzelfalls nach oben oder unten korrigiert werden kann (RIS-Justiz

KINDSCHAFTSRECHT Juni 2023 131

RS0047565 [T1]; vgl auch Stabentheiner/Reiter in Rummel/Lukas, ABGB4, § 231 Rz 46).

2.2. Auch die Berücksichtigung des Eigeneinkommens des Kindes und die Bemessung des Unterhaltsanspruchs nach diesen Grundsätzen sind im vorliegenden Fall nicht strittig. Der Revisionsrekurs zieht vielmehr ausschließlich die Höhe des vom Rekursgericht im Rahmen der Richtwertformel angenommenen Regelbedarfs (488 €) der Höhe nach in Zweifel.

3.1. In der Rsp wird der Regelbedarf als der neben der Betreuung durch den haushaltsführenden Elternteil bestehende Bedarf verstanden, den jedes Kind einer bestimmten Altersstufe in Österreich (an Nahrung, Kleidung, Wohnung und zur Bestreitung weiterer Bedürfnisse, wie etwa kulturelle und sportliche Betätigung, sonstige Freizeitgestaltung und Urlaub) ohne Rücksicht auf seine konkreten Lebensumstände zur Bestreitung eines dem Durchschnitt gleichaltriger Kinder entsprechenden Lebensaufwands hat (RIS-Justiz RS0047395 [T3]).

3.2. In der Praxis wurden dafür Regelbedarfssätze herangezogen, deren Grundlage die Kinderkostenanalyse des Statistischen Zentralamtes nach der Konsumerhebung 1964 war und die entsprechend dem Lebenshaltungskostenindex aufgewertet werden (4 Ob 333/97t; Kolmasch, Regelbedarfssätze, Lexis Briefings in lexis360.at [Stand Jänner 2023]; Limberg in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.07, §231 Rz 6; vgl auch 6 Ob 154/99m) und jährlich vom Landesgericht für Zivilrechtssachen veröffentlicht (Schwimann/Kolmasch, Unterhaltsrecht10 [2022] 135; vgl Gitschthaler, Unterhaltsbemessung, EF-Z 2022, 143; „Regelbedarfssätze 2023“, Zak 2023/7; zu den damaligen Beträgen s zB Barth, iFamZ 2021, 262 und Kolmasch, Tabelle: Regelbedarfssätze, Lexis Briefings in lexis360.at [Stand Jänner 2023]). Auch der höchstgerichtlichen Rsp wurden die solcherart veröffentlichten Beträge zugrunde gelegt (vgl etwa 4 Ob 67/21p, ErwGr 3.2.; 1 Ob 207/15w, iFamZ 2016/6, 13 ErwGr 3.).

3.3. An ihrer Aussagekraft wurden in der Literatur zum Teil jedoch gravierende Zweifel geäußert (Kolmasch, Regelbedarfssätze, Lexis Briefings; Kolmasch, Neues im Kindesunterhaltsrecht, Zak 2008, 26; Pöhlmann, Mogelpackung Regelbedarf, ÖA 2007, 96; Pöhlmann, Der Regelbedarf – eine [un-]brauchbare Mogelpackung, ÖA 2005, 223; Weitzenböck, Die Kinderkostenanalyse und ihre [möglichen] Auswirkungen auf die Unterhaltsjudikatur, ÖA 2004, 293), die (nicht nur, aber) auch darauf gründeten, dass die zugrunde liegende Datenlage für zu wenig aktuell gehalten wurde (Pöhlmann, ÖA 2007, 96 [100 f]; Pöhlmann, ÖA 2005, 223 [229 f]; Weitzenböck, ÖA 2004, 293 [295]).

3.4. Ende 2021 veröffentlichte das BM für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz eine neue Kinderkostenanalyse, deren Grundlage Ergebnisse der Konsumerhebungen 2014/15 und 2019/20 waren. Dabei wurden die Kinderkosten über jenes Einkommen ermittelt, das zusätzlich erforderlich ist, um im Verhältnis zu einem kinderlosen Vergleichshaushalt auf dasselbe Wohlstandsniveau zu kommen (Schwimann/Kolmasch, Unterhaltsrecht10, 135 f). Da dies nicht mit der unterhaltsrechtlichen Realität übereinstimmt, weil (in aller Regel) das Familieneinkommen ab der Geburt eines

RECHTSPRECHUNG Obsorge- und Kontaktrecht

§§ 178, 204 ABGB; BVG über die Rechte von Kindern iFamZ 2023/90

Verfassungswidrige Obsorgebestimmung des ABGB

VfGH 9. 3. 2023, G 223/2022

§ 178 Abs 1 Satz 2 und 3 ABGB sowie die Wortfolgen „noch Großeltern oder Pflegeeltern“ und „oder betraut werden kön-

Kindes nicht (um diesen Faktor) steigt, wurden die Durchschnittsbedarfssätze von einem Rechtsmittelsenat des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien nach Befassung und im Namen zahlreicher im Unterhaltsrecht tätigen Rechtsprechungsorgane ab 1. 1. 2022 noch einmal überarbeitet und angepasst (s die Empfehlung des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom März 2022 zu 43 Nc 5/22w; vgl auch Schwimann/Kolmasch, Unterhaltsrecht10, 135; Limberg in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.07, § 231 Rz 6). Die so ermittelten Werte werden – der bisherigen Übung entsprechend –jährlich vom Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien nach dem Verbraucherpreisindex valorisiert (zuletzt etwa in der Neuberechnung zum 1. 1. 2023 vom Dezember 2022 zu 43 Nc 13/22x) und veröffentlicht (s zB Kolmasch, Lexis Briefings).

3.5. Da diese Werte auf der aktuell vorhandenen Datengrundlage beruhen, sind sie nach Ansicht des erkennenden Senats besser als die bisher herangezogenen Sätze geeignet, den Regelbedarf realistisch darzustellen. Die dagegen erhobene Kritik, der Kinderkostenanalyse 2021 läge eine andere Fragestellung zugrunde, übergeht, dass dies gleichermaßen auf die Kinderkostenanalyse 1964 zutrifft. Gerade zu diesem Zweck wurden die aus der Kinderkostenanalyse 2021 entnommenen Werte überarbeitet und entsprechend angepasst.

3.6. Soweit das Rekursgericht den neuen Sätzen entgegenhält, dass sie nicht linear mit zunehmendem Alter des Kindes stiegen, sondern „auffällige“ Sprünge aufwiesen, ist dies mit der geänderten Datenlage zu erklären. Ziel der neuen Sätze war es, die heutigen Verhältnisse bestmöglich abzubilden, und diese Verhältnisse haben sich nicht bloß darin verändert, dass der altersbedingte Bedarf völlig linear gestiegen ist. Dieser Umstand spricht daher nicht gegen die Heranziehung von auf aktuelleren Werten beruhenden Regelbedarfssätzen.

4.1. Ausgehend von den neuen Regelbedarfssätzen ergibt sich im vorliegenden Fall ein Regelbedarf von 570 €. Unter Zugrundelegung des konkreten Eigeneinkommens (726 €) legt die Richtwertformel hier als Richtschnur einen verbleibenden Unterhaltsanspruch von rund 210 € monatlich nahe.

4.2. Anhaltspunkte, die für eine Erhöhung oder Verminderung dieses Betrags sprechen, sind im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Geht man davon aus, dass ein monatlicher Bedarf in Höhe des Ausgleichszulagenrichtsatzes (ca 1.141 €) besteht, ergibt sich, dass der nach Abzug des Eigeneinkommens verbleibende (Rest-)Bedarf des Kindes in etwa gleichteilig durch den in Geld und durch den in Betreuung im weitesten Sinn bestehenden Unterhaltsanspruch gedeckt wird. Der Unterhaltspflichtige wird durch den zu leistenden Geldunterhalt auch (weiterhin) nicht über seine Leistungsfähigkeit hinaus belastet.

4.3. Der Unterhaltsanspruch des Kindes gegen den Vater ist seit 1. 1. 2022 daher – dem Rekurs des Kindes folgend – mit 210 € zu bemessen. Gem § 19 Abs 1 iVm § 7 Abs 1 Z 1 UVG sind ab diesem Zeitpunkt auch die Unterhaltsvorschüsse entsprechend auf diesen Betrag (und nicht einen niedrigeren) herabzusetzen.

nen“ in § 204 ABGB sind verf assungswidrig. Die Bestimmungen verstoßen insofern gegen Art 1 BVG über die Rechte von Kindern, als der Kreis jener Personen, die vor „andere[n] geeignete[n] Person[en]“ iSd § 204 ABGB (bevorzugt) mit der Obsorge zu betrauen sind (somit der andere Elternteil sowie die Groß- oder Pflegeeltern), vom Gesetzgeber zu eng gezogen ist.

KINDSCHAFTSRECHT Juni 2023 132
Susanne Beck

Die Aufhebung der Bestimmungen tritt mit 30. 9. 2024 in Kraft.

(…) 1.1. Den Eltern von drei minderjährigen Kindern wurde die Obsorge in den Bereichen Pflege und Erziehung rechtskräftig entzogen; die Kinder befinden sich derzeit bei Pflegefamilien. Strittig ist in dem Verfahren vor dem OGH, wem in Zukunft die Obsorge zukommen soll. Das Land Tirol beantragt, die Obsorge für zwei der Kinder ihm als Träger der Kinderund Jugendhilfe und für das dritte Kind jenem Pflegeelternpaar zu übertragen, von dem es derzeit betreut wird. Die – 1954 bzw 1956 geborenen –mütterlichen Urgroßeltern beantragen demgegenüber, die Obsorge für alle drei Kinder ihnen zu übertragen. Die Großeltern sind nicht bereit, die Obsorge zu übernehmen.

1.2. Das Erstgericht entsprach in seiner Entscheidung dem Antrag des Landes Tirol als Träger der Kinder- und Jugendhilfe und übertrug die Obsorge hinsichtlich zweier Kinder dem Land Tirol als Träger der Kinder- und Jugendhilfe und hinsichtlich des dritten Kindes den Pflegeeltern. Das Erstgericht stellte fest, dass die beiden erstgenannten Kinder bei ihren Pflegeeltern gut gefördert würden und ein Abbruch der Beziehungen ihr Wohl gefährdete; zudem seien die Urgroßeltern mit der Betreuung dieser Kinder überfordert. Hingegen werde das dritte Kind bei seinen Pflegeeltern vergleichsweise weniger gefördert; die Pflegeeltern bemühten sich zwar, wiesen aber eine geringe Bindungstoleranz und ein unsicheres Bindungsverhalten auf. Das dritte Kind sei zwar in die Pflegefamilie integriert, habe aber bei seinen Urgroßeltern bessere Entwicklungschancen. Aus diesem Grund sei aus „fachlicher Sicht“ – auch unter Bedachtnahme auf die negativen Folgen eines Beziehungsabbruchs zu den Pflegeeltern – eine Unterbringung des dritten Kindes bei den Urgroßeltern zu empfehlen.

Rechtlich folgerte das Erstgericht, § 178 ABGB sei die Grundlage für die Obsorgeentscheidung. (…) Im konkreten Fall sei bei den ersten beiden Kindern von vornherein der KJHT zu betrauen, weil die Betrauung der Urgroßeltern das Kindeswohl gefährdete und auch sonst keine geeigneten Personen vorhanden seien. Bei dem dritten Kind hätten die grundsätzlich geeigneten Pflegeeltern nach §178 ABGB Vorrang vor den in dieser Bestimmung nicht genannten Urgroßeltern.

1.3. Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu. (…)

1.4. Gegen diese Entscheidung erhoben die Urgroßeltern Revisionsrekurs an den OGH, mit dem sie die Betrauung mit der Obsorge für alle drei Kinder anstrebten. Sie vertreten darin die Auffassung, § 178 Abs 1 ABGB erfasse (zumindest analog) auch die Urgroßeltern.

1.5. Der OGH wies diesen Revisionsrekurs mit Beschluss vom 30. 5. 2022 zurück, soweit dieser die Regelung der Obsorge für die ersten beiden Kinder betraf. (…) Hingegen habe der OGH in Bezug auf die Obsorge des dritten Kindes § 178 Abs 1 ABGB anzuwenden. Insofern bestünden Bedenken, ob diese Bestimmung und die mit ihr in einem Zusammenhang stehende Regelung des § 204 ABGB mit Art 1 des BVG über die Rechte von Kindern, BGBl I 4/2011, vereinbar seien. (…)

5. Das starre Rangverhältnis, das sich aus dem Zusammenwirken von §§ 178 und 204 ABGB ergibt, verstößt nach Ansicht des OGH gegen Art 1 BVG über die Rechte von Kindern, BGBl 2011/4.

5.1. Art 1 BVG über die Rechte von Kindern lautet wie folgt:

[„]Jedes Kind hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für sein Wohlergehen notwendig sind, auf bestmögliche Entwicklung und Entfaltung sowie auf die Wahrung seiner Interessen auch unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit. Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher und privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.[“]

Nach der Rsp des VfGH (G18/2014, Slg 19.941; G152/2015, Slg 20.018) enthält diese Bestimmung einen Auftrag an die Gesetzgebung und die Vollziehung, das Kindeswohl vorrangig zu wahren. Die verfassungsrechtliche Vorgabe, das Kindeswohl als vorrangige Erwägung zu berücksichtigen, bindet auch den Gesetzgeber, wenn er die Grundlagen für solche Maßnahmen anordnet. (…)

2.1. Der OGH legt seine Bedenken, die ihn zur Antragstellung beim VfGH bewogen haben, zusammengefasst wie folgt dar: Es sei zweifelhaft, ob die angefochtenen Bestimmungen mit Art 1 BVG über die Rechte von Kindern vereinbar seien. Das Gesetz ordne bereits seit dem KindRÄG 2001, BGBl I 2000/135, an, dass die Betrauung „anderer Personen“ voraussetze, weder der andere Elternteil noch die Groß- oder Pflegeeltern könnten mit der Obsorge betraut werden. An dieser Rechtslage habe sich auch durch das KindNamRÄG 2013 (…) und das 2. ErwSchG (…) nichts geändert. Auf-

grund dieser Rechtslage bestehe nach stRsp und einhelliger L bei Verhinderung eines obsorgeberechtigten Elternteiles eine klare Rangfolge: Habe eine gemeinsame Obsorge bestanden, sei der andere Elternteil von Gesetzes wegen allein obsorgeberechtigt. Habe keine gemeinsame Obsorge bestanden, seien – bei gegebener Eignung – der nicht obsorgeberechtigte Elternteil oder Pflege- und Großeltern(-teile) zu betrauen. Letzteres gelte auch bei Verhinderung beider obsorgeberechtigten Elternteile. Innerhalb dieser Gruppe (anderer Elternteil, Groß- bzw Pflegeeltern) entscheide das Kindeswohl. Nur wenn weder ein Elternteil noch Pflege- oder Großeltern(-teile) mit der Obsorge betraut werden könnten, sei eine andere geeignete Person zu betrauen. Nur subsidiär komme die Betrauung des KJHT in Betracht. Das Gericht habe daher bei Verhinderung beider Elternteile zunächst zu prüfen, ob Groß- oder Pflegeeltern mit der Obsorge betraut werden könnten. Sei das möglich, komme die Betrauung anderer – möglicherweise geeigneterer – Personen von vornherein nicht in Betracht.

Die starre Rangfolge, die sich aus den angefochtenen Bestimmungen ergebe, werde zwar in vielen Fällen dem Kindeswohl entsprechen, weil die darin genannten Personen typischerweise ein Naheverhältnis zum Kind aufwiesen. Es sei aber denkbar, dass der andere Elternteil, die Groß- oder die Pflegeeltern grundsätzlich zur Übernahme der Obsorge geeignet seien, eine andere Person aber im konkreten Fall (noch) besser geeignet sei, die Entwicklung und Entfaltung des Kindes zu fördern. Das Kindeswohl erfordere diesfalls die Betrauung dieser anderen Person, was jedoch durch die angefochtenen Bestimmungen ausgeschlossen werde. Bei Pflegeeltern werde zwar typischerweise eine Nahebeziehung zum Kind bestehen, die vielfach für die Betrauung mit der Obsorge sprechen werde. Auch hier könne aber die Betrauung einer anderen nahestehenden Person – etwa bei einem nur kurzen Pflegeverhältnis oder bei einer starken Bindung zu der anderen Person – dem Kindeswohl mehr entsprechen als jene der (an sich geeigneten) Pflegeeltern.

Eine Rechtfertigung für die angefochtenen Bestimmungen sei nicht zu erkennen. Zu denken sei allenfalls an verfahrensökonomische Erwägungen; jedoch führte die Einbeziehung weiterer Personen in die Prüfung der Eignung zur Übernahme der Obsorge nur zu einem geringen Mehraufwand. Der bloße Umstand der Blutsverwandtschaft könne eine Durchbrechung des Grundsatzes der Achtung des Kindeswohls nicht rechtfertigen. Dass ein Beziehungsabbruch zu den Pflegeeltern Kinder belasten könne, werde in vielen Fällen zutreffen; dennoch bestehe kein Grund, eine von den konkreten Umständen des Einzelfalls absehende Regelung vorzusehen. Dies gelte umso mehr, als im Verhältnis zwischen dem anderen Elternteil, den Groß- und den Pflegeeltern kein Vorrangverhältnis bestehe, sondern allein das konkrete Kindeswohl entscheidend sei.

Eine verfassungskonforme Auslegung sei nicht möglich. Es könne zwar erwogen werden, § 178 Abs 1 ABGB analog auf Urgroßeltern anzuwenden, weil der Gesetzgeber den unwahrscheinlichen Fall geeigneter Urgroßeltern nicht bedacht haben könnte. Auch diese analoge Anwendung änderte jedoch nichts an der Verfassungswidrigkeit der genannten Bestimmung, weil auch dadurch nicht gesichert sei, dass in jedem Fall die am besten geeignete Person mit der Obsorge betraut werden könne. Eine Nichtanwendung des durch die angefochtenen Bestimmungen begründeten Rangverhältnisses sei nämlich weder mit dem Wortlaut noch mit dem Willen des historischen Gesetzgebers zu vereinbaren. (…)

2.3. Die maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

2.3.1. Ist ein Elternteil gestorben, der mit der Obsorge für das Kind gemeinsam mit dem anderen Elternteil betraut war, ist sein Aufenthalt seit mindestens sechs Monaten unbekannt, kann die Verbindung mit ihm nicht oder nur mit unverhältnismäßig großen Schwierigkeiten hergestellt werden oder ist ihm die Obsorge ganz oder teilweise entzogen, ist der andere Elternteil gem § 178 Abs 1

KINDSCHAFTSRECHT Juni 2023 133

Satz 1 ABGB insoweit allein mit der Obsorge betraut. Ist in dieser Weise jener Elternteil betroffen, der mit der Obsorge des Kindes allein betraut ist, hat das Gericht gem § 178 Abs1 Satz 2 ABGB unter Beachtung des Kindeswohls zu entscheiden, ob der andere Elternteil oder ob und welches Großelternpaar (Großelternteil) oder Pflegeelternpaar (Pflegeelternteil) mit der Obsorge zu betrauen ist. Diese Regelung gilt auch, wenn beide Elternteile von der Verhinderung betroffen sind.

2.3.2. Das Gesetz sieht somit – worauf der OGH in seinem Antrag zutreffend verweist – bei der Betrauung mit der Obsorge ein „starres“ Rangverhältnis vor: Kam die Obsorge zunächst beiden Elternteilen zu, fällt die Obsorge im Todes- oder Verhinderungsfall dem anderen Elternteil zu. War hingegen nur ein Elternteil mit der Obsorge betraut, hat das Gericht unter Beachtung des Kindeswohls zu ermitteln, ob der andere Elternteil, die Groß- oder die Pflegeeltern mit der Obsorge zu betrauen sind. Wer von diesen Personen im konkreten Einzelfall mit der Obsorge zu betrauen ist, hat das Gericht anhand des Kindeswohls zu entscheiden (Fischer-Czermak in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.05, § 178 Rz 9 mwN). Eine andere Person (etwa eine Tante, ein Onkel oder die Urgroßeltern) kann gem §178 Abs 1 iVm § 204 ABGB nur mit der Obsorge betraut werden, wenn der andere Elternteil sowie die Groß- und Pflegeeltern nicht dazu geeignet sind.

2.3.3. Gem § 184 ABGB sind Pflegeeltern Personen, die die Pflege und Erziehung des Kindes ganz oder teilweise besorgen und zu denen eine dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und Kindern nahekommende Beziehung besteht oder hergestellt werden soll. Sie haben das Recht, in den die Person des Kindes betreffenden Verfahren Anträge zu stellen.

Gem § 185 Abs 1 ABGB hat das Gericht einem Pflegeelternpaar (Pflegeelternteil) auf seinen Antrag die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise zu übertragen, wenn das Pflegeverhältnis nicht nur für kurze Zeit beabsichtigt ist und die Übertragung dem Wohl des Kindes entspricht. Die Regelungen über die Obsorge gelten dann für dieses Pflegeelternpaar (diesen Pflegeelternteil). Sind die Eltern oder Großeltern mit der Obsorge betraut und stimmen sie der Übertragung nicht zu, darf diese nur verfügt werden, wenn ohne sie das Wohl des Kindes gefährdet wäre (§ 185 Abs 2 ABGB). Die Übertragung ist aufzuheben, wenn dies dem Wohl des Kindes entspricht. Gleichzeitig hat das Gericht unter Beachtung des Wohls des Kindes auszusprechen, auf wen die Obsorge übergeht (§ 185 Abs 3 ABGB). Das Gericht hat vor seiner Entscheidung die Eltern, den gesetzlichen Vertreter, weitere Erziehungsberechtigte, den KJHT und jedenfalls das bereits zehnjährige Kind zu hören (§ 185 Abs 4 ABGB).

2.3.4. Der Pflegeelternbegriff des ABGB (§§ 184 f) knüpft an zwei Merkmale, nämlich erstens die tatsächliche ganze oder teilweise Besorgung der Pflege und Erziehung im Innenverhältnis und zweitens das Bestehen einer dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und Kindern nahekommenden persönlichen Beziehung oder die Absicht, eine solche herzustellen (vgl ErlRV 296 BlgNR 21. GP 69 f). Dies setzt voraus, dass das Kind bereits zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über die Obsorge tatsächlich und weitgehend in den Haushalt und Lebensablauf bzw den Lebenszusammenhang der Pflegeeltern eingegliedert ist und am Alltag teilnimmt (vgl OGH 21. 10. 2014, 10 ObS 68/14v; 27. 11. 2019, 5 Ob 143/19v; Ondreasova in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4, § 184 Rz 4). Die bloße Absicht, ein Kind erst in den Haushalt aufnehmen oder in Zukunft die Pflege und Erziehung auszuüben zu wollen, genügt nicht, um als Pflegeeltern iSd § 184 ABGB qualifiziert werden zu können (vgl OGH 1. 12. 2005, 6 Ob 215/05v; 14. 12. 2011, 3 Ob 65/11b; Ondreasova in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4, § 184 Rz 4; Weitzenböck in Schwimann/Kodek, ABGB5, § 184 Rz 7 mwN).

2.3.5. Vom Pflegeelternbegriff des ABGB zu unterscheiden ist jener der jeweiligen Kinder- und Jugendhilfegesetze der Länder, der

regelmäßig an zusätzliche Voraussetzungen geknüpft ist. So können Pflegeverhältnisse nach dem im vorliegenden Fall maßgeblichen Tiroler Kinder- und Jugendhilfegesetz als öffentliche Pflegeverhältnisse im Rahmen einer Erziehungshilfe oder als private Pflegeverhältnisse begründet werden (vgl § 23 Abs 1 TKJHG).

Gem § 25 TKJHG sind für die Begründung eines öffentlichen Pflegeverhältnisses – mit Ausnahme von Sozialpädagogischen Pflegeverhältnissen und Bereitschaftspflegeverhältnissen nach § 24 TKJHG – die Pflegeerklärung (§ 26 TKJHG), die Eignungsbeurteilung (§ 27 TKJHG), die Pflegeplatzerhebung (§ 28 TKJHG), die Teilnahme an einer Ausbildung (§ 29 TKJHG) sowie die Vermittlung eines Pflegeplatzes (§ 30 TKJHG) erforderlich. (…)

2.4. Nach Art 1 BVG über die Rechte von Kindern hat jedes Kind „Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für sein Wohlergehen notwendig sind, auf bestmögliche Entwicklung und Entfaltung sowie auf die Wahrung seiner Interessen auch unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit. Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher und privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.“ Die verfassungsrechtliche Vorgabe, bei Kinder betreffenden Maßnahmen das Kindeswohl als vorrangige Erwägung zu berücksichtigen, bindet auch den Gesetzgeber, wenn er die Grundlagen für solche Maßnahmen normiert. Das in Art 1 Satz 2 BVG über die Rechte von Kindern solcherart verankerte Kindeswohl wird maßgeblich durch den in Satz 1 leg cit normierten Anspruch von Kindern auf bestmögliche Entwicklung und Entfaltung bestimmt (vgl VfSlg 19.941/2014, 20.018/2015).

Art 1 BVG über die Rechte von Kindern normiert nicht nur einen Bereich grundrechtlichen Schutzes, in den unter den Voraussetzungen des Art 7 BVG über die Rechte von Kindern eingegriffen werden darf, sondern auch einen Auftrag an die Gesetzgebung und –insb im Rahmen seines zweiten Satzes – an die Vollziehung, das Kindeswohl als eine vorrangige Erwägung zu berücksichtigen (vgl abermals VfSlg 19.941/2014, 20.018/2015).

Eine Beschränkung der Ansprüche nach Art 1 Satz 1 ist gem dem (Art 8 Abs 2 EMRK nachgebildeten) Art 7 BVG über die Rechte von Kindern nur zulässig, „insoweit sie gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist“.

2.5. Der Gesetzgeber hat mit den angefochtenen Bestimmungen ein dem Kindeswohl im Regelfall entsprechendes Regelungssystem für die Betrauung mit der Obsorge geschaffen: Demnach hat das Gericht im Falle der Verhinderung des allein zur Obsorge berufenen Elternteils unter Wahrung des Kindeswohls zu entscheiden, ob die Obsorge dem anderen (geeigneten) Elternteil, den Großoder den Pflegeeltern zukommen soll. Entsprechendes gilt bei Verhinderung beider Elternteile. Wenn der Gesetzgeber die Vermutung aufstellt, dass dem Kindeswohl im Regelfall dadurch entsprochen wird, dass eine Person aus diesem Personenkreis (anderer Elternteil, Groß- oder Pflegeeltern) mit der Obsorge betraut wird, widerspricht dies dem Grundsatz nach nicht den dargestellten Anforderungen des BVG über die Rechte von Kindern.

2.6. Der VfGH teilt jedoch die Auffassung des OGH, dass die angefochtenen Bestimmungen insofern gegen Art 1 BVG über die Rechte von Kindern verstoßen, als der Kreis jener Personen, die vor „andere[n] geeignete[n] Person[en]“ iSd § 204 ABGB (bevorzugt) mit der Obsorge zu betrauen sind (sohin der andere Elternteil sowie die Groß- oder Pflegeeltern), vom Gesetzgeber zu eng gezogen ist:

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2.6.1. In diesem Sinne können etwa (ältere) Geschwister, Tanten, Onkel, Urgroßeltern oder andere geeignete Angehörige der (sozialen) Familie erst dann mit der Obsorge betraut werden, wenn weder der andere Elternteil noch die Groß- oder Pflegeeltern zur Übernahme der Obsorge geeignet sind. Die genannten Personen (Geschwister, Tanten, Onkel, Urgroßeltern und andere geeignete Angehörige der [sozialen] Familie) haben zwar grundsätzlich die Möglichkeit, im Wege der Pflegeelternschaft mit der Obsorge für das Kind betraut zu werden. Dafür ist es jedoch erforderlich, dass das Kind im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts über die Obsorge bereits in deren Haushalt eingegliedert war (OGH 1. 12. 2005, 6 Ob 215/05v; 14. 12. 2011, 3 Ob 165/11b; 21. 10. 2014, 10 ObS 68/14v; 27. 11. 2019, 5 Ob 143/19v; Ondreasova in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4, § 184 Rz 4; Weitzenböck in Schwimann/Kodek, ABGB5, § 184 Rz 7). (…)

2.6.2. Die angefochtenen Bestimmungen bewirken, dass etwa Geschwister, Tanten, Onkel, Urgroßeltern oder andere geeignete Angehörige der (sozialen) Familie kategorisch von der Möglichkeit, mit der Obsorge für das Kind betraut zu werden, ausgeschlossen werden, wenn jemand aus dem Kreis der vom Gesetz bevorzugten Personen (anderer Elternteil, Groß- und Pflegeeltern) zur Übernahme der Obsorge geeignet ist. Dies gilt selbst für den Fall, dass das Kindeswohl eigentlich die Betrauung einer nicht bevorzugten Person mit der Obsorge geböte. Eine solche Fallkonstellation hat nicht zuletzt den OGH dazu bewogen, den vorliegenden Gesetzesprüfungsantrag an den VfGH zu stellen.

2.6.3. Eine solche Regelung könnte nur dann den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechen, soweit dafür eine Rechtfertigung iSd Art 7 BVG über die Rechte von Kindern gefunden werden kann.

Der VfGH teilt zunächst die Auffassung des OGH, dass die Verfahrensökonomie sowie die bloße Tatsache einer bestehenden Blutsverwandtschaft eine Einschränkung der gesetzlichen Gewährleistung des Kindeswohls nicht rechtfertigen können. Grundsätzlich beachtlich ist der ua von der Kinder- und Jugendhilfe der BH Innsbruck ins Treffen geführte Umstand, dass eine Trennung des Pflegekindes von den Pflegeeltern auch eine Beeinträchtigung des Kindeswohls bewirken kann. Dies wird in vielen Fällen zutreffend sein, rechtfertigt aber nach Auffassung des VfGH nicht den pauschalen gesetzlichen Ausschluss der genannten Personen aus dem Kreis jener, die bevorzugt mit der Obsorge betraut werden können.

Für den VfGH sind somit keine berechtigten, gegenläufigen Interessen erkennbar, welche die vom OGH angefochtenen Bestimmungen zu rechtfertigen vermögen.

2.7. Der Gesetzgeber hat somit den Kreis jener Personen, die vor „andere[n] geeignete[n] Person[en]“ iSd § 204 ABGB (bevorzugt) mit der Obsorge zu betrauen sind, zu eng gezogen. Da diese durch die angefochtenen Bestimmungen bewirkte Einschränkung des Kindeswohls nach Auffassung des VfGH nicht iSd Art 7 BVG über die Rechte von Kindern gerechtfertigt werden kann, verstoßen sie gegen Art 1 BVG über die Rechte von Kindern und sind als verfassungswidrig aufzuheben.

2.8. Der Gesetzgeber hat im Zuge einer allfälligen Neuregelung sicherzustellen, dass zusätzlich zu den bisher privilegierten Personen (anderer Elternteil, Groß- und Pflegeeltern) auch Geschwister, Tanten, Onkel, Urgroßeltern sowie andere geeignete Angehörige der (sozialen) Familie mit der Obsorge betraut werden können, wenn dies dem Kindeswohl entspricht. Dem Gesetzgeber steht es weiters frei, diesen Kreis der privilegierten Personen anhand sachlicher Kriterien zu erweitern. (…)

Anmerkung

Nach (noch) geltender Rechtslage besteht bei Verhinderung eines obsorgeberechtigten Elternteils eine klare Rangfolge für die weiteren Obsorgeverhältnisse:

■ Wenn die Obsorge bisher beiden Eltern zukam, ist künftig der andere Elternteil gem § 178 Abs 1 Satz 1 ABGB mit der Alleinobsorge betraut.

■ Ist der allein obsorgeberechtigte Elternteil an der weiteren Ausübung der Obsorge gehindert, sind nach § 178 Abs 1 Satz 2 ABGB bei entsprechender Eignung der bisher nicht obsorgeberechtigte Elternteil oder Großeltern(-teile) oder Pflegeeltern(-teile) mit der Obsorge zu betrauen. Großeltern und Pflegeeltern sind auch im Fall einer Verhinderung beider obsorgeberechtigten Elternteile bevorzugt für eine Obsorgeausübung heranzuziehen. Innerhalb der aus dem anderen Elternteil, Großeltern und Pflegeeltern bestehenden Gruppe entscheidet das Kindeswohl. Wenn einer Person aus dieser Gruppe die Obsorge zugewiesen werden kann, ist die Obsorgeübertragung an eine andere –gegebenenfalls besser geeignete – Person rechtlich ausgeschlossen. Dies betraf im Anlassfall die Urgroßeltern, die dem Kind vorteilhaftere Entwicklungsmöglichkeiten bieten konnten, aufgrund der gesetzlichen Vorrangstellung der zur Obsorgeausübung hinreichend geeigneten Pflegeeltern aber nicht mit der Obsorge betraut wurden.

■ Nur wenn die Obsorge weder dem anderen Elternteil noch Großeltern(-teilen) noch Pflegeeltern(-teilen) übertragen werden kann, ist nach § 204 ABGB die Betrauung einer anderen geeigneten Person mit der Obsorge zulässig. Diese eindeutige Rangordnung steht der gem Art 1 BVG über die Rechte von Kindern vorrangigen Beachtung des konkreten Kindeswohls entgegen.

Nach einem Antrag des OGH (2 Ob 42/22y, iFamZ 2022/218 [Beck]) hob der VfGH die Bezug habenden Bestimmungen als verfassungswidrig auf. Für eine Neuregelung räumte er dem Gesetzgeber einen Zeitraum von eineinhalb Jahren ein und gab ihm Zielvorgaben auf den legistischen Weg mit. Es bleibt abzuwarten, ob der Gesetzgeber bis zum Inkrafttreten der Aufhebung mit 30. 9. 2024 lediglich die verfassungswidrigen Rechtsnormen sanieren oder die geplante Reform des Kindschaftsrechts einschließlich neuer Gesetzesvorschriften über die Obsorge nach Verhinderung eines obsorgeberechtigten Elternteils realisieren wird. Dabei verlangt die inhaltliche Gestaltung einer grundrechtskonformen Rechtslage jedenfalls die Berücksichtigung zahlreicher Gesichtspunkte, die miteinander nicht leicht in Einklang zu bringen sind:

Im Fall der (dauerhaften) Verhinderung eines Elternteils bei gemeinsamer Obsorge wird wohl auch künftig dem zweiten Elternteil schon aufgrund des Gesetzes die (Allein-)Obsorge zukommen. Überlegenswert ist allerdings die Frage, ob eine solche Änderung der Obsorgeverhältnisse von der bisherigen Einbindung dieses Elternteils in die Betreuung des Kindes abhängen soll. Wenn die Eltern nach einer länger zurückliegenden Beendigung ihres Zusammenlebens zwar formal die beiderseitige Obsorge fortführten, das Kind aber (fast) ausschließlich von einem Elternteil betreut wurde und zum getrennt lebenden Elternteil kaum noch Kontakt hatte, ist aus Kindeswohlsicht nicht leicht verständlich, dass in einer besonders schwierigen Lebensphase des Kindes die Alleinobsorge des Elternteils, der vor der Verhinderung des betreuenden Elternteils seine Verantwortung für das Kind nicht wahrgenommen hat, infolge eines rechtlichen Automatismus jedenfalls die beste Lösung sein soll.

Noch heikler ist eine Neuregelung der Rechtsfolgen einer Verhinderung des bisher allein obsorgeberechtigten Elternteils. Die Reparatur der verfassungswidrigen Gesetzeslage könnte schon dadurch erreicht werden, dass die Urgroßeltern in den Kreis der gem § 178 Abs 1 ABGB bevorrangten Gruppe aufgenommen würden. Im Fall einer derart minimalistischen Vorgehensweise des Gesetzgebers bliebe die Bestimmung allerdings leicht anfechtbar – etwa durch die im Erkenntnis des

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VfGH bereits erwähnten (älteren) Geschwister, Tanten oder Onkel, wenn diese in einem konkreten Fall zur Obsorgeausübung besser geeignet wären als der andere Elternteil, Großeltern oder Pflegeeltern, sie infolge der gesetzlichen Reihung aber erst wieder nicht mit der Obsorge betraut werden könnten.

Sinnvoller wird eine gewisse Öffnung der Bestimmung über die Neuregelung der Obsorge mit bloßer Umschreibung der für die Obsorge bevorzugt heranzuziehenden Personengruppe sein, aber ohne taxative Aufzählung; dabei muss es allerdings gelingen, die Rechtslage stärker an Kindeswohlkriterien auszurichten und gleichzeitig eine hinreichende Praxistauglichkeit des Gesetzes sicherzustellen. Je größer die Zahl der Personen wird, die das Gericht in das Obsorgeverfahren einzubeziehen hat, desto länger wird unweigerlich die Verfahrensdauer. Die in § 178 ABGB normierte materielle Rechtsposition verschafft den darin genannten Personen nach einer für die erstinstanzlichen Gerichte durchaus fordernden Rsp des OGH ja Parteistellung im Verfahren (vgl RIS-Justiz RS0133751).

Die angesprochene Ausgewogenheit der gesetzlichen Vorgaben könnte für den Fall einer Verhinderung des bisher allein obsorgeberechtigten Elternteils an der weiteren Obsorgeausübung etwa dadurch erreicht werden, dass nach Maßgabe des Kindeswohls in erster Linie der andere Elternteil oder eine sonstige wichtige Bezugsperson des Kindes, sofern diese zur Obsorgeübernahme bereit und geeignet ist, mit der Obsorge zu betrauen wäre. Dass Wünsche des Kindes und des verhinderten Elternteils bei der Auswahl der dann obsorgeberechtigten Person im Sinn des geltenden § 205 Abs 1 ABGB zu berücksichtigen sind, sofern sie dem Kindeswohl entsprechen, wird weiterhin zu gelten haben.

Susanne Beck

§ 180 Abs 2 ABGB

Alleinobsorge nach Auszug eines Elternteils aus der gemeinsamen Wohnung

OGH 18. 4. 2023, 5 Ob 47/23g

iFamZ 2023/91

Für die Entscheidung, ob (hier: nach Trennung der Eltern) die Alleinobsorge eines Elternteils oder eine Obsorge beider Eltern anzuordnen ist, kommt es ausschließlich darauf an, welche Regelung dem Wohl des Kindes besser entspricht.

Seit dem Auszug des Vaters aus der gemeinsamen Wohnung im Februar 2021 leben die drei Minderjährigen gemeinsam mit ihrer Mutter; mit Beschluss vom 7. 6. 2021 legte das Erstgericht den hauptsächlichen Aufenthalt bei der Mutter fest. Ein Scheidungsverfahren zwischen den Eltern ist anhängig. Die Mutter beantragte die alleinige Obsorge für die drei Minderjährigen.

Das Rekursgericht sprach (im zweiten Rechtsgang) aus, dass der Mutter künftig die alleinige Obsorge für die drei Kinder zukomme.

Der OGH wies den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters wegen Fehlens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung zurück.

1.2. Die Entscheidung nach § 180 Abs 2 ABGB, welchem Elternteil die Obsorge endgültig zu übertragen ist, hat sich allein am darin genannten Kindeswohl zu orientieren, und zwar ohne dass es – anders als in den hier nicht relevanten Fällen der Sicherungsverfügung nach den §§ 181 f ABGB – einer Kindeswohlgefährdung bedarf, um die alleinige Obsorge anzuordnen (1 Ob 185/22w mwN). Für die Entscheidung, ob eine Alleinobsorge eines Elternteils oder eine Obsorge beider Eltern anzuordnen ist, kommt es daher nur darauf an, welche Regelung dem Wohl des Kindes besser entspricht (RIS-Justiz RS0128812 [T13]).

1.3. Eine sinnvolle Ausübung der Obsorge durch beide Eltern setzt ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit beider voraus. Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es nämlich erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen

und einen Entschluss zu fassen. Es ist daher zu beurteilen, ob eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist oder zumindest in absehbarer Zeit hergestellt werden kann (RISJustiz RS0128812 [T4]). (…)

2.1. Der vom Revisionsrekurswerber genannten Entscheidung 8 Ob 152/17m lag ein Fall zugrunde, in dem der gegenseitige Umgang der Eltern zwar schwierig war, allerdings Vereinbarungen über Betreuungswochenenden zustande gekommen und auch schon mehrere Vereinbarungen unter Anleitung des Gerichts gelungen waren. Aus diesem Grund sah es der Senat für erforderlich an, vor der endgültigen Entscheidung über die alleinige Obsorge zur Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft der Eltern noch nähere Feststellungen zu treffen. Im vorliegenden Fall steht hingegen – nach der vom Erstgericht im April 2022 angeordneten Elternberatung, die von der Mutter mehrmals einzeln in Anspruch genommen wurde –fest, dass zwischen den Kindeseltern nach wie vor ein konflikthaftes, von ständigen wechselseitigen Vorwürfen geprägtes Verhältnis besteht und weiterhin nicht davon auszugehen ist, dass sich dieser Konflikt auflösen wird, weil beide Elternteile eine Kommunikation zum jeweils anderen Elternteil grundsätzlich ablehnen. „Die Eltern sind auch nicht bereit, über Angelegenheiten ihrer gemeinsamen Kinder zu kommunizieren oder eine gemeinsame Elternberatung durchzuführen.“ Nach den Feststellungen ist „davon auszugehen, dass die Eltern auch weiterhin jegliche Zusammenarbeit auf Obsorgeebene unterlassen werden. Jede Kommunikation der Eltern würde in einem hochemotionalen Streit enden“. Es sei „auch nicht zu erwarten, dass die Eltern Angelegenheiten ihrer Kinder jemals gemeinsam werden besprechen, geschweige denn lösen können/wollen“. Die Vorinstanzen haben zur Beurteilung der gegenwärtigen und künftigen Kooperationsfähigkeit der Eltern damit hinreichende Feststellungen getroffen. (…)

§ 180 ABGB iFamZ 2023/92

Verfahrensrechtliches zur Entscheidung über Obsorge und Betreuung

OGH 21. 2. 2023, 2 Ob 4/23m

Es besteht kein genereller Grundsatz, dass das Gericht im Obsorgeverfahren stets einen Sachverständigen beiziehen müsste. Erhebungen und fachpsychologische Schlussfolgerungen der Familiengerichtshilfe können im Zusammenhalt mit anderen Beweismitteln eine ausreichende Entscheidungsgrundlage bilden.

Die Anhörung eines erst knapp fünfjährigen Kindes kann im Hinblick auf seine altersbedingt mangelnde Verständnisfähigkeit iSd § 105 Abs 2 AußStrG unterbleiben.

Die – mittlerweile geschiedenen – Eltern der (ehelichen) Kinder leben seit dem Auszug der Mutter aus der Ehewohnung Ende 2020 getrennt.

Die Vorinstanzen hielten die gemeinsame Obsorge der Eltern für beide Kinder aufrecht (1.), legten die Betreuung durch beide Eltern im zeitlich gleichen Ausmaß fest (Doppelresidenz: Mutter an geraden Kalenderwochen, Vater an ungeraden Kalenderwochen) und wiesen die hauptsächliche Betreuung im Sinn der primären Wahrnehmung jener Aufgaben, deren Grundlage ein bestimmter Aufenthaltsort der Minderjährigen ist, nicht jedoch die alleinige Bestimmung des Wohnorts der Minderjährigen im Inund Ausland iSd § 162 Abs 2 ABGB, für den Sohn dem Vater und für die Tochter der Mutter zu (2. und 3.), räumten dem Vater ein Ferienkontaktrecht ein (4.) und verpflichteten die Eltern, binnen sechs Monaten eine gemeinsame Elternberatung nachzuweisen (5.).

Die Mutter zeigt mit ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs, mit dem sie primär die Übertragung der alleinigen Obsorge für beide Kinder, für den Fall der Aufrechterhaltung der gemeinsamen Obsorge die Festlegung des überwiegenden Aufenthalts bei ihr und die Einräumung eines 14-tägigen Kontaktrechts am Wochenende anstrebt, keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf.

KINDSCHAFTSRECHT Juni 2023 136

1. Auch im Außerstreitverfahren kann eine vom Rekursgericht verneinte Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz im Revisionsrekursverfahren grundsätzlich nicht mehr geltend gemacht werden (RIS-Justiz RS0050037; RS0030748). Ausreichende Anhaltspunkte für eine aus Gründen des Kindeswohls gebotene Durchbrechung dieses Grundsatzes (RIS-Justiz RS0050037 [T1, T4, T8, T9, T18]; RS0030748 [T2, T5, T18]) zeigt die Mutter in ihrem Revisionsrekurs nicht auf.

1.1. Hinsichtlich des Umfangs der Beweisaufnahme ist der Richter nicht streng an die Anträge der Parteien gebunden; er kann darüber hinausgehen, aber auch nach seinem Ermessen im Interesse einer zügigen Verfahrensführung von der Aufnahme einzelner Beweismittel Abstand nehmen, wenn auch auf andere Weise eine (ausreichend) verlässliche Klärung möglich ist (RIS-Justiz RS0006319 [T6]). Es besteht kein genereller Grundsatz, dass das Pflegschaftsgericht im Obsorgeverfahren immer einen Sachverständigen beizuziehen hätte (RIS-Justiz RS0006319 [T7, T13]; 5 Ob 104/19h). Gelangen die Vorinstanzen – wie im vorliegenden Fall – zum Ergebnis, dass die Erhebungen und fachpsychologischen Schlussfolgerungen der Familiengerichtshilfe im Zusammenhalt mit anderen Beweismitteln eine ausreichende Entscheidungsgrundlage bilden, ist die der Beweiswürdigung zuzuordnende Frage, ob im Einzelfall zusätzlich ein von der Mutter gefordertes Sachverständigengutachten erforderlich gewesen wäre, vom OGH, der nicht Tatsacheninstanz ist, nicht überprüfbar (RIS-Justiz RS0007236 [T9]; RS0108449 [T4]; 1 Ob 94/21m).

1.2. Das Gebot zur Befragung des Kindes dient dazu, dessen grundsätzliche Einstellung zu den zu beurteilenden Fragen zu ermitteln. Nur aus den in § 105 Abs 2 AußStrG genannten zwei Gründen – soweit (1.) durch die Befragung oder durch einen damit verbundenen Aufschub der Verfügung das Wohl des Minderjährigen gefährdet wäre oder (2.) im Hinblick auf die Verständnisfähigkeit des Minderjährigen offenbar eine überlegte Äußerung zum Verfahrensgegenstand nicht zu erwarten ist – kann die Befragung überhaupt unterbleiben (RIS-Justiz RS0119594 [T1]; 10 Ob 82/18h, Pkt 2.). Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, kann dies einen wesentlichen, ungeachtet dessen Verneinung durch das Rekursgericht wahrnehmbaren Verfahrensmangel darstellen (10 Ob 82/18h, Pkt 6.). Die unterbliebene Anhörung der bei Beschlussfassung erster Instanz erst knapp Fünfjährigen ist schon aufgrund der altersbedingt mangelnden Verständnisfähigkeit nicht zu beanstanden (vgl 6 Ob 75/13t, Pkt 2.). Die ebenfalls unterbliebene Befragung des Siebenjährigen haben die Vorinstanzen darüber hinaus damit begründet, dass diese aufgrund der Sprachbarriere durch einen Dolmetscher vorzunehmen, daher sehr belastend (und deshalb dem Kindeswohl abträglich) wäre. Soweit der Revisionsrekurs dies lediglich mit dem Hinweis auf den Kindergartenbesuch in Österreich in Zweifel zu ziehen versucht, übersieht er, dass die – vom Erstgericht mit der fachlichen Stellungnahme der Familiengerichtshilfe und der Einvernahme einer Zeugin begründete – Sachverhaltsannahme zur Belastungssituation bei der Einvernahme nicht mit Revisionsrekurs bekämpfbar ist (RIS-Justiz RS0108449).

2. (…) Eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Eltern setzt ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit beider voraus. Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und einen Entschluss zu fassen. Es ist also eine – in hohem Maß einzelfallbezogene (RIS-Justiz RS0128812 [T5]) – Beurteilung dahin vorzunehmen, ob bereits jetzt eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist oder zumindest in absehbarer Zeit mit einer solchen gerechnet werden kann (RIS-Justiz RS0128812).

In ihrem Revisionsrekurs zeigt die Mutter keine Überschreitung des den Vorinstanzen eingeräumten Beurteilungsspielraums

oder eine Außerachtlassung des Kindeswohls bei der Aufrechterhaltung der gemeinsamen Obsorge und der Anordnung der Doppelresidenz auf. Vielmehr greift sie nur einzelne Sachverhaltselemente heraus, übergeht aber die erstinstanzlichen Feststellungen, aus denen sich die Erziehungsfähigkeit beider Eltern und die – von ihr in Zweifel gezogene – Gefahrlosigkeit der Wohnverhältnisse auch beim Vater ergibt. Wenn die Vorinstanzen überdies davon ausgegangen sind, dass mit einer entsprechenden Gesprächsbasis im Zusammenhalt mit der angeordneten Elternberatung zu rechnen ist, kann der OGH dieser Sachverhaltsannahme nicht entgegentreten. (…)

3.2. Auch im Außerstreitverfahren gilt in dritter Instanz das Neuerungsverbot (RIS-Justiz RS0119918). Der Entscheidung sind die Umstände zum Zeitpunkt der Beschlussfassung in erster Instanz zugrunde zu legen (RIS-Justiz RS0006928). Ungeachtet des Neuerungsverbots ist der Maxime des Kindeswohls im Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren zwar dadurch zu entsprechen, dass neue Tatsachen auch dann zu berücksichtigen sind, wenn sie erst nach der Beschlussfassung der Vorinstanzen eingetreten sind (RIS-Justiz RS0122192; RS0048056). Das bezieht sich aber nur auf unstrittige und aktenkundige Umstände (RIS-Justiz RS0048056 [T7]; RS0122192 [T3]), nicht aber auf solche, die erst noch durch ein Beweisverfahren zu klären wären (RIS-Justiz RS0122192 [T4]; RS0048056 [T7]). Überdies kommt eine Berücksichtigung nur bei wesentlicher Veränderung der Tatsachengrundlage in Betracht (RIS-Justiz RS0048056 [T6, T10]).

Selbst wenn bei der Tochter Entwicklungsdefizite als Vorschulkind beim Verständnis von Wörtern, Zahlen und der Merkfähigkeit bestehen sollten, ist nicht ersichtlich, dass diese auf ein (Fehl-)Verhalten des Vaters zurückzuführen wären. Gegenteiliges neues Vorbringen der Mutter allein macht die betreffenden Behauptungen noch nicht zum aktenkundigen Umstand.

Auch die behaupteten Vorfälle Ende Juni und Anfang Juli 2022, die offenkundig Meinungsverschiedenheiten im Zuge der erstmaligen Umsetzung des erstinstanzlichen Beschlusses darstellen, führen – abgesehen davon, dass sie erst durch ein Beweisverfahren zu klären wären – zu keiner wesentlichen Änderung der Sachverhaltsgrundlage, gab es doch auch schon bisher – gerade in Zeiten fehlender gerichtlicher Regelung – von den Vorinstanzen berücksichtigte Streitigkeiten der Eltern iZm der Übergabe der Kinder.

Anmerkung

In der vorliegenden Entscheidung befasste sich der OGH mit einer Vielzahl von verfahrensrechtlichen Aspekten, insb mit Ausnahmen von der grundsätzlich verpflichtenden Anhörung von Kindern in Verfahren über die Obsorge oder das Kontaktrecht. Die Abstandnahme von deren unmittelbarer Einbeziehung in das Verfahren wurde im Fall des knapp fünf Jahre alten Kindes mit dessen fehlender Verständnisfähigkeit zu den entscheidungsrelevanten Verhältnissen (vgl dazu 6 Ob 75/13t; 1 Ob 205/18f) und im Fall des sieben Jahre alten Kindes von den Vorinstanzen überdies mit einer Sprachbarriere begründet.

Soweit aus dem Erfordernis, einem Gespräch mit dem Kind im Rahmen des Gerichtsverfahrens einen Dolmetscher beizuziehen, eine Belastung im Ausmaß einer Kindeswohlgefährdung und somit ein Ausnahmetatbestand gemäß der eng auszulegenden Bestimmung des § 105 Abs 2 AußStrG abgeleitet wurde, mag dies im vorliegenden Fall angesichts entsprechender Erhebungsergebnisse zutreffen. Die Schlussfolgerung von unzureichenden Deutschkenntnissen eines Kindes auf die Zulässigkeit einer Abstandnahme von seiner Anhörung im Verfahren ist aber nicht verallgemeinerungsfähig, sonst würde eine direkte Einbindung von Kindern mit dafür ungenügenden Kenntnissen der deutschen Sprache in Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren grundsätzlich unterbleiben und diesen Kindern

KINDSCHAFTSRECHT Juni 2023 137

die Möglichkeit, ihre Sichtweisen, Sorgen und Wünsche in das Verfahren einzubringen, generell vorenthalten.

Die gem Art 4 BVG über die Rechte von Kindern gebotene Partizipation von Kindern an „ihren“ Verfahren und die Berücksichtigung ihrer Meinungsäußerung in einer ihrem Entwicklungsstand gemäßen Weise ist aber nicht von ausreichenden Deutschkenntnissen abhängig. Wenn ein Kind nach seinem aktuellen Entwicklungsstand noch keine für eine Anhörung genügenden Sprachkenntnisse erlangt hat, aber zur Meinungsbildung und -äußerung in einer ihm (besser) vertrauten Sprache in der Lage ist, hat das Gericht zur Durchführung eines grundrechtskonformen Verfahrens eine geeignete Vorgehensweise zu wählen, um dem Kind eine Ausübung seiner Rechte zu ermöglichen. Dazu gehört die nach den konkreten Umständen vorzunehmende Beurteilung, inwieweit die Beiziehung eines Dolmetschers ein Gespräch mit dem Kind ohne nachteilige Auswirkungen auf das Kindeswohl zulässt. Ein Absehen von einer Anhörung (ausschließlich) mit der Begründung, dass ein Gespräch mit dem Kind nur mit Dolmetscher durchgeführt werden könnte, wird daher nur in Ausnahmefällen aus kinderrechtlicher Sicht einwandfrei argumentiert werden können.

Anmerkung

Die Vorstellung, dass die (hier beantragte vorläufige) Entziehung der Obsorge ein taugliches und rechtlich vertretbares Mittel zur Verhinderung unerwünschter Verhaltensweisen von Eltern gegenüber dritten Personen sein könnte, verkennt die Funktion von Gerichtsbeschlüssen in Pflegschaftsverfahren und überschätzt die Wirkkraft solcher Entscheidungen. Wenngleich vorläufige Regelungen über die Obsorge gem § 107 Abs 2 AußStrG bereits nach Maßgabe des Kindeswohls und nicht mehr erst zur Abwendung einer drohenden Kindeswohlgefährdung getroffen werden dürfen, setzen sie schon nach dem Gesetzeswortlaut voraus, dass sie für die Dauer des Verfahrens „Rechtsklarheit“ – im Sinn einer gewissen Klärung obsorgerechtlicher Zuständigkeiten zwischen den Eltern (RIS-Justiz RS0129538 [T1]) mit vorläufigen Maßnahmen in der Zeit der Neugestaltung der familiären Verhältnisse – schaffen und dadurch das Kindeswohl fördern (vgl dazu auch 4 Ob 215/22d). Auch die vorläufige Entziehung der Obsorge bedeutet aber einen relevanten Grundrechtseingriff, sodass für diese stets der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu gelten hat (vgl 3 Ob 9/18x; 4 Ob 110/20k). Die Begründung des OGH zum außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters blieb daher verständlich kurz.

§ 180 ABGB; § 107 Abs 2 AußStrG

iFamZ 2023/93 Obsorgeentziehung zur Verhaltenssteuerung bei Eltern?

OGH 29. 3. 2023, 8 Ob 14/23a

Das Institut der Entziehung der Obsorge hat nicht die Funktion, unerwünschte Verhaltensweisen von Eltern gegenüber Dritten zu sanktionieren.

Das Rekursgericht entschied mit dem angefochtenen Beschluss, dass die Obsorge über die Kinder vorläufig beiden Elternteilen gemeinsam zusteht und dass sich der Hauptaufenthaltsort der Kinder vorläufig beim Vater befindet.

Der OGH wies den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters wegen Fehlens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung zurück.

(…) Das Erstgericht konnte aufgrund der bisherigen Beweisergebnisse den Vorwurf des Vaters, die Mutter wäre psychisch beeinträchtigt und habe ein Alkoholproblem, nicht verifizieren. Dass sie Mitarbeiter des Kindergartens, der Familienhilfe und der Wiener Kinder- und Jugendhilfe beschimpfte, bezeichnete das Rekursgericht als inakzeptabel, dieses Verhalten reiche aber – zumal die Kinder das Verhalten ihrer Mutter nicht miterlebten – nicht hin, um ihr die Obsorge auch nur vorläufig zu entziehen.

Der OGH vermag dem nicht entgegenzutreten. Das Institut der Entziehung der Obsorge hat nicht die Funktion, unerwünschte Verhaltensweisen von Eltern gegenüber Dritten zu sanktionieren. Dass die Mutter durch ihr Verhalten jegliche Kooperation mit Dritten und Behörden verunmögliche, ergibt sich aus dem festgestellten Sachverhalt nicht. Die Beantwortung der hiervon ausgehenden, in der Zulassungsbeschwerde genannten Rechtsfragen kann daher auf sich beruhen.

Bei der endgültigen Entscheidung über die Obsorge wird vom Erstgericht zu beachten sein, dass der maßgebliche Sachverhalt konkret festzustellen ist, somit was sich tatsächlich ereignet hat, welche Fähigkeiten die Eltern mit sich bringen und welche Bedürfnisse die Kinder haben etc (vgl Hopf/Höllwerth in KBB, ABGB6, § 180 Rz 13). Es genügt nicht bloß festzuhalten, was in einem Polizeibericht oder Polizeiprotokoll steht oder was Mitarbeiter der einen oder anderen Einrichtung berichteten oder was diesen „besonders positiv auffiel“. Es gilt streng zwischen den Feststellungen einerseits sowie den Beweismitteln und der Beweiswürdigung andererseits zu unterscheiden.

§ 167 Abs 3 ABGB iFamZ 2023/94

Pflegschaftsgerichtliche Genehmigung eines Schenkungsvertrags zwischen dem Vater und den durch die Mutter vertretenen Kindern?

OGH 28. 3. 2023, 4 Ob 11/23f

Ein Rechtsgeschäft darf durch das Pflegschaftsgericht nur genehmigt werden, wenn der Abschluss im Interesse des Minderjährigen liegt und somit dem Wohl des Minderjährigen entspricht. Dies ist der Fall, wenn das Vermögen des Minderjährigen vermehrt wird. Diese Voraussetzung ist aber nicht erfüllt, wenn eine Verminderung des Vermögens des Minderjährigen nicht ausgeschlossen werden kann

(…) 1.1. Nach § 167 Abs 3 ABGB bedürfen Vertretungshandlungen und Einwilligungen eines Elternteils in Vermögensangelegenheiten zu ihrer Rechtswirksamkeit der Zustimmung des anderen obsorgebetrauten Elternteils (hier nicht relevant) sowie der Genehmigung des Gerichts, sofern die Vermögensangelegenheit nicht zum ordentlichen Wirtschaftsbetrieb gehört. Unter dieser Voraussetzung gehört zu diesen Geschäften ua die Annahme einer mit Belastungen verbundenen Schenkung.

1.2. Nach stRsp darf ein Rechtsgeschäft durch das Pflegschaftsgericht nur genehmigt werden, wenn der Abschluss im Interesse des Pflegebefohlenen liegt und somit dem Wohl des Pflegebefohlenen entspricht. Dies ist der Fall, wenn das Vermögen des Pflegebefohlenen vermehrt wird (vgl § 164 Abs 1 ABGB), etwa weil der Wert der geschenkten Sache die Belastungen eindeutig übersteigt (vgl RISJustiz RS0048140 [T1]). Diese Voraussetzung ist aber nicht erfüllt, wenn eine Verminderung des Vermögens des Pflegebefohlenen nicht ausgeschlossen werden kann (RIS-Justiz RS0048176).

Bei der Prüfung der Frage, ob ein Rechtsgeschäft dem Wohl des Pflegebefohlenen entspricht, kann nicht bloß die Zeit der fehlenden Eigenberechtigung berücksichtigt werden. Es darf daher ein Rechtsgeschäft auch dann nicht genehmigt werden, wenn Nachteile für den Pflegebefohlenen für die Folgezeit seiner Eigenberechtigung nicht auszuschließen sind. Eine Haftungserklärung des Geschenkgebers muss sich daher auch auf diesen Zeitraum erstrecken (RIS-Justiz RS0048155).

Das „Wohl“ eines Pflegebefohlenen ist aber nicht allein von einem materiellen Gesichtspunkt aus zu beurteilen, sondern muss neben

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Susanne Beck

diesen in einer Gesamtabwägung die Interessen und Wünsche des Pflegebefohlenen, aber auch seine Befindlichkeit und seine konkreten Lebensumstände berücksichtigen (vgl 3 Ob 99/14a mwN). (…)

2.1. Bereits die Vorinstanzen haben hervorgehoben, dass die Minderjährigen die gesamte Liegenschaft für weitere 60 Jahre nicht nutzen können, weil einer Kapitalgesellschaft ein Baurecht und vollständiges Nutzungsrecht an der ganzen Liegenschaft eingeräumt wurde.

Einen – wertgesicherten – Baurechtszins von monatlich 1.350 € erhalten die Minderjährigen dagegen 15 Jahre lang, was pro Kind insgesamt nominell (ohne Wertanpassung) 121.500 € ausmacht und einem monatlichen Baurechtszins auf die Zahlungsdauer von nominell 675 € pro Monat und auf die Gesamtdauer des Baurechts von nominell 168,75 € entspricht.

2.2. Weitere laufende Vorteile für die Minderjährigen sind aus der vorliegenden Vertragslage nicht zu erkennen, sodass sich nicht erschließt, wie sie auf Jahrzehnte hinaus durch eine solche Konstruktion (vgl 9 Ob 272/99m: „nudum ius“) etwa gegenüber der Zuwendung von Geldleistungen in dieser Höhe bessergestellt sein sollten.

2.3. Demgegenüber übernimmt der Vater eine Schad- und Klagloshaltung bis zur Selbsterhaltungsfähigkeit; im Übrigen werden die Grundstückslasten von der GmbH als Baurechtsnehmerin zu tragen sein, was sich nur aus deren Vertrag mit dem Vater ergibt.

Die Vorinstanzen haben ebenfalls bereits darauf hingewiesen, es seien konkrete Sicherstellungen, dass den Minderjährigen diese Schad- und Klagloshaltungsversprechen auch tatsächlich belast- und durchsetzbar zugutekommen werden (vgl RIS-Justiz RS0107178; RS0048140 [T2, T4]), sollten sie in Anspruch genommen werden müssen, der Vertragslage nicht zu entnehmen.

Daraus ergeben sich entgegen den Ausführungen des Rechtsmittels weder primäre noch sekundäre entscheidungsrelevante Verfahrensmängel, wie auch aus folgenden Erwägungen erhellt:

3.1. Das vertragsgegenständliche Grundstück Nr 9 hat keinen Zugang zu öffentlichem Grund. Eine Wegedienstbarkeit wurde vom Vater als Eigentümer des (Rest-)Grundstücks Nr 6 nur der baurechtsberechtigten GmbH eingeräumt, und dies auch nur für die Dauer des Bestehens eines Wohn- und Apartmentgebäudes, nicht aber, ungeachtet des Baurechts, den Minderjährigen als seinen Rechtsnachfolgerinnen im Eigentum des neu zu schaffenden Grundstückes Nr 9; auch eine laut Vertrag zwischen Vater und GmbH beabsichtigte, neu zu schaffende Zufahrt zum Grundstück Nr 9 wird nach der vorliegenden Vertragslage rechtlich nicht den Minderjährigen als Eigentümerinnen dieses neuen Grundstückes zugutekommen. Inwiefern die Schenkung eines solchen Grundstücks dem Wohl der Minderjährigen dienen und inwiefern im Fall der im Revisionsrekurs grundsätzlich zu Recht betonten („jederzeit an wen auch immer“) Veräußerungsmöglichkeit der Liegenschaft trotz Baurechtsbelastung (vgl RIS-Justiz RS0125005) bei solcher Vertragslage jederzeitiges Interesse Dritter am Erwerb eines solchen Grundstückes bestehen sollte, ist nicht ersichtlich.

Die Behauptung, es sei „viel wahrscheinlicher“, dass die Minderjährigen nach Erreichen der Volljährigkeit in die GmbH eintreten und die Liegenschaft in diese einbringen würden, stellt eine bloße Annahme dar.

3.2. Der zu genehmigende Vertrag sieht auch vor, dass die Minderjährigen an die Stelle des Vaters in den Baurechts- und Dienstbarkeitsbestellungsvertrag zwischen Vater und GmbH eintreten sollen. Wie dies – abgesehen von der unmittelbaren Eigentümerstellung in Ansehung des neu errichteten, zu schenkenden Grundstücks Nr 9 und (nur) daraus abgeleiteten Rechten und Pflichten –für die anderen in jenem Vertrag geregelten Rechte und Pflichten, die nach dem hier zu beurteilenden Notariatsakt pauschal auf die Minderjährigen übergehen sollen, ohne Allparteieneinigung bewerkstelligt werden könnte (konkret ohne Zustimmung der bau-

rechts- und dienstbarkeitsberechtigten GmbH zu einem Parteiwechsel), ist nicht ersichtlich. Der zu genehmigende Vertrag bleibt insofern unklar; dass es im Einzelfall auch insofern nicht dem Wohl der Minderjährigen entspricht, in eine derart unklare Vertragslage verstrickt zu sein, liegt auf der Hand.

3.3.1. Dieser Befund wird auch durch den Revisionsrekurs gerade nicht entkräftet. Er bemüht sich vielmehr um Widerlegung eines von den Vorinstanzen gehegten Kollisionsverdachts durch die Darlegung, dass die Mutter weder im eigenen Namen noch als Geschäftsführerin der GmbH am zu genehmigenden Geschäft beteiligt gewesen sei. Wie die Minderjährigen in einem solchen Fall in alle Rechte und Pflichten ihres Vaters aus dem Baurechts- und Dienstbarkeitsbestellungsvertrag eintreten könnten, bleibt offen. (…)

4.1. In einer Gesamtwürdigung hält sich daher das Ergebnis, dass die vorliegende Vertragslage nicht dem Wohl und den Interessen der Minderjährigen entspricht, im Rahmen des den Gerichten im Einzelfall zukommenden Entscheidungsspielraumes. Die darin übereinstimmende Ansicht der Vorinstanzen, dass die Voraussetzungen für eine pflegschaftsgerichtliche Genehmigung nicht vorliegen, ist keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung. (…)

Anmerkung

Die Eltern wollten im Zuge ihrer Lebensgemeinschaft mit einer (in der Entscheidung ausführlich beschriebenen) Vertragskonstruktion die rechtlichen Verhältnisse an einer Immobilie unter Einbeziehung der Kinder im Alter von zirka sechs und zwei Jahren neu regeln: Der Vater räumte einer etwa ein halbes Jahr davor errichteten und von der Mutter als alleinige Gesellschafterin und Geschäftsführerin vertretenen GmbH mit einem notariell beurkundeten Vertrag auf einem Grundstück ein Baurecht für die Dauer von 60 Jahren und Dienstbarkeiten ein, sodass die Gesellschaft ein bereits im Baustadium befindliches Apartmenthaus mit vier Wohneinheiten „gleich einer Eigentümerin“ langfristig nutzen könnte. Am selben Tag schloss der Vater mit den – durch die allein obsorgeberechtigte Mutter vertretenen – Kindern einen Schenkungsvertrag über das baurechtsbelastete Grundstück in Form eines Notariatsakts ab und wollte als Eigentümer des Nachbargrundstücks die unentgeltliche Dienstbarkeit der Holzbringung einschließlich Gehund Fahrrechte vereinbaren. Die Ausgestaltung dieser Rechtsgeschäfte mag durchaus beträchtlichen Interessen der Eltern entsprechen; für die Kinder wäre der Schenkungsvertrag aber nicht vorteilhaft.

Dabei lag eine ganze Reihe von Hinderungsgründen für eine pflegschaftsgerichtliche Genehmigung des Rechtsgeschäfts vor. Besonders wesentlich war die Vertragsfolge, dass die Kinder die Liegenschaft infolge der daran begründeten Rechtsposition einer Kapitalgesellschaft für 60 Jahre nicht nutzen und wegen der Belastung mit dem Baurecht nur unter sehr erschwerten Umständen verwerten könnten. Eine derart massive Beschränkung der Dispositionsmöglichkeit der Kinder weit über die Minderjährigkeit hinaus lässt für sich allein schon keine ausreichende Vorteilhaftigkeit des Rechtsgeschäfts erkennen (vgl dazu etwa 5 Ob 166/09m). Dazu kamen das in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht problematische Fehlen einer Verbindung der für die Kinder bestimmten Immobilie zu einem öffentlichen Weg, unklare Vertragsbestimmungen und eine (ohnehin nur im Innenverhältnis wirkende) Zusage des Vaters zur Schad- und Klagloshaltung der Kinder ohne Sicherstellungen, die diesen eine erfolgreiche Durchsetzung daraus resultierender Ansprüche gegen ihn ermöglichen würden (vgl dazu RIS-Justiz RS0048140 [T2, T4]). Die von Eltern in Rechtsmitteln gegen die Versagung einer Zustimmung des Gerichts zum Zustandekommen eines Rechtsgeschäfts mit einem Kind regelmäßig hervorgehobene Konsequenz, dass die Kinder ohne pflegschaftsgerichtliche Genehmigung gar kein Eigentum an

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der Liegenschaft erwerben würden, ist unerheblich (vgl RISJustiz RS0048140 [T3]), weil der Abschluss eines nachteiligen Rechtsgeschäfts dem Kindeswohl zuwiderläuft und nicht gerichtlich bewilligt werden darf.

Die Frage, ob das Tätigwerden der Mutter als gesetzliche Vertreterin der Kinder, die Belastungen aus dem Baurechtsund Dienstbarkeitsbestellungsvertrag mit der GmbH übernehmen sollen, einerseits und als Geschäftsführerin dieser daraus berechtigten Gesellschaft mit beachtlichen Eigeninteressen andererseits eine formelle und materielle Interessenkollision (zu Begriffsinhalten vgl RIS-Justiz RS0058177) bewirkte, war dadurch nicht mehr entscheidungsrelevant. Wäre es darauf angekommen, könnte am erheblichen Interessenwiderspruch kein Zweifel bestehen.

§ 187 ABGB

Abholung des Kindes für den Urlaub bei grenzüberschreitendem Kontaktrecht

OGH 24. 3. 2023, 6 Ob 218/22k

iFamZ 2023/95

Grundsätzlich hat der kontaktberechtigte Elternteil das Kind von dessen ständigem Aufenthalt abzuholen und dorthin zurückzubringen. Besondere Umstände können aber Ausnahmen von diesem Grundsatz rechtfertigen.

Die drei Minderjährigen lebten zunächst mit ihren Eltern in London. Im Sommer 2021 zog die Mutter mit den Kindern nach X (Österreich). Der Vater zog nach Y in der Schweiz, wobei er von Montag bis Donnerstag in London arbeitet. Vor der Übersiedlung der Mutter und der Kinder nach Österreich traf ein Londoner Gericht am 13. 4. 2021 eine Entscheidung, die den Umzug der Mutter mit den Kindern nach Österreich erlaubte und die Ferienkontakte im Wesentlichen dahin regelte, dass ein Elternteil die Minderjährigen abzuholen, der andere sie zurückzubringen habe.

In der am 24. 3. 2022 von den Eltern vor dem Erstgericht getroffenen Kontaktrechtsvereinbarung ist festgehalten, dass „das Abholen und Zurückbringen der Kinder – soweit nicht vereinbart – mit gerichtlichem Beschluss entschieden werden wird“.

Mit den angefochtenen Beschlüssen verpflichteten die Vorinstanzen den Vater, die Kinder zu den im Spruch angeführten Ferienkontakten jeweils am Beginn der Kontaktzeit am Wohnort der Mutter abzuholen und am Ende der Kontaktzeit wieder dorthin zurückzubringen.

Der OGH wies den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters hinsichtlich der Ferienkontakte im Jahr 2022 zurück, hob die Entscheidungen der Vorinstanzen hinsichtlich des Ferienkontakts von 23. 12. 2023 bis 30.12. 2023 auf und trug dem Erstgericht diesbezüglich eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf.

1. Nach stRsp setzt jedes Rechtsmittel – auch im Außerstreitverfahren (RIS-Justiz RS0006598) – eine Beschwer voraus, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel noch fortbestehen muss; andernfalls ist das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen (RIS-Justiz RS0041770; RS0006880). Diese Grundsätze gelten auch für ein zeitlich überholtes Kontaktrecht (1 Ob 167/21x; RIS-Justiz RS0002495 [T2]; RS0006880 [T10, T15, T16]; RS0041770 [T33, T36]; vgl RS0006526 [T1]).

Soweit die Entscheidungen der Vorinstanzen Kontaktrechte des Vaters zu Zeiten betreffen, die bereits verstrichen sind, fehlt seinem Rechtsmittel die Beschwer, weil es den Zweck, die Mutter zur Übernahme einer Wegstrecke zu verpflichten, nicht mehr erreichen kann. Die Beschwer des Vaters ist daher lediglich für das Kontaktrecht vom 23. 12. 2023 bis 30. 12. 2023 gegeben.

2. Auch vor Gericht getroffene Vereinbarungen sind nach § 914 ABGB – sohin nach dem Wortlaut, dem objektiven Erklärungswert und der Übung des redlichen Verkehrs unter Berücksichtigung der konkreten Umstände (vgl RIS-Justiz RS0017915) – auszulegen (RISJustiz RS0017943).

Bereits aus dem Wortlaut der von den – anwaltlich vertretenen –Eltern am 24. 3. 2022 vor dem Erstgericht geschlossenen Vereinba-

rung („wobei das Abholen und Zurückbringen der Kinder – soweit nicht vereinbart – mit gerichtlichem Beschluss entschieden werden wird“) ergibt sich, dass die Eltern damit das Kontaktrecht des Vaters nicht nur zeitlich neu regelten, sondern für die festgelegten Ferienkontakte auch hinsichtlich des Abholens und Zurückbringens der Kinder von der Regelung des Londoner Gerichts abgingen und eine Entscheidung des Erstgerichts beantragten. Auch der Umstand, dass vor Abschluss der Vereinbarung vom 24. 3. 2022 beide Eltern Anträge auf Neuregelung des Kontaktrechts gestellt hatten, wobei der Antrag der Mutter vom 13. 9. 2021 darauf abzielte, dass der Vater die Kinder abzuholen und zurückzubringen habe, wohingegen der Antrag des Vaters vom 17. 3. 2022 darauf gerichtet war, dass die Mutter pro Auslandskontaktrecht eine Wegstrecke mit den Kindern zurückzulegen habe, spricht dafür, dass beide Eltern eine Neuregelung durch das Erstgericht anstrebten.

Da die Eltern sich auf eine Neuregelung durch das Erstgericht einigten, kann sich der Vater nicht erfolgreich auf die Bindungswirkung der am 13. 4. 2021 ergangenen Entscheidung des Londoner Gerichts zur Frage des Hinbringens und Abholens der Kinder stützen (vgl RIS-Justiz RS0088931).

3. Grundsätzlich hat der Kontaktberechtigte das Kind von dessen ständigem Aufenthalt abzuholen und dorthin zurückzubringen (RIS-Justiz RS0048002; 1 Ob 181/20d). Davon anerkennt die Rsp Ausnahmen im Einzelfall, wobei vor allem wirtschaftliche und organisatorische Faktoren, die eine Regelung praktikabel machen, zu berücksichtigen sind, etwa bei weiteren Entfernungen das Transportproblem und der damit verbundene Zeit- und Kostenaufwand sowie berufliche Rücksichten der Eltern (vgl RIS-Justiz RS0048002 [T7]; 1 Ob 181/20d; 1 Ob 225/21a).

Die Vorinstanzen trafen Feststellungen lediglich zu den Verkehrsverbindungen und der Reisedauer und begründeten ihre Entscheidung, dem Vater sämtliche Transportwege aufzubürden, pauschal damit, dass die Voraussetzungen einer Ausnahme vom Grundsatz, wonach der Kontaktberechtigte die Kinder abzuholen und zurückzubringen habe, nicht vorlägen.

Die Entscheidungen lassen jedoch eine Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Falls vermissen. Dazu gehören in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem beide Eltern vom zunächst bestehenden gemeinsamen Wohnort wegzogen und davor gemeinsam eine Lösung für die zukünftigen Transportwege erarbeiteten, auch die Vorstellungen und Motivationen, die die Eltern ihrer Einigung zum damaligen Zeitpunkt zugrunde legten; ebenso sind seither eingetretene Umstände zu berücksichtigen. Dabei wird –entsprechend der zitierten Rsp – insb auf die Praktikabilität der Regelung und auf die Wahrung des Kindeswohls zu achten sein. Da eine konkrete Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, bei den gegebenen Wohnsitzen der Familienmitglieder eine praktikable, dem Kindeswohl entsprechende Aufteilung der Transportwege zu erreichen, bisher nicht erfolgt ist, ist (im Umfang des vom OGH hier ausschließlich zu beurteilenden Kontaktrechts von 23. 12. 2023 bis 30. 12. 2023) die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und die Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht erforderlich.

Anmerkung

Im Rahmen einer einvernehmlichen Gestaltung des Kontaktrechts kamen die Eltern überein, dass „das Abholen und Zurückbringen der Kinder – soweit nicht vereinbart – mit gerichtlichem Beschluss“ geregelt werden würde. Sie ließen mit dieser Formulierung eine etwas pessimistische, aber (wie das weitere Verfahren zeigt) durchaus realitätsnahe Sicht auf ihre künftige Konsensfähigkeit erkennen. Aus dieser Textierung des Vergleichs und den gegensätzlichen Anträgen der Eltern zur Verantwortlichkeit für den Transport der Kinder zwischen deren Wohnort und dem Aufenthalt des Vaters iZm der Aus-

KINDSCHAFTSRECHT Juni 2023 140

übung des Kontaktrechts war di e Folgerung abzuleiten, dass die Eltern diesbezüglich eine gerichtliche Regelung verlangten und an die Gerichtsentscheidung aus einem Vorverfahren mit einer gleichmäßigen Verteilung des Aufwands für die kontaktrechtsbezogenen Wegstrecken der Kinder nicht mehr gebunden seien.

Im Einklang mit der gefestigten Rsp des OGH gehören die Abholung eines Kindes von seinem ständigen Aufenthalt (im Inland oder im Ausland) und das Zurückbringen dorthin grundsätzlich (nach wie vor) zu den Aufgaben des kontaktberechtigten Elternteils; einzelfallabhängige Ausnahmen können aber – sofern ein entsprechendes Vorbringen erstattet wird –ein Abgehen von der lange judizierten Leitlinie begründen. Dabei ist die Beurteilung des OGH, dass für diese Entscheidung nicht nur finanzielle und organisatorische Gesichtspunkte maßgebend sind, sondern etwa auch den Überlegungen der Eltern bei der erstmaligen Regelung der Transportproblematik Bedeutung zukommt, zu begrüßen. Gleiches gilt für die Auffassung, dass die Entscheidung über die Modalitäten eines Kontaktrechts nicht nur rechtlich fundiert sein soll, sondern auch am Wohl der betroffenen Kinder orientiert und im Hinblick auf die Lebenssituation der Beteiligten sowie die Entfernung zwischen ihren Wohnorten praxistauglich erfolgen muss. Die Verwirklichung sämtlicher Ziele bei der Ausgestaltung von Details einer gerichtlichen Kontaktrechtsregelung wird im Verfahren häufig zusätzliche Erhebungen notwendig machen, jedenfalls aber größere Treffsicherheit bedeuten und gar nicht so selten eine ausgewogene Aufteilung des Zeit- und Kostenaufwands für den Transport der Kinder zwischen den Eltern begründen können. Dafür sprechen auch das Verständnis des Kontaktrechts vorrangig als Rechtsanspruch der Kinder und nur in zweiter Linie als Elternrecht (vgl 6 Ob 173/00k; 1 Ob 43/18g ua) sowie die Anforderung, das Wohl der konkret betroffenen Kinder statt langer Leitsatzketten über recht einseitige Verpflichtungen getrennt lebender Elternteile als maßgebendes Kriterium für eine adäquate Regelung anzuerkennen.

Die gemeinsame Verantwortung der Eltern, im erforderlichen Umfang zum Gelingen enger Eltern-Kind-Beziehungen beizutragen, kann somit zur durchaus zumutbaren Verpflichtung des betreuenden Elternteils führen, dem anderen Elternteil das Kind an einen bestimmten Ort (vor allem an dessen Wohnort, einen Flughafen oder einen vergleichbaren Verkehrsknotenpunkt) zu bringen. Soweit eine solche Verteilung der Lasten im vorliegenden Fall bedeuten würde, dass die Mutter die Kinder nicht etwa an einen nahen Ort im Inland mit seinen überschaubaren Distanzen, sondern zum Vater ins weiter entfernte Ausland bringen müsste, spricht dies nicht gegen eine Anwendung der genannten Erwägungen: Der gemeinsame Lebensmittelpunkt der Familie befand sich im Ausland, bevor beide Eltern an ihre derzeitigen Wohnorte mit beträchtlichen Abständen dazu übersiedelten.

Susanne Beck

§ 111 JN

Zuständigkeitsübertragung nach bereits durchgeführten Vernehmungen?

OGH 6. 3. 2023, 5 Nc 3/23w

iFamZ 2023/96

Ausschlaggebendes Kriterium für die Übertragung der Zuständigkeit nach § 111 JN ist immer das Kindeswohl. Offene Anträge sprechen nicht generell gegen eine Zuständigkeitsübertragung. Es kommt darauf an, welches Gericht eher in der Lage ist, die aktuelle Lebenssituation aller Beteiligten abzuklären und zu beurteilen.

Der minderjährige L. ist der Sohn von T. und T. Die Obsorge kommt der Mutter alleine zu. Die Mutter hat noch zwei Töchter aus anderen Bezie-

hungen. Sie lebte von 2008 bis 2020 in Innsbruck. Gegen Ende der Sommerferien 2020 übersiedelte sie mit den drei Kindern in den Sprengel des BG Gmünd, vor dem ursprünglich Pflegschaftsverfahren für alle drei Kinder geführt wurden. Gegenstand des Verfahrens ist nur noch ein Obsorgeantrag der mütterlichen Großeltern, die wegen der Gefährdung des Kindeswohls auch eine einstweilige Entscheidung über die Obsorge für den Minderjährigen begehrten.

Nachdem das BG Gmünd der Mutter die Ausreise mit dem Minderjährigen aus dem Schengenraum untersagt hatte, vernahm es die Mutter, den Minderjährigen sowie die mütterlichen Großeltern, holte Berichte des KJHT ein, entzog der Mutter mit Beschluss vom 9. 2. 2022 die Obsorge für den Minderjährigen vorläufig und übertrug sie den mütterlichen Großeltern. Das LG Krems bestätigte diese Entscheidung mit Beschluss vom 30. 8. 2022. Mit seinem Beschluss vom 19. 10. 2022 räumte das BG Gmünd der Mutter ein Kontaktrecht zu ihrem Sohn ein.

Mit Beschluss vom 5. 12. 2022 übertrug es die Pflegschaftssache gem § 111 JN an das BG Hall in Tirol, weil sich der Minderjährige nunmehr im Sprengel dieses Gerichts aufhalte. Das BG Hall in Tirol lehnte die Übernahme der Pflegschaftssache ab, weil das BG Gmünd bereits über eine umfangreiche Akten- und Sachkenntnis verfüge und sich einen persönlichen Eindruck über die handelnden Personen verschafft habe. Sollte für die endgültige Entscheidung über den Antrag auf Übertragung der Obsorge ein Gutachten erforderlich sein, könne ein Sachverständiger aus Tirol bestellt werden.

Das BG Gmünd legte den Akt dem OGH zur Entscheidung nach § 111 JN vor.

1. Das ausschlaggebende Kriterium für die Beurteilung, ob die Pflegschaftssache nach § 111 JN an ein anderes Gericht übertragen werden soll, ist das Kindeswohl (RIS-Justiz RS0046908). Eine Übertragung der Zuständigkeit zur Führung eines Pflegschaftsverfahrens ist daher vorzunehmen, wenn es im Interesse des Kindes liegt und zur Förderung der wirksamen Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes erforderlich erscheint (RIS-Justiz RS0046929). In der Regel entspricht es den Interessen von Kindern, wenn als Pflegschaftsgericht jenes Gericht tätig wird, in dessen Sprengel der Mittelpunkt ihrer Lebensführung liegt (RIS-Justiz RS0047300).

2. Offene Anträge sprechen nicht generell gegen eine Übertragung der Zuständigkeit (RIS-Justiz RS0047032). Sie können einer Übertragung der Zuständigkeit aber dann entgegenstehen, wenn dem übertragenden Gericht eine besondere Sachkenntnis zukommt oder es jedenfalls in der Lage ist, sich diese Kenntnisse leichter zu verschaffen als das andere Gericht (RIS-Justiz RS0047032 [T11]), oder auch dann, wenn das übertragende Gericht bereits durch unmittelbare Einvernahme der maßgeblichen Personen einen Eindruck gewonnen hat (RIS-Justiz RS0047032 [T12, T14, T26]).

3. Im zu beurteilenden Fall steht der Umstand, dass das BG Gmünd bereits Einvernahmen durchgeführt hat, der Übertragung der Zuständigkeit nicht entgegen:

3.1. Die Prüfung der Zweckmäßigkeit der Zuständigkeitsübertragung während eines aufrechten Obsorgestreits hat sich ausschließlich daran zu orientieren, welches Gericht die für die Entscheidung maßgeblichen Umstände sachgerechter und umfassender beurteilen kann. Bei der Gesamtbeurteilung der für die Übertragung der Elternrechte maßgebenden Kriterien ist stets von der aktuellen Lage auszugehen, wobei auch Zukunftsprognosen miteinzubeziehen sind (4 Nc 14/17x).

3.2. Der Minderjährige hält sich bei seinen Großeltern mütterlicherseits auf, denen die einstweilige Obsorge zukommt. Um endgültig beurteilen zu können, bei wem das Wohl des Kindes besser gewährleistet ist, müssen daher die derzeitigen Lebensumstände bei der Mutter und ihren Eltern in ihrer Gesamtheit einschließlich des Umfelds einander gegenübergestellt werden. Nur wenn die Kenntnis über die maßgeblichen Lebensumstände aller Beteiligten möglichst vollständig und aktuell in die Entscheidung einfließen kann, ist das Wohl des Kindes gewährleistet.

3.3. An diesen Überlegungen ist auch die Zweckmäßigkeit der Zuständigkeitsübertragung zu messen. Es kommt nicht entscheidend

KINDSCHAFTSRECHT Juni 2023 141

darauf an, ob und wie lange sich das bisher zuständige Gericht um die Ermittlung von Sachverhaltsgrundlagen bemüht hat, sondern ausschließlich darauf, welches Gericht eher in der Lage ist, die aktuelle Lebenssituation aller Beteiligten zu erforschen und zu beurteilen (5 Nc 103/02w).

3.4. Im vorliegenden Fall trifft es zwar zu, dass das BG Gmünd die Beteiligten einvernommen und Erhebungsschritte gesetzt hat, um eine Entscheidung über die einstweilige Entziehung der Obsorge zu treffen. Für die abschließende Beurteilung, ob die Obsorge endgültig bei den Großeltern verbleiben soll, bedarf es aber der Kenntnis der aktuellen Lebensumstände der Beteiligten. Eine Entscheidung über einen Obsorgeantrag durch das bisher zuständige Gericht wäre daher nur dann sinnvoll, wenn dieses in der Lage wäre, sich diese Kenntnisse leichter zu verschaffen als das andere Gericht (RIS-Justiz RS0047027 [T3]). Nach der Aktenlage leben derzeit alle Beteiligten in Tirol: Der Minderjährige wohnt bei seinen Großeltern im Sprengel des BG Hall in Tirol. Jedenfalls bis zur endgültigen Entscheidung über den Obsorgeantrag der Großeltern ist davon auszugehen, dass er dort wohnhaft bleiben wird. Auch die Mutter und der Vater haben derzeit ihren Wohnsitz in Tirol. Bei dieser Sachlage kann kein Zweifel bestehen, dass sich das BG Hall in Tirol die für die abschließende Beurteilung des noch offenen Sachantrags erforderliche Kenntnis über die aktuellen Lebensumstände leichter verschaffen kann als das übertragende Gericht. Dass auch dieses aufgrund seiner bisherigen Tätigkeit über eine Akten- und Sachkenntnis verfügt, tritt bei dieser Sachlage in den Hintergrund.

4. Damit hat es bei der allgemeinen Regel zu bleiben, dass jenes Gericht besser geeignet ist, in dessen Sprengel der Minderjährige seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Übertragung der Pflegschaftssache an das BG Hall in Tirol ist daher zu genehmigen.

Anmerkung

Die Beurteilung, dass eine Änderung der Gerichtszuständigkeit während eines anhängigen Obsorgeverfahrens aus Kindes-

wohlsicht auch dann zweckmäßig ist, wenn sich das bisher zuständige Gericht bereits eingehend mit einem offenen Antrag befasst und dazu schon Vernehmungen von Verfahrensparteien durchgeführt hat, wird in der Praxis die Ausnahme sein. Im vorliegenden Fall kommt noch dazu, dass das niederösterreichische Gericht sogar eine vorläufige Regelung über die Obsorge getroffen hat und demnach das von ihm durchgeführte Verfahren über ein bloßes Anfangsstadium zeitlich und inhaltlich weit hinausreicht. Dennoch ist eine Übertragung der Zuständigkeit in dieser Verfahrensphase gerechtfertigt und vorteilhaft, zumal sowohl das Kind als auch die Eltern und die mit der vorläufigen Obsorge betrauten Großeltern mittlerweile ihren Lebensmittelpunkt in Tirol haben. Dadurch ist das nunmehrige Wohnsitzgericht des Kindes erheblich besser in der Lage, die entscheidungswesentlichen Lebensverhältnisse der Beteiligten sowie die Entwicklungsbedürfnisse des Kindes effizient abzuklären, und der Grundsatz, dass nach widerstreitenden Anträgen von Eltern oder Großeltern, sie mit der Obsorge zu betrauen, eine Zuständigkeitsübertragung an ein anderes Gericht in aller Regel zu unterbleiben hat, solange noch nicht feststeht, in wessen Haushalt das Kind künftig leben wird (vgl RIS-Justiz RS0047032 [T13, T20]), kommt nicht zum Tragen. Der Umstand, dass der Zuständigkeitswechsel einen Kompetenzkonflikt zwischen den beiden beteiligten Gerichten auslöste, für einige Wochen einen zügigen Verfahrensfortgang im Obsorgestreit verhinderte und dadurch das Kindeswohl berührt, das auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht die wesentliche Leitlinie im Kindschaftsrecht ist, führt zu keiner abweichenden Bewertung. Das Interesse an einer zielorientierten Weiterführung des Verfahrens, die durch den Zuständigkeitswechsel und die dadurch bedingte räumliche Nähe zwischen dem künftig befassten Gericht und sämtlichen Verfahrensbeteiligten gefördert wird, wiegt diesen Nachteil nämlich eindeutig auf.

Susanne Beck

§ 5a Abs 2 KBGG

Antrag auf Änderung der Anspruchsdauer für Kinderbetreuungsgeld

OGH 21. 3. 2023, 10 ObS 110/22g

iFamZ 2023/97

Da ein Elternteil auch während des Ruhens des Kinderbetreuungsgeldanspruchs als „beziehender Elternteil“ gilt, kann er im Ruhenszeitraum einen Antrag auf spätere Änderung der Anspruchsdauer des Kinderbetreuungsgeldes stellen, sofern das Ruhen in den vom beantragten (und gewährten) Anspruchszeitraum für das Kinderbetreuungsgeld fällt.

§ 24 KBGG; § 75c Abs 1 Z 2 BDG

iFamZ 2023/98

Pflegekarenz schädlich für einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld

OGH 21. 3. 2023, 10 ObS 22/23t

Das für den Anspruch auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld aufgestellte Erfordernis der durchgehenden

Erwerbstätigkeit in den letzten 182 Kalendertagen vor der Geburt wird nicht erfüllt, wenn die Mutter – eine Beamtin – in dieser Zeit zwecks Pflege einer nahen Angehörigen für gut sechs Wochen Pflegekarenz nimmt. Die Pflegekarenz ist keine tatsächliche Ausübung einer Erwerbstätigkeit und auch keine der Erwerbstätigkeit gleichgestellte Zeit.

§ 24c Abs 2 Z 1 KBGG iFamZ 2023/99 Nachweis von Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen

OGH 21. 2. 2023, 10 ObS 146/22a

Steht fest, dass der Nachweis für die zweiten bis fünften MutterKind-Pass-Untersuchungen des Kindes nicht innerhalb der dafür vorgeschriebenen Frist (bis zum Ende des 15. Lebensmonats des Kindes) erbracht wurde, liegt die Beweislast dafür, dass der Nachweis der Untersuchungen „nur aus Gründen, die nicht von den Eltern zu vertreten sind“ unterblieben ist, bei den Eltern. Die Unklarheit über den Grund der Nichtzustellung des E-Mails (zB Verwendung einer unrichtigen Adresse) geht zu ihren Lasten.

SOZIALLEISTUNGEN Juni 2023 142
STEUERN, BEIHILFEN UND
RECHTSPRECHUNG Steuern, Beihilfen und Sozialleistungen Matthias Neumayr

Vier Jahre Erwachsenenschutzrecht – Stimmungsbilder aus der Praxis (Teil II)

JOHANN WEITZENBÖCK*

Mit 1. 7. 2018 trat das 2. Erwachsenenschutz-Gesetz (2. ErwSchG, BGBl I 2017/59) in Kraft, mit dem eine grundlegende Reform des seit 1983 geltenden (und 2006 in erheblichem Ausmaß novellierten [SWRÄG 2006, BGBl I 2006/92]) „Sachwalterrechts“ umgesetzt wurde. Wichtigste Ziele der Reform waren, „die gerichtliche Fürsorge für Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbst wahrzunehmen, neu zu ordnen. Dabei sollte die Autonomie dieser Menschen ausgebaut werden. Sie sollten – soweit das möglich, zweckmäßig und vertretbar ist – selbst über ihre rechtlichen Beziehungen bestimmen. Die Möglichkeiten zur autonomen Vorsorge und zur selbstbestimmten Entscheidung sollten in diesem Sinn ausgebaut werden, die betroffenen Menschen sollten in den oft nicht einfachen Entscheidungsprozessen stärker als bisher begleitet und unterstützt werden“ (ErlRV 1461 BlgNR 25. GP 1). Aufbauend auf Teil I gibt dieser Beitrag die Stimmen aus der Praxis zu vier Jahren Erwachsenenschutzrecht wieder. Zudem werden im Anhang zwei (von insgesamt sechs) auf die Betroffenheit durch das Erwachsenenschutzrecht und die Interessenlagen der jeweils angesprochenen Beteiligten individuell abgestimmte Fragebögen abgedruckt.1

I.Zum Thema Clearing (§117a AußStrG)

*1 Als Überleitung von der Statistik zu den praktischen Erfahrungen und Wahrnehmungen müssen auch hier Zahlen2 dienen. Österreichweit wurden im Zeitraum 1. 7. 2018 bis 31. 12. 2022 von den vier Vereinen etwa 74.200 Abklärungsverfahren durch Berichte an die Gerichte beendet. Von diesen entfielen etwas mehr als 50 % auf Clearings in Erneuerungsverfahren.3 Der Anteil an (Erst-)Bestellungsverfahren, in denen bereits aufgrund der Ergebnisse der Abklärung eine Einstellung ohne Einrichtung einer gerichtlichen Erwachsenenvertretung empfohlen werden kann, liegt österreichweit bei etwa 40 %, in Teilen Niederösterreichs geringfügig darunter (37,6 %), in Salzburg doch erheblich darüber (50 %). In Erneuerungsverfahren ist die Quote an Einstellungsempfehlungen (naturgemäß) geringer – sie dürfte (genaue Zahlen liegen dem Autor dazu nicht vor) etwa bei 15 % liegen. Ohne dass dazu konkrete Zahlen erhoben werden konnten, ist allen Stellungnahmen gemeinsam, dass die Gerichte diesen Empfehlungen in einer weitaus überwiegenden Mehrzahl

*Dr. Johann Weitzenböck war Richter und ist externer Lehrbeauftragter am Institut für Zivilrecht der Universität Wien.

1 Weitzenböck, Vier Jahre Erwachsenenschutzrecht – Stimmungsbilder aus der Praxis, iFamZ 2023, 88. Der besondere Dank des Autors gilt nachstehenden Personen, die ihn durch Beantwortung des Fragebogens (und – teilweise – in persönlichen Gesprächen) bei seiner Recherche hervorragend unterstützt haben: Mag. Martin Marlovits vom Verein VertretungsNetz, Mag. Anton Steuerer und Mag.a Margot Prinz vom NÖ Landesverein für Erwachsenenschutz, Mag. Christian Berger vom Verein Erwachsenenvertretung Salzburg, Mag. Günter Nägele vom Institut für Sozialdienste Vorarlberg, MMag.a Dr.in Ilse Koza von der Fachgruppe Familienrecht der Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter, Mag. Andreas Tschugguel von der Österreichischen Notariatskammer, Martin Ladstätter von BIZEPS –Zentrum für selbstbestimmtes Leben und Irene Burdich von HPE – Hilfe für Angehörige Psychisch Erkrankter. Sie alle legen Wert darauf, dass ihre Stellungnahmen ihre subjektiven, wenngleich in ihrem jeweiligen Umfeld durch viele Gespräche bestärkten Eindrücke von der Praxis des Vollzugs des neuen Rechts wiedergeben. Last, but not least sei allen nicht namentlich Genannten gedankt, die mir bei zahlreichen Gelegenheiten wertvolle Informationen und Denkanstöße gegeben haben, die in die vorliegende Zusammenfassung eingeflossen sind. Besonders hervorgehoben sei in diesem Zusammenhang Oswald Föllerer vom Selbstvertretungs-Zentrum Wien und Obmann von Vienna People First. Leider blieb der an einen wesentlichen Stakeholder gerichtete Fragebogen, nämlich jener an die Rechtsanwaltschaft, unbeantwortet. Dennoch haben auch die Inhalte von vielen persönlichen Gesprächen mit Rechtsanwält:innen selbstverständlich ihren Raum.

2 Mitgeteilt von den vier in Österreich tätigen Erwachsenenschutzvereinen.

3 Mit ansteigender Tendenz.

der Fälle folgen. Die Stellungnahme der Fachgruppe Familienrecht bestätigt diesen Befund.

Übereinstimmend nehmen die Vereine die (immer notwendigen) persönlichen Kontakte zu den potenziell zu vertretenden Personen als im Wesentlichen unkompliziert und problemlos wahr. In vielen Fällen wird das Gespräch von diesen Personen sogar als sehr positiv bewertet, vor allem wenn es gelingt, die Zielsetzung des Besuchs und des gesamten Verfahrens zu vermitteln. Vorbehalte, Misstrauen oder gar Ablehnung kommen selten vor; in der überwiegenden Mehrzahl auch dieser Fälle können die Probleme ausgeräumt werden. Auch das soziale Umfeld (vor allem die Angehörigen) ist in den meisten Fällen überraschend kooperativ sowie aufgeschlossen und gibt in der Regel bereitwillig Auskunft über die gesamte Situation. Meist ist man dankbar für Information und Unterstützung, wobei eine gewisse Skepsis bezüglich der Übernahme einer allenfalls notwendigen Vertretung besteht.4 Die Zusammenarbeit mit den Gerichten funktioniert nach einhelliger Meinung der Vereine sehr gut.

Die anderen Beteiligten teilen den Befund, dass das Clearing gut funktioniert und seinen Zweck erfüllt. Dies gilt auch für die Fachgruppe Familienrecht, die die Berichte als in der Regel „gut verwertbar“ und „gute Basis für das weitere Verfahren“ bezeichnet. Aus „dieser Ecke“ kommt aber auch (leise)5 Kritik, die die tatsächliche Dauer der Abklärungsverfahren betrifft. Möglicherweise ist – wie ein Verein meint –die („tunlichst“ einzuhaltende) Frist von fünf Wochen (§4a Abs2 ErwSchVG) angesichts der zur Verfügung stehenden Ressourcen zu kurz. Die Kritik aber, dass in jenen Ausnahmefällen, in denen sich die potenziell zu vertretende Person dem Kontakt entzieht oder das Gespräch verweigert (was zumindest bei einem Verein zur Folge hat, dass auch mit dem Umfeld kein Kontakt aufgenommen wird), die Berichte dann – trotz langer Dauer der Abklärung – wenig aussagekräftig seien, scheint jedenfalls nicht unberechtigt zu sein.

4 Diese Erfahrungen der Vereine sind für den Autor insofern überraschend, als er vor allem betreffend die gesetzliche Erwachsenenvertretung die Befürchtung gehegt hatte, Angehörige würden sich – allenfalls sogar zur Durchsetzung von Eigeninteressen – um diese geradezu „raufen“.

5 Einzelne Richter:innen haben diese Kritik dem Autor gegenüber doch vehementer geäußert.

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II.Zum Thema Selbstbestimmung trotz Vertretung

Die durch das 2. ErwSchG wesentlich erweiterte eigene Handlungsfähigkeit der vertretenen Personen iVm der (von allen Befragten begrüßten) zurückhaltenden Anwendung des „Genehmigungsvorbehalts“6 könnte nahelegen, dass die Anfechtung und Rückabwicklung von Rechtsgeschäften größere Bedeutung bekommen könnte, als dies nach früherem Recht der Fall war.

Nach einhelligen Rückmeldungen aller Beteiligten ist dem derzeit aber nicht so. Weder sehen sich die Vertretenden mit einer höheren Belastung in diesem Zusammenhang konfrontiert noch ist nach den subjektiven Einschätzungen ein Anstieg des entsprechenden Anfalls bei den Gerichten zu verzeichnen. Über die Ursachen dafür lässt sich trefflich spekulieren. Zum einen wird die Ansicht vertreten, die neue Rechtslage habe sich noch nicht ausreichend „herumgesprochen“, sodass in jedem Fall einer aufrechten Vertretung ohnedies (auch) mit der vertretenden Person der Kontakt gesucht werde, zum anderen wird darauf hingewiesen, vor allem gegenüber privaten Vertragspartnern genüge der Hinweis auf die fehlende Geschäftsfähigkeit, um eine gerichtliche Auseinandersetzung zu vermeiden.

Wesentlich kritischer und (aus dem jeweiligen „Blickwinkel“ verständlich) unterschiedlicher wird die Umsetzung der neuen Regelungen betreffend Alltagsgeschäfte (§242 Abs3 ABGB)7 – iVm der Verpflichtung der Vertreter, die für deren Abwicklung notwendigen Barmittel zur Verfügung zu stellen (§258 Abs2 ABGB) – in die Praxis beurteilt. Gemeinsam ist fast allen Stellungnahmen, dass es sehr große individuelle Unterschiede zwischen den Vertreter:innen (aller [Berufs-]Gruppen) gebe, sich in der Tendenz aber in diesem Zusammenhang gegenüber der früheren Rechtslage kaum etwas geändert habe. Dies treffe nach Meinung von Angehörigen und vertretenen Personen vor allem für die rechtsberatenden Berufe zu, während man bei den Erwachsenenschutzvereinen „besser aufgehoben“ sei und sich dort die neuen Grundsätze besser durchsetzen würden.8

Die Erwachsenenschutzvereine wiederum beklagen Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit mit einigen Banken. So beenden einzelne Banken sogar bestehende Kontoverbindungen und verlangen, dass ein auf den Erwachsenenvertreter lautendes Konto neu eröffnet wird, bieten für Personen, für die eine Erwachsenenvertretung besteht, gar kein Konto an, lassen selbständige Verfügungen der vertretenen Person selbst über ein zu diesem Zweck eingerichtetes Alltagskonto nicht zu oder vertreten die Auffassung, auf ein solches dürfe nur die vertretende Person, nicht aber ein Dritter Überweisungen tätigen.

Die Bundessparte Banken und Versicherungen der WKO weist – zutreffend – darauf hin, dass das im Gesetzwerdungsprozess erarbeitete sogenannte „Konsenspapier Banken“9 keine Rechtsverbindlichkeit für die einzelnen Institute habe.

6 S dazu die Ausführungen zu Tab 1 bei Weitzenböck, iFamZ 2023, 88 (89).

7 S dazu etwa Weitzenböck, Das neue Erwachsenenschutzrecht und „Alltagsgeschäfte, Zak 2019, 364.

8 Ganz ähnlich sind die Stellungnahmen auch zur Frage ausgefallen, ob sich durch das neue Recht (§ 258 Abs 1 ABGB) an der zum Sachwalterrecht kritisierten Praxis, dass eher Geld angespart werde, als dass die aktuellen Bedürfnisse der vertretenen Personen befriedigt würden.

9 Abrufbar etwa unter www.justiz.gv.at/home/service/erwachsenenschutz/konsens papiere-mit-institutionen (Zugriff am 22. 5. 2023).

Sehr wohl aber könne und solle es ein Leitfaden für die praktische Anwendung des neuen Rechts im Bankensektor sein. Dessen Implementierung müsse als ein (noch immer) laufender Prozess gesehen werden. Im (nicht zuletzt aus haftungsrechtlicher Sicht) für die Banken durchaus herausfordernden Geschäftsfeld mit in ihrer Entscheidungsfähigkeit eingeschränkten Personen sollten auftretende Probleme in Detailfragen aber jedenfalls einer für alle Seiten zufriedenstellenden Lösung zugeführt werden. Dazu würde die Bundessparte gerne beitragen, indem man – sollten (auch individuelle) Beschwerden an sie herangetragen werden – diese wohlwollend unterstützen und vermittelnd tätig werden würde. Man habe dafür jedenfalls „ein offenes Ohr“.

ME wäre schon sehr viel gewonnen, würden die einzelnen Institute die Inhalte des Konsenspapiers betriebsintern intensiver kommunizieren, lassen die dem Autor bekannt gewordenen Beschwerden doch große Unsicherheiten der Mitarbeiter:innen „an der Front“ im Umgang mit dem neuen Recht erkennen. Abgesehen von einer besseren Fortbildung der Mitarbeiter:innen muss sich der Bankensektor aber auch seiner Verantwortung für eine gelingende Umsetzung des neuen Rechts in die Praxis bewusst bleiben – dies auch abseits von geschäftsstrategischen Erwägungen.

Gleiches gilt im Übrigen auch für Behörden. Immer wieder musste der Autor Klagen darüber hören, dass diese bei aufrecht bestehenden Vertretungen Kontakte primär zu den vertretenden Personen suchten und pflegten, während die vertretenen Personen selbst zu wenig eingebunden würden.

Eine der mE wichtigsten Bestimmungen der Reform, nämlich §241 Abs2 ABGB, ist nach weit überwiegender Ansicht in der Praxis noch kaum angekommen.10 Es nimmt auch nicht wunder, dass die Umsetzung der dort normierten „Wunschermittlungs- und Befolgungspflicht“ durch das Gesetz allein (großteils systembedingt) nicht gelingen kann. Einerseits ist bei Angehörigen und sonstigen nahestehenden Personen11 ein Bewusstseinswandel notwendig – weg von einem „kurativen Ansatz“, nach dem das Umfeld der vertretenen Person immer besser wüsste, was zu ihrem Wohl gereicht als sie selbst, hin zu mehr Vertrauen in ihre (verbliebenen) Fähigkeiten zu selbstbestimmten Entscheidungen. Andererseits lassen sich diese Pflichten (ebenso wie die Pflicht, persönliche Kontakte zu halten; §247 ABGB) bei einer Vielzahl von geführten Vertretungen nur sehr schwer in die Praxis umsetzen.12

III.Zum Thema Medizin

Die Neuregelungen betreffend die ärztliche Tätigkeit und die der Angehörigen anderer gesetzlich geregelter Gesundheitsberufe (§§252 ff ABGB) stellen alle Beteiligten mE vor große Herausforderungen. Allein der Weg bis zur Entscheidung, ob die vertretene Person selbst oder ein(e) Vertreter: in einer Maßnahme zustimmen kann, ist bedeutend länger geworden. Vor allem im laufenden Betrieb im Rahmen der extramuralen Versorgung stellt die Verpflichtung zur Beizie-

10 Ob die durch § 250 Abs 2 ABGB festgeschriebene „relative Außenwirkung“ der Ablehnung einer geplanten Vertretungshandlung in personenrechtlichen Angelegenheiten allen (auch mit der Rechtsmaterie an sich vertrauten) Jurist:innen geläufig ist, darf bezweifelt werden.

11 In diesem Zusammenhang wird in einer Stellungnahme ausdrücklich das Phänomen der sogenannten „Propellereltern“ angesprochen.

12 S dazu auch Pkt V.

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hung eines Unterstützerkreises eine erhebliche Mehrbelastung dar. Umso erfreulicher ist es, dass die – wenigen – dazu vorliegenden Stellungnahmen von ersten guten Ansätzen in der Praxis zu berichten wissen. Angehörige beklagen, es gebe zu wenige Personen für Unterstützerkreise außerhalb des familiären Umfelds. Ein Anfang ist jedenfalls gemacht.

Überraschend ist der weitgehend einheitliche Befund, das Erfordernis der gerichtlichen Genehmigung der Zustimmung der vertretenden Person bei (erkennbarer) Ablehnung durch die vertretene Person (§254 Abs1 ABGB) habe zu keiner Mehrbelastung der Gerichte geführt. Die Vereine verzeichnen nur sehr geringe Anfallszahlen betreffend ihre besondere Rechtsbeistandschaft nach §131 Abs1 AußStrG, die Gerichte – bezogen auf Gerichtsverfahren – ebenso. Im Rahmen dieser Arbeit ist nicht der Platz, über die Ursachen dieser Entwicklung weitwendig zu spekulieren. Aus den mitgeteilten Erfahrungen ist jedenfalls keine eindeutige Ursache ableitbar. Weit überwiegend wird aber vermutet, die „Dunkelziffer“ betreffend Dissens zwischen vertretener und vertretender Person in Angelegenheiten der medizinischen Behandlung sei relativ hoch. Die vom Gesetz für diese Fälle vorgegebene Vorgangsweise sei in der Praxis „noch nicht angekommen“.

Teilweise kritisch fallen die Stellungnahmen mit Bezug auf die ärztlichen Zeugnisse über den Verlust der Entscheidungsfähigkeit aus. Abgesehen davon, dass es fallweise gar nicht so einfach sei, ein solches Zeugnis zu erhalten, seien die zu tragenden Kosten teilweise beträchtlich (außer in Vorarlberg). Zwar würde regelmäßig das unter Federführung des BMJ unter Einbeziehung der Kammern und Vereine entwickelte Formular13 (formal richtig) verwendet, die Beurteilungen fielen aber meist sehr pauschal aus, eine Differenzierung zwischen verschiedenen Angelegenheiten, die nicht mehr oder doch noch besorgt werden können, komme sehr selten bis fast nie vor. Dies mag an den mit einer Differenzierung verbundenen Schwierigkeiten (in zeitlicher wie fachlicher Hinsicht) liegen, wohl auch daran, dass – wie so manchem Juristen auch – die Möglichkeit einer teilweisen Wirksamkeit einer Vorsorgevollmacht oder gewählten Erwachsenenvertretung noch nicht ausreichend bewusst ist. Leichter müsste die Differenzierung dagegen bei den acht Punkten des §269 Abs1 ABGB im Rahmen der gesetzlichen Erwachsenenvertretung fallen, kommen diese – werden sie alle im ÖZVV registriert – im Ergebnis doch einer Vertretung in allen Angelegenheiten gleich.14 Jedenfalls sind alle Pauschalierungen betreffend den Verlust der Entscheidungsfähigkeit mit dem Ziel der Reform, möglichst weitgehende Selbstbestimmung zu erreichen, nur sehr schwer vereinbar.

IV.Zum Thema Errichtung von Vertretungen

Die zentrale Aufgabe der bei der Errichtung von Vorsorgevollmachten, gewählten und gesetzlichen Erwachsenenvertretungen mitwirkenden „Urkundspersonen“ wurde bereits in Teil I hervorgehoben.15 Wie sich aus nahezu allen Stellungnahmen ergibt, ist zwar das Wissen und sind die (recht-

13 Abrufbar etwa unter www.justiz.gv.at/home/service/erwachsenenschutz/muster (Zugriff am 22. 5. 2023).

14 Man irrt nicht, wenn man darin einen kleinen „Seitenhieb“ auf den Gesetzgeber vermutet.

15 Weitzenböck, iFamZ 2023, 88 (90).

lichen) Vorkenntnisse der beteiligten Parteien individuell sehr verschieden, tendenziell (vor allem was die Erwachsenenvertretungen betrifft) aber eher gering. Aus der Richter: innenschaft wurde als Beispiel etwa berichtet, dass Erwachsenenvertreter oft lange Zeit nach einem bereits erfolgten Wohnortwechsel in anderem Zusammenhang bei Gericht vorsprechen und sich dann das Problem stellt, diesen Vorgang nachträglich zu prüfen und – wohl aufgrund der normativen Kraft des Faktischen – auch zu genehmigen.16 Weiters kommt es immer wieder vor, dass in ähnlicher Art und Weise (bereits abgewickelte) Rechtsgeschäfte bekannt werden, die nach §258 Abs4 ABGB der gerichtlichen Genehmigung bedürfen. Die Verwunderung bei den Vertreter:innen etwa betreffend die Verpflichtung zur Erforschung und Offenlegung von vorhandenem Vermögen und die (allenfalls auch eingeschränkte)17 Rechnungslegungspflicht ist nicht selten groß. Von – mitunter durchaus belastenden – Pflichten (etwa §§241 Abs2 und 258 Abs2 ABGB) war schon die Rede, aus dem Gesetz ergeben sich darüber hinaus viele weitere.

Es verwundert daher nicht, wenn sich etwa die Angehörigen, die sich „alleine gelassen fühlen“ und auch teilweise falsche Erwartungshaltungen haben, eine „zentrale Auskunftsstelle“ zur Einholung der notwendigen Information im Vorfeld der Errichtung der Vertretungen über die mit ihrer Übernahme verbundenen Rechte, Pflichten und Risiken (Stichwort Haftung) wünschen. Auch Richter:innen regten in Gesprächen wiederholt die Erarbeitung einer österreichweit einheitlichen „Informationsbroschüre“18 an. Über die Rechte und Pflichten aus den Bestimmungen des Erwachsenenschutzrechts hinaus sollten in dieser etwa auch Hinweise zu den wesentlichen sozial(versicherungs)rechtlichen Ansprüchen (etwa erhöhte Familienbeihilfe, Waisenpension, Pflegegeld etc) enthalten sein. Diese Broschüren sollten nicht nur vor Errichtung einer gewählten oder gesetzlichen Erwachsenenvertretung österreichweit an potenziell vertretende Personen obligatorisch ausgehändigt werden, sondern könnten auch im Zuge des Verfahrens zur Errichtung einer gerichtlichen Erwachsenenvertretung gute Dienste leisten.

Werden im Vorfeld der Errichtung von Erwachsenenvertretungen die Vereine tätig, so ist die Zufriedenheit der übrigen Beteiligten regelmäßig groß.

Trotz aller Sachzwänge muss an die rechtsberatenden Berufe appelliert werden, der Information, Beratung und auch Belehrung der Parteien im Zuge der Errichtung von außergerichtlichen Vertretungen die Aufmerksamkeit, Mühe und Zeit zu widmen, die es braucht, um das Vertretungsverhältnis für alle Beteiligten anschließend zufriedenstellend leben zu können.

Formelle Ablehnungen von Eintragungen im ÖZVV oder gar Verständigungen des Pflegschaftsgerichts wegen zu besorgender Gefährdung der zu vertretenden Person (§§267 Abs2, 270 Abs2 ABGB) kommen in der Praxis nach übereinstimmender Wahrnehmung aller Befragten kaum vor.

16 Auf dieses Thema wird in Teil III dieses Beitrags im Folgeheft der iFamZ noch ausführlich einzugehen sein.

17 Die von den nächsten Angehörigen iSd § 268 Abs 2 ABGB nicht falsch verstanden werden darf, müssen sie sich doch spätestens nach Beendigung ihrer Vertretungsbefugnis im Rahmen der Schlussrechnung auch dem Gericht gegenüber rechtfertigen, ganz abgesehen davon, dass ihnen im Fall des Todes der vertretenen Person selbst bei genehmigter Schlussrechnung eine Auseinandersetzung mit allfälligen Miterben (§ 137 Abs 3 AußStrG) nicht erspart bleiben könnte.

18 Nach dem Vorbild der bei Erwachsenenschutzvereinen bereits in Verwendung stehenden Informationsmaterialien.

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Häufig können alternative Lösungen gefunden werden; wenn es zu einer Ablehnung kommt, dann etwa weil die als Vertretung in Aussicht genommene Person wegen emotionaler Abhängigkeit der zu vertretenden Person oder wegen bekannter familiärer Konflikte nicht geeignet erscheint oder sogar selbst eine Vertretung bräuchte. Verdachtsfälle auf allfällig zu befürchtenden Missbrauch der Vertretungsmacht oder die Verfolgung von eigenen Interessen durch die potenziell vertretende Person sind selten – wie es eine Stellungnahme ausdrückt: Vertretener und Vertreter finden sich gut.

V.Zum Thema Auswahl der Vertreter:innen

Große Übereinstimmung besteht zwischen den Stellungnahmen der zu vertretenden und vertretenen Personen darin, dass es besonders wichtig und gewünscht ist, zur vertretenden Person einen guten persönlichen Kontakt, ja sogar eine persönliche Beziehung aufbauen und aufrecht erhalten zu können; jedenfalls sollten Kontaktaufnahmen in schicklicher Zeit und getragen von Respekt und Wertschätzung möglich sein. Auch die Angehörigen der durch Dritte vertretenen Personen halten dies für wichtig und beklagen gleichzeitig, die Erwachsenenvertreter seien (auch) für sie oftmals nicht erreichbar und Zeiträume längerer Abwesenheit würden dann und wann erhebliche Probleme aufwerfen, wenn dringende Angelegenheiten zu besorgen seien.

Auch dem Gesetzgeber ist diese Problematik durchaus bewusst.19 Dennoch wurden – mit relativ geringfügigen Adaptierungen, jedoch mit einem Ausbau des Ablehnungsrechts für die rechtsberatenden Berufe nach §275 Z1 ABGB – die bisher geltenden Regelungen zur Auswahl der Vertreter:innen übernommen (jetzt §243 ABGB für alle Formen der Vertretung und §§273 bis 275 ABGB für die gerichtliche Erwachsenenvertretung). Insbesondere der „Stufenbau“ des §279 aF wurde in §274 ABGB nahezu unverändert gelassen.

Einen Versuch, die mit den erwähnten Konzentrationen verbundenen Probleme zu mildern und die Einhaltung der (auch) in §243 Abs1 ABGB enthaltenen Verpflichtung für vertretende Personen, nur so viele Vertretungen zu übernehmen, wie sie unter Bedachtnahme auf die damit verbundenen Pflichten, insbesondere jene zur persönlichen Kontaktaufnahme, ordnungsgemäß besorgen können, zu gewährleisten, stellt die Idee der von den Kammern zu führenden „Listen“ besonders geeigneter Rechtsanwält:innen und Notar:innen (§28 Abs1 lito RAO; §134 Abs2 Z16 NO) dar. Diese haben bestimmte Qualitätskriterien zu erfüllen (§10b Abs1 RAO; §134a Abs1 NO),20 deren Einhaltung von den Kammern zu überwachen ist (§23 Abs2a RAO; §154 Abs1a NO).

Zum letzten Stichtag (27. 3. 2023) der Erhebung des Autors auf den Webseiten der Kammern21 waren für das Notariat österreichweit zwei (!) Eintragungen zu finden (beide in

19 Etwa wenn in den ErlRV 1461 BlgNR 25. GP 3 von der vor allem im städtischen Bereich zu beobachtenden Konzentration vieler Vertretungen bei einigen Notar: innen und vielen Rechtsanwält:innen die Rede ist, durch die insb die Verpflichtung der vertretenden Personen zur Wahrnehmung der „Personensorge“ nur eingeschränkt geleistet werden könne.

20 Ua muss zur vertretenen Person ausreichend Kontakt gehalten werden können und die vertretende Person über deren Wünsche, Bedürfnisse und Lebensverhältnisse informiert sein (jeweils Z 4 leg cit); ohne diese Voraussetzung ist auch die Erfüllung der Verpflichtungen der vertretenden Person nach § 241 Abs 2 denkunmöglich.

21 Die Listen sind öffentlich einsehbar zur Verfügung zu stellen; § 10b Abs 2 RAO; § 134a Abs 2 NO.

Wien). Etwas mehr Eintragungen fanden sich in den Listen der Rechtsanwaltschaft (in Summe 124),22 dies allerdings bei 6.984 eingetragenen Rechtsanwält:innen.23 Dabei waren sehr starke regionale Unterschiede festzustellen. Waren etwa in Niederösterreich 44, in Wien 41 und in Kärnten immerhin noch 16 Eintragungen zu finden, waren es im Burgenland fünf, in Salzburg drei (nur in der Stadt Salzburg) und in Tirol drei (eine davon in Innsbruck, die beiden anderen „beschränkt“ auf den Sprengel eines bzw zweier Bezirksgerichte). Im drittgrößten Bundesland (Oberösterreich) war nur ein (!) Anwalt in die Liste eingetragen. In der Steiermark fanden sich in der „offiziellen“ Liste nach den genannten Bestimmungen elf Eintragungen (davon neun in Graz); daneben konnte unter dem Suchwort „Erwachsenenvertretungen“ eine Liste von 141 Anwält:innen gefunden werden, die als Rechtsgebiet Erwachsenenvertretungen anführen. In Vorarlberg gelang es nicht, eine „offizielle Liste“ aufzufinden; in einem Verzeichnis, das ausdrücklich als „keine Liste nach §10b iVm §28 Abs1 lito RAO“ bezeichnet war, waren 47 Eintragungen ersichtlich.

Durchaus in Übereinstimmung mit den zitierten Zahlen teilen die Richter:innen regional sehr unterschiedliche Entwicklungen mit.

In Wien hätten sich die „etablierten Vertreter:innen“ in die Liste eintragen lassen und das funktioniere meist sehr gut. Die Liste sei lang und es herrsche kein Vertreter:innenmangel; das sei für Wien ein großer Vorteil.

Hält man sich jedoch die Zielsetzungen der Reform und die eingangs dargestellten Wünsche und Bedürfnisse der vertretenen Personen vor Augen, so keimen heftige Zweifel auf, ob die Konzentration von gerichtlichen Erwachsenenvertretungen bei wenigen Personen auch von – man verzeihe diesen Ausdruck – der „Gegenseite“ positiv gesehen werden kann. Der Autor kann der Argumentation aus dem Notariat daher einiges abgewinnen, dass es wohl besser sei, viele Kolleg:innen führten weniger Vertretungen und diese aufmerksamer, als wenige Kolleg:innen viele, denen sie sich dann nicht ausreichend widmen können.

Ganz anders als in Wien sind jedoch die Erfahrungen in anderen Gerichtssprengeln. Nahezu flächendeckend – mit Ausnahme Vorarlbergs – beklagen die Richter:innen einen eklatanten Mangel an Personen aus den rechtsberatenden Berufen, die zur Übernahme von gerichtlichen Erwachsenenvertretungen bereit wären. Auch aus der Anwaltschaft waren häufig Klagen zu vernehmen, dass die Anwält:innen, die zur Übernahme gerichtlicher Erwachsenenvertretungen grundsätzlich bereit wären, an ihre Grenzen stoßen. Zuletzt wurde die aktuelle Situation anlässlich einer Fortbildungsveranstaltung des OLG Linz von 26. bis 28. 4. 2023, an der 46 Familienrichter:innen teilgenommen haben, im gegebenen Zusammenhang als ausgesprochen prekär dargestellt. Sogar in Erneuerungsverfahren würden, auch bei lange aufrecht bestehenden gerichtlichen Erwachsenenvertretungen, gegründet auf dem neuen §275 Z1 ABGB und der dazu ergangenen Judikatur24 Anträge auf Umbestellung in der Per-

22 Das sind um zehn weniger als am ersten erhobenen Stichtag (4. 2. 2022). Es muss zudem angemerkt werden, dass die letzte Bearbeitung der Veröffentlichung einzelner Länderkammern der Rechtsanwaltschaft damals teilweise sehr lange (in zwei Fällen Jahre) zurücklag.

23 Insoweit Stand ebenfalls 27. 3. 2023; dies ohne Anwärter:innen – zum 31. 12. 2022 waren 2.285 eingetragen.

24 Vor allem OGH 20. 4. 2022, 1 Ob 41/22v.

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son des gerichtlichen Erwachsenenvertreters gestellt. Dies alles habe zur Konsequenz, dass Richter:innen fallweise einen halben Tag lang am Telefon verbringen müssen, um (gleichsam als „Bittsteller“) eine Person zu finden, auf die die gerichtliche Erwachsenenvertretung übertragen werden könne.

So sehr nachvollziehbar ist, dass der Gesetzgeber bei der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des 2. ErwSchG vorgefundenen Struktur der „Massensachwalterschaften“ eine Übergangslösung finden musste, so sehr muss aus dem aktuellen Befund der Schluss gezogen werden, dass sich die „Listenlösung“ im Ergebnis nicht bewährt hat. Jedenfalls wäre (kurzfristig) – will man die Regelungen betreffend die Listen aufrechterhalten – eine „breitere und regional ausgeglichenere Streuung“ der Eintragungen wünschenswert.

Langfristig kann man zwar hoffen, dass sich der begonnene Trend weg von der gerichtlichen Erwachsenenvertretung hin zu alternativen (überwiegend von nahestehenden Personen und/oder Angehörigen wahrgenommenen) Vertretungsformen fortsetzt. Das kann aber nicht heißen, vor den aktuellen Problemen zu kapitulieren. Welche Vorschläge diesbezüglich auf dem Tisch liegen und welche weiteren Anregungen und – durchaus auch – Forderungen gegenüber dem Gesetzgeber die „Stimmen aus der Praxis“ haben, wird – neben einer Auswahl an oberstgerichtlichen Entscheidungen – Gegenstand des dritten Teils dieses Beitrags im nächsten Heft sein.

VI.Anhang

Fragebogen an Erwachsenenschutzvereine

Es werden – soweit nicht ausdrücklich danach gefragt – keine Zahlen benötigt, vielmehr mögen die jeweils bekannten Erfahrungen zu den angesprochenen Themen kurz dargestellt werden.

Wenn möglich, bitte die Stellungnahmen unmittelbar zu den einzelnen Fragen im Fragebogen selbst abgeben, der aus diesem Grund als bearbeitbares Word-Dokument übermittelt wird.

Gibt es Zahlen darüber, wie viele Clearingverfahren (§117a AußStrG iVm §4a ErwSchVG) bisher (bis 31.12.2022) durchgeführt wurden, wenn ja, vielleicht sogar aufgegliedert nach Jahren?

Wie funktioniert das Clearing im Allgemeinen, vor allem, wie gestalten sich der Kontakt und der Umgang mit dem sozialen Umfeld und potenziellen Vertretern der betroffenen Person?

Wie hoch ist der geschätzte Anteil der Verfahren, die bereits in diesem Stadium aufgrund der Clearingergebnisse durch Einstellung erledigt werden können?

Wie stellt sich sonst die Praxis der „Abklärungsverfahren“ nach §4a ErwSchVG iVm §117a AußStrG dar? Wo liegen die häufigsten Probleme und wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den Gerichten (vor allem im Hinblick auf Fristverlängerungen nach §4 a Abs4 ErwSchVG)?

Führt die bestehen bleibende Handlungsfähigkeit der vertretenen Personen zu vermehrten Problemen, sind insbesondere häufiger Anfechtungsprozesse zu führen?

Wie sehen die Vereine die Anwendung des „Genehmigungsvorbehalts“ (§242 Abs2 ABGB) in der gerichtlichen Praxis?

Können während aufrechter Vertretung für „Alltagsgeschäfte“ (§242 Abs3 iVm §258 Abs2 ABGB) für alle Beteiligten (Vertreter:innen, vertretene Person und Banken) befriedigende Lösungen gefunden werden, und welche?

Es liegt nahe, dass sich bei Erfüllung der „Rechnungslegungspflicht“ (§259 Abs2 ABGB iVm §§134 ff AußStrG) aus dem neuen Recht zusätzliche Probleme ergeben haben. Ist das tatsächlich der Fall, wenn ja, welche, und welche Wünsche haben die Vereine in diesem Zusammenhang gegenüber den Gerichten?

Wie wird die durch das neue Recht erheblich erweiterte Verpflichtung zur Einbindung der vertretenen Personen in alle Entscheidungen (§241 Abs2 ABGB; „Wunschermittlungs- und Befolgungspflicht“) beurteilt und wie wird sie in der Praxis gehandhabt?

Haben die neuen Regelungen über die medizinische Behandlung (§§252 ff ABGB) dazu geführt, dass die Gerichte vermehrt befasst werden müssen? Wenn ja, generell als Grund für die Einleitung von Bestellungsverfahren allgemein und/ oder in Form von Genehmigungs- und Ersetzungsverfahren nach §254 Abs1 und 2 ABGB?

Wie verhält es sich mit der Qualität der ärztlichen Zeugnisse zum Nachweis des Eintritts des Vorsorgefalls (§263 Abs1 ABGB iVm §140h Abs5 NO)?

Den Erwachsenenschutzvereinen kommt (neben den rechtsberatenden Berufen) bei der Errichtung von Vertretungen im Vorfeld der gerichtlichen Erwachsenenvertretung als „Urkundspersonen“ (§§262 f, 266 f und 270 ABGB) – und damit für das Gelingen der Reform iSd Zurückdrängens der gerichtlichen Erwachsenenvertretung –zentrale Bedeutung zu. Wie wird diese Aufgabe in der Praxis allgemein gesehen?

Welche Vorstellungen und (rechtliche) Vorkenntnisse haben die Parteien, die zur Errichtung einer Vertretung in den Geschäftsstellen vorsprechen, vor allem von den Rechtsinstituten im Allgemeinen und den Rechten und Pflichten im Besonderen?

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Informations- und Belehrungspflichten der Urkundsperson in der Praxis?

Kann – und wenn ja, wie – die Eignung der in Aussicht genommenen Vertreter geprüft werden?

Kann – und wenn ja, wie – das Vorliegen der jeweils notwendigen Entscheidungsfähigkeit geprüft werden?

Wie hoch schätzen Sie den Anteil von „abgelehnten Eintragungen“ ein und welche Ursachen haben diese?

Wie häufig sind Verständigungen des Pflegschaftsgerichts wegen zu besorgender Gefährdung der zu vertretenden Personen und welche Wahrnehmungen sind die primären Gründe dafür?

Sind – was die Personengruppen (zB ältere Menschen) oder die Anlässe (zB Vermögensweitergabe) betrifft – auffällige Häufungen an Vorsprachen wegen der Errichtung einer Vertretung (vor allem einer Vorsorgevollmacht) festzustellen?

Ist §4c Abs2 ErwSchVG häufig ein Anlass, dass die Errichtung einer Vorsorgevollmacht vom Verein abgelehnt werden muss, und wie wird der Begriff der „Liegenschaft als

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Gegenstand der Vorsorgevollmacht“ interpretiert – nur wenn die Substanz einbezogen werden soll oder auch, wenn der Vertreter „bloß“ die ordentliche Verwaltung besorgen soll?

Ein(e) Erwachsenenvertreter:in darf dann nicht bestellt werden, wenn die volljährige Person für bestimmte Angelegenheiten bereits „einen Vertreter hat“. Darunter ist nach hA auch ein Vertreter kraft „schlichter Vollmacht“ (zB ein Zeichnungsberechtigter für ein Bankkonto) zu verstehen.25 Ist das in der Praxis ein relevantes Problem und wenn ja, wie geht die Praxis damit um?

Vorsorgevollmachten, gewählte und gesetzliche Erwachsenenvertretungen können von beiden Teilen durch (formlose[n]) Aufkündigung, Widerruf und Widerspruch beendet werden. Neben der Verpflichtung der Vertreter:innen gibt es aber keinen im Gesetz geregelten „Mechanismus“, der sicherstellen würde, dass vor allem Widerrufe und Widersprüche der vertretenen Personen (vor allem in den Fällen des „Zu-Erkennen-Gebens“) im ÖZVV erfasst werden können. Welche Erfahrungen bestehen insoweit in der Praxis; wie häufig kommen diese Beendigungsformen vor?

Durch das 2. ErwSchG wurde §276 ABGB neu gegliedert und auch inhaltlich geändert (zB betreffend Umsatzsteuer). Zudem wurden Titelschaffung einerseits und tatsächliche Befriedigung der Ansprüche der Vertreter:innen andererseits (Berücksichtigung der individuellen Leistungsfähigkeit der vertretenen Personen – Beeinträchtigung des notwendigen Unterhalts) getrennt (§137 Abs2 AußStrG). Haben diese Maßnahmen zu einer Verbesserung der (jedenfalls in Einzelfällen) sehr unbefriedigenden Ergebnisse geführt?

Bestehen über die aufgeworfenen Fragen hinaus zu bestimmten Themen besondere Wahrnehmungen, die eine Auseinandersetzung mit (häufig) auftretenden Problemen erfordern oder zumindest nahelegen?26

Besteht aus der Sicht der Vereine legistischer Handlungsbedarf, wenn ja, welcher?

Fragebogen an die Anwaltschaft

Es werden – soweit nicht ausdrücklich danach gefragt –keine Zahlen benötigt, vielmehr mögen die jeweils bekannten Erfahrungen zu den angesprochenen Themen kurz dargestellt werden.

Wenn möglich, bitte die Stellungnahmen unmittelbar zu den einzelnen Fragen im Fragebogen selbst abgeben, der aus diesem Grund als bearbeitbares Word-Dokument übermittelt wird.

Wie funktioniert aus der Sicht der Anwaltschaft das Clearing (§117a AußStrG iVm §4a ErwSchVG) durch die Vereine im Allgemeinen?

Führt die bestehen bleibende Handlungsfähigkeit der vertretenen Personen zu vermehrten Problemen, sind insbesondere häufiger Anfechtungsprozesse zu führen?

Wünscht sich die Anwaltschaft eine häufigere Anwendung des „Genehmigungsvorbehalts“ (§242 Abs2 ABGB), und wenn ja, aus welchen Gründen?

Können während aufrechter Vertretung für „Alltagsgeschäfte“ (§242 Abs3 iVm §258 Abs2 ABGB) für alle Be-

teiligten (Vertreter:innen, vertretene Person und Banken) befriedigende Lösungen gefunden werden, und welche?

Es liegt nahe, dass sich bei Erfüllung der „Rechnungslegungspflicht“ (§259 Abs2 ABGB iVm §§134 ff AußStrG) aus dem neuen Recht zusätzliche Probleme ergeben haben. Ist das tatsächlich der Fall, wenn ja, welche, und welche Wünsche hat die Anwaltschaft in diesem Zusammenhang gegenüber den Gerichten?

Wie wird die durch das neue Recht erheblich erweiterte Verpflichtung zur Einbindung der vertretenen Personen in alle Entscheidungen (§241 Abs2 ABGB; „Wunschermittlungs- und Befolgungspflicht“) beurteilt und wie wird sie in der Praxis gehandhabt?

Haben die neuen Regelungen über die medizinische Behandlung (§§252 ff ABGB) dazu geführt, dass die Gerichte vermehrt befasst werden müssen? Wenn ja, generell als Grund für die Einleitung von Bestellungsverfahren allgemein und/ oder in Form von Genehmigungs- und Ersetzungsverfahren nach §254 Abs1 und 2 ABGB?

Wie verhält es sich mit der Qualität der ärztlichen Zeugnisse zum Nachweis des Eintritts des Vorsorgefalls (§263 Abs1 ABGB iVm §140h Abs5 NO)?

Den rechtsberatenden Berufen kommt (neben den Erwachsenenschutzvereinen) bei der Errichtung von Vertretungen im Vorfeld der gerichtlichen Erwachsenenvertretung als „Urkundspersonen“ (§§262f, 266f und 270 ABGB) – und damit für das Gelingen der Reform iSd Zurückdrängens der gerichtlichen Erwachsenenvertretung – zentrale Bedeutung zu. Wie wird diese Aufgabe in der Praxis allgemein gesehen?

Welche Vorstellungen und (rechtliche) Vorkenntnisse haben die Parteien, die zur Errichtung einer Vertretung in den Kanzleien vorsprechen, vor allem von den Rechtsinstituten im Allgemeinen und den Rechten und Pflichten im Besonderen?

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Informations- und Belehrungspflichten der Urkundsperson in der Praxis?

Kann – und wenn ja, wie – die Eignung der in Aussicht genommenen Vertreter geprüft werden?

Kann – und wenn ja, wie – das Vorliegen der jeweils notwendigen Entscheidungsfähigkeit geprüft werden?

Wie hoch schätzen Sie den Anteil von „abgelehnten Eintragungen“ ein und welche Ursachen haben diese?

Wie häufig sind Verständigungen des Pflegschaftsgerichts wegen zu besorgender Gefährdung der zu vertretenden Personen, und welche Wahrnehmungen sind die primären Gründe dafür?

Sind – was die Personengruppen (zB ältere Menschen) oder die Anlässe (zB Vermögensweitergabe) betrifft – auffällige Häufungen an Vorsprachen wegen der Errichtung einer Vertretung (vor allem einer Vorsorgevollmacht) festzustellen?

Ein(e) Erwachsenenvertreter:in darf dann nicht bestellt werden, wenn die volljährige Person für bestimmte Angelegenheiten bereits „einen Vertreter hat“. Darunter ist nach hA auch ein Vertreter kraft „schlichter Vollmacht“ (zB ein Zeichnungsberechtigter für ein Bankkonto) zu verstehen.27

ERWACHSENENSCHUTZRECHT Juni 2023 148
25 Weiterführend zur Problematik Weitzenböck in Schwimann/Kodek, ABGB5, §§ 271 Rz 5, 246 Rz 18 f. 26 Mit anderen Worten: Was Sie noch sagen wollten! 27 Weiterführend zur Problematik Weitzenböck in Schwimann/Kodek, ABGB5, §§ 271 Rz 5, 246 Rz 18 f.

Ist das in der Praxis ein relevantes Problem, und wenn ja, wie geht die Praxis damit um?

Vorsorgevollmachten, gewählte und gesetzliche Erwachsenenvertretungen können von beiden Teilen durch (formlose[n]) Aufkündigung, Widerruf und Widerspruch beendet werden. Neben der Verpflichtung der Vertreter:innen gibt es aber keinen im Gesetz geregelten „Mechanismus“, der sicherstellen würde, dass vor allem Widerrufe und Widersprüche der vertretenen Personen (vor allem in den Fällen des „Zu-Erkennen-Gebens“) im ÖZVV erfasst werden können. Welche Erfahrungen bestehen insoweit in der Praxis; wie häufig kommen diese Beendigungsformen vor?

Durch das 2. ErwSchG wurde §276 ABGB neu gegliedert und auch inhaltlich geändert (zB betreffend Umsatzsteuer). Zudem wurden Titelschaffung einerseits und tatsächliche Befriedigung der Ansprüche der Vertreter:innen andererseits (Berücksichtigung der individuellen Leistungsfähigkeit der vertretenen Personen – Beeinträchtigung des notwendigen Unterhalts) getrennt (§137 Abs2 AußStrG). Haben diese Maßnahmen zu einer Verbesserung der (jedenfalls in Einzelfällen) sehr unbefriedigenden Ergebnisse geführt?

Neu ist die „Liste besonders geeigneter Rechtsanwälte“ nach §28 Abs1 lito RAO. Nach meinen Recherchen (Ab-

frage auf den Webseiten der Landeskammern am 4.2.2022) sind österreichweit 134 Rechtsanwälte und Anwältinnen in die Listen eingetragen. Angesichts der Gesamtzahl an Rechtsanwälten (6.774 ohne Anwärter:innen) ist diese Anzahl doch sehr gering. Zudem ist die Häufigkeit nach Bundesländern sehr verschieden (z.B. für NÖ 49, für OÖ nur1; für Vorarlberg konnte ich überhaupt keine „offizielle Liste“ – bezogen auf das Gesetz mit Übernahmeverpflichtung – finden, auch wenn 50 Eintragungen unter der Bezeichnung „Erwachsenenschutzvertreter & Kuratoren“ bestehen, worin man sich als Orientierungshilfe für die Gerichte als für Bestellungen zum Erwachsenenvertreter oder Kurator zur Verfügung stehend bezeichnet; ähnlich in der Steiermark – 11 Eintragungen in der „offiziellen Liste“, in einer „sonstigen Liste“ 143). Wie sieht der Österreichische Rechtsanwaltskammertag diese Problematik und welche Ursachen scheinen Ihnen plausibel?

Bestehen über die aufgeworfenen Fragen hinaus zu bestimmten Themen besondere Wahrnehmungen, die eine Auseinandersetzung mit (häufig) auftretenden Problemen erfordern oder zumindest nahelegen?28

Besteht aus der Sicht der Anwaltschaft legistischer Handlungsbedarf, wenn ja, welcher?

Erleichterungen für Seniorenkredite

Die Hypothekar- und Immobilienkreditgesetz-Novelle im Überblick

WOLFGANG WILD*

Die kürzlich kundgemachte Novelle1 des Hypothekar- und Immobilienkreditgesetzes (HIKrG)2 beseitigt eine Altersdiskriminierung iZm Seniorenkrediten. In Hinkunft darf ein Immobilienkredit auch gewährt werden, wenn die vertragsgemäße Rückzahlung während der verbleibenden Lebenszeit wahrscheinlich ist und die bestellten Sicherheiten die Abdeckung der restlichen Kreditverbindlichkeit inkl Verwertungskosten gewährleisten. Diese Änderung ist mit 1. 5. 2023 in Kraft getreten und wird die Kreditvergabe an Senioren wesentlich erleichtern.

I.Allgemeines

*12 Mit dem HIKrG wurde 2015 die EU-Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher3 in nationales Recht umgesetzt. Das HIKrG ist zwingend anzuwenden auf Verbraucherkreditverträge, die

■ durch ein Pfandrecht oder ein sonstiges Recht an einer unbeweglichen Sache (= Liegenschaft) oder einem Superädifikat besichert werden oder

■ für den Erwerb oder die Erhaltung von Eigentumsrechten an einer unbeweglichen Sache oder einem bestehenden oder geplanten Superädifikat dienen.

§ 9 Abs 5 Satz 1 HIKrG enthält – praktisch wortgleich mit Art 18 RL 2014/17/EU – die Bestimmungen zur Kredit-

1 BGBl I 2023/39.

2 BGBl I 2015/135.

3 Richtlinie 2014/17/EU über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher und zur Änderung der Richtlinien 2008/48/EG und 2013/36/EU und der Verordnung

(EU) 1093/2010, ABl L 60 vom 28. 2. 2014, 34.

würdigkeitsprüfung und deren Konsequenzen für die Kreditvergabe: „Der Kreditgeber darf dem Verbraucher den Kredit nur gewähren, wenn aus der Kreditwürdigkeitsprüfung hervorgeht, dass es wahrscheinlich ist, dass die Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Kreditvertrag in der gemäß diesem Vertrag vorgeschriebenen Weise erfüllt werden.“

Bei Zweifeln an der Rückzahlungsfähigkeit, welche die Rückzahlung nicht wahrscheinlich erscheinen lassen, darf der Kredit nicht gewährt werden; das HIKrG postuliert somit ein Kreditvergabeverbot

Das für allgemeine Verbraucherkredite (ohne hypothekarische bzw Liegenschaftserwerbskomponente) geltende Verbraucherkreditgesetz (VKrG)4 fordert dagegen nur eine Warnung bei Zweifeln an der Rückzahlungsfähigkeit. Nach § 7 Abs 2 VKrG muss der Kreditgeber, der aufgrund der Kreditwürdigkeitsprüfung entsprechende Bedenken hat, den Kreditnehmer auf seine Bedenken bloß hinweisen

ERWACHSENENSCHUTZRECHT Juni 2023 149
28 Mit anderen Worten: Was Sie noch sagen wollten! *Mag. Wolfgang Wild war Leiter/Geschäftsführer der HYPO-Bildung GmbH und ist Lehrbeauftragter an der FH Wiener Neustadt für Bankbetriebslehre und Kapitalmarkt. 4 BGBl I 2010/28.

II.Alte Rechtslage: ausreichende Kreditwürdigkeit als Altersdiskriminierung

§ 9 HIKrG legt die Latte für eine ausreichende Kreditwürdigkeit hoch. Die Rückzahlung muss nicht nur wahrscheinlich sein, sie muss auch in der kreditvertraglich vorgesehenen Weise erfolgen – dh nicht durch die Verwertung von insb hypothekarischen Sicherheiten

Diese hohen Anforderungen an die Kreditwürdigkeit sind darauf zurückzuführen, dass die Verwertung hypothekarischer Sicherheiten immer mit einem Eigentümerwechsel verbunden ist. Der bisherige Eigentümer – idR der Kreditnehmer – verliert sein Eigentumsrecht und muss die Immobilie aufgeben. Ist die Immobilie seine Wohnung, muss eine neue Bleibe gesucht werden. Gerade diese „Herbergssuche“ soll aus sozialpolitischen Gründen vermieden werden.

In der Praxis wird die Rückzahlung meist aus dem laufenden Einkommen des Kreditnehmers geleistet, soweit nicht kreditvertraglich die Tilgung durch einen im Voraus geplanten Verkauf der Immobilie am Laufzeitende erfolgt. Für die meisten Immobilienkredite wird daher die Kreditwürdigkeit vom laufenden Einkommen während der Kreditlaufzeit bestimmt.

Für Senioren und Personen nahe dem Pensionsantritt, die einen Kredit benötigen, bedeutete das ausschließliche Abstellen auf das Einkommen eine schwer überwindbare Bonitätshürde. Eine kurze Kreditlaufzeit führt zu einer höheren Rate. Da das Pensionseinkommen meist geringer ist als das Arbeitseinkommen, können nur betraglich niedrigere Raten geleistet werden – dadurch verlängert sich aber die Kreditlaufzeit. Hier schnappte bislang die Falle der Lebenserwartung zu: Die Kreditlaufzeit ist länger als die noch verbleibende Lebenszeit (zumindest nach der statistischen Lebenserwartung5), die Rückzahlung in der vertraglich meist vorgesehenen Weise –nämlich aus dem Einkommen – ist deshalb unwahrscheinlich, der Kredit durfte folglich nicht gewährt werden.

Beispiel

Die fernere Lebenserwartung (dh die statistisch verbleibende Lebenszeit bis zum Tod) betrug im Jahr 2022 bei 65-jährigen Männern rund 17 Jahre, bei 65-jährigen Frauen rund 20 Jahre.6 Ein Kredit müsste innerhalb dieses verbleibenden Lebenszeitraums zurückgezahlt werden.

Bei einer Kredithöhe von 100.000 € und einer der restlichen Lebenserwartung entsprechenden Laufzeit beträgt die monatliche und ausschließliche Tilgungsrate (ohne Zinsen!) ca 490 € (bei Männern) bzw ca 416 € (bei Frauen); aus dem laufenden Pensionseinkommen ist diese oft nicht bedienbar.

Eine bei Immobilienkrediten durchaus übliche längere Laufzeit von 25 oder 30 Jahren, verbunden mit niedrigeren Raten, lässt die Rückzahlung aus dem Einkommen nicht wahrscheinlich erscheinen, weil der Kreditnehmer – zumindest statistisch gesehen – vorher stirbt. Dieses Ergebnis war für Personen, die vor oder bereits nach Pensionsantritt ihre Immobilie altersgerecht umbauen wollten oder aus bautechnischen Gründen sanieren mussten und dafür einen Kredit

5 Laut Statistik Austria betrug die Lebenserwartung im Jahr 2020 bei Frauen 83,7 Jahre, bei Männern 78,9 Jahre; s https://www.statistik.at/statistiken/bevoelkerung-und-soziales/gender-statistiken/demographische-merkmale (Zugriff am 25. 5. 2023). 6 Statistik Austria, Lebenserwartungsrechner, https://www.statistik.at/services/tools/ lebenserwartungsrechner (Zugriff am 25. 5. 2023).

benötigten, mehr als unbefriedigend. Pensionistenverbände forderten daher schon seit Jahren eine gesetzliche Änderung und Beseitigung dieser Altersdiskriminierung.

III.Neue Rechtslage: Abkehr vom Einkommen als ausschließlichem Kriterium

Bei der Kreditwürdigkeitsprüfung ist nun – infolge einer Ergänzung in § 9 Abs 5 HIKrG – nicht mehr ausschließlich auf die Rückzahlung aus dem laufenden Einkommen, ungeachtet hypothekarischer Sicherheiten, abzustellen. Die aufgrund des Alters oder Gesundheitszustandes fehlende Lebenserwartung des Kreditnehmers bildet kein Hindernis mehr für die Kreditvergabe, wenn (kumulativ!)

■ die Erfüllung der Verpflichtungen zu Lebzeiten wahrscheinlich ist und

■ der Wert von Immobilie bzw Superädifikat (oder anderer als Sicherheiten bestellter Vermögenswerte) des Verbrauchers die Kreditverbindlichkeit einschließlich Verwertungskosten abdeckt.

Die bestellten Sicherheiten müssen Immobilienvermögen, Superädifikate oder Realsicherheiten („andere Vermögenswerte“) sein und dem Kreditnehmer (Verbraucher) gehören. Um die Verwertung der bestellten Sicherheiten nach dem Tod des Kreditnehmers zu vermeiden, können die Erben den Kreditvertrag übernehmen und die laufende Kredittilgung fortsetzen.

§ 9 Abs 5 HIKrG Satz 2 nF

„Selbst wenn es – etwa im Hinblick auf das Alter des Verbrauchers oder seinen Gesundheitszustand – konkrete Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Verbraucher während der Vertragslaufzeit versterben könnte, kann diese Möglichkeit unberücksichtigt bleiben, wenn

1.wahrscheinlich ist, dass der Verbraucher zu Lebzeiten den jeweils fälligen Verpflichtungen, die im Zusammenhang mit dem Kreditvertrag stehen, voraussichtlich vertragsgemäß nachkommen wird, und

2.der Wert der unbeweglichen Sache oder des Superädifikats oder der Wert anderer als Sicherheiten dienender Vermögenswerte des Verbrauchers hinreichende Gewähr für die Abdeckung der im Zusammenhang mit dem Kreditvertrag stehenden Verbindlichkeiten und eventuellen Verwertungskosten bietet.“

IV.Ergebnis

Immobilienkredite dürfen nach HIKrG grundsätzlich nur gewährt werden, wenn die vertragsgemäße Rückzahlung –idR aus dem laufenden Einkommen – wahrscheinlich ist. Aufgrund der verbleibenden Lebenserwartung musste daher bisher für Senioren bzw Pensionisten eine entsprechend kürzere Laufzeit gewählt werden, die aber zu höheren und oft nicht mehr bedienbaren Raten führte. Die bestellten Sicherheiten durften nicht angerechnet werden.

Die mit 1. 5. 2023 in Kraft getretene Novelle zum HIKrG, BGBl I 2023/39, beseitigt diese Altersdiskriminierung: Der Immobilienkredit darf nun auch gewährt werden, wenn die vertragsgemäße Rückzahlung während der verbleibenden Lebenszeit wahrscheinlich ist und die bestellten Sicherheiten die Abdeckung der restlichen Kreditverbindlichkeit einschließlich Verwertungskosten gewährleisten.

ERWACHSENENSCHUTZRECHT Juni 2023 150

RECHTSPRECHUNG Erwachsenenschutzrecht Felicitas Parapatits

§ 258 Abs 4 ABGB

iFamZ 2023/100

Uneinigkeit zwischen dem Betroffenen und dem Erwachsenenvertreter über die Anfechtung einer Schenkung auf den Todesfall

OGH 27. 1. 2023, 1 Ob 233/22d

Bei Uneinigkeit zwischen dem Betroffenen und dem für ihn bestellten (nunmehr) Erwachsenenvertreter über eine Maßnahme, die der Genehmigung des Pflegschaftsgerichts bedarf, steht dem Betroffenen ein Rekursrecht gegen eine dem Willen des Erwachsenenvertreters folgende gerichtliche Entscheidung auch dann zu, wenn die bekämpfte Entscheidung in dessen Wirkungsbereich fällt. Der Betroffene kann sich bei der Erhebung seines Rekurses auch von einem frei gewählten Rechtsanwalt vertreten lassen, sofern (nach der Aktenlage) nicht offenkundig ist, dass ihm bei Vollmachtserteilung die Vernunft völlig gefehlt hätte und er nicht fähig gewesen wäre, den Zweck der Vollmachtserteilung zu erkennen.

[1] Für den Betroffenen wurde für bestimmte Angelegenheiten – insb zur Verwaltung seines Einkommens und Vermögens; zur Vertretung bei über alltägliche Geschäfte hinausgehenden Rechtsgeschäften; zur Vertretung gegenüber Gerichten, Behörden und Sozialversicherungsträgern; konkret auch zur „Prüfung und gegebenenfalls Rückabwicklung“ von Schenkungen von Liegenschaften auf den Todesfall an seinen Enkel – ein Rechtsanwalt zum gerichtlichen Erwachsenenvertreter bestellt. Dieser beantragte beim Erstgericht die pflegschaftsgerichtliche Genehmigung einer Klage des Betroffenen gegen seinen Enkel, mit der zwei Schenkungen auf den Todesfall (über Anteile an zwei Liegenschaften) angefochten werden sollen.

[2] Das Erstgericht genehmigte die Klageführung.

[3] Das Rekursgericht wies den dagegen vom Betroffenen erhobenen Rekurs, den er durch einen frei gewählten Rechtsanwalt (somit nicht durch den Erwachsenenvertreter) eingebracht hatte, zurück. (…)

§ 6a ZPO; § 117 AußStrG

iFamZ 2023/101

Beschluss auf Einleitung des Erwachsenenschutzverfahrens

OGH 27. 1. 2023, 1 Ob 253/22w

Für die Einleitung des Erwachsenenschutzverfahrens bedarf es konkreter und begründeter Anhaltspunkte für die Notwendigkeit der Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters. Die Frage des Vorliegens konkreter und begründeter Anhaltspunkte ist eine typische Einzelfallbeurteilung, die nur bei einer groben Fehlbeurteilung des Rekursgerichts eine erhebliche Rechtsfrage begründen kann.

Der Beschluss auf Einleitung eines Verfahrens über die Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters ist vom Rekursgericht aufgrund der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen. Ob hier allenfalls mit einer frei gewählten Rechtsanwältin – wie sie der Betroffene im Revisionsrekursverfahren beauftragt hat – das Auslangen gefunden werden kann oder es doch der Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters bedarf, wird das Erstgericht im fortgesetzten Verfahren zu beurteilen haben.

§§ 119 f AußStrG

iFamZ 2023/102

Personenidentität zwischen dem Rechtsbeistand im Verfahren und dem einstweiligen Vertreter

OGH 16. 5. 2023, 3 Ob 49/23m

Es ist durch höchstgerichtliche Rsp bereits gesichert, dass –wenn keine Interessenkollision zu besorgen ist – eine Personenidentität zwischen dem Rechtsbeistand im Verfahren (§ 119

AußStrG) und dem einstweiligen Vertreter (§ 120 AußStrG) grundsätzlich möglich ist. Eine Kollision der Interessen der Betroffenen mit jenen der vom Erstgericht mit beiden Funktionen betrauten Rechtsanwältin ist nicht ersichtlich. Dass diese für ihre Tätigkeit als einstweilige Erwachsenenvertreterin entlohnt wird, begründet nach der Rsp noch keine materielle Interessenkollision.

§ 268 Abs 2 ABGB; § 127 Abs 3 AußStrG iFamZ 2023/103 Rechtliches Gehör der Angehörigen der betroffenen Person

OGH 31. 1. 2023, 4 Ob 220/22i

Die nicht erfolgte Beiziehung des Bruders der Betroffenen im erstgerichtlichen Verfahren stellt keine Verletzung dessen rechtlichen Gehörs dar, weshalb weder das erstgerichtliche noch das Rekursverfahren nichtig oder mangelhaft geblieben sind.

(…) [4] 1. § 127 AußStrG normiert in seinem Abs 1, dass von der Einleitung des Verfahrens über die Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters der Ehegatte, eingetragene Partner oder Lebensgefährte, die Eltern und volljährigen Kinder der betroffenen Person sowie die in einer Erwachsenenvertreter-Verfügung bezeichnete Person (§ 244 Abs 1 ABGB) zu verständigen sind, soweit die betroffene Person nichts anderes verfügt hat oder zu erkennen gibt, dass sie eine solche Verständigung nicht will. In § 127 Abs 3 AußStrG ist festgehalten, dass einem Angehörigen iSd Abs 1, dessen Verständigung die betroffene Person nicht abgelehnt hat, gegen den Beschluss über die Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters im Hinblick auf die Person des gerichtlichen Erwachsenenvertreters der Rekurs zusteht. Gem § 128 Abs 1 AußStrG sind die Vorschriften für das Verfahren zur Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters auch auf das Verfahren über die Erweiterung, Einschränkung, Übertragung, Erneuerung und Beendigung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung anzuwenden.

[5] 2. Dieser Personenkreis unterscheidet sich vom Personenkreis des § 268 Abs 2 ABGB, der regelt, welche Personen als gesetzliche Erwachsenenvertreter in Betracht kommen. Dass gemäß dieser Bestimmung für eine gesetzliche Erwachsenenvertretung auch Geschwister des Betroffenen in Frage kommen, hat mit einem lediglich den in § 127 Abs 1 AußStrG genannten Personen im Hinblick auf die Person des gerichtlichen Erwachsenenvertreters zustehenden Rekursrecht nichts zu tun. (…)

§§ 274 Abs 5, 275 ABGB; § 120 Abs 1 AußStrG iFamZ 2023/104 Praktische Schwierigkeiten bei der Suche nach geeigneten Erwachsenenvertretern rechtfertigen keine Einschränkung des Ablehnungsrechts von Rechtsanwälten

OGH 28. 3. 2023, 4 Ob 41/23t

Nach völlig einhelliger Auffassung sind die Regeln der §§ 273 ff ABGB für die Auswahl des Erwachsenenvertreters auch auf die Auswahl eines Rechtsbeistands im Verfahren und eines einstweiligen Erwachsenenvertreters anzuwenden.

Auch der einstweiligen Erwachsenenvertreterin steht nach § 275 Z 1 ABGB ein Ablehnungsrecht zu, wenn als weitere Voraussetzung die Besorgung der ihr übertragenen Angelegenheiten nicht überwiegend Rechtskenntnisse erfordert. In diesem Fall müsste eine Angelegenheit vorliegen oder konkret absehbar sein, die von einer Person ohne juristische Ausbil-

ERWACHSENENSCHUTZRECHT Juni 2023 151

dung nicht eigenständig erfüllt werden könnte. Das durch das 2. ErwSchG bewusst im Gesetz verankerte Ablehnungsrecht würde unterlaufen, wollte man die bloß abstrakte Möglichkeit, dass in Zukunft Prozesse und Verfahren anfallen oder Rechtskenntnisse künftig von Vorteil sein könnten, für die Schlussfolgerung genügen lassen, dass zur Besorgung der Angelegenheiten des Betroffenen vorwiegend Rechtskenntnisse erforderlich sind. Vielmehr müssen diese Angelegenheiten aktuell oder in naher Zukunft zu besorgen sein.

[1] Im gesamten Bundesland Oberösterreich war bis zum 4. 1. 2023 kein einziger Rechtsanwalt in die vom Ausschuss der oberösterreichischen Rechtsanwaltskammer gem §§ 10b, 28 Abs 1 lit o RAO zu führende Liste von zur Übernahme von Vorsorgevollmachten und gerichtlichen Erwachsenenvertretungen besonders geeigneten Rechtsanwälten eingetragen; seit 5. 1. 2023 ist in diese Liste (abrufbar unter https://ooerak.at/kundmachungen/) ein einziger Rechtsanwalt eingetragen. Von der auf der Website der oberösterreichischen Rechtsanwaltskammer angebotenen Rechtsanwaltssuchfunktion (https://ooerak.at/anwalt/?_taetigkeitsgebiete=erwachsenenvertre tung) wird ein einziger weiterer, jedoch nicht auf der Liste nach § 28 Abs1 lit o RAO eingetragener Rechtsanwalt mit Erwachsenenvertretung als „Tätigkeitsbereich“ ausgeworfen.

[2] Nach den von den Notariatskammern gem § 134 Abs 2 Z 16 NO zu führenden und gem § 134a Abs 2 NO auf der Website der Österreichischen Notariatskammer allgemein zugänglich bereitzustellenden Listen von zur Übernahme von Vorsorgevollmachten und gerichtlichen Erwachsenenvertretungen besonders geeigneten Notaren (https://www.notar.at/notar finder/ mit Zusatzqualifikation „besonders geeigneter Erwachsenenvertreter“) stehen lediglich in zwei Notariaten in Wien insgesamt zwei Personen (ein Notar und ein Notariatskandidat) zur Verfügung; im gesamten restlichen Bundesgebiet – und damit auch in Oberösterreich – gibt es demnach keinen einzigen zur Übernahme von Vorsorgevollmachten und gerichtlichen Erwachsenenvertretungen besonders geeigneten Notar oder Notariatskandidaten.

[3] Die Revisionsrekurswerberin ist Rechtsanwältin und Mitglied der oberösterreichischen Rechtsanwaltskammer (in der Folge: „Rechtsanwältin“); sie war und ist nicht in deren Liste nach § 28 Abs 1 lit o RAO eingetragen.

[4] Die betroffene Person bedarf nach dem Clearingbericht mangels nahestehender Personen der Vertretung durch einen gerichtlichen Erwachsenenvertreter und es sind dringende Angelegenheiten zu regeln. Der den Clearingbericht erstellende Erwachsenenschutzverein erklärte, die Erwachsenenvertretung mangels freier Vertretungskapazitäten nicht übernehmen zu können.

[5] Das Erstgericht bestellte die Rechtsanwältin, ohne ihr zuvor die Möglichkeit einer Stellungnahme eingeräumt zu haben, einerseits gem §119 AußStrG zum Rechtsbeistand der betroffenen Person im Verfahren, in dem die Notwendigkeit der Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters geprüft wird, und andererseits gem § 120 AußStrG zur einstweiligen Erwachsenenvertreterin zur Besorgung folgender dringender Angelegenheiten: Verwaltung der Einkünfte einschließlich Verfügungen über Girokonten; Vertretung vor Ämtern, Gerichten, Behörden und Sozialversicherungsträgern; Vertretung bei Verträgen zur Deckung des Pflege- und Betreuungsbedarfs; Ergreifung allfällig erforderlicher Maßnahmen zur Vermeidung einer weiteren (finanziellen) Schädigung iZm der Wohnung der betroffenen Person. Insb gelte es, diese im Rahmen des derzeit nach Aktenlage gegebenen Mietverhältnisses vor weiteren (finanziellen) Schäden zu bewahren, wozu bei der gewählten Rechtsanwältin jedenfalls gegebene Rechtskenntnisse von Vorteil sein würden. Zudem sei die weitere Pflege und Betreuung der betroffenen Person nach ihrem wohl absehbar endenden Klinikaufenthalt abzuklären und rechtlich zu vereinbaren. Dazu bedürfe es jedoch der Befugnis der Einkommensverwaltung einerseits sowie der Möglichkeit, für sie Anträge, etwa auf Pflegegeld, zu stellen. Da einerseits auch rechtliche Angelegenheiten dringend zu besorgen seien und andererseits sonst keine (nahestehende) Person für die gerichtliche Erwachsenenvertretung zur Verfügung stehe, sei die Rechtsanwältin damit zu betrauen.

[6] Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Rechtsanwältin gegen ihre Bestellung zur einstweiligen Erwachsenenvertreterin gem § 120 AußStrG nicht Folge. Sie hatte darin ins Treffen geführt, sie hätte ihr Ablehnungsrecht nach § 275 ABGB mangels Befassung in erster Instanz nicht geltend machen können, hole dies im Rekurs nach und verweise darauf, dass die Besorgung der Angelegenheiten nicht vorwiegend der Rechtskenntnisse bedürfe und sich aus der Aktenlage keine finanziellen oder anderweitigen drohenden Schäden iZm dem Mietverhältnis ergäben. Das Rekursgericht

erwog dazu, es sei der Rechtsanwältin zuzugestehen, dass dringende Angelegenheiten iSd § 274 Abs 5 ABGB, die vorwiegend Rechtskenntnisse erfordern würden, hier nicht vorlägen. Daher stehe der Rechtsanwältin grundsätzlich das Ablehnungsrecht des § 275 Z 1 ABGB zu. Dieses Ablehnungsrecht führe allerdings schon bei der Bestellung eines endgültigen gerichtlichen Erwachsenenvertreters in der Praxis zu massiven Problemen. So sei nämlich in Oberösterreich weder in der von der Rechtsanwaltskammer noch in der von der Notariatskammer geführten Liste von zur Übernahme von Vorsorgevollmachten und gerichtlichen Erwachsenenvertretern besonders geeigneten Rechtsanwälten und Notaren auch nur eine einzige Person eingetragen. Damit stehe sämtlichen oberösterreichischen Rechtsanwälten und Notaren bei fehlendem Erfordernis von Rechtskenntnissen ein Ablehnungsrecht zu. In letzter Konsequenz würde das bedeuten, dass bei fehlenden (nahestehenden) Personen bzw fehlenden Kapazitäten der Erwachsenenschutzvereine für betroffene Personen kein Erwachsenenvertreter bestellt werden könnte. Zwar werde in den Mat zum 2. ErwSchG darauf hingewiesen, dass mit der Einführung des Ablehnungsrechts nach § 275 Z 1 ABGB einer langjährigen Forderung der Notare und Rechtsanwälte nachgekommen worden sei und eine Verpflichtung zur Übernahme einer Erwachsenenvertretung nicht bestehe, wenn nicht vorwiegend rechtliche Angelegenheiten betroffen seien. Damit werde der Gesetzgeber aber nicht gewollt haben, dass für betroffene Personen in letzter Konsequenz kein Erwachsenenvertreter bestellt werden könne. Es sei nämlich in den Fällen der Bestellung eines einstweiligen Erwachsenenvertreters stets Eile geboten, handle es sich dabei doch um dringend zu besorgende Angelegenheiten. Auch wenn die Regelungen über die Bestellung des endgültigen Erwachsenenvertreters grundsätzlich auch für die Bestellung eines einstweiligen Erwachsenenvertreters zur Anwendung gelangten, könne bei Letzterem das Ablehnungsrecht des § 275 Z 1 ABGB nicht in gleicher Weise zur Anwendung kommen. In derartigen Fällen dringend zu besorgender Angelegenheiten sei es den Erstgerichten nicht zumutbar, so lange einen Angehörigen eines einschlägigen Rechtsberufs zu suchen, bis sich einer nicht auf sein Ablehnungsrecht berufe. Jedenfalls für Fälle der Bestellung zum einstweiligen Erwachsenenvertreter gelte daher das Ablehnungsrecht des § 275 Z 1 ABGB nicht.

[7] Soweit die Rechtsanwältin die Verletzung ihres rechtlichen Gehörs als Mangelhaftigkeit geltend mache, habe dies mangels Ablehnungsrechts keinen Einfluss auf die Richtigkeit der Entscheidung gehabt. (…)

[11] Der Revisionsrekurs ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig und im Sinne des Eventualantrags berechtigt. (…)

[13] 1.1. Wenn es das Wohl der betroffenen Person erfordert, so hat ihr nach § 120 Abs 1 AußStrG das Gericht zur Besorgung dringender Angelegenheiten längstens für die Dauer des Verfahrens einen einstweiligen Erwachsenenvertreter mit sofortiger Wirksamkeit zu bestellen. Nach § 120 Abs 3 AußStrG gelten – von einem hier nicht relevanten Sonderfall abgesehen – für die einstweilige Erwachsenenvertretung die Regelungen über die gerichtliche Erwachsenenvertretung.

[14] 1.2. Nach völlig einhelliger Auffassung sind die Regeln der §§ 273 ff ABGB für die Auswahl des Erwachsenenvertreters, auch auf die Auswahl eines Rechtsbeistands im Verfahren und eines einstweiligen Erwachsenenvertreters anzuwenden (RIS-Justiz RS0110987 [T2, T4], RS0048291; Schauer in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG2, § 120 Rz 23; Fritz in Schneider/Verweijen, AußStrG, §120 Rz 5 und 9; Mondel in Rechberger/Klicka, AußStrG3, § 120 Rz 2; alle mwN).

[15] 1.3. Die Auffassung des Rekursgerichts, diese Rechtslage sei dahin zu interpretieren, dass die Ablehnungsmöglichkeit nach § 275 Z 1 ABGB im Fall der einstweiligen Bestellung nicht anzuwenden sei, lässt sich weder mit dem klaren Gesetzeswortlaut des § 120 Abs3 AußStrG noch mit den Mat zum 2. ErwSchG (ErlRV 1461 BlgNR 25.GP 6 und 43 f) zur Deckung bringen. Die vom Rekursgericht lebensnah erwogenen praktischen Schwierigkeiten bei der Suche nach geeigneten Erwachsenenvertretern legen indes nicht das Bestehen eines überschießend weiten Gesetzeswortlauts – im Sinne einer im Fehlen einer nach der ratio legis notwendigen Ausnahme bestehenden (verdeckten) Lücke (vgl RIS-Justiz RS0008979) – nahe. Sie fügen sich vielmehr in das Bild des vom Gesetzgeber des 2. ErwSchG ua angestrebten Ziels der Entlastung der Gerichte und früheren Sachwalter von nicht unmittelbar zur Rechtsfürsorge gehörenden Agen-

ERWACHSENENSCHUTZRECHT Juni 2023 152

den der sozialen Versorgung und Betreuung ein (vgl ErlRV 1461 BlgNR 25. GP 3). Es mag eine allenfalls in der Praxis nicht bestätigte Einschätzung der Gesetzesfolgen vor dem Hintergrund zu knapper finanzieller wie personeller Ressourcen vorliegen; dies könnte aber nicht einen von den zur Rechtsanwendung berufenen Gerichten zu ziehenden Schluss tragen, dass der Gesetzgeber deshalb vorab gerade in Ansehung der Bestellung von Angehörigen von Rechtsberufen zu Erwachsenenvertretern für die einstweilige Bestellung andere Regeln als für die endgültige Bestellung vorsehen hätte wollen (zur seit Langem bekannten Ressourcenknappheit vgl Zierl/Schweighofer/Wimberger, Erwachsenenschutzrecht2 [2018] Rz 499 mwN). Vielmehr ist in den – vom Rekursgericht selbst zitierten – Mat ausdrücklich die Entscheidung des Gesetzgebers dokumentiert, mit der Einschränkung der Übernahmeverpflichtungen „einer langjährigen Forderung der Notare und Rechtsanwälte nach[zu]kommen“

(ErlRV 1461 BlgNR 25. GP 44); dies legt nahe, dass die umfassende Einschränkung des als Erwachsenenvertreter zur Verfügung stehenden Personenkreises vom Gesetzgeber bewusst getroffen wurde. Die vom Rekursgericht erwogene Gesetzesauslegung verbietet sich damit. (…)

[20] 3.1. Die Rechtsanwältin ist unstrittig nicht in die Liste nach § 28 Abs 1 lit o RAO eingetragen.

[21] 3.2. Ihr kommt daher auch als einstweilige Erwachsenenvertreterin nach § 275 Z 1 ABGB ein Ablehnungsrecht zu, wenn als weitere Voraussetzung die Besorgung der ihr übertragenen Angelegenheiten nicht überwiegend Rechtskenntnisse erfordert.

[22] 4.1. Das Rekursgericht und die Rechtsanwältin stimmen darin überein, dass solche Angelegenheiten hier nicht vorliegen.

[23] 4.2. Dem ist zuzustimmen: Es müsste eine Angelegenheit vorliegen oder konkret absehbar sein, die von einer Person ohne juristische Ausbildung nicht eigenständig erfüllt werden könnte. Das durch das 2. ErwSchG bewusst im Gesetz verankerte Ablehnungsrecht würde unterlaufen, wollte man die bloß abstrakte Möglichkeit, dass in Zukunft Prozesse und Verfahren anfallen oder Rechtskenntnisse künftig von Vorteil sein könnten, für die Schlussfolgerung genügen lassen, dass zur Besorgung der Angelegenheiten des Betroffenen vorwiegend Rechtskenntnisse erforderlich sind. Vielmehr müssen diese Angelegenheiten aktuell oder in naher Zukunft zu besorgen sein (vgl 1 Ob 41/22v mwH auf das Schrifttum).

[24] Hier sind an konkret absehbaren dringenden Angelegenheiten Pflegevereinbarungen zu treffen und Pflegegeld zu beantragen, ein Mietvertrag zu kündigen und das Einkommen zu verwalten. Dies sind zumindest derzeit keine Angelegenheiten, die nur von iSd § 274 Abs 5 ABGB juristisch kenntnisreichen Personen besorgt werden könnten.

[25] 5.1. Die Vorinstanzen haben daher der Rechtsanwältin zu Unrecht die Berufung auf das Ablehnungsrecht nach § 275 Z 1 ABGB verwehrt.

[26] Dies muss hier zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen führen.

[27] 5.2. Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren – sofern es im Licht des vom Betroffenen gestellten Antrags auf Beendigung der Erwachsenenvertretung an dieser festhält – eine andere geeignete Person als die Rechtsanwältin zum einstweiligen Erwachsenenvertreter zu bestellen haben. Für den Fall konkreter Feststellungen zum Fehlen geeigneter Personen iSd § 274 Abs 2 und 3 ABGB, aber auch iSd § 274 Abs 4 letzter Fall ABGB (vgl 1 Ob 41/22v sowie Deixler-Hübner/Schauer, Handbuch Erwachsenenschutzrecht [2018] Rz 4.89 mwH) könnte auf einen Angehörigen eines einschlägigen Rechtsberufs – sollten auch weiterhin keine Rechtskenntnisse iSd § 274 Abs 5 ABGB konkret erforderlich sein – nur dann zurückgegriffen werden, wenn dieser von seinem Ablehnungsrecht im Hinblick auf das von ihm deklarierte Tätigkeitsfeld voraussichtlich keinen Gebrauch machen will oder ihm wegen Listeneintragung ein solches nicht zusteht.

Anmerkung

Die vorliegende Entscheidung zeigt – insb bei dringend zu besorgenden Angelegenheiten und Fehlen von Angehörigen – das Dilemma und die Not der Gerichte auf, geeignete und willige Personen als gerichtliche Erwachsenenvertreter:innen zu finden. Dahinter stehen aber größere ungelöste rechtsund gesellschaftspolitische Fragen. Nach wie vor fehlen ausreichend alternative Angebote der Unterstützung und staatlich finanzierte geeignete Personen, die diese wichtigen Aufgaben übernehmen könnten. Die Möglichkeiten der gerichtlichen Erwachsenenvertretung und der Gerichte haben ihre Grenzen und können diese Lücken nicht schließen. Das Gericht kann geeignete Vertreter:innen bestellen, aber nicht herbeizaubern.

Felicitas Parapatits

§ 275 ABGB; § 28 Abs 1 lit o RAO iFamZ 2023/105 Kein Ablehnungsrecht bei „Stopp“-Vermerk auf der Liste der Wiener Rechtsanwaltskammer für besonders qualifiziert eingetragene Rechtsanwälte

OGH 18. 4. 2023, 5 Ob 40/23b

Die in § 275 ABGB genannten Ablehnungsgründe für die Übernahme von gerichtlichen Erwachsenenvertretungen gelten nicht für Rechtsanwälte, die aufrecht in der Liste von zur Übernahme von Vorsorgevollmachten und gerichtlichen Erwachsenenvertretungen besonders geeigneten Rechtsanwälten eingetragen sind. Ein sogenannter „Stopp“-Vermerk auf der Liste der Wiener Rechtsanwaltskammer ändert daran nichts, weil ihm die gesetzliche Grundlage fehlt.

Ob eine Umbestellung zur Wahrung des Wohls der Betroffenen angezeigt sein könnte, weil auch bei Bestellung eines als besonders qualifiziert eingetragenen Rechtsanwalts bei entsprechender Behauptungslage zu prüfen wäre, ob im Hinblick auf die Zahl der übernommenen Fälle im Vergleich zur vorhandenen Organisation und der Anzahl der besonders qualifizierten Kanzleimitarbeiter ausreichende gesetzeskonforme Betreuungsmöglichkeiten des Betroffenen gegeben sind, wird das Erstgericht zu entscheiden haben.

(…) [14] 4.1. Rechtsanwälte müssen auch nach § 275 ABGB idF 2. ErwSchG gerichtliche Erwachsenenvertretungen grundsätzlich übernehmen, sofern nicht ein in dieser Bestimmung genannter Ablehnungsgrund vorliegt (1 Ob 41/22v; RIS-Justiz RS0123440). Nach dieser Bestimmung kann ein Notar (Notariatskandidat) oder Rechtsanwalt (Rechtsanwaltsanwärter), der nicht aufrecht in der Liste von zur Übernahme von Vorsorgevollmachten und gerichtlichen Erwachsenenvertretungen besonders geeigneten Rechtsanwälten oder Notaren eingetragen ist, die Übernahme einer gerichtlichen Erwachsenenvertretung nur ablehnen, wenn die Besorgung der Angelegenheiten nicht vorwiegend Rechtskenntnisse erfordert, wenn nachgewiesen wird, dass ein anderer in der Liste eingetragener Notar, Rechtsanwalt oder Berufsanwärter diese Aufgabe übernehmen würde, oder wenn die Übernahme aus bestimmten Gründen nicht zumutbar ist. Nach dieser unmissverständlichen Bestimmung gilt die Möglichkeit der Ablehnung nur für jene Angehörigen der Rechtsberufe, die nicht (iSd § 10b RAO) aufrecht in die von den Kammern zu führenden Listen als zur Übernahme von Vorsorgevollmachten und gerichtlichen Erwachsenenvertretungen besonders geeignete Notare oder Rechtsanwälte eingetragen sind (1 Ob 41/22v; 4 Ob 41/23t).

[15] 4.2. Die Revisionsrekurswerberin bestreitet nicht, dass sie auf der entsprechenden Liste der Rechtsanwaltskammer Wien eingetragen ist. Sie beruft sich nur darauf, sie habe in der Liste der Rechtsanwaltskammer Wien einen „Stopp“-Vermerk veranlasst, sei daher mittels eines „X“ auf einer roten Kreisfläche in der Spalte „Kapazität“ als zur Übernahme weiterer Erwachsenenschutzsa-

ERWACHSENENSCHUTZRECHT Juni 2023 153

chen nicht mehr bereit markiert worden. Dieses Vorbringen ändert nichts daran, dass sie iSd § 28 Abs 1 lit o RAO und § 275 ABGB nach wie vor aufrecht in die Liste von zur Übernahme von Vorsorgevollmachten und gerichtlichen Erwachsenenvertretungen besonders geeigneten Rechtsanwälten eingetragen ist. Für den „Stopp“-Vermerk auf der Liste der Wiener Rechtsanwaltskammer fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage; für die im Sinne eines Ampelsystems nach „frei“ (grün), „keine Angabe“ (gelb) und „Stopp“ (rot) etablierten Vermerke mögen Informations- und Zweckmäßigkeitserwägungen maßgeblich gewesen sein (vgl Artner in Deixler-Hübner/ Schauer, Handbuch Erwachsenenschutzrecht [2018] Rz 17.27; LGZ Wien in EFSlg 163.896). Am Umstand der aufrechten Eintragung in der Liste im Sinn der zitierten gesetzlichen Bestimmungen kann ein derartiges – gesetzlich nicht vorgesehenes – Ampelsystem aber nichts ändern. Dies ergibt sich aus dem völlig eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 275 ABGB, sodass auch hierzu keine erhebliche Rechtsfrage zu beantworten ist (vgl RIS-Justiz RS0042656).

[16] 4.3. Dies gilt auch für das von der Revisionsrekurswerberin reklamierte Ablehnungsrecht des § 275 ABGB, das nach der genannten Bestimmung, die keine Zweifel offen lässt, nur für nicht aufrecht in der Liste eingetragene Rechtsanwälte gilt. Diese Auslegung wird von den Mat gestützt, die davon ausgehen, dass ein Rechtsanwalt oder Notar, der aufrecht in die Liste eingetragen ist, sich auf eine solche Tätigkeit spezialisiert hat und damit mit der Übernahme von Vertretungen grundsätzlich einverstanden ist (ErlRV 1461 BlgNR 25. GP 44). Auch in der Lit wird ein Ablehnungsrecht eines in die Liste eingetragenen Rechtsanwalts weit überwiegend verneint (Barth/Koza in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang, ABGB3, § 275 Rz6, 14; Zierl/Schweighofer/Wimberger, Erwachsenenschutzrecht2 [2018] Rz 500; Parapatits in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.04, § 275 Rz 14 f; Weitzenböck in Schwimann/Kodek, ABGB5, § 275 Rz 1 f; Pfurtscheller in Schwimann/Neumayr, ABGB-TaKomm5, § 275 Rz 1; in dem Sinn auch LGZ Wien in EFSlg 163.895). Die Auffassungen von Barth/Ganner (Handbuch des Erwachsenenschutzrechts3 [2019] 781 FN 3543) aus § 243 Abs 2 Satz3 ABGB sei abzuleiten, dass die Überschreitung der allgemeinen Höchstzahl von 15 der Zustimmung (auch) des jeweiligen in der Liste eingetragenen Rechtsanwalts bedürfe, und von Artner (in Deixler-Hübner/Schauer, Handbuch Erwachsenenschutzrecht [2018] Rz 17.22 f), der generell für ein Ablehnungsrecht auch des in der Liste eingetragenen Rechtsanwalts plädiert, berücksichtigen den Gesetzeswortlaut des § 275 ABGB nicht ausreichend. Dies gilt ebenso für die – primär von Zweckmäßigkeitsüberlegungen getragene – Entscheidung des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien EFSlg 160.452.

[17] 4.4. Für ein Ablehnungsrecht kann auch nicht die Begründung des OGH zu 3 Ob 12/20s ins Treffen geführt werden (die einen in der Liste nicht eingetragenen Rechtsanwalt betraf). Der 3.Senat sprach aus, das Gericht dürfe nicht eigenständig prüfen, ob ein in die Liste eingetragener Rechtsanwalt tatsächlich die erforderliche besondere Eignung aufweist. Aus dieser Entscheidung ergibt sich, dass das Gericht besondere Umstände beim Erwachsenenvertreter im Interesse des Wohls der betroffenen Person berücksichtigen kann (und allenfalls auch müsste), nicht aber ein Ablehnungsrecht des Erwachsenenvertreters.

[18] 4.5. Im Hinblick auf das nach der eindeutigen Regelung des § 275 ABGB einer aufrecht in der Liste eingetragenen Rechtsanwältin nicht zustehende Ablehnungsrecht liegt auch hierzu keine erhebliche Rechtsfrage vor (RIS-Justiz RS0042656). Auf ein Ablehnungsrecht kann sich die Revisionsrekurswerberin – ungeachtet des von ihr veranlassten „Stopp“-Vermerks in der Liste der Wiener Rechtsanwaltskammer – nicht berufen, solange sie auf dieser Liste aufscheint. Ob im Sinn der Entscheidung 2 Ob 202/21a, die – über Revisionsrekurs der Betroffenen – aussprach, dass es zwar für die Liste nach § 10b RAO eingetragene Rechtsanwälte keine strikte Obergrenze für übernommene Erwachsenenvertretungen gibt,

wegen des Grundsatzes des Wohls der betroffenen Person auch bei Bestellung eines als besonders qualifiziert eingetragenen Rechtsanwalts bei entsprechender Behauptungslage zu prüfen wäre, ob im Hinblick auf die Zahl der übernommenen Fälle im Vergleich zur vorhandenen Organisation und der Anzahl der besonders qualifizierten Kanzleimitarbeiter ausreichende gesetzeskonforme Betreuungsmöglichkeiten des Betroffenen gegeben sind, allenfalls aufgrund von der Erwachsenenvertreterin näher zu konkretisierender und mit der Betroffenen zu erörternder Umstände eine Umbestellung zur Wahrung des Wohls der Betroffenen angezeigt sein könnte, wird das Erstgericht zu entscheiden haben. (…)

§§ 241 Abs 2, 258 Abs 4 ABGB

iFamZ 2023/106

Grenzen der Berücksichtigung des Wunsches der vertretenen Person bei Einräumung eines Veräußerungs- und Belastungsverbots

OGH 28. 3. 2023, 4 Ob 56/23y

Der geäußerte Wunsch einer vertretenen Person, ein Veräußerungs- und Belastungsverbots für ihre Eigentumswohnung zugunsten ihrer beiden minderjährigen Kinder einzuräumen, ist zu berücksichtigen, es sei denn, ihr Wohl wäre hierdurch erheblich gefährdet. Dies könnte dann der Fall sein, wenn die Eigentumswohnung der noch jungen vertretenen Person ua den einzigen Vermögenswert darstellt und der Befriedigung ihres Wohnbedürfnisses dient sowie die Befürchtung besteht, dass die Wohnung nach Eintragung eines Veräußerungs- und Belastungsverbots aufgrund der Einschränkung der Anlage- und Verfügungsmöglichkeiten nicht auf Dauer erhalten und saniert werden könnte.

[1] Der Betroffene leidet an einer Persönlichkeitsstörung mit leichter Verführbarkeit, Beeinflussbarkeit und Haltlosigkeit. Deshalb ist ein Erwachsenenvertreter ua für die Verwaltung des Vermögens und die Vertretung bei Rechtsgeschäften bestellt. Rechtsgeschäfte des Betroffenen iSd §258 Abs 4 ABGB, die nicht zum ordentlichen Wirtschaftsbetrieb gehören, erfordern zu ihrer Wirksamkeit überdies die Genehmigung des Gerichts.

[2] Der Betroffene ist Anfang 40. Er lebt in seiner Eigentumswohnung mit Kfz-Abstellplatz, die den Großteil seines Vermögens ausmacht. Er ist derzeit schuldenfrei und verfügt über rund 40.000 € an Barvermögen.

[3] Der Betroffene beantragte die pflegschaftsgerichtliche Genehmigung der Einräumung eines Veräußerungs- und Belastungsverbots für die Eigentumswohnung zugunsten seiner beiden minderjährigen Kinder. Es sei ihm wichtig, sich selbst und seinen Kindern die Wohnung zu erhalten. Aufgrund seiner Persönlichkeitsstörung könnte der Betroffene künftig nachteilige Handlungen setzen, die Verbindlichkeiten wie Geldstrafen, Vertretungs-, Bereinigungs- oder Vergleichskosten nach sich zögen.

[4] Die Vorinstanzen wiesen den Antrag ab. Das Anliegen des Betroffenen, seinen Kindern die Wohnung einmal vererben zu können, sei zwar nachvollziehbar. Der Einverleibung von Veräußerungs- und Belastungsverboten auf Immobilien von Betroffenen sei aber grundsätzlich die Genehmigung zu versagen. Diese würden die Anlage- und Verfügungsmöglichkeiten des hier noch dazu sehr jungen Betroffenen einschränken, was die Finanzierung von künftigen Sanierungsmaßnahmen erschwere. Derzeit bestehe auch keine Gefahr, dass der Betroffene seine Wohnung wegen deliktisch geschaffenen Verbindlichkeiten an Gläubiger verlieren könnte.

[5] Der außerordentliche Revisionsrekurs des Betroffenen zeigt keine erhebliche Rechtsfrage auf und ist daher nicht zulässig.

[6] 1. Der Betroffene meint, die Vorinstanzen hätten einen falschen Beurteilungsmaßstab herangezogen. Nach § 241 Abs 2 ABGB idF 2. ErwSchG seien die Wünsche des Betroffenen grundsätzlich zu berücksichtigen, solange dadurch nicht sein Wohl ernsthaft gefährdet werde. Die Vorinstanzen hätten dagegen Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen, wie dies nach der alten Rechtslage vorgesehen gewesen sei.

[7] Der Betroffene stellt die geänderte Rechtslage zwar richtig dar. Es trifft jedoch nicht zu, dass die Vorinstanzen einen nicht

ERWACHSENENSCHUTZRECHT Juni 2023 154

mehr aktuellen Prüfmaßstab herangezogen hätten. Zwar zitierten sie § 241 ABGB in der Entscheidung nicht ausdrücklich oder geben die Bestimmung wörtlich wieder. Jedoch qualifizierte das Rekursgericht die Einschränkung der Anlage- und Verfügungsmöglichkeiten für den Betroffenen insb unter Berücksichtigung seines Alters sogar ausdrücklich als erhebliche Wohlgefährdung. Es legte als Kalkül daher eindeutig die aktuelle Rechtslage zugrunde.

[8] 2. Ob die Voraussetzungen einer pflegschaftsbehördlichen Genehmigung vorliegen, kann immer nur anhand des konkreten Einzelfalls beurteilt werden (RIS-Justiz RS0048176 [T2]; vgl auch RIS-Justiz RS0112025; RS0048207; RS0048142). Daher ist bei dieser Prüfung in der Regel keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 62 AußStrG zu lösen.

[9] Eine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung wird im Rechtsmittel nicht aufgezeigt. Selbst laut dem im Rechtsmittel zitierten Schrifttum ist das Wohl des Betroffenen erheblich gefährdet, wenn die Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse nicht mehr gesichert ist. Die Wohnung des Betroffenen bildet hier seinen größten Vermögenswert und dient gleichzeitig zur Befriedigung seines Wohnbedürfnisses in den voraussichtlich kommenden zahlreichen Lebensjahrzehnten. Der Befürchtung der Vorinstanzen, dass die Wohnung nach Eintragung eines Veräußerungs- und Belastungsverbots nicht auf Dauer erhalten und saniert werden könnte, tritt der Betroffene in seinem Rechtsmittel nicht konkret entgegen. (…)

§§ 246 Abs 1 Z 1, 258 ABGB

iFamZ 2023/107

Zustellung der pflegschaftsgerichtlichen Genehmigung erst nach dem Tod des Betroffenen – Beschluss wirkungslos

OGH 18. 4. 2023, 6 Ob 50/23f

Der Tod des Betroffenen beendet das Rechtsinstitut der Erwachsenenvertretung. Ein Einstellungsbeschluss hat nur noch deklarative Bedeutung.

Nach dem Tod des Betroffenen ist eine Genehmigung eines von ihm oder in seinem Namen von seinem gesetzlichen Vertreter geschlossenen Rechtsgeschäfts nicht mehr möglich. Eine dann dennoch erfolgte gerichtliche Genehmigung wäre –ebenso wie die Versagung einer Genehmigung – wirkungslos, sodass auch die Überprüfung einer davor erteilten Genehmigung im Rechtsmittelverfahren in diesem Stadium nicht mehr in Frage kommt. Vielmehr ist es allein Sache der Verlassenschaft nach dem Betroffenen bzw der Erben, ob sie den vom Erwachsenenvertreter geschlossenen Vertrag gegen sich gelten lassen wollen.

Wurde der Genehmigungsbeschluss – wie im vorliegenden Fall – vor dem Ableben dem Betroffenen selbst nicht zugestellt, bleibt der Beschluss wirkungslos. Daran ändert auch eine nachträgliche Zustellung des Genehmigungsbeschlusses an die Verlassenschaft oder die Erben des Betroffenen nichts.

§§ 36, 38 UbG

iFamZ 2023/108

Keine nachträgliche gerichtliche Überprüfung einer nichtdurchgeführten besonderen Heilbehandlung

OGH 22. 3. 2023, 7 Ob 41/23i

Es liegt kein Rechtsschutzinteresse des Erwachsenenschutzvereins für die Revisionsrekurserhebung vor, wenn eine geplante besondere Heilbehandlung (Depotmedikation) zwar erstgerichtlich genehmigt, die Genehmigung aber wegen der sofortigen Erhebung eines Rechtsmittels schwebend unwirksam ist und die Behandlung in der Folge (wegen vorheriger Aufhebung) während der Unterbringung gar nicht durchgeführt wird.

Die Kranke wurde am 30. 12. 2022 unfreiwillig auf der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie untergebracht. Die Unterbringung wurde gem § 26 Abs 1 UbG mit Beschluss vom 16. 1. 2023 bis 27. 2. 2023 für zulässig erklärt.

Der Abteilungsleiter beantragte am 23. 1. 2023 die gerichtliche Genehmigung einer besonderen Heilbehandlung iSd § 36 Abs 3 UbG durch Verabreichung einer Depotmedikation in Form von Xeplion Depot 150 mg und 100 mg Boosterung am Tag 8 nach der Erstverabreichung, weitere vierwöchige Depotabgabe nach Spiegelkontrolle und durch regelmäßige EKG-Kontrolle.

Das Erstgericht genehmigte die beantragte besondere Heilbehandlung. Das Rekursgericht gab dem gegen den Genehmigungsbeschluss erhobenen Rekurs des Vereins keine Folge. Der dagegen erhobene Revisionsrekurs des Vereins ist unzulässig.

1.1. Auch für Rechtsmittel im Außerstreitverfahren gilt die Voraussetzung des Rechtsschutzinteresses (RIS-Justiz RS0006598).

Das für die Zulässigkeit des Rechtsmittels im Zeitpunkt der Rechtsmittelentscheidung erforderliche Rechtsschutzinteresse fehlt, wenn der Entscheidung nur mehr theoretisch abstrakte Bedeutung zukäme, weil es nicht Aufgabe der Rechtsmittelinstanz ist, über bloß theoretisch bedeutsame Fragen abzusprechen (RIS-Justiz RS0002495).

Die Beschwer muss zur Zeit der Einlegung des Rechtsmittels (hier 1. 3. 2023) vorliegen und zur Zeit der Entscheidung über das Rechts-

mittel noch fortbestehen, andernfalls ist das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen (RIS-Justiz RS0041770).

1.2. Im vorliegenden Fall ist die Rechtsmittellegitimation des Vereins in Ansehung einer besonderen Heilbehandlung zu beurteilen, deren Genehmigung in einem Unterbringungsverfahren beantragt wurde, das am 10. 2. 2023, und damit vor Erhebung des Revisionsrekurses, beendet worden ist und die besondere Heilbehandlung ungeachtet der erstinstanzlichen Genehmigung infolge Rechtsmittelerhebung gegen den Genehmigungsbeschluss nicht durchgeführt wurde.

2.1. Zu einem identen Sachverhalt hat der OGH in seiner Entscheidung 3 Ob 142/10v (RIS-Justiz RS0126250) bereits mit ausführlicher Begründung dahin Stellung genommen: In Fällen, in denen mit Gerichtsbeschluss das Grundrecht des Menschen auf persönliche Freiheit berührt wird, hat der davon in seinen Rechten Beeinträchtigte auch noch nach Aufhebung der freiheitsbeschränkenden Maßnahmen weiterhin ein rechtliches Interesse an der Feststellung, ob die Freiheitsbeschränkung zu Recht erfolgte. Die vom Staat in den §§ 35 bis 37 UbG gewährten Rechtsschutzeinrichtungen sind im Lichte der Bestimmungen der Art 3 und 13 EMRK dahin auszulegen, dass derjenige, der behauptet, im in Art 3 EMRK festgelegten Recht auf Achtung der Menschenwürde verletzt zu sein, auch noch nach Beendigung der gegen ihn gesetzten Maßnahmen – also auch nach der Aufhebung der freiheitsbeschränkenden Unterbringung – ein rechtliches Interesse an der Feststellung hat, ob die an ihm vorgenommene Behandlung zu Recht erfolgte. Die gerichtliche Kontrolle ärztlicher Behandlungen ohne oder gegen den Willen des untergebrachten Kranken hat auch noch stattzufinden, wenn die Unterbringung zwischenzeitig beendet worden ist. Das Rechtsmittelinteresse dauert daher auch noch nach Beendigung der Unterbringung und Behandlung fort. Hier geht es aber nicht um die (nachträgliche) Beurteilung der Unterbringung oder eines sonstigen Eingriffs in die körperliche Integrität, der bereits stattgefunden hat, noch andauert oder dessen weitere oder neuerliche Zulässigkeit für den Kranken auch nachträglich noch von Bedeutung sein kann, sondern um eine ur-

UBG/HEIMAUFG/MEDIZINRECHT Juni 2023 155
RECHTSPRECHUNG UbG/HeimAufG/Medizinrecht
Michael Ganner

sprünglich vorgesehene, aber nie durchgeführte Heilbehandlung. Ob ihre Durchführung rechtmäßig gewesen wäre oder nicht, ist von rein theoretischer abstrakter Bedeutung, zumal sie tatsächlich nicht durchgeführt wurde und das Unterbringungsverfahren, in dem sie geplant war, mittlerweile beendet ist. Die Zulässigkeitsbeurteilung ist auch für eine allfällig in der Zukunft stattfindende neuerliche Unterbringung der Kranken ohne Bedeutung, weil in einem neuen Unterbringungsverfahren die besondere Heilbehandlung neuerlich genehmigt werden müsste. In diesem Fall wären die Voraussetzungen für die Genehmigung nach der dann gegebenen Sachlage neu zu beurteilen, eine (nachträgliche) Beurteilung der Sachlage zu einem früheren Zeitpunkt in einem bereits abgeschlossenen Unterbringungsverfahren hätte für das zukünftige Genehmigungsverfahren keine Auswirkung.

2.2. Der erkennende Senat schließt sich diesen Ausführungen an. Soweit der Verein unter Verweis auf Kopetzki (zB in Grundriss des Unterbringungsrechts3 [2012] Rz 760 f) argumentiert, bereits die Genehmigung durch das Erstgericht sei als Grundrechtseingriff zu werten und löse einen Rechtsschutzanspruch nach Art 13 EMRK aus, weil aufgrund des gerichtlichen Genehmigungsakts während aufrechter Unterbringung jederzeit eine „Vollstreckung“ im Sinn einer tatsächlichen Durchführung der Zwangsbehandlung drohe, überzeugt dies nicht:

2.3. Zum einen kommt dem in der Tagsatzung, also unmittelbar nach der Verkündung der gerichtlichen Entscheidung, angemeldeten Rekurs gegen die gerichtliche Genehmigung einer besonderen Heilbehandlung ex lege (§ 38 Abs 2 UbG) aufschiebende Wirkung zu, sofern das Gericht diese nicht (ausnahmsweise) aberkennt. Zum anderen tritt nach § 43 Abs 1 AußStrG stets Vollstreckbarkeit, Verbindlichkeit der Feststellung oder Rechtsgestaltung erst mit der Rechtskraft eines Beschlusses ein, denn das Gericht kann lediglich nach § 44 Abs 1 AußStrG einem Beschluss vorläufige Verbindlichkeit zuerkennen. Damit unterscheidet sich die Regelung des § 38 Abs 2 UbG von jener des AußStrG nur durch die zwingend angeordnete Verkündung (6 Ob 62/10a).

2.4. Hier meldete der Verein unverzüglich nach Verkündung des Genehmigungsbeschlusses Rechtsmittel an, dem die aufschiebende Wirkung weder aberkannt wurde noch wurde den Entscheidungen der Vorinstanzen die vorläufige Verbindlichkeit zuerkannt. Damit war die Genehmigung schwebend unwirksam (6 Ob 62/10a), sodass die Kranke auch nicht mit der Vollstreckung des Genehmigungsbeschlusses bedroht war.

3. Es ist daher vom Fehlen des Rechtsschutzinteresses des Vereins für die Revisionsrekurserhebung auszugehen, weshalb dieser zurückzuweisen ist.

§ 3 HeimAufG

Keine Freiheitsbeschränkung durch Medikation, wenn die sedierende Wirkung nicht eintritt?

OGH 22. 3. 2023, 7 Ob 11/23b

iFamZ 2023/109

lung von psychischen Erkrankungen, zB paranoider Schizophrenie und schizoaffektiver Störungen verwendet, aber auch zur Behandlung von Impulskontrollstörungen. Der Hauptzweck des Einsatzes der Medikamente liegt in der Behandlung der Psychopathologie im Rahmen der Grunderkrankung; eine sedierende Komponente steht nicht im Vordergrund. Die schwere Intelligenzminderung der Bewohnerin kann für sich genommen medikamentös nicht behandelt werden. Der Zweck der genannten Medikation liegt darin, die auftretenden Verhaltensauffälligkeiten im Rahmen der Grunderkrankung – also der geistigen Behinderung schweren Grades im Sinn der schweren Intelligenzminderung – hintanzuhalten und zu behandeln sowie der Bewohnerin, soweit es ihren Fähigkeiten entspricht, eine Teilnahme am sozialen Leben zu ermöglichen. (…)

Es kann nicht entscheidend sein, ob eine Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit durch physische Zwangsmittel wie Einsperren oder Festbinden des Bewohners oder durch pharmakologische Beeinflussung erfolgt, die eine massive Beschränkung der Bewegungsfreiheit bezweckt. Auch stark sedierende Mittel haben zur Folge, dass der Bewohner nicht mehr in der Lage ist, sich nach seinem freien Willen örtlich zu verändern (RIS-Justiz RS0106974).

Eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel ist dann zu bejahen, wenn die Behandlung unmittelbar, also primär (7 Ob 77/14w mwN) die Unterbindung des Bewegungsdrangs bezweckt, nicht hingegen im Fall von unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, die sich bei der Verfolgung therapeutischer Ziele ergeben können (RIS-Justiz RS0121227). Die Beurteilung, ob aus diesem Gesichtspunkt eine Freiheitsbeschränkung vorliegt, erfordert nach der oberstgerichtlichen Rsp Feststellungen darüber, 1. welchen therapeutischen Zweck die Anwendung der einzelnen der zu überprüfenden Medikamente verfolgt, 2. ob die Medikamente, insb in der dem Bewohner verabreichten Dosierung und Kombination, dieser Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt wurden und werden sowie 3. welche konkrete Wirkung für den Bewohner mit dem Einsatz der Medikamente vorhanden war und ist (RIS-Justiz RS0123875).

Dient der primäre Zweck des Medikamenteneinsatzes der Unterbindung von Unruhezuständen, des Bewegungsdrangs und der Beruhigung, also zur „Ruhigstellung“ (gegen Aggression, Enthemmung, Unruhe etc), dann ist die medikamentöse Therapie als Freiheitsbeschränkung zu qualifizieren (7 Ob 67/19g).

Der OGH hat bereits klargestellt, dass aus diesen Grundsätzen abzuleiten ist, dass auch iZm einem Medikament, das sedierend wirken soll, eine Freiheitsbeschränkung nur dann vorliegt, wenn beim betroffenen Bewohner ein Ausmaß an Beruhigung eintritt, das ihm eine Ortsveränderung unmöglich macht bzw erschwert, sei es, dass er körperlich nicht mehr oder nur mehr eingeschränkt zur Fortbewegung in der Lage ist, sei es, weil sein Impuls zur Fortbewegung verringert ist (7 Ob 59/20g mwN). Dies bedeutet, dass für das Vorliegen einer medikamentösen Freiheitsbeschränkung die intendierte Bewegungseinschränkung auch in einem feststellbaren Ausmaß eintreten muss (7 Ob 59/20g).

Die Bewohnerin lebt seit dem 18. 8. 2014 in einer Einrichtung iSd § 2 Abs 1 HeimAufG für Menschen mit schweren geistigen und mehrfachen Behinderungen. Dort wird sie ständig betreut und gepflegt. Sie leidet an einer schweren angeborenen Intelligenzminderung, einem epileptischen Anfallsleiden und einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung. Folgen ihrer schweren Intelligenzminderung sind Verhaltensstörungen; es kommt zu impulsiven Durchbrüchen, bei denen sie mit dem Kopf gegen den Boden oder die Wand schlägt. Mit ihrem Krankheitsbild geht auch eine erhebliche und ernstliche Selbstgefährdung möglicherweise auch Fremdgefährdung einher.

Ab 10. 12. 2015 wurde der Bewohnerin Seroquel XR 50 mg ret 1-0-1 verordnet und verabreicht. Am 18. 5. 2022 wurde eine Medikamentenumstellung vorgenommen. Statt Seroquel XR 50 mg und Abilify 10 mg wurde zunächst Quetiapin 100 mg in der Dosierung 1-1-0-0 verordnet und am 20. 5. 2022 verabreicht. In der Folge wurde die Dosierung auf 1/2-1/2-0-0 geändert. Ebenfalls am 20. 5. 2022 wurde Quetialan XR 50 mg ret verordnet.

Bei diesen Medikamenten handelt es sich jeweils um atypische Neuroleptika. Im Allgemeinen wird diese Substanzklasse vorwiegend zur Behand-

Nach den den OGH bindenden Feststellungen tritt durch die gegenständlich verabreichten Medikamente keine sedierende Wirkung ein und der Bewegungsdrang wird nicht vermindert. Bereits aus diesem Grund liegt insoweit keine Freiheitsbeschränkung nach § 3 HeimAufG vor.

Anmerkung

„Auch wenn der OGH regelmäßig wiederholt – dabei handelt es sich wohl eher um ‚copy and paste‘ als um eine individuelle Entscheidung aufgrund umfassender Erwägungen –, dass eine Freiheitsbeschränkung nach dem HeimAufG nur vorliegt, wenn die ‚Ruhigstellung‘ der primäre Zweck der Medikation ist, ist das mE nicht zutreffend. Im Sinne des Gesetzeszwecks und des Rechtsschutzes der betroffenen Personen genügt es schon, wenn die ‚Ruhigstellung‘ einer von mehreren Zwecken ist (so auch Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II, § 3 HeimAufG Rz 24; Bürger/Herdega in Neumayr/Resch/Wallner,

UBG/HEIMAUFG/MEDIZINRECHT Juni 2023 156

GmundKomm zum Gesundheitsrecht [2016] § 3 HeimAufG Rz 9; LG Wels 30. 4. 2014, 21 R 114/14k, iFamZ 2014/145; und schon Ganner, Medikamentöse Freiheitsbeschränkungen nach dem HeimAufG, in Barth [Hrsg], iFamZ-Spezial Die Unterbringungs- und Heimaufenthaltsnovelle 2010 [2010] 46 [49]).

Das Gleiche gilt für das von der Rsp geforderte Kriterium, dass bei einer medikamentösen Freiheitsbeschränkung die freiheitsbeschränkende Wirkung in einem feststellbaren Ausmaß eintreten muss. Anordnung, Aufklärung, Verständigung und Dokumentation müssen grundsätzlich vor der Durchführung der Maßnahme erfolgen. Daher muss wohl auch zum Zeitpunkt der Anordnung beurteilt werden können, ob es sich um eine nach dem HeimAufG überprüfbare Maßnahme handelt. Oder soll ein mit an sich tauglichen Mitteln versuchter Grundrechtseingriff durch den Staat (die anordnende Person ist Organ), der zufällig wirkungslos blieb, nicht dem Rechtschutzverfahren des HeimAufG unterliegen?“

Sollte Ihnen diese Anmerkung bekannt vorkommen, müssen Sie sich nicht wundern. Sie wurde im Jahr 2021 von mir zur gleichartigen Entscheidung des OGH 7 Ob 59/20g (iFamZ 2021/23, 45) verfasst.

§ 52 Abs 2 AußStrG; § 17 HeimAufG iFamZ 2023/110

Unmittelbarkeitsgrundsatz und Verfahrensergänzung vor dem Rekursgericht

OGH 21. 2. 2023, 7 Ob 5/23w

Gem § 52 Abs 2 AußStrG darf das Rekursgericht nur dann von der neuerlichen Aufnahme eines in erster Instanz unmittelbar aufge-

nommenen, für die Feststellungen maßgeblichen Beweises Abstand nehmen, wenn es vorher den Parteien bekannt gegeben hat, dass es gegen die Würdigung dieses Beweises durch das Erstgericht Bedenken habe, und ihnen Gelegenheit gegeben hat, eine neuerliche Aufnahme dieses Beweises durch das Rekursgericht zu beantragen. Soweit das Erstgericht daher seine Feststellungen aufgrund unmittelbar aufgenommener Beweise getroffen hat, darf das Rekursgericht diese weder abändern noch ergänzen, ohne die in § 52 Abs 2 AußStrG vorgesehene Vorgangsweise einzuhalten (RIS-Justiz RS0126460; RS0122252; insb 3 Ob 108/07i; 10 Ob 102/08k; 1 Ob 238/08v; 10 Ob 34/12s; 2 Ob 228/16t; 10 Ob 71/16p).

Im vorliegenden Fall hat das Erstgericht insb die Feststellungen, dass der Bewohner aufgrund seiner neurokognitiven Defizite ständiger Betreuung und Pflege bedarf, auf unmittelbar aufgenommene Beweise gestützt, nämlich die Gutachten der Sachverständigen und deren mündliche Erörterungen im Rahmen der vom Erstgericht mit den Parteien abgehaltenen Verhandlung sowie der Einvernahme der Einrichtungsleiter und einer Pflegekraft.

Wenn das Rekursgericht eine Ergänzung der Feststellungen für erforderlich hielt, hätte es dies nur auf der Grundlage einer – hier unterbliebenen – Beweisergänzung in einer mündlichen Verhandlung tun dürfen (10 Ob 102/08k), zumal der Unmittelbarkeitsgrundsatz gem § 52 Abs 2 AußStrG nunmehr im Verfahren außer Streitsachen ausdrücklich auch für das Rekursverfahren angeordnet ist. Die Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes bedeutet eine erhebliche Verletzung einer Vorschrift des Verfahrensrechts, deren Wahrnehmung der Wahrung der Rechtssicherheit dient (vgl RISJustiz RS0042151; RS0043057).

§§ 81 ff EheG

iFamZ 2023/111

Nacheheliche Aufteilung – Zuweisung eines Haustieres

OGH 27. 1. 2023, 1 Ob 254/22t

Die Zuweisung eines der nachehelichen Aufteilung unterliegenden Haustiers an einen der Ehegatten hat nach Billigkeit zu erfolgen. Dabei kommt es mangels erkennbarer Vermögensinteressen maßgebend darauf an, welcher Gatte die stärkere emotionale Beziehung zum Tier hat. Abzuweichen wäre davon nur, wenn eine solche Zuweisung mit tierschutzrechtlichen Bestimmungen unvereinbar wäre.

Die Ehe der Parteien wurde mit Urteil vom 3. 12. 2021 rechtskräftig geschieden. Mit Beschluss vom selben Tag sprach das Erstgericht gem §40a JN aus, dass das vom Mann erhobene (Klage-)Begehren auf Herausgabe des während der Ehe angeschafften und von den Parteien als Haustier gehaltenen Katers F. im außerstreitigen Aufteilungsverfahren nach den §§81 ff EheG zu behandeln sei. (…) Eine über die beiden Tiere hinausgehende nacheheliche Aufteilung strebten die Parteien zuletzt nicht mehr an. (…) Das Erstgericht wies beide Tiere dem Mann zu, wobei es von folgendem Sachverhalt ausging: (…) Die Ehegatten suchten nach dem Tod eines von der Frau in die Ehe eingebrachten Katers gemeinsam nach einer neuen Katze. Der Mann erwarb den Kater F. Damit dieser nicht allein sei, nahmen die Parteien eine weitere Katze auf. Die emotionale Bindung des Mannes zum Kater ist stärker als jene der Frau zu diesem. Der Mann leistete für den anfangs „sozial auffälligen“ Kater „Erziehungsarbeit“, spielte mit ihm und sorgte dadurch, dass er der Frau die Fütterung überließ, dafür, dass auch sie eine Beziehung zu ihm aufbauen konnte. Eine Vereinbarung darüber, wer den Kater nach der Trennung erhalten soll, trafen die Ehegatten nicht. (…) Das Rekursgericht bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung über die – inhaltlich nicht bekämpfte – Zuweisung der Katze an den Mann. Hinsichtlich des Katers hob es den angefochtenen Beschluss auf und verwies die Sache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück. „Hinsichtlich der beim Mann verbliebenen Katze“ sei der Revisionsrekurs nicht zulässig, „hinsichtlich des von

der Frau mitgenommenen Katers“ sei dieser mangels höchstgerichtlicher Rsp zur nachehelichen Aufteilung von Haustieren zulässig. (…) Im fortgesetzten Verfahren sei zu klären, zu welchem der Gatten der Kater eine (stärkere) emotionale Bindung habe, warum ihn die Frau bei ihrem Auszug aus der Ehewohnung mitgenommen habe, ob der Kater an bestimmte Orte gebunden sei, wie sich seine nunmehrigen „Lebens- und Betreuungsverhältnisse“ bei der Frau (…) darstellten und ob die Parteien in der Lage seien, sich um ihn in einem für das Tierwohl erforderlichen Ausmaß zu kümmern.

(…) Haustiere sind für die nacheheliche Aufteilung wie eine Sache zu behandeln. Dies gilt auch angesichts der programmatischen Bestimmung des § 285a ABGB, wonach Tiere keine Sachen sind, sie durch besondere Gesetze geschützt werden und die für Sachen geltenden Vorschriften auf Tiere nur insoweit anzuwenden sind, als keine abweichenden Regelungen bestehen. (…) Dass Tiere grundsätzlich der nachehelichen Aufteilung unterliegen, entspricht auch der Ansicht in der rechtswissenschaftlichen Literatur

EHE- UND PARTNERSCHAFTSRECHT Juni 2023 157
RECHTSPRECHUNG Ehe- und Partnerschaftsrecht Astrid Deixler-Hübner
© Robert Fucik

(vgl etwa Stabentheiner/Pierer in Rummel/Lukas, ABGB4, § 81 EheG Rz 31; B. C. Steininger in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang, ABGB3, § 81 EheG Rz 14; Bahn, Das Tier im Familien- und Erbrecht, Tier- und Artenschutz in Recht und Praxis 2018, 63 [75]). (…) Für die Zuweisung eines Tiers ist daraus nichts zu gewinnen, wenn für die Ehegatten – wie hier – nicht dessen Vermögenswert im Vordergrund steht, sondern die gefühlsmäßige Bindung zu diesem. Eine an wertmäßigen Gesichtspunkten orientierte Entscheidung über dessen Zuweisung kommt in solchen Fällen nicht in Betracht. Wenngleich das Aufteilungsrecht keine konkreten Vorgaben für die nacheheliche Zuweisung von Haustieren enthält, so ergibt sich doch aus § 83 Abs 1 EheG, dass auch diese nach Billigkeit zu erfolgen hat. Dem Grundsatz der Billigkeit entspricht es in diesem Fall, mangels maßgeblicher wirtschaftlicher Kriterien für die Zuteilung des Tiers auf die stärkere oder schwächere emotionale Beziehung der Gatten zu diesem abzustellen. Dass diese Bindung von der Rechtsordnung grundsätzlich anerkannt wird, ergibt sich etwa aus § 250 Abs 1 Z 4 EO (Unpfändbarkeit von Haustieren, zu denen eine gefühlsmäßige Bindung besteht). Für die Abwägung, welcher Ehegatte eine intensivere Beziehung zu einem Tier hat, kann auch die während der Ehe erfolgte Sorge für dieses berücksichtigt werden. Führt eine billige Berücksichtigung der emotionalen Bindung der Ehegatten zum Tier zu einem klaren Ergebnis, ist dieses für dessen Zuweisung primär maßgeblich. (…) Von einer Zuteilung an jenen Ehegatten, der die stärkere Bindung zum Tier hat, wäre nur dann abzusehen, wenn dies mit dem Tierschutz unvereinbar wäre. Dies ergibt sich (auch) aus § 285a ABGB, wonach Tiere durch besondere Gesetze geschützt werden und die für Sachen geltenden Vorschriften (also auch das eheliche Güterrecht) nur insoweit anzuwenden sind, als keine abweichenden Regelungen bestehen. Die Berücksichtigung tierschutzrechtlicher Bestimmungen führt aber nicht dazu, dass in einem nachehelichen Aufteilungsverfahren Erwägungen wie in einem Obsorgeverfahren anzustellen wären (B. C. Steininger in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang, ABGB3, § 81 EheG FN 51). Tiere sind auch nach Inkrafttreten des § 285a ABGB keine Rechtssubjekte (für viele etwa Eccher/ Riss in KBB, ABGB6, § 285a Rz 2), auf die personenrechtliche Vorschriften (…) anzuwenden wären (1 Ob 160/98f). Entgegen dem Rekursgericht kommt es daher für die nacheheliche Aufteilung nicht darauf an, zu welchem Ehegatten das Tier die „engere gefühlsmäßige Beziehung“ hat. (…)

Nach den – allerdings von der Frau bekämpften – erstinstanzlichen Feststellungen hatte der Mann die intensivere Beziehung zum Kater. Er leistete für diesen die „Erziehungsarbeit“ und spielte mit ihm. Anhaltspunkte für tierschutzrechtliche Bedenken (…) einer Haltung durch den Mann bestehen nicht. Solche zeigt auch die Revisionsrekursgegnerin nicht auf. Ihrer Behauptung, das Tierwohl würde durch einen neuerlichen Ortswechsel beeinträchtigt werden, ist ihr eigenes Vorbringen entgegenzuhalten, wonach bisherige Ortswechsel keine „Irritationen“ beim Kater hervorgerufen hätten und dieser keine „Ortsgebundenheit“ zeige. Das Erstgericht stellte außerdem (disloziert in der rechtlichen Beurteilung) fest, dass der Kater bei einem neuerlichen Ortswechsel keinem wesentlichen Stress ausgesetzt wäre. Auf das Argument der Frau, im Aufteilungsverfahren sei auch das in einem Obsorgeverfahren maßgebliche Kriterium der „Erziehungs- und Betreuungskontinuität“ zu berücksichtigen, muss aus genannten Gründen (vgl Pkt 4.) nicht eingegangen werden. Ob der Kater eine gefühlsmäßige Beziehung zur zweiten von ihr gehaltenen Katze aufgebaut hat, spielt für die Aufteilungsentscheidung keine Rolle, weil damit kein tierschutzrechtlich maßgeblicher Umstand angesprochen wird. Eine Ausgleichszahlung kommt mangels behaupteten Vermögenswerts des Katers sowie der beim Mann verbliebenen Katze nicht in Betracht. (…) Aus dargelegten Gründen kommt es entscheidend auf die im Rekurs bekämpfte Feststellung zur intensiveren emotionalen Beziehung des Mannes zum Kater an, deren Rüge vom Rekursgericht unbehandelt

blieb. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Rekursgericht zurückzuverweisen (RIS-Justiz RS0043371 [T11]; zum Außerstreitverfahren etwa 2 Ob 170/22x). Dieses wird sich auch mit der Beweisrüge zur Feststellung auseinanderzusetzen haben, dass keine Vereinbarung darüber getroffen worden sei, wer den Kater bei der Trennung bekommen solle. Denn eine (wirksame; vgl § 97 EheG) Einigung der Ehegatten schlösse eine Entscheidung des Gerichts aus (RIS-Justiz RS0046057; 1 Ob 225/19y). (…)

Anmerkung

Richtig führt der OGH im Einklang mit seiner bisherigen Rsp (1 Ob 128/17f, iFamZ 2017/233, 395 [Deixler-Hübner]) aus, dass auch Haustiere grundsätzlich der nachehelichen Aufteilung unterliegen. Gem § 285a ABGB sind Haustiere daher wie eheliches Gebrauchsvermögen im Aufteilungsverfahren einem der Ehegatten zuzuweisen. Abgesehen von seltenen Sonderfällen wird aber – wie auch hier – eine Ausgleichszahlung nicht in Betracht kommen. Die Parteien haben zu Haustieren meist eine ähnliche emotionale Bindung wie zu Kindern aufgebaut, doch ist – wie der OGH richtig anmerkt – die Anwendung der gleichen Kriterien wie im Obsorgeverfahren fehl am Platz. Die emotionale Bindung zum Tier ist zwar ein maßgebliches Kriterium, für eine Zuteilung jedoch nicht allein ausschlaggebend. Sie kann mit dem Tierwohl im Spannungsfeld stehen, das in gleicher Weise in die Entscheidung einzufließen hat. Bei ähnlichen Bedingungen wird im Sinn eines beweglichen Systems zu entscheiden sein, bei welchem Ehegatten das Tier besser aufgehoben ist.

§§ 81 ff EheG

iFamZ 2023/112

Nacheheliche Aufteilung 60:40 zugunsten der Frau (Doppelbelastung)

OGH 27. 1. 2023, 1 Ob 257/22h

Bei der nach Billigkeit vorzunehmenden Aufteilung des ehelichen Gebrauchsvermögens und der ehelichen Ersparnisse ist nach § 83 Abs 1 EheG primär auf Gewicht und Umfang des Beitrags jedes Ehegatten Bedacht zu nehmen. Als solche Beiträge sind auch die Haushaltsführung, die Pflege und Erziehung gemeinsamer Kinder sowie sonstiger ehelicher Beistand zu werten. Das Rekursgericht begründete den seiner Entscheidung zugrunde gelegten Aufteilungsschlüssel von 60:40 zugunsten der Frau damit, dass diese – was der Mann nicht in Abrede stellt – neben ihrer beruflichen Tätigkeit in dessen Ordination auch den Haushalt führte und beide Kinder betreute. Dass diese Mehrfachbelastung der Frau (die nur tageweise Unterstützung durch ein Kindermädchen bzw ihre Mutter/Schwiegermutter erhielt) als (etwas) größerer Beitrag gewertet wurde, begründet keine im Einzelfall (RIS-Justiz RS0108756) aufzugreifende Überschreitung des dem Rekursgericht zustehenden Beurteilungsspielraums (vgl 1 Ob 26/21m). (…) Der Revisionsrekurswerber hält der Rekursentscheidung auch keine überzeugenden Argumente entgegen. Dass er zwei Jahre vor Auflösung der ehelichen Gemeinschaft aufgrund eines Schlaganfalls seinen ärztlichen Beruf nicht mehr ausüben konnte, führte (…) zu einer weiteren familiären und beruflichen Mehrbelastung der Frau, die sich auch um den Erhalt der Ordination kümmerte, wohingegen der Mann im Haushalt und bei der Kinderbetreuung gänzlich ausfiel. Dass die Frau – nach Darstellung des Revisionsrekurswerbers –ein „fürstliches Gehalt“ bezogen habe, spricht ebenfalls nicht für deren geringeren Beitrag zur ehelichen Errungenschaft. Warum der Mann bei Zahlung der vom Rekursgericht mit 140.000 € festgesetzten Ausgleichszahlung nicht „wohl bestehen“ könnte, ist im Hinblick auf die von ihm behaltenen ehelichen Ersparnisse (zuletzt in Form von Wertpapieren) sowie den ihm nach Abdeckung betrieb-

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licher Schulden verbliebenen Erlös aus dem Verkauf seiner Ordination von 40.000 € nicht nachvollziehbar.

(…) Das Rekursgericht legte die etwa eineinhalb Monate vor Auflösung der Ehegemeinschaft um 390.000 € angeschafften Wertpapiere ohnehin nur mit einem (…) Wert von 200.000 € der Aufteilung zugrunde, weil diese mit 190.000 € aus Betriebsvermögen finanziert wurden. In diesem Umfang wäre daher betriebliches Vermögen für die Steuernachzahlung zur Verfügung gestanden. Davon abgesehen berücksichtigte es die vom Privatkonto des Mannes auf das Sparkonto überwiesenen 80.000 € ohnehin nicht als eheliche Errungenschaft. Ein (…) Abzug dieses Betrags von der Aufteilungsmasse kommt daher nicht in Betracht. (…) Nach Ansicht des Rechtsmittelwerbers sei ein Betrag von insgesamt 15.000 €, den die Frau ohne seine Zustimmung weniger als zwei Jahre vor dem Aufteilungsstichtag vom gemeinsamen Sparkonto behoben und entgegen der ehelichen Lebensgestaltung für eigene Zwecke verwendet habe, zu Unrecht „unberücksichtigt“ geblieben. (…)

In erster Instanz leitete der Mann aus mehreren Behebungen der Frau vom gemeinsamen Sparkonto Gegenforderungen ab, die er ihrem Begehren „kompensando bis zur Höhe des Aufteilungsanspruchs“ entgegenhielt. Das Erstgericht wies diese mit der zutreffenden (1 Ob 170/16f mwN) Begründung zurück, dass die Forderung auf eine Ausgleichszahlung erst mit Rechtskraft der Aufteilungsentscheidung entstehe und gegen diese prozessual nicht aufgerechnet werden könne. Dem trat der Mann in seinem Rekurs nicht entgegen. Er strebte dort zwar die „Berücksichtigung“ anderer Behebungen der Frau vom Sparkonto an. Auf die im Revisionsrekurs genannten Behebungen bezog er sich jedoch nicht. Dies kann auch im Außerstreitverfahren in dritter Instanz nicht mehr nachgeholt werden (RIS-Justiz RS0043480 [T12]). (…) Der Mann bekämpft die Rekursentscheidung auch insoweit, als die rechnerisch mit 114.300 € ermittelte Ausgleichszahlung wegen der langen Verfahrensdauer auf 140.000 € „aufgewertet“ wurde. Dies wäre seiner Ansicht nach nur zulässig gewesen, wenn die Pflicht zur Leistung einer Ausgleichszahlung „von Anfang an“ festgestanden und auch auf deren unstrittigen Teil keine Zahlung erfolgt wäre. Dass die Pflicht zur Leistung einer Ausgleichszahlung zumindest in gewisser Höhe unstrittig ist, wurde in der im Rechtsmittel zitierten Entscheidung zu 1 Ob 68/00g aber nur als Beispiel dafür angeführt, dass es aus Billigkeitsgründen gerechtfertigt sein kann, einen höheren als den rechnerisch ermittelten Ausgleichsbetrag zuzuerkennen. Darüber hinaus kann aber generell aus Gründen der Billigkeit bei einer langen Verfahrensdauer bei der Ausmittlung der Ausgleichszahlung ein gestiegenes Preisniveau berücksichtigt werden (RIS-Justiz RS0106145). Ob dies im Einzelfall (RIS-Justiz RS0115734 [T3]) angezeigt ist, begründet in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG. (…) Dass ein Ausgleich des Wertverlusts aufgrund einer – wie hier – besonders langen Verfahrensdauer nur bei Verschulden des Ausgleichspflichtigen der Billigkeit entspräche, kann der Rsp des Fachsenats nicht entnommen werden.

Anmerkung

Diese Entscheidung zeigt einen eher seltenen Fall auf, wonach hier nicht – wie in stRsp üblich – eine Aufteilung im Verhältnis 1:1 vorgenommen wird, wenngleich ein Aufteilungsverhältnis von 60:40 auch eine eher bescheidene Abweichung darstellt. Es drängt sich daher die Frage auf, warum in erster Instanz bei meist gleichen (rechtlichen) Ergebnissen ein so großer Verfahrensaufwand betrieben wird, um das Vorliegen der einzelnen Parameter des § 83 EheG festzustellen. Als verfahrensökonomisch kann eine solche Vorgangsweise jedenfalls nicht gelten! Richtig ist, dass nach der Rsp Gegenforderungen, die im streitigen Rechtsweg geltend zu machen sind, nicht kompensando im Aufteilungsverfahren eingewandt werden können. Dennoch wäre mE wohl dem Vorbringen des Rechtsmittel-

werbers, wonach der Antragsgegnerin eine ungerechtfertigte Behebung vom gemeinsamen Sparkonto vorzuwerfen sei, vom Gericht erster Instanz nicht rein formal mit einer Zurückweisung dieser – vom Rechtsmittelwerber als „Gegenforderung“ bezeichneten – Einwendung zu begegnen gewesen. Vielmehr hätte das Gericht dieses Vorbringen gem § 91 Abs1 EheG umdeuten und bei erwiesener Richtigkeit dieses Umstands diese Beträge der Aufteilungsmasse fiktiv zuschlagen müssen.

Ohne die genauen Tatsachenhintergründe zu kennen, scheint nicht zuletzt eine Aufwertung der Ausgleichszahlung wegen langer Verfahrensdauer von ursprünglich 114.000 € auf aktuell 140.000 € – also um 23 % – ohne nähere Begründung nicht mehr der Billigkeit zu entsprechen.

§ 66 EheG iFamZ 2023/113

Ehegattenunterhalt: Steuergutschrift als Teil der Unterhaltsbemessungsgrundlage – Anrechnung von fiktiven Mietzahlungen als Naturalunterhalt

OGH 15. 3. 2023, 3 Ob 213/22b

Maßgeblich für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit ist in erster Linie die sich aus dem Gesamteinkommen des Unterhaltspflichtigen nach Abzug von Steuern und öffentlichen Abgaben vom Einkommen ergebende tatsächliche wirtschaftliche Lage, somit die Summe der dem Unterhaltsschuldner tatsächlich zufließenden verfügbaren Mittel. Die Steuerbemessungsgrundlage ist daher, wenn erforderlich, nach unterhaltsrechtlichen Grundsätzen zu korrigieren.

Der fiktive Mietwert für die dem Unterhaltsberechtigten zur Verfügung gestellte Wohnmöglichkeit ist ganz oder teilweise als Naturalunterhalt anzurechnen.

Die Ehe der Streitteile wurde mit Urteil des BG M. vom 2. 8. 2018 aus dem überwiegenden Verschulden des Beklagten geschieden. Das vorliegende Verfahren betrifft rückständigen Unterhalt der Klägerin für die Zeit von November 2018 bis Jänner 2022 (…) sowie laufenden Ehegattenunterhalt ab 1. 2. 2022 (…). Der Beklagte ist seit November 2018 als Angestellter unselbständig erwerbstätig. Seit 2016 macht er zusätzlich eine Ausbildung zum Psychotherapeuten. Dafür entstanden ihm im Zeitraum 2016 bis 2019 43.000 € an Ausbildungskosten, die er steuerlich geltend machte. Im Jahr 2020 erhielt er dafür Steuergutschriften iHv 3.693 € (für das Jahr 2018) und von 21.604 € (für das Jahr 2019) ausgezahlt. Um seine Ausbildung als Psychotherapeut abschließen zu können, müsste der Beklagte noch 600 Praxisstunden aufwenden, was ihm aufgrund seiner beruflichen Auslastung nicht möglich ist. Seit Mai 2017 wohnt die Klägerin alleine in der bisherigen Ehewohnung, einem Reihenhaus in V., das im jeweiligen Hälfteeigentum der Streitteile steht. Der fiktive Mietzins für das Reihenhaus beträgt monatlich 1.200 €. Das Erstgericht gab dem Unterhaltsbegehren teilweise statt. Soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung, führte es aus, dass die Kosten für die zusätzliche Ausbildung des Beklagten mangels Existenznotwendigkeit von der Bemessungsgrundlage nicht abgezogen werden könnten. Die dafür im Jahr 2020 an ihn ausgezahlten Steuergutschriften hätten seine verfügbaren Mittel erhöht, weshalb diese in das Jahreseinkommen für das Jahr 2020 miteinzubeziehen seien. (…)

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht, der Berufung des Beklagten hingegen teilweise Folge und wies das Klagebegehren zum rückständigen Unterhalt zur Gänze (…) ab. Hinsichtlich des laufenden Unterhalts bestätigte das Berufungsgericht den teilweisen Zuspruch des Erstgerichts in Pkt 2. seines Urteils (monatlich 540 € ab 1. 2. 2022) und in dessen Pkt 3. (monatlich 1.140 € ab grundbücherlicher Eintragung des Wegfalls der Miteigentümergemeinschaft des Beklagten an der Liegenschaft in V.). Zur Berufung des Beklagten führte das Berufungsgericht aus, dass Aufwendungen des Unterhaltspflichtigen für seine berufliche Ausbildung nur dann einkommensmindernd wirkten, wenn die Ausbildung ein höheres Einkommen zur Folge habe oder zur Sicherung seiner beruflichen Existenz diene. Im Anlassfall seien diese Voraussetzungen nicht gegeben, weshalb die Kosten für die zusätzliche Ausbildung des Beklagten keine Abzugspost von der Bemessungsgrundlage seien. Entgegen der Ansicht des Erstgerichts könne die daraus resultierende Steuergutschrift jedoch nicht dem Einkommen für das Jahr 2020 hinzugerechnet werden, weil Werbungskosten, die nicht als die Unterhaltsbemessungsgrundlage schmä-

EHE- UND PARTNERSCHAFTSRECHT Juni 2023 159

lernd anzuerkennen seien, dem Unterhaltspflichtigen nicht „doppelt“ verrechnet werden dürften. (…)

(…) Die Bemessungsgrundlage für die Ausmittlung des gesetzlichen Unterhaltsanspruchs des Unterhaltsberechtigten richtet sich nach der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen. Bei unselbständig Erwerbstätigen bestimmt sich die Bemessungsgrundlage nach dem Nettoeinkommen, also dem Bruttogehalt einschließlich der Überstundenentlohnung und der Sonderzahlungen vermindert um die Lohnsteuer und die Sozialversicherungsbeiträge (vgl RIS-Justiz RS0047489). Maßgebend ist die Summe der dem Unterhaltsschuldner tatsächlich zufließenden verfügbaren Mittel (vgl RIS-Justiz RS0013386). Da es auf das tatsächliche Nettoeinkommen im Sinn der verfügbaren Mittel ankommt, sind nach der Rsp des OGH auch Steuerrückzahlungen (bzw Jahresausgleichsbeträge), die etwa aus der Berücksichtigung von Werbungskosten, Sonderausgaben oder außergewöhnlichen Belastungen oder infolge zu viel bezahlter Einkommensteuer erfolgen, als Einkommen des Unterhaltspflichtigen anzusehen und in die Bemessungsgrundlage einzubeziehen (vgl RIS-Justiz RS0000433; RS0013386 [T10]). Sie erhöhen die Bemessungsgrundlage in dem Jahr, in dem sie dem Unterhaltspflichtigen zufließen, weshalb diese Einkommensbestandteile auf dieses Jahr aufzuteilen sind (RIS-Justiz RS0047261). Die Einbeziehung der erwähnten Steuergutschriften in die Unterhaltsbemessungsgrundlage gilt unabhängig davon, ob die jeweilige Aufwendung selbst, die der Steuerrückzahlung zugrunde liegt, unterhaltsrechtlich von der Bemessungsgrundlage abgezogen werden kann oder nicht (2 Ob 223/98b; 6 Ob 153/16t; 6Ob 7/18z). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz macht die Rsp nur bei einem unterhaltsrechtlich neutralen Verlust aus einer gewerblichen Tätigkeit (vgl 1 Ob 206/16z). (…)

Als Zwischenergebnis folgt, dass das Berufungsgericht die im Jahr 2020 dem Beklagten gewährten Steuergutschriften (Werbungskosten für seine zusätzliche Ausbildung) zu Unrecht aus der Unterhaltsbemessungsgrundlage für dieses Jahr ausgeschieden hat.

(…) Zur Frage der Wohnversorgung durch den Unterhaltspflichtigen meint die Klägerin, dass die Anrechnung des fiktiven Mietwerts als Naturalunterhalt gleichzeitig die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen rechnerisch erhöhe, weshalb die Bemessungsgrundlage um den (gesamten) fiktiven Mietwert zu erhöhen sei. (…) Darin kann der Klägerin nicht beigepflichtet werden. (…)

Nach gefestigter jüngerer Rsp wird die Wohnversorgung des Unterhaltsberechtigten durch eine diesem vom Unterhaltspflichtigen überlassene Wohnung wegen der damit verbundenen Verminderung des Unterhaltsbedarfs bei der Unterhaltsbemessung dadurch berücksichtigt, dass der fiktive Mietwert für die Wohnmöglichkeit ganz oder teilweise als Naturalunterhalt angerechnet wird (RIS-Justiz RS0047254 [T11]; 3 Ob 217/21i; 6 Ob 52/22y). Anerkannt ist die Anrechnung einer fiktiven Mietersparnis auch dann, wenn der Unterhaltsschuldner (nur) Miteigentümer (bzw gemeinsamer Wohnungseigentümer) der dem Unterhaltsberechtigten zur Verfügung gestellten Wohnung ist (RIS-Justiz RS0121283 [T2]; 3Ob 217/21i). Das Ausmaß der Anrechnung richtet sich nach dem Prinzip der Angemessenheit, wobei sich die Angemessenheitsgrenze nach den Umständen des Einzelfalls bestimmt (RIS-Justiz RS0121283 [T1]; RS0047254 [T8 und T13]; vgl auch 2 Ob 211/18w). (…) Zur Anrechnung des fiktiven Mietwerts für die der Klägerin zur Verfügung gestellte Wohnmöglichkeit bestehen gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts, das in dieser Hinsicht von den zutreffenden Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist, keine Bedenken. Gegen die Höhe des angerechneten fiktiven Mietwerts wendete sich die Klägerin auch nicht. (…) Die Berücksichtigung einer zur Verfügung gestellten Wohnmöglichkeit als Naturalunterhalt des Unterhaltsberechtigten bewirkt beim Unterhaltspflichtigen weder einen Zufluss an finanziellen Mitteln noch führt diese Berücksich-

tigung dazu, dass sich der Unterhaltspflichtige Aufwendungen erspart. Aus diesem Grund führt der fiktive Mietwert – im Einklang mit der Beurteilung der Vorinstanzen und entgegen der Ansicht der Klägerin – zu keiner Erhöhung der Bemessungsgrundlage. (…)

Als Ergebnis ist festzuhalten, dass die Klägerin mit ihrer Ansicht zur Einbeziehung des fiktiven Mietwerts für die zur Verfügung gestellte Wohnmöglichkeit in die Unterhaltsbemessungsgrundlage nicht im Recht ist. Gegenteiliges gilt jedoch für die Einbeziehung der Steuerguthaben für Werbungskosten, die dem Beklagten im Jahr 2020 zugeflossen sind. Die von der Klägerin zu Recht begehrte Berücksichtigung dieser Beträge führt – entsprechend der unbeanstandeten Berechnung des Erstgerichts (s dazu US 20) – zu einem Anspruch der Klägerin auf rückständigen Unterhalt für das Jahr 2020 iHv 5.004 € sA. In dieser Hinsicht ist der Revision teilweise Folge zu geben, was zur Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichts führt.

Anmerkung

Richtig hat der OGH erkannt, dass fiktive Mietzinszahlungen für eine der Unterhaltsberechtigten überlassene Wohnung nach jüngerer Rsp als Naturalunterhaltsleistungen gelten und somit deren Unterhaltsanspruch in einem angemessenen Ausmaß vermindern. Das Vorbringen der Klägerin, wonach die Anrechnung des Naturalunterhalts wiederum die Bemessungsgrundlage des Beklagten erhöhe, ist daher schon aus rein rechnerischen Erwägungen als systemwidrig abzulehnen. Nicht beigetreten werden kann dieser Entscheidung unter Wiederholung des Stehsatzes, wonach „das Einkommen gemäß der Steuerbemessungsgrundlage nach unterhaltsrechtlichen Gesichtspunkten zu korrigieren sei“ (RIS-Justiz RS0013386) und daher Werbungskosten für die Weiterbildung des Unterhaltspflichtigen zwar steuerrechtlich, in der Regel nicht aber unterhaltsrechtlich zu berücksichtigen seien. Auch in einer intakten Familie wird man – schon aus einer vernünftigen betriebswirtschaftlichen Sicht – Aufwendungen für Aus- und Weiterbildung investieren, um am Arbeitsmarkt bestehen zu können oder künftig ein besseres Einkommen zu erzielen. Einen noch strengeren Standpunkt als ein ohnehin strenger Steuerprüfer einzunehmen, steht der Judikatur daher nicht gut an. Werden die Werbungskosten schon nicht von der Unterhaltsbemessungsgrundlage abgezogen, wäre es jedenfalls konsequent, dass der Unterhaltsberechtigte auch nicht von den späteren höheren Einkommensverhältnissen profitieren kann.

§ 382d EO

iFamZ 2023/114

Überwachung im Zusammenhang mit einem vermutetenEhebruch

OGH 23. 3. 2023, 7 Ob 38/23y

Eine vom Antragsgegner vorgenommene systematische, verdeckte, identifizierende technische Überwachung des höchstpersönlichen Lebensbereichs der Antragstellerin rechtfertigt die Erlassung einer einstweiligen Verfügung gem § 382d EO.

Die Antragstellerin und der Antragsgegner sind seit 13 Jahren in einer Beziehung, seit 31. 8. 2019 sind sie verheiratet. Sie lebten bis 10. 9. 2022 gemeinsam im ehelichen Wohnhaus. Seit diesem Zeitpunkt wohnt der Antragsgegner bei seinen Eltern in Wien. (…) Am 21. 7. 2022 teilte die Antragstellerin dem Antragsgegner mit, dass sie sich trennen wolle. Seither fühlt sie sich verfolgt und beobachtet. Der Antragsgegner wusste Dinge und Geschehnisse aus dem Leben der Antragstellerin, die diese ihm nicht erzählt hatte und er eigentlich nicht wissen konnte. Der Antragsgegner behauptete, dies von Dritten, zB Nachbarn, erfahren zu haben. Dies konnte jedoch nicht richtig sein, weil diese Dritten entweder selbst gar nicht Bescheid wussten oder niemals mit dem Antragsgegner darüber gesprochen hatten. (…)

EHE- UND PARTNERSCHAFTSRECHT Juni 2023 160

Am 17. 8. 2022 war die Antragstellerin abends mit einem Nachbarn der Streitteile verabredet. Sie trafen sich vor einem Hotelrestaurant. Die beiden bezogen kein Hotelzimmer. Der Antragsgegner sah das Auto der Antragstellerin auf dem Hotelparkplatz und beobachtete dieses. (…) Am 9.9. 2022 entdeckte die Antragstellerin, nachdem sie ein Klickgeräusch im ehelichen Wohnhaus wahrgenommen hatte, eine versteckte Videokamera. Diese war bei der Playstation unter einem Kästchen montiert. Sie entfernte die Kamera und verließ das Haus. Als sie wenig später zurückkehrte, fand sie in der Tasche des Antragsgegners Fotoausdrucke ihrer SmartphoneDateien, ua Kontaktdaten und Anruflisten, ohne dass sie dem Antragsgegner je erlaubt hätte, diese anzufertigen. Ebenso fand sie eine Rechnung über zwei Überwachungskameras samt vier SD-Karten. Alarmiert durch den Fund suchte und fand die Antragstellerin am selben Abend mithilfe eines Bekannten einen Peilsender im Kofferraum des ausschließlich von ihr genützten Pkw. Die Antragstellerin suchte noch in derselben Nacht die Polizei auf. Diese sprach am 10. 9. 2022 gegen den Antragsgegner ein Betretungsverbot für das Wohnhaus sowie ein Annäherungsverbot aus. (…) Am 11. 9. 2022 fand die Antragstellerin überdies ein Aufzeichnungsgerät (Voicer Rcorder) in ihrem Pkw. Dieses Gerät war unter dem Radio angeklebt. Sie gab dieses bei der Polizei ab. (…)

Der Antragsgegner montierte diese technischen Mittel (Voicere Rorder, Videokamera, Peilsender), um die Antragstellerin zu überwachen und einen Beweis für das vermeintliche außereheliche Verhältnis der Antragstellerin zu gewinnen, den er in einem Scheidungsverfahren verwenden wollte. Die Antragstellerin hat Angst vor dem Antragsgegner. Aufgrund der Überwachungsmaßnahmen des Antragsgegners durchlief sie eine mittelgradige depressive Episode und erlitt Panikattacken, weshalb ihr auch Medikamente (Psychopharmaka) verschrieben und eine Psychotherapie empfohlen wurde. Sie fühlt sich deshalb ständig unsicher, fürchtet sich, lebt in Unruhe und leidet an Schlafstörungen. (…) Das Erstgericht verbot dem Antragsgegner, gestützt auf §§ 382c und 382d EO, 1. den Aufenthalt in der bisherigen Ehewohnung und dessen unmittelbarer Umgebung, 2.die persönliche Kontaktaufnahme und die Verfolgung der Antragstellerin, insb durch technische Mittel wie GPS-Tracker, Kameras und Mikrofonen sowie 3. die briefliche, telefonische und sonstige Kontaktaufnahme. Nach Durchführung eines Widerspruchsverfahrens bestätigte es die einstweilige Verfügung und wies den Widerspruch ab. (…) Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Antragsgegners keine Folge. (…)

Gem § 382d EO kann der Anspruch auf Unterlassung von Eingriffen in die Privatsphäre durch bestimmte – in dieser Rechtsnorm aufgezählte – Mittel gesichert werden. Voraussetzung für die Erlassung dieser einstweiligen Verfügung ist nur die Bescheinigung des Anspruchs auf Unterlassung weiterer „Stalking“-Handlungen oder anderer unzulässiger Eingriffe in die Privatsphäre. Mit der Anspruchsbescheinigung sind gleichzeitig auch die Anforderungen des § 381 Z 2 EO erfüllt (RIS-Justiz RS0121887). (…) Der Antragsgegner bestreitet nicht, dass seine Überwachungsmaßnahmen als erhebliche Eingriffe in die Privatsphäre der Antragstellerin (vgl 7Ob 130/15s) anzusehen sind. Er ist jedoch der Meinung, er habe in Verfolgung eines berechtigten Interesses gehandelt: (…) Steht ein Eingriff in die Privatsphäre fest, trifft den Verletzer die Behauptungs- und Beweislast dafür, dass er in Verfolgung eines berechtigten Interesses handelte und, dass die gesetzte Maßnahme ihrer Art nach zur Zweckerreichung geeignet war. Stellt sich heraus, dass die Maßnahme nicht das schonendste Mittel war, erübrigt sich die Vornahme einer Interessenabwägung (RIS-Justiz RS0120423). (…) Der höchstpersönliche Lebensbereich stellt den Kernbereich der geschützten Privatsphäre dar und ist daher einer den Eingriff rechtfertigenden Interessenabwägung regelmäßig nicht zugänglich (RISJustiz RS0122148; RS0008990 [T11]). Dieser Begriff soll sich nach dem Willen des Gesetzgebers mit dem des Privat- und Familienlebens iSd Art 8 EMRK decken, den der EGMR sehr weit versteht (RIS-Justiz RS0122148 [T2]). Dem höchstpersönlichen Lebensbereich sind nicht nur im häuslichen Bereich zutage tretende Umstände und sich dort zutragende Ereignisse zuzurechnen. Er umfasst vielmehr auch Gegebenheiten der sogenannten „Privatöffentlichkeit“, dh privates Handeln in öffentlichen Räumen, das aber doch in abgegrenzten Bereichen stattfindet, die eine gewisse Vertraulichkeit vermitteln und die bei objektiver Betrachtung nicht für die Anteilnahme einer unbegrenzten Öffentlichkeit bestimmt sind.

Auch in der räumlichen Öffentlichkeit besteht diesfalls ein Anspruch auf Respektierung der Privatsphäre (RIS-Justiz RS0122148 [T4]). (…) Eine Überspannung des Schutzes der Persönlichkeitsrechte würde zu einer unerträglichen Einschränkung der Interessen anderer und jener der Allgemeinheit führen; es bedarf vielmehr einer Wertung, bei der dem Interesse am gefährdeten Gut stets auch die Interessen der Handelnden und die der Allgemeinheit gegenübergestellt werden müssen (RIS-Justiz RS0008990). Bei Verletzung fremder absolut geschützter Rechte ist schon nach allgemeinen Grundsätzen das Rechtswidrigkeitsurteil nur aufgrund umfassender Interessenabwägung zu finden (RIS-Justiz RS0022917). (…)

Im vorliegenden Fall setzte der Antragsgegner durch Montieren einer versteckten Kamera im gemeinsamen Wohnhaus und Montieren eines versteckten Tonaufnahmegeräts sowie Installieren eines versteckten Peilsenders am Pkw der Antragstellerin Handlungen, die ihre möglichst lückenlose Überwachung bewirken sollten, um einen von ihm vermuteten Ehebruch der Antragstellerin nachweisen zu können. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, die vom Antragsgegner vorgenommene systematische, verdeckte, identifizierende technische Überwachung des höchstpersönlichen Lebensbereichs der Antragstellerin rechtfertige die Erlassung einer einstweiligen Verfügung gem § 382d EO, ist nicht korrekturbedürftig, sind diese doch entgegen der Ansicht des Antragsgegners in ihrer Eingriffsintensität mit dem Engagieren eines Privatdetektivs nicht vergleichbar. Hinzu kommt, dass die Überwachungsmaßnahmen lediglich auf einer unsubstantiierten bloßen Vermutung des Antragsgegners, die Antragstellerin habe die Ehe gebrochen, beruhten. Der Hinweis des Antragsgegners auf die Judikatur zum Ersatz von Detektivkosten (vgl RIS-Justiz RS0022959; RS0022943) geht schon deshalb fehl, weil diese den nicht vergleichbaren Fall von Schadenersatzansprüchen eines Ehegatten gegen den Ehestörer zum Gegenstand hat. (…)

§ 382c EO ermöglicht bei Vorliegen eines körperlichen Angriffs oder der Drohung mit einem solchen und darüber hinaus auch bei einem sonstigen Verhalten des Antragsgegners die Anordnung der dort angeführten Sicherungsmaßnahmen, wenn dieses Verhalten eine Schwere erreicht, die die strenge Maßnahme der einstweiligen Verfügung angemessen erscheinen lässt (7 Ob 38/21w mwN). „Psychoterror“ ist, weil die Zumutbarkeitsfrage entscheidet, nicht nach objektiven, sondern nach subjektiven Kriterien zu beurteilen. Von Bedeutung ist aber nicht ein Verhalten, das der Durchschnittsmensch als „Psychoterror“ empfände, sondern die Wirkung eines bestimmten Verhaltens gerade auf die Psyche der Antragstellerin (RISJustiz RS0110446 [T4, T8, T15]). Die Ausübung von „Psychoterror“ rechtfertigt die Erlassung einer einstweiligen Verfügung nach § 382c EO dann, wenn dadurch die psychische Gesundheit der Antragstellerin erheblich beeinträchtigt wird (vgl RIS-Justiz RS0121302 [T1]). (…) Angesichts des Umstands, dass die Antragstellerin aufgrund der systematischen Überwachungsmaßnahmen des Antragsgegners eine mittelgradige depressive Episode durchlief und Panikattacken erlitt, ist die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass auch die Voraussetzungen des § 382c EO vorliegen, nicht korrekturbedürftig, zumal der Antragsgegner auch kein berechtigtes Interesse im Sinn dieser Gesetzesbestimmung darlegt. (…)

Anmerkung

Obwohl nach Auffassung der stRsp die Kosten der Beauftragung eines Detektivs zur Ausforschung einer ehewidrigen Beziehung vom Ehestörer (bzw untreuen Ehegatten) zu ersetzen sind (ablehnend die einhellige Literatur: vgl zu den einzelnen Argumenten die Anmerkungen zu 1 Ob 114/09k, iFamZ 2009/244, 357; 3 Ob 232/11f, iFamZ 2012/107, 137; 9Ob 62/20p, iFamZ 2021/7, 16; 1 Ob 133/21x, iFamZ 2022/26, 34, samt zitierter Literatur), lehnt der OGH hier in seiner Begründung offenbar ein solches der Ausforschung des Intimlebens dienendes Verhalten des Antragsgegners als unge-

EHE- UND PARTNERSCHAFTSRECHT Juni 2023 161

rechtfertigten Eingriff in den höchstpersönlichen Lebensbereich ab. Zutreffend hält er solche Eingriffshandlungen auch einer rechtfertigenden Interessenabwägung regelmäßig nicht für zugänglich, weil eben die Privatsphäre, der auch das Familienleben angehört, von Art 8 EMRK geschützt ist. Es kann aber mE wohl keinen Unterschied machen, ob ein beauftragter Dritter oder der Betroffene selbst solche ungerechtfertigten Eingriffshandlungen in die grundrechtliche Stellung eines anderen setzt; denn es soll dem Vernehmen nach öfters vorkommen, dass auch Detektive Videokameras, Peilsender usw im geschützten Privatbereich rechtswidrig anbringen, um „eindeutige Ergebnisse“ zu erzielen. Der Bestand der Ehe ist mE einerseits eben nicht als absolutes Recht geschützt, und selbst wenn diese Annahme richtig wäre, keiner Interessenabwägung gegen einen so massiven Eingriff in die Grundrechte anderer Personen zugänglich. ME sind rechtswidrig erlange Beweismittel, die durch solche Grundrechtseingriffe beschafft wurden, in Gerichtsverfahren daher – entgegen der stRsp – nicht heranzuziehen.

Hier liegen die Dinge aber insofern anders, als es nicht um Unterlassungs-, Beseitigungs- bzw Schadenersatzansprüche geht – diese könnten von der Antragstellerin in einem eigenen Verfahren geltend gemacht werden –, sondern um den Erlass einer einstweiligen Verfügung wegen „Stalking-Handlungen“. Eine solche einstweilige Verfügung gem § 382d EO ist stets dann gerechtfertigt, wenn durch Eingriffshandlungen in den höchstpersönlichen Lebensbereich des Antragstellers dessen psychische Gesundheit erheblich beeinträchtigt wird, was hier zweifellos anzunehmen ist.

Astrid Deixler-Hübner

§ 83 EheG

Nacheheliche Aufteilung: Übertragung von Liegenschaftseigentum

OGH 21. 3. 2023, 1 Ob 21/23d

iFamZ 2023/115

Die Aufteilung der ehelichen Beiträge ist nach Billigkeit vorzunehmen, um ein Ergebnis zu erzielen, das den Umständen des Einzelfalls gerecht wird und für beide Parteien tragbar ist. Im Allgemeinen wird es als angemessen betrachtet, dass bei grundsätzlich gleichgewichteten ehelichen Beiträgen die Ehewohnung demjenigen überlassen wird, der darauf mehr angewiesen ist. Hierbei ist jedoch die Leistungsfähigkeit einer entsprechenden Ausgleichszahlung vorauszusetzen.

Die 1981 geschlossene Ehe der Parteien wurde 2019 geschieden, die eheliche Lebensgemeinschaft im April 2018 aufgehoben. Seither wohnt die Antragsgegnerin allein in der im Miteigentum der Parteien stehenden ehemaligen Ehewohnung mit einem Wert von 562.000 €. Darüber hinaus unterliegen nach den Feststellungen eine gemeinsame Wohnung in Kroatien mit einem Wert von 101.000 € und Sparguthaben von 145.400 € sowie von 317.000 € der nachehelichen Aufteilung. Diese Beträge hatte die Antragsgegnerin bereits im November 2017 ohne Wissen und Willen des Antragstellers auf eines ihrer Konten transferiert. (…) Die Vorinstanzen wiesen dem Antragsteller die Miteigentumsanteile der Antragsgegnerin an der Ehewohnung und der Wohnung in Kroatien gegen Leistung einer Ausgleichszahlung von 100.300 € zu. (…) Die Antragsgegnerin wäre bei Zuteilung der Ehewohnung zu einer angemessenen Ausgleichszahlung an den Antragsteller nicht in der Lage. Der Wert des aufzuteilenden Vermögens betrage 1.125.400 €. Davon habe die Antragsgegnerin bereits Vermögenswerte von 462.400 € an sich gebracht und seither im großen Ausmaß verringert. Zur Abgeltung der Zuteilung der Ehewohnung und der Wohnung in Kroatien sei ihr noch ein Betrag von 100.300 € zuzusprechen, damit jeder 526.700 € des aufzuteilenden Vermögens erhalte. (…)

Gem § 83 Abs 1 EheG hat die Aufteilung nach Billigkeit zu erfolgen, um ein für beide Teile tragbares, den Umständen des Einzelfalls gerecht werdendes Ergebnis zu finden (RIS-Justiz RS0057910 [T1]). Im Allgemeinen entspricht es der Billigkeit, dass die Ehewohnung bei grundsätzlich gleich gewichteten ehelichen Beiträgen demjenigen überlassen wird, der darauf mehr angewiesen ist (RISJustiz RS0057733; RS0057621). Das wäre hier wohl die Antragsgeg-

nerin, zumal der Antragsteller nicht mehr in Österreich aufhältig ist. Allerdings hat der Senat als Fachsenat in Aufteilungssachen das Ansinnen von Parteien, ihnen die Ehewohnung zuzuweisen, obwohl sie nicht in der Lage sind, eine angemessene Ausgleichszahlung aufzubringen, bereits wiederholt abgelehnt und klargestellt, dass eine Übertragung von Liegenschaftseigentum eine entsprechende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit voraussetzt (1 Ob 67/19p mwN; vgl auch RIS-Justiz RS0057610). (…) An der Beurteilung der Vorinstanzen, dass die Antragsgegnerin zu einer (…) Ausgleichszahlung iHv 450.000 € nicht in der Lage wäre, um den Antragsteller für den Verlust seines Miteigentumsanteils an der Ehewohnung und den Hälfteanteil an den Sparguthaben zu entschädigen, und die Ehewohnung daher dem Antragsteller zuzuweisen sei, weckt der Revisionsrekurs keine Bedenken: (…) Die Vorinstanzen sind von einem Aufteilungsschlüssel von 1:1 (also von annähernd gleichteiligen Beiträgen der Ehegatten) ausgegangen. Die Prämisse der Rechtsmittelwerberin, das Erst- und das Rekursgericht hätten angenommen, der Antragsteller habe einen größeren Beitrag als sie geleistet, ist daher unrichtig. (…)

Dem Vorwurf, das Rekursgericht habe das Alleinverschulden des Antragstellers unberücksichtigt gelassen, ist die Rsp entgegenzuhalten, dass weder der Wohlbestehensgrundsatz noch der Aufteilungswunsch des schuldlos geschiedenen Ehepartners dazu führen darf, dass der andere Teil sein Eigentum entschädigungslos oder gegen unverhältnismäßig geringe Gegenleistung aufzugeben hätte (RIS-Justiz RS0057579 [T3]; RS0057387 [T24]). Auf das liefe der Aufteilungsvorschlag der Antragsgegnerin aber hinaus, nach dem der Antragsteller wesentlich weniger als 450.000 € bekommen sollte. Indem sie dem Wert des Hälfteanteils an der Ehewohnung (281.000 €) bloß die Hälfte der Ersparnisse (231.200 €) und den Wert des Hälfteanteils an der Wohnung in Kroatien gegenüberstellt, übergeht sie außerdem, dass sie auch eine Ausgleichszahlung für die dem Antragsteller entzogene Hälfte der Ersparnisse zu leisten hätte, sollte diesem nicht über die Zuteilung der Ehewohnung ein Wertausgleich zukommen. (…) Ihre Behauptung, aus den Feststellungen ergebe sich, dass sie sich ausreichend Vermögen zugewendet habe, um einen entsprechenden Ausgleich zu schaffen, trifft jedenfalls nicht zu. Das Erstgericht hat vielmehr (disloziert) festgestellt, dass die Antragsgegnerin die sich zugeeigneten ehelichen Ersparnisse von 462.400 € „bereits einseitig wesentlich vermindert hat“. Dies steht im Einklang mit der von ihr im Rekurs beantragten Feststellung, wonach sie im Juni 2021 von den 317.000 € (nur) noch über 145.627 € verfügt habe. Wie sie damit (…), eine Ausgleichszahlung von 450.000 €, wenn auch allenfalls nur in Raten, finanzieren will, erklärt sie nicht, zumal sie im Rekurs eingeräumt hat, dass ihr eine Kreditaufnahme (aufgrund ihres Alters) nur erschwert möglich sein werde und sie neben den Unterhaltsleistungen des Antragstellers von 1.200 € im Monat bloß eine Pension von 570 € im Monat bezieht. (…)

Anmerkung

Der OGH bleibt in dieser Entscheidung seinen Grundsätzen treu, wonach die Ehewohnung in der Regel demjenigen Ehegatten zuzuweisen ist, der dafür eine angemessene Ausgleichszahlung aufbringen kann (RIS-Justiz RS0057610, zuletzt etwa 1 Ob 147/18a, iFamZ 2019/77, 115; 1 Ob 67/19p, Zak 2019/352), wenn keine anderen höher zu bewertenden Interessenlagen bestehen. Auch wenn ein Ehegatte daher auf die Ehewohnung eher angewiesen ist als sein Ex-Partner, kann dieser Umstand schon aufgrund von § 90 Abs 1 EheG nicht dazu führen, dass der andere Ehegatte sein Eigentum (bzw seinen Eigentumsanteil) gegen eine verhältnismäßig geringfügige Ausgleichszahlung aufgeben muss (in diesem Sinne auch 1 Ob 29/23f). Dieser Auffassung des OGH ist daher uneingeschränkt zuzustimmen.

EHE- UND PARTNERSCHAFTSRECHT Juni 2023 162

Über den frei werdenden Anteil aus der Minderung des Pflichtteils einesnoch lebenden Pflichtteilsberechtigten

Aus der Erbrechtspraxis des Dr. S.

I.Sachverhalt

* Der Erblasser hinterlässt eine Lebensgefährtin, die er zur testamentarischen Alleinerbin eingesetzt hat, und zwei Kinder, wobei er den Pflichtteil eines Kindes im Wege einer letztwilligen Verfügung auf die Hälfte gemindert hat.1 Dieses pflichtteilsgeminderte Kind hat seinerseits ein Kind (erblasserisches Enkelkind). Kann dieses Enkelkind, auf das die Voraussetzungen der Pflichtteilsminderung nicht zutreffen, Ansprüche aus der Pflichtteilsminderung seines die Verwandtschaft zum Erblasser vermittelnden Elternteils ableiten?

II.Rechtsgrundlagen

Nach § 776 Abs 1 ABGB kann der Verfügende den Pflichtteil letztwillig auf die Hälfte mindern, wenn er und der Pflichtteilsberechtigte zu keiner Zeit oder zumindest über einen längeren Zeitraum2 vor dem Tod des Verfügenden nicht in einem Naheverhältnis standen, wie es zwischen solchen Familienangehörigen gewöhnlich besteht.

Wenn einer der in § 757 ABGB angeführten Personen3 infolge Pflichtteilsverzichts oder Ausschlagung der Erbschaft kein Pflichtteil zusteht, erhöht dies im Zweifel die Pflichtteile der anderen Pflichtteilsberechtigten nicht (§ 760 Abs 1 ABGB). Wenn aber einer der in § 757 ABGB angeführten Personen aus anderen Gründen kein oder nur ein geminderter Pflichtteil zusteht und an ihrer Stelle auch keine Nachkommen den Pflichtteil erhalten, erhöhen sich die Pflichtteile der anderen Pflichtteilsberechtigten anteilig, wobei die Bestimmungen der §§ 733 f ABGB anzuwenden sind (§ 760 Abs 2 ABGB).

III.Meinungsstand

Der Meinungsstand zur vorliegenden Rechtsfrage divergiert Einerseits ist denkbar, dass den Nachkommen geminderter Pflichtteilsberechtigter kein diesbezügliches Repräsentationsrecht zukommt, weil ihr Vorfahre nicht vollständig ausfällt und dessen Nachkommen folglich nicht konkret pflichtteilsberechtigt sind.4 Im Fall der Pflichtteilsminderung um die

1 Für die Besprechung des vorliegenden Sachverhalts ist anzunehmen, dass die Pflichtteilsminderung (§ 776 ABGB) rechtmäßig und zur Hälfte verfügt ist (vgl in diesem Zusammenhang Nemeth in Schwimann/Kodek, ABGB IV5, § 776 Rz 6, wonach der Pflichtteil auch in geringerem Umfang gemindert werden kann).

2 Die Rsp versteht hierunter – im Eltern-Kind-Verhältnis – einen Zeitraum von mindestens 20 Jahren (2 Ob 83/21a [Entleitner]); vgl zudem ErlRV 688 BlgNR 25.

GP 31 („zumindest zwanzig Jahre“).

3 Dies sind Nachkommen, der Ehegatte oder der eingetragene Partner des Erblassers.

4 Bittner/Hawel in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.05, § 760 Rz 3.

Hälfte wächst die halbe Quote des geminderten Pflichtteilsberechtigten sodann allfälligen anderen Pflichtteilsberechtigten an.5 Andererseits wird die Auffassung – pro Repräsentation – vertreten, dem Nachkommen eines noch lebenden Pflichtteilsgeminderten einen Pflichtteil in Höhe der (Differenz zwischen Pflichtteil und) Pflichtteilsminderung zuzuweisen, sofern auf ihn die Voraussetzungen der Pflichtteilsminderung nicht zutreffen.6

IV.Eigener Ansatz

ME ist bereits aufgrund des Vorrangs der Repräsentation vor der Anwachsung7 der mittlerweile hL8 der Vorzug zu geben Hinzu kommt die höchstpersönliche Komponente der Pflichtteilsminderung.

Der eine Pflichtteilsminderung anordnende Erblasser tut dies in der Regel wegen eines enttäuschten (fehlenden) Naheverhältnisses zu einem Familienangehörigen. Er will mit der Minderung dessen Verhalten sanktionieren, das nicht den Vorstellungen des Gesetzgebers von einem Naheverhältnis entspricht, wie es zwischen Familienangehörigen gewöhnlich besteht, und das er auch nicht zu verantworten hat. Dieses pönalisierende Element der Pflichtteilsminderung kann den Nachkommen eines im Pflichtteil geminderten Kindes jedoch nicht zugerechnet werden, sodass dieses von jenen in Ansehung der – in der Regel9 – halben Pflichtteilsquote repräsentiert wird.

V.Ergebnis

Das Enkelkind (Kind des im Pflichtteil geminderten erblasserischen Kindes) kann sohin die frei werdende Pflichtteilsquote beanspruchen, weil es nicht selbst von der Pflichtteilsminderung betroffen ist. Wäre es hingegen davon selbst betroffen, hätte dies die Quotenerhöhung des anderen – im Pflichtteil nicht geminderten – Kindes des Erblassers zur Folge.10

5 Barth in Barth/Pesendorfer, Praxishandbuch des neuen Erbrechts (2016) 173 f; Schauer, Pflichtteilsrecht einschließlich Gestaltung der Pflichtteilsdeckung, in DeixlerHübner/Schauer, Erbrecht NEU (2015) 55 (60).

6 So A. Tschugguel, Neue Repräsentationsfragen bei Enterbung und Pflichtteilsminderung, EF-Z 2016, 139 (141 f); Welser, Erbrechts-Kommentar, §§ 758 Rz 8, 776 ABGB Rz 8; Musger in KBB, ABGB6, §§ 758 Rz 6, 760 Rz 2 (anders noch Musger in der Vorauflage [KBB, ABGB5] zu §§ 758 Rz 6, 760 Rz 2 und 782 – 783 Rz 8); Umlauft, Die Hinzu- und Anrechnung von Schenkungen im Erb- und Pflichtteilsrecht2 (2018) 109 f; referierend Nemeth in Schwimann/Kodek, ABGB IV5, § 758 Rz 13.

7 Welser, Erbrechts-Kommentar, § 758 ABGB Rz 8 (§ 542 ABGB per analogiam); Likar-Peer in Ferrari/Likar-Peer, Erbrecht2 (2020) Rz 10.93; Musger in KBB, ABGB6, § 758 Rz 6.

8 Vgl FN 6.

9 Vgl Nemeth in Schwimann/Kodek, ABGB IV5, § 776 Rz 6.

10 Vgl die Darstellung bei Likar-Peer in Ferrari/Likar-Peer, Erbrecht2, Rz 10.94.

ERBRECHT Juni 2023 163
*Dr. Patrick Schweda ist Notar in Haugsdorf und Prüfungskommissär für die Notariatsprüfung am OLG Wien.

§§ 781, 784 ABGB

Schenkung aus sittlicher Pflicht

OGH 13. 12. 2022, 2 Ob 224/22p

iFamZ 2023/116

Der allgemeine Begriff „sittliche Pflicht“ bedarf anhand konkreter Umstände einer Auslegung. Dabei kommt es grundsätzlich und für die verschiedensten Lebensbereiche auf die Anschauungen der redlichen und rechtsverbundenen Mitglieder der betroffenen Verkehrskreise an. Auch der Maßstab des „bonus pater familias“ und der Normfamilie ist für die Frage der sittlichen Pflicht heranzuziehen.

Eine Schenkung, mit der einer sittlichen Pflicht entsprochen wurde, ist nur dann anzunehmen, wenn dazu eine besondere aus den konkreten Umständen des Falls erwachsene, in den Geboten der Sittlichkeit wurzelnde Verpflichtung des Schenkers (Erblassers) bestand. Dies lässt sich nur von Fall zu Fall unter Berücksichtigung der persönlichen Beziehungen zwischen Schenker und Beschenktem, ihres Vermögens und der ihrer Lebensstellung entscheiden.

Die an den in der Polizze bezeichneten Bezugsberechtigten ausbezahlte Versicherungssumme aus einer Lebensversicherung fällt nicht in den Nachlass (RIS-Justiz RS0007845), unterliegt aber, sofern es sich nach dem Rechtsverhältnis zwischen dem Erblasser und dem Begünstigten um eine unentgeltliche Zuwendung handelt, der Hinzu- und Anrechnung nach § 781 Abs 2 Z 6 ABGB.

Erfolgt die Zuwendung, um die Versorgung des überlebenden Ehegatten sicherzustellen, und überschreitet sie ein nach den Vermögens- und Einkommensverhältnissen der Beteiligten vernünftiges Maß nicht, kann der Ausnahmetatbestand des § 784 ABGB erfüllt sein.

[1] Der 2018 verstorbene Erblasser hinterließ seine 2019 verstorbene Ehefrau sowie zwei aus dieser Ehe stammenden Töchter, von denen eine die Klägerin ist. Der Beklagte ist sein Stiefsohn, dem sein gesamter Nachlass eingeantwortet wurde.

[2] Die Vorinstanzen verpflichteten den Beklagten zur Zahlung eines von der Klägerin geltend gemachten Schenkungspflichtteils von 21.755,40 €. Sie werteten – soweit noch Gegenstand des Revisionsverfahrens – eine Geldzuwendung des Erblassers an die Klägerin über 150.000 ATS zur Finanzierung der Grundausstattung einer neuen Wohnung als eine Schenkung aus sittlicher Pflicht (§ 784 Fall 3 ABGB), weil die Klägerin im Zuge der Trennung von ihrem Ehemann in einer finanziellen Notlage gewesen sei und über keine Wohnmöglichkeit verfügt habe. Die im Zeitraum November 2009 bis Mai 2015 monatlich erfolgten Zuwendungen an die Klägerin über 250 € seien aus den Einkünften des Erblassers ohne Schmälerung seines Stammvermögens erfolgt (§ 784 Fall 1 ABGB) und unterlägen daher ebenso wenig der Hinzu- und Anrechnung. Hingegen sei ein an die Witwe nach dem Tod des Erblassers ausbezahlter Betrag aus einer Lebensversicherung als hinzuzurechnende Schenkung zu qualifizieren. Anhaltspunkte dafür, dass es sich um eine Leistung zur Versorgung der Witwe gehandelt habe, lägen nicht vor. Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil zur Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Schenkung aus Einkünften ohne Schmälerung des Stammvermögens vorliege, nur in der vereinzelt gebliebenen Entscheidung 9 Ob 48/10i Stellung genommen worden sei, diese aber Kritik im Schrifttum hervorgerufen habe und in den Mat zum ErbRÄG 2015 nunmehr ausdrücklich von „kleineren Schenkungen“ (ErlRV 688 BlgNR 25. GP 35) die Rede sei. Ob laufende Zuwendungen über einen längeren Zeitraum den Ausnahmetatbestand erfüllen, sei daher fraglich.

[3] Die Revision des Beklagten, mit der er eine Abänderung im Sinn einer Abweisung der Klage, hilfsweise die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen anstrebt, ist entgegen dem – den OGH nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig, weil keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO zu beantworten ist.

[4] 1. Aufgrund des Ablebens des Erblassers nach dem 31. 12. 2016 kommen die §§ 781 ff ABGB idF ErbRÄG 2015 zur Anwendung (§ 1503 Abs 7 Z 2 ABGB). Auf den Zuwendungszeitpunkt kommt es nicht an (Umlauft in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang, ABGB3, § 781 Rz 5; Bittner/Hawel in Kletečka/Schauer, ABGB ON1.05, § 784 Rz 4; Musger in KBB, ABGB6, § 785 Rz 3).

[5] 2. Die behauptete Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens wurde geprüft, sie liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).

[6] 3. Monatliche Zahlungen des Erblassers über 250 € von November 2009 bis Mai 2015 an die Klägerin (§ 784 Fall 1 ABGB):

[7] 3.1. Die vom Berufungsgericht und dem Beklagten relevierte Rechtsfrage zur Auslegung des Ausnahmetatbestands des § 784 Fall 1 ABGB, wonach Schenkungen, die der Erblasser aus Einkünften ohne Schmälerung des Stammvermögens gemacht hat, weder hinzu- noch anzurechnen sind, stellt sich aus folgenden Überlegungen nicht.

[8] 3.2. Ausgangspunkt des Regelungskonzepts des § 781 Abs 1 ABGB ist die Schenkung gem §§ 938 ff ABGB (2 Ob 110/20w Rz 31). Die Schenkung ist ein Vertrag, durch den sich jemand verpflichtet, einem anderen eine Sache unentgeltlich zu überlassen (§ 938 ABGB).

[9] Unentgeltlichkeit bedeutet, dass nach dem Parteiwillen kein Entgelt erbracht wird. Sie ist (objektiv) durch das Fehlen einer konditional, kausal oder synallagmatisch verbundenen Gegenleistung charakterisiert, die in einer Handlung oder Unterlassung bestehen kann und keinen Vermögenswert haben muss (RIS-Justiz RS0017193 [T9]; Bollenberger/P. Bydlinski in KBB, ABGB6, § 938 Rz 3). Daneben ist für die Schenkung auch Schenkungsabsicht (subjektive Komponente) begriffswesentlich. Sie besteht in der Absicht einer unentgeltlichen, dh auf keine Gegenleistung bezogenen und freiwilligen (freigiebigen) Leistung (RIS-Justiz RS0018833). Erforderlich ist daher als subjektives Element der Wille des Verfügenden zur Freigiebigkeit (RIS-Justiz RS0033054 [T6]).

[10] Das Erstgericht hat unbekämpft festgestellt, dass der Erblasser den Betrag (zur Betreuung des Pferds der Klägerin) – nach der zwischen ihm und der Klägerin getroffenen Vereinbarung – deshalb zahlte, weil es ihr gelang, seine Spende (Patenschaft) für Tiere eines Gnadenhofs zurückzuholen. Vom Fehlen einer konditional, kausal oder synallagmatisch verbundenen Gegenleistung kann daher keine Rede sein, sodass schon keine Schenkung iSd § 781 Abs 1 ABGB vorliegt. Auf die Auslegung des Ausnahmetatbestands des § 784 Fall 1 ABGB kommt es daher gar nicht an.

4. Geldschenkung über 150.000 ATS zur Finanzierung der Grundausstattung einer neuen Wohnung (§ 784 Fall 3 ABGB):

[11] 4.1. Der allgemeine Begriff „sittliche Pflicht“ bedarf anhand konkreter Umstände einer Auslegung. Dabei kommt es grundsätzlich und für die verschiedensten Lebensbereiche auf die Anschauungen der redlichen und rechtsverbundenen Mitglieder der betroffenen Verkehrskreise an. Auch der Maßstab des „bonus pater familias“ und der Normfamilie ist für die Frage der sittlichen Pflicht heranzuziehen (RIS-Justiz RS0121353). Eine Schenkung, mit der einer sittlichen Pflicht entsprochen wurde, ist nur dann anzunehmen, wenn dazu eine besondere aus den konkreten Umständen des Falls erwachsene, in den Geboten der Sittlichkeit wurzelnde Verpflichtung des Schenkers (Erblassers) bestand. Dies lässt sich nur von Fall zu Fall unter Berücksichtigung der persönlichen Beziehungen zwischen Schenker und Beschenktem, ihres Vermögens und der ihrer Lebensstellung entscheiden (zur insoweit vergleichbaren Rechtslage vor dem ErbRÄG 2015 RIS-Justiz RS0012972 [T1]; 2 Ob 91/16w, Pkt IV.1.1.). Wegen der Einzelfallbezogenheit dieser Beurteilung stellen sich – ausgenommen korrekturbedürftige Fehlbeurteilun-

ERBRECHT Juni 2023 164
RECHTSPRECHUNG Erbrecht Patrick Schweda

gen – regelmäßig keine erheblichen Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO (5 Ob 191/10i, Pkt 3.).

[12] 4.2. Wenn die Vorinstanzen in der Zuwendung von 150.000 ATS an die Klägerin eine Schenkung aus sittlicher Pflicht bejahten, weil sie im Zuge der Trennung von ihrem Ehemann in einer finanziellen Notlage war und über keine Wohnmöglichkeit verfügte, stellt dies jedenfalls keine aufzugreifende Fehlbeurteilung dar. Dass die Zuwendung die Vermögens- und Einkommenssituation des Erblassers unverhältnismäßig überschritten hätte (vgl 6 Ob 170/05a, Pkt 2.), behauptet die Revision nicht.

[13] 4.3. Soweit der Beklagte die Zuwendung als hinzu- und anzurechnende Ausstattung nach § 781 Abs 2 Z 1 ABGB berücksichtigt haben will, der nach Umlauft (in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang, ABGB3, § 781 Rz 10b) § 784 ABGB insoweit derogiert, ist ihm zu entgegnen, dass eine Ausstattung der „Erleichterung des ehelichen Aufwands“ dient (2 Ob 47/20f, Rz 5) und dieser Zweck auf die Zuwendung des Erblassers nicht zutrifft. Weshalb trotz dieses unterschiedlichen Leistungszwecks eine (analoge) Anwendung des § 781 Abs 2 Z 1 ABGB geboten sein soll, zeigt die Revision nicht auf.

[14] 4.4. Wenn der Beklagte argumentiert, es sei zumindest nur jener Teil der Zuwendung als Schenkung aus sittlicher Pflicht zu berücksichtigen, der auf den letztlich (aufgrund einer Versöhnung der Eheleute) nur sechs Monate dauernden Nutzungszeitraum entfalle, übersieht er, dass auch für die Beurteilung, ob eine Zuwendung aus sittlicher Pflicht erfolgt, bei Schenkungen nach – dem hier einschlägigen – § 781 Abs 1 ABGB der Vertragsabschlusszeitpunkt (so zur Frage des Vorliegens einer gemischten Schenkung RIS-Justiz RS0012978) maßgeblich ist.

5. Lebensversicherung

[15] 5.1. Die an den in der Polizze bezeichneten Bezugsberechtigten ausbezahlte Versicherungssumme aus einer Lebensversicherung fällt nicht in den Nachlass (RIS-Justiz RS0007845), unterliegt aber, sofern es sich nach dem Rechtsverhältnis zwischen dem Erblasser und dem Begünstigten um eine unentgeltliche Zuwendung handelt, der Hinzu- und Anrechnung nach § 781 Abs 2 Z 6 ABGB (Musger in KBB, ABGB6, § 781 Rz 4; Nemeth/Niedermayr in Schwimann/Kodek, ABGB5, § 781 Rz 19; Umlauft, Die Hinzu- und Anrechnung von Schenkungen im Erb- und Pflichtteilsrecht2 [2018] 274 ff; Umlauft in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang, ABGB3, § 781 Rz 32b; Welser, Erbrechts-Kommentar, § 781 ABGB Rz 16). Erfolgt die Zuwendung, um die Versorgung des überlebenden Ehegatten sicherzustellen, und überschreitet sie ein nach den Vermögens- und Einkommensverhältnissen der Beteiligten vernünftiges Maß nicht, kann der Ausnahmetatbestand des § 784 ABGB erfüllt sein (4 Ob 136/97x [zur insoweit vergleichbaren Rechtslage vor dem ErbRÄG 2015]; zur neuen Rechtslage Umlauft in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang, ABGB3, § 784 Rz 13; Musger in KBB, ABGB6, § 784 Rz 1). Die Behauptungs- und Beweislast für den Ausnahmetatbestand trägt der in Anspruch Genommene, also der Erbe oder der Beschenkte (Welser, Erbrechts-Kommentar § 784 ABGB Rz 2; 6 Ob 170/05a, Pkt 2.; 9 Ob 48/10i).

[16] 5.2. Dass die pflichtteilsrechtliche Berücksichtigung der Zuwendung schon am Fehlen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 781 Abs 2 Z 6 ABGB scheitert, hat der Beklagte in seiner Berufung nicht geltend gemacht, sondern sich lediglich auf den Ausnahmetatbestand des § 784 ABGB berufen. Sollte er sich in seiner Revision erkennbar auch gegen die Subsumtion unter § 781 ABGB wenden, kann die im Berufungsverfahren insoweit unterbliebene Rechtsrüge nicht nachgeholt werden (RIS-Justiz RS0043573 [T36, T41, T43]).

[17] 5.3 (Tatsächliche) Anhaltspunkte für eine Zuwendung aus Versorgungsgründen konnte das Erstgericht – wenn auch disloziert im Rahmen der rechtlichen Beurteilung – nicht feststellen, was zulasten des sich auf den Ausnahmetatbestand berufenden Beklagten geht. Die Revisionsbehauptung, die Zuwendung diene faktisch der

Versorgung der Witwe, entfernt sich vom festgestellten Sachverhalt. (…)

§§ 578, 587, 589 ABGB aF; §§ 581 f ABGB iFamZ 2023/117 Heilung des Formmangels eines gerichtlichen

Testaments

OGH 13. 12. 2022, 2 Ob 216/22m

Um eine formgültige, schriftliche gerichtliche Verfügung zu errichten, muss der Erblasser die Urkunde wenigstens eigenhändig unterschreiben und persönlich dem Gericht überbringen. Das Gericht, bestehend aus einem Richter, dem am Ort der Testamentserrichtung das Richteramt zusteht, und einer zweiten beeideten Gerichtsperson, hat den Aufsatz zu versiegeln und auf dem Umschlag anzumerken, wessen letzter Wille darin enthalten ist. Hierüber ist ein Protokoll aufzunehmen.

Die Einhaltung der Form gehört zum objektiven Tatbestand der letztwilligen Verfügung. Sie muss daher nicht gewollt, sondern bloß erfüllt sein. Es entspricht L und Rsp, dass ein in der beabsichtigten Form ungültiges Testament, das die Voraussetzungen und Formvorschriften einer anderen Testamentsform erfüllt, gültig ist. Ob der Erblasser ein holographes Testament iSd § 578 ABGB aF oder eine gerichtliche Verfügung nach § 587 ABGB aF errichten wollte, ist daher unerheblich.

Mag die Verfügung des Erblassers auch die Formvorschriften eines gerichtlichen Testaments nicht erfüllen, ist es aufgrund der Einhaltung der für ein holographes Testament angeordneten Formvorschriften als solches gültig. Daran ändert auch die –wenn auch rechtsgrundlos – erfolgte Hinterlegung des holographen Testaments beim Erstgericht nichts. Dass der Erblasser seine letztwillige Anordnung nur als gerichtliche Verfügung gelten lassen wollte, ist nicht anzunehmen. Aus dem Umstand, dass die Voraussetzungen eines gerichtlichen Testaments nicht eingehalten wurden, folgt demnach nicht, dass nicht dennoch ein formgültiges Privattestament vorliegen kann.

§§ 781, 938 ABGB

Gemischte Schenkungen im Hinzu- und Anrechnungsrecht

OGH 13. 12. 2022, 2 Ob 184/22f

iFamZ 2023/118

Von einer gemischten Schenkung ist dann auszugehen, wenn der Verfügende die partielle Unentgeltlichkeit auch gewollt hat. Der Schenkungsbegriff in § 781 Abs 2 Z 6 ABGB ist wirtschaftlich geprägt und soll als Auffangtatbestand Umgehungen vermeiden. Die Norm erfasst auch solche Vermögensverschiebungen, die nicht als Schenkung tituliert sind, ihr aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten aber gleichkommen und somit ebenfalls der Hinzu- und Anrechnung unterliegen.

Der Auffangtatbestand des § 781 Abs 2 Z 6 ABGB erfasst keine Zuwendungen, die bereits die objektiven Voraussetzungen einer (gemischten) Schenkung nach § 938 ABGB erfüllen und daher unter § 781 Abs 1 ABGB fallen können, bei denen die Anrechnung aber nur am fehlenden Schenkungswillen scheitert.

[1] Die Streitteile sind – neben einem weiteren Kind – die Töchter der 2018 verstorbenen Erblasserin. Ihr Nachlass wurde ihrem Ehemann als Alleinerben eingeantwortet. Die Pflichtteilsquote der Klägerin beträgt ein Neuntel.

[2] Mit in Notariatsaktsform errichtetem Schenkungsvertrag vom 27. 12. 2000 schenkte die Erblasserin der Beklagten ihre Eigentumswohnung. Der Verkehrswert betrug zum Übergabszeitpunkt 83.500 €, aufgewertet zum Todestag 117.104 €.

[3] Weiters übergaben die Erblasserin und ihr Ehemann der Beklagten mit Übergabsvertrag vom 28. 1. 2004 mehrere, jeweils in ihrem Hälfteeigentum stehende Liegenschaften. Als „Gegenleistung“ sah der Übergabsver-

ERBRECHT Juni 2023 165

trag ein uneingeschränktes Wohnungsgebrauchsrecht zugunsten der Übergeber, die Tragung der Strom- und Heizkosten durch die Beklagte sowie die Übernahme der Hypothekarverbindlichkeiten bei der S. (Girokonto X: 203.039,87 €; Girokonto Y: 427,21 €; Girokonto Z: 11.371,56 €; Finanzierungskonto A: 600.707,23 CHF) vor. Der Verkehrswert der ideellen Miteigentumsanteile der Erblasserin betrug unter Berücksichtigung des mit der Tragung der Strom- und Heizkosten durch die Beklagte verbundenen Wohnungsgebrauchsrechts ihres Ehemanns zum Übergabszeitpunkt 601.000 €, aufgewertet zum Todestag 800.582 €. Hintergrund der Übergabe an die Beklagte war, dass die Eltern, denen viel am Erhalt des auf den Liegenschaften geführten Familienbetriebs (Bäckerei und Landwirtschaft) durch ihren Sohn gelegen war, hohe Kreditverbindlichkeiten iZm Investitionen eingegangen waren. Der Sohn erklärte seinen Eltern aber im Jahr 2000, dass der Betrieb konkursreif sei und er ihn nicht weiterführen werde. Mangels sonstiger Finanzierungsmöglichkeiten ersuchten die Erblasserin und ihr Mann die Beklagte um ihre Hilfe. Die Bank bestand im Rahmen der Umschuldung auf eine Mitunterfertigung des Kredits durch die Beklagte als Mitkreditnehmerin. Die Eltern und die Beklagte kamen daher überein, dass sie die Liegenschaften übernehmen solle. Die Übergeber handelten nicht mit Schenkungsabsicht. Sie verstanden die Übergabe nicht als unentgeltliche Zuwendung, weil die Beklagte ihre Kreditverbindlichkeiten übernahm.

[4] Ab 2013 verkaufte die Beklagte einen Teil der Liegenschaften und deckte mit dem Erlös die Kreditverbindlichkeiten ab.

[5] Die Klägerin erhielt von der Erblasserin 15.000 € als Zuschuss für den Erwerb einer Eigentumswohnung geschenkt.

[6] Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Zahlung eines Schenkungspflichtteils iHv zuletzt 66.028 € bei sonstiger Exekution in die geschenkten Liegenschaften; soweit diese bereits verkauft wurden, bei sonstiger Exekution in ihr sonstiges Vermögen. Sie bringt im Wesentlichen vor, der Übergabsvertrag sei zumindest eine gemischte Schenkung. Der Wert des übernommenen ideellen Liegenschaftshälfteanteils der Erblasserin übersteige die übernommenen, lediglich mit der Hälfte zu berücksichtigenden Kreditverbindlichkeiten bei weitem. Selbst wenn die Parteien des Übergabsvertrags von Gleichwertigkeit der Leistung und Gegenleistung ausgegangen sein sollten, liege im Umfang der objektiven Wertdifferenz eine Schenkung iSd § 781 Abs 2 Z 6 ABGB vor.

[7] Die Beklagte bestreitet den Schenkungscharakter des Übergabsvertrags. Sie habe den Übergebern als Gegenleistung ein Wohnungsgebrauchsrecht eingeräumt und sämtliche Kreditverbindlichkeiten übernommen, die auch im Verhältnis zur solidarisch verpflichteten Erblasserin zur Gänze als Gegenleistung zu berücksichtigen seien.

[8] Das Erstgericht wies die Klage ab. Der Übergabsvertrag sei keine hinzu- und anrechenbare Schenkung. (…)

[9] Das Berufungsgericht gab einer Berufung der Klägerin nicht Folge und ließ die ordentliche Revision zur Frage zu, ob ein Übergabsvertrag, bei dem die Gegenleistung (rechnerisch) knapp unterhalb der Hälfte der Leistung liege, unter § 781 Abs 2 Z 6 ABGB zu subsumieren sei. (…)

[10] Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung (…).

[11] Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.

[12] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage iZm der Auslegung des § 781 Abs 2 Z 6 ABGB zulässig, aber nicht berechtigt.

[13] Die Klägerin argumentiert, die Generalklausel umfasse alle Rechtsgeschäfte, die zumindest teilweise unentgeltliche Merkmale aufwiesen. Mangels Schenkungswillens gelange man aufgrund der Wertdifferenz zwischen Leistung und Gegenleistung in diesem Umfang zwingend zur Anwendbarkeit des § 781 Abs 2 Z 6 ABGB. Maßgeblich sei allein, ob und inwieweit der Empfänger objektiv begünstigt sei. Auf eine krasse Wertdifferenz komme es ebenso wenig an wie darauf, ob der Verfügende den Empfänger begünstigen wolle (subjektive Seite). Andernfalls könnte die Bestimmung allein durch die Angabe der Parteien, keinen Schenkungswillen gehabt zu haben, umgangen werden. Berücksichtige man die objektive Wertdifferenz zwischen Leistung und Gegenleistung als Schenkung iSd §781 Abs 2 Z 6 ABGB, errechne sich ihr Schenkungspflichtteil mit 33.143,69 €.

Dazu hat der erkennende Fachsenat erwogen:

[14] 1. Nach § 781 Abs 1 ABGB – in der aufgrund des Ablebens der Erblasserin nach dem 31. 12. 2016 anzuwendenden Fassung des

ErbRÄG 2015 (§ 1503 Abs 7 Z 2 ABGB) – sind Schenkungen zu Lebzeiten des Erblassers oder auf dessen Todesfall, die ein Pflichtteilsberechtigter oder ein Dritter vom Erblasser erhalten hat, dem Nachlass hinzuzurechnen und auf einen allfälligen Pflichtteil anzurechnen. Ausgangspunkt des Regelungskonzepts des § 781 Abs 1 ABGB ist die Schenkung gem §§ 938 ff ABGB (2 Ob 110/20w, Rz 31).

[15] 2. Die Schenkung ist ein Vertrag, durch den sich jemand verpflichtet, einem anderen eine Sache unentgeltlich zu überlassen (§ 938 ABGB).

[16] 2.1. Unentgeltlichkeit bedeutet, dass nach dem Parteiwillen kein Entgelt erbracht wird. Sie ist (objektiv) durch das Fehlen einer konditional, kausal oder synallagmatisch verbundenen Gegenleistung charakterisiert, die in einer Handlung oder Unterlassung bestehen kann und keinen Vermögenswert haben muss (RIS-Justiz RS0017193 [T9]; Bollenberger/P. Bydlinski in KBB, ABGB6, § 938 Rz 3). Daneben ist für die Schenkung auch Schenkungsabsicht (subjektive Komponente) begriffswesentlich. Sie besteht in der Absicht einer unentgeltlichen, das heißt auf keine Gegenleistung bezogenen und freiwilligen (freigiebigen) Leistung (RIS-Justiz RS0018833). Erforderlich ist daher als subjektives Element der Wille des Verfügenden zur Freigiebigkeit (RIS-Justiz RS0033054 [T6]).

[17] 2.2. Dies gilt auch für gemischte Schenkungen (RIS-Justiz RS0019356). In welchem Ausmaß eine Liegenschaftsübergabe als entgeltlich oder als unentgeltlich zu werten ist, ist daher nicht nur nach den Wertverhältnissen von Leistung und Gegenleistung im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses (vgl dazu sowie zur wertmindernden Berücksichtigung von zu übernehmenden Belastungen der betreffenden Liegenschaft [einschließlich der zugunsten der Übergeber vorbehaltenen Dienstbarkeiten] und zum Begriff der Gegenleistung RIS-Justiz RS0012978; auch 2 Ob 96/16f, Pkt 2.5.; 2 Ob 8/17s, Pkt 3.6 [keine wertmindernde Berücksichtigung von zum Zeitpunkt des Erbanfalls jedenfalls wegfallenden Belastungen]) zu beurteilen. Die Parteien müssen die teilweise Unentgeltlichkeit auch gewollt haben. Eine gemischte Schenkung kann nämlich keinesfalls schon deshalb angenommen werden, weil die Leistung der einen Seite objektiv wertvoller ist als die der anderen, wenn das Entgelt für eine Leistung bewusst niedrig, unter ihrem objektiven Wert angesetzt wurde und sich ein Vertragspartner mit einer unter dem Wert seiner Leistung liegenden Gegenleistung begnügte oder sich die Partner des objektiven Missverhältnisses der ausgetauschten Werte bewusst waren (RIS-Justiz RS0019293; RS0012959 [T6, T7]).

[18] 2.3. Da die Vorinstanzen in Bezug auf die gesamten übergebenen Liegenschaftshälfteanteile der Erblasserin eine übereinstimmende Schenkungsabsicht schon auf Tatsachenebene – und daher insoweit nicht revisibel (vgl RIS-Justiz RS0019229) – ausdrücklich verneint haben, liegt unabhängig vom Wert der beiderseitigen Leistungen keine – auch nur gemischte – Schenkung iSd § 781 Abs 1 ABGB vor.

[19] 3. Eine Hinzu- und Anrechnung im Ausmaß der objektiven Wertdifferenz kann in der vorliegenden Konstellation auch nicht (subsidiär) auf § 781 Abs 2 Z 6 ABGB gestützt werden.

[20] 3.1. Nach dieser Bestimmung stellt auch jede andere Leistung, die nach ihrem wirtschaftlichen Gehalt einem unentgeltlichen Rechtsgeschäft unter Lebenden gleichkommt, eine der Hinzu- und Anrechnung unterliegende Schenkung dar.

[21] 3.2. Die Intention des Gesetzgebers (vgl ErlRV 688 BlgNR 25. GP 33) des § 781 Abs 2 Z 6 ABGB bestand darin, im Rahmen der Schenkungsanrechnung auch unentgeltliche Vermögensverschiebungen zu erfassen, die nicht als „Schenkung im technischen Sinn“ betrachtet werden und – bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise – den Zuwendungsempfänger einseitig begünstigen, wie zB Nachfolgeregelungen in Gesellschaftsverträgen, Zuwendungen an ausländische Stiftungen oder vergleichbare Vermögensmassen.

ERBRECHT Juni 2023 166

[22] 3.3. Daran anknüpfend wurde in der Rsp die Anwendung des § 781 Abs 1 Z 6 ABGB bei folgenden in Frage stehenden „Zuwendungen“ in Betracht gezogen: Errichtung und Aufhebung einer allgemeinen bereits unter Lebenden wirksamen Gütergemeinschaft (2 Ob 110/20w), Schenkung an einen allfälligen Treuhänder des anrechnungspflichtigen Pflichtteilsberechtigten (2 Ob 194/21z), unentgeltliche Ausschlagung einer Erbschaft (2 Ob 52/18p) oder die Tilgung von fremden Schulden (2 Ob 44/20i). Die zuletzt zitierte Entscheidung ging davon aus, dass eine solche Zuwendung unter § 781 Abs 2 Z 6 ABGB fällt, „wenn man nicht ohnehin eine Schenkung ieS annimmt“.

[23] 3.4. Im Schrifttum werden – zum Teil unter Bezugnahme auf die Rsp vor dem ErbRÄG 2015 – weitere Beispiele angeführt: Vertraglich begründetes Besitznachfolgerecht (Likar-Peer in Ferrari/ Likar-Peer, Erbrecht2, Rz 11.12; Umlauft, Die Hinzu- und Anrechnung von Schenkungen im Erb- und Pflichtteilsrecht2 [2018] 277), Begünstigung aus einer Lebensversicherung (Musger in KBB, ABGB6, § 781 Rz 4; Nemeth/Niedermayr in Schwimann/Kodek, ABGB5, § 781 Rz 19; Umlauft, Hinzu- und Anrechnung, 274 ff; Welser, ErbrechtsKommentar, § 781 ABGB Rz 16; vgl 4 Ob 136/97x), unentgeltliche Erbsentschlagung (Likar-Peer in Ferrari/Likar-Peer, Erbrecht2, Rz11.12; vgl 2 Ob 354/98t), Erträge aus einer Gütergemeinschaft auf den Todesfall (Likar-Peer in Ferrari/Likar-Peer, Erbrecht2, Rz11.12), bewusstes Verjährenlassen einer Forderung (Vogl, Verjährenlassen einer Forderung als „Schenkung“ iSd §§ 781 ff ABGB idF ErbRÄG 2015, EF-Z 2017, 206; Bittner/Hawel in Kletečka/ Schauer, ABGB-ON1.05, § 781 Rz 3; Umlauft in Fenyves/Kerschner/ Vonkilch, Klang, ABGB3, § 781 Rz 30), Einräumung oder Erhöhung einer (Kommandit-)Beteiligung (Bittner/Hawel in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.05, § 781 Rz 3), unentgeltliche Übertragung/Anwachsung eines Geschäftsanteils (Umlauft in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang, ABGB3, § 781 Rz 28) oder eine Haftungsübernahme (Nemeth/Niedermayr in Schwimann/Kodek, ABGB5, § 781 Rz 5; vgl 6 Ob 805/82).

[24] 3.5 Der wirtschaftlich geprägte Schenkungsbegriff des § 781 Abs 2 Z 6 ABGB soll damit auch Gestaltungen unter Lebenden umfassen, „die nicht im Kleid einer Schenkung daherkommen, in ihren wirtschaftlichen Folgen einer Schenkung jedoch um nichts nachstehen.“ (zutreffend Vogl, EF-Z 2017, 206), um Umgehungen zu erfassen (s zB 2 Ob 194/21z [„wohl unmittelbar der Tatbestand des § 781 Abs 2 Z 6 ABGB erfüllt wäre, sodass die Figur des Umgehungsgeschäfts nicht ‚bemüht‘ werden müsste“]; vgl auch 2 Ob 354/98t zur alten Rechtslage [„Die Vorgangsweise wurde allein gewählt, um den Klägern die ihnen zustehenden Ansprüche auf den Schenkungspflichtteil zu nehmen.“]).

[25] Der Gesetzgeber wollte mit dem Auffangtatbestand (vgl Likar-Peer in Ferrari/Likar-Peer, Erbrecht2, Rz 11.12; Umlauft in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang, ABGB3, § 781 Rz 27) daher den Kreis der hinzu- und anrechnungspflichtigen Leistungen ausdehnen, um Umgehungen des Erblassers zu verhindern. Die Regel umfasst neben Schenkungen an Dritte, von denen der Anrechnungspflichtige nur mittelbar profitiert, vor allem solche Vermögensverschiebungen, die die objektiven Voraussetzungen einer Schenkung „im technischen Sinn“ (= unentgeltliche Überlassung einer Sache, § 938 ABGB) nicht erfüllen, aber nach ihrem wirtschaftlichen Gehalt einer Schenkung gleichkommen.

[26] Der Auffangtatbestand des § 781 Abs 2 Z 6 ABGB dient aber entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts nicht dazu, Zuwendungen zu erfassen, die – wie hier – bereits die objektiven Voraussetzungen einer (gemischten) Schenkung nach § 938 ABGB erfüllen und daher unter § 781 Abs 1 ABGB fallen können, bei denen die Anrechnung aber nur am fehlenden Schenkungswillen scheitert (vgl auch 2 Ob 205/22v).

[27] 3.6 Sollte sich aus der Entscheidung 2 Ob 110/20w, wo iZm der Errichtung und Aufhebung einer Gütergemeinschaft § 781 Abs 1 und 2 Z 6 ABGB geprüft und ausgeführt wurde, der Auffangtatbestand könne auch solche Rechtsgeschäfte umfassen, bei denen zwar eine Schenkungsabsicht nicht feststehe, aber ein krasses Missverhältnis zwischen Leistung und (allfälliger) Gegenleistung bestehe, Gegenteiliges ergeben, wird dies nicht aufrechterhalten.

[28] 4. Da für den hier zu prüfenden Übergabsvertrag aufgrund des Vorliegens der objektiven Voraussetzungen einer gemischten Schenkung nach § 938 ABGB schon eine Hinzu- und Anrechnung nach § 781 Abs 1 ABGB eröffnet ist, die aber (insgesamt) an der fehlenden Schenkungsabsicht scheitert, kommt auch der Auffangtatbestand des § 781 Abs 2 Z 6 ABGB nicht zur Anwendung. Der Revision war daher im Ergebnis nicht Folge zu geben. (…)

§ 183 AußStrG; § 14 WEG 2002 iFamZ 2023/119

Keine (Nachtrags-)Abhandlung über halben

Mindestanteil

OGH 13. 12. 2022, 2 Ob 202/22b

Der als Vindikationslegat konstruierte Erwerb kraft Gesetzes durch Anwachsung bewirkt, dass dieser Anteil eben wegen dieses unmittelbaren Eigentumsübergangs nicht in die Verlassenschaft fällt. Für die Ausstellung der zur Einverleibung des Eigentumsrechts erforderlichen Amtsbestätigung iSd § 182 Abs 3 AußStrG ist gem § 14 Abs 7 WEG 2002 das Grundbuchsgericht zuständig.

[1] Der Antragsteller war gemeinsam mit seinem 2017 in der Schweiz verstorbenen und dort aufhältig gewesenen Bruder Wohnungseigentumspartner einer Wohnung in L.

[2] Nachdem die Kinder des Erblassers die Erbschaft ausgeschlagen hatten, eröffnete das in der Schweiz zuständige Kreisgericht über die Verlassenschaft den Konkurs. Der mit Wohnungseigentum verbundene Mindestanteil des Erblassers war nicht Gegenstand des Konkursverfahrens. Der Antragsteller einigte sich bereits mit dem zuständigen Konkursamt auf einen Übernahmspreis von 15.000 € für dessen Mindestanteil.

[3] Die Vorinstanzen wiesen einen Antrag des Antragstellers, über den mit Wohnungseigentum verbundenen Mindestanteil des Erblassers in Österreich eine Verlassenschafts(-nachtrags-)abhandlung iSd Art 10 Abs 1 lit a und 2 EUErbVO durchzuführen, „ab“, weil er ohnehin bereits (außerbücherlich) Eigentum am Mindestanteil des Erblassers erworben habe und die Verlassenschaft bereits in der Schweiz abgehandelt worden sei. Für die Ausstellung der zur Einverleibung seines Eigentumsrechts noch erforderlichen Amtsbestätigung nach § 182 Abs 3 AußStrG sei daher gem § 14 Abs 7 WEG das Grundbuchsgericht zuständig. Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zur Auslegung des Rechtsbegriffs „abgehandelt“ in § 14 Abs 7 WEG zu.

[4] Der dagegen erhobene Revisionsrekurs des Antragstellers, mit dem er eine Abänderung dahingehend anstrebt, dem Erstgericht „die verlassenschaftsgerichtliche Abhandlung des Vermögens“ des Erblassers aufzutragen, ist entgegen dem – den OGH nicht bindenden (§ 71 Abs 1 AußStrG) – Ausspruch des Rekursgerichts mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage der Qualität des § 62 Abs 1 AußStrG nicht zulässig.

[5] 1. Soweit der Revisionsrekurs die Rechtsansicht des Rekursgerichts (erkennbar) anzweifelt, dass bei Tod eines Eigentümerpartners der Anteil des Erblassers am Mindestanteil von Gesetzes wegen unmittelbar in das Eigentum des überlebenden Partners übergeht, ist er auf die stRsp zu verweisen, wonach der – auch im vorliegenden Fall zur Anwendung kommende (vgl 2 Ob 159/17x, Pkt 3. mwN) – als Vindikationslegat konstruierte Erwerb kraft Gesetzes durch Anwachsung nach § 14 Abs 1 WEG einen unmittelbaren Eigentumsübergang bewirkt und der mit Wohnungseigentum verbundene Mindestanteil auch nicht in die Verlassenschaftsmasse fällt (RIS-Justiz RS0082946). (…)

ERBRECHT Juni 2023 167

§§ 677 f, 685, 765, 1487a ABGB

Verjährung des Pflegevermächtnisses

OGH 13. 12. 2022, 2 Ob 223/22s

iFamZ 2023/120

Das Pflegevermächtnis ist ein Geldvermächtnis auf Abgeltung von Pflegeleistungen, das erst nach Ablauf eines Jahres nach dem Tod des Erblassers geltend gemacht werden kann. Diese „reine“ Stundung, die die Fälligkeit unberührt lässt, aber ihre Geltendmachung hinausschiebt, hemmt den Lauf der Verjährungsfrist. Die Verjährungsfrist für den Anspruch auf das Pflegevermächtnis beginnt frühestens ein Jahr nach dem Tod des Erblassers zu laufen. Vor dem vierten Todestag des Erblassers kann Verjährung daher nicht eintreten.

§ 568 ABGB aF; § 575 ABGB

Keine Heilung des formungültigen Testaments eines Betroffenen

OGH 2. 2. 2023, 3 Ob 220/22g

iFamZ 2023/121

Die Aufhebung des § 568 ABGB aF vor dem Ableben der Betroffenen führt nicht zur Heilung des Formmangels des vor dem Inkrafttreten des ErbRÄG 2015 errichteten Testaments. Gem § 575 ABGB (nF) ist die Form letztwilliger Verfügungen nämlich anhand jener Rechtslage zu beurteilen, die zum Zeitpunkt ihrer Errichtung galt. Eine ursprünglich wegen eines Formmangels ungültige letztwillige Verfügung kann also nicht durch eine nachträgliche Änderung der Rechtslage geheilt werden.

[1] Mit Beschluss des Bezirksgerichts Urfahr Umgebung vom 5. 11. 2012 wurde der Zweitkläger für seine 1935 geborene Halbschwester zum Sachwalter – beschränkt auf die Verwaltung von Einkünften, Vermögen und Verbindlichkeiten – bestellt. Im Bestellungsbeschluss wurde ausgesprochen, dass die Betroffene ihren letzten Willen nur mündlich vor Gericht oder vor einem Notar erklären kann.

[2] Im Jahr 2013 sagte die Betroffene dem Zweitkläger, dass sie ihn und seinen Bruder (ihren Halbbruder), den Erstkläger, je zur Hälfte als Erben einsetzen wolle. Der Zweitkläger kontaktierte daraufhin im Wissen um die Einschränkung auf bestimmte Testierformen zunächst das örtlich zuständige Bezirksgericht, wo ihm geraten wurde, dass die Betroffene sich an einen Notar wenden solle.

[3] Der Zweitkläger, der damals ein gutes Verhältnis zum beklagten Notar hatte, rief daraufhin diesen an und schilderte ihm, dass für die Betroffene, die nur vor Gericht oder einem Notar testieren dürfe, ein Testament zu errichten sei. In weiterer Folge vereinbarte er für die Betroffene einen Termin für den 20. 6. 2013 im Notariat des Beklagten.

[4] An diesem Tag suchte die Betroffene in Begleitung des Zweitklägers das Notariat des Beklagten auf. Den Termin nahm entgegen der Erwartung des Zweitklägers nicht der Beklagte persönlich wahr, sondern dessen damaliger Substitut. Der Zweitkläger wies auch den Notarsubstituten darauf hin, dass für die Betroffene eine Sachwalterschaft bestehe und sie nur vor Gericht oder einem Notar testieren dürfe. Zum Nachweis für die Sachwalterschaft wies er seine Bestellungsurkunde vor, aus der sich diese Einschränkung auf bestimmte Testierformen allerdings nicht ergab.

[5] Der Notarsubstitut ersuchte den Zweitkläger, vor dem Büro zu warten, und besprach mit der Betroffenen die Testamentserrichtung. Das im Anschluss nach seinem Diktat geschriebene Testament las er der Betroffenen vor und ging es Punkt für Punkt mit ihr durch.

[6] In diesem Testament setzte die Betroffene „bei vollkommen gesunden Geisteskräften, frei von Irrtum, Betrug oder Zwang“ ihre beiden Halbbrüder, die Kläger, nach Stämmen zu Erben ein und vermachte ihrer Cousine einen Betrag von 10.000 €.

[7] Die Betroffene unterfertigte das Testament an diesem Tag vor drei Zeugen (dem Notarsubstituten und zwei Mitarbeiterinnen des Notariats) und erklärte, dass dies ihr letzter Wille sei. Die letztwillige Verfügung wurde auch von den drei Zeugen unterschrieben. Ein auch nur allgemein gehaltener Vermerk über das Ergebnis der Erforschung durch den Notarsubstituten, ob die Erklärung des letzten Willens frei und mit Überlegung geschah, wurde nicht vorgenommen.

[8] Die Betroffene litt bei Errichtung des Testaments an einer leichtgradigen Demenz vom Alzheimertyp. Diese Erkrankung führte zum Abbau von kognitiven Funktionen und zur Einschränkung der Alltagskom-

petenz. Dies zeigte sich bei der Betroffenen insbesondere im Umgang mit Geldangelegenheiten. Das Erfassen von einfachen Willensbedingungen war ihr jedoch möglich. So war sie damals in der Lage einzuschätzen, ob eine Person ihr gesamtes Vermögen erhalten sollte. Sie war weiters in der Lage, einen Sachverhalt unabhängig von der Höhe des Geldwerts zu erfassen, wenn sie etwa mehreren Personen die gleichen Geldwerte überlassen wollte. Ihr war damals bewusst, dass sie ein Testament errichtete und sie konnte auch die erforderlichen Handlungen setzen. Sie verstand den Inhalt des von ihr errichteten Testaments; dieser entsprach dem damals von ihr frei gebildeten Willen. Sie verstand weiters, dass sie mit diesem Testament die Verteilung ihres Vermögens nach ihrem Tod festlegte. Ihre geistigen Fähigkeiten entsprachen damals jedenfalls jenen einer 14-jährigen Person.

[9] Nach dem Tod der Betroffenen am 4. 10. 2017 gab die Tochter des Zweitklägers aufgrund eines im Jahr 2010 in einem Notariat entsprechend den Formvorschriften errichteten Testaments der Betroffenen eine bedingte Erbantrittserklärung zum gesamten Nachlass ab. Sie vertrat die Auffassung, dass die Betroffene am 20. 6. 2013 aufgrund ihres geistigen Gesundheitszustands nicht mehr testierfähig gewesen sei. Die Kläger gaben aufgrund des Testaments vom 20. 6. 2013 jeweils eine bedingte Erbantrittserklärung zur Hälfte des Nachlasses ab. Der Gerichtskommissär legte den Akt daraufhin dem Verlassenschaftsgericht zur Entscheidung über das bessere Erbrecht vor.

[10] In diesem Verfahren vor dem Verlassenschaftsgericht brachte die Tochter des Zweitklägers vor, dass die Betroffene das Testament nur mündlich vor Gericht oder einem Notar errichten habe dürfen. Der damalige Rechtsvertreter der Kläger (der dritte Nebenintervenient) ersuchte deshalb den Beklagten um Bekanntgabe, ob das in seiner Kanzlei errichtete Testament den Formvorschriften entspreche. In einem Telefonat am 29. 3. 2018 erklärte der Beklagte dem Zweitkläger, dass bei der Errichtung des Testaments ein Fehler unterlaufen sei, weil kein Beirückungsprotokoll erstellt worden sei.

[11] Am 12. 4. 2018 fand im Notariat des Beklagten eine Besprechung zwischen diesem und den Klägern statt. Der Beklagte erklärte damals neuerlich, dass bei der Errichtung des Testaments ein Fehler unterlaufen sei. Die Kläger würden aber keinen Schaden erleiden, weil er ausreichend versichert sei. Die Kläger sprachen mit dem Beklagten auch über das weitere Verlassenschaftsverfahren. In diesem Zusammenhang wies der Beklagte darauf hin, dass ein Anerkenntnis des Erbrechts der Tochter des Zweitklägers alternativlos sei. Diese Auskunft wiederholte der Beklagte bei einer weiteren Besprechung mit den Klägern am 9. 5. 2018.

[12] Der dritte Nebenintervenient brachte daraufhin am 14. 5. 2018 beim Verlassenschaftsgericht einen Schriftsatz ein, mit dem die Kläger die Erbantrittserklärung der Tochter des Zweitklägers anerkannten und ihre eigenen Erbantrittserklärungen nicht weiter aufrecht hielten.

[13] Mit Beschluss vom 16. 5. 2018 stellte das Verlassenschaftsgericht gem § 161 Abs 1 AußStrG das Erbrecht der Tochter des Zweitklägers fest. Dieser Beschluss wurde am 18. 5. 2018 abgefertigt.

[14] Da die Kläger Ansprüche gegen den Beklagten geltend machen wollten, suchten sie am 22. 5. 2018 die Kanzlei des nunmehrigen Klagevertreters auf und schilderten diesem den Sachverhalt. Als die Kläger kurz nach diesem Gespräch den Gerichtskommissär kontaktierten, wies sie dieser auf die Übergangsbestimmung des § 1503 ABGB hin. Dies teilten die Kläger dem Klagevertreter mit. Daraufhin nahm der Klagevertreter Kontakt zum dritten Nebenintervenienten auf. Letztlich wurde bei einer Besprechung der beiden Rechtsanwälte und der Kläger beschlossen, dass der dritte Nebenintervenient das Anerkenntnis der Erbantrittserklärung der Tochter des Zweitklägers schriftlich zurückziehe. Dies tat er mit Schriftsatz vom 25. 5. 2018.

[15] Dem von den Klägern erhobenen Rekurs gegen den Beschluss des Verlassenschaftsgerichts vom 16. 5. 2018 gab das LG Linz als Rekursgericht nicht Folge. Der OGH gab dem dagegen erhobenen Revisionsrekurs der Kläger zu 2 Ob 220/18v nicht Folge.

[16] Die Aktiva der Verlassenschaft nach der Betroffenen betrugen insgesamt 1.269.562,14 €; nach Abzug der Verlassenschaftspassiva (Begräbnisund andere Kosten) sowie der Kosten des Verlassenschaftsverfahrens errechnet sich ein Saldo von 1.222.693,17 €. Im Erbrechtsstreit entstanden den Klägern insgesamt Kosten von 7.100,63 €.

[17] Die Kläger begehrten vom Beklagten aus dem Titel des Schadenersatzes wegen des fehlerhaft erstellten Testaments und des ihnen deshalb entgangenen Erbes jeweils den Betrag von 633.527,50 € sA.

[18] Der Beklagte wendete, soweit in dritter Instanz noch von Interesse, insb ein, ein allfälliger Formfehler des Testaments durch eine fehlende Beirückung sei durch die Übergangsbestimmungen zum ErbRÄG 2015 saniert worden. Der behauptete Schaden der Kläger in Form des Verlusts ihres testamentarischen Erbrechts sei nicht in einem Fehler des Beklagten begründet, sondern darin, dass die anwaltlich vertretenen Kläger das widerstreitende Erbrecht der Tochter des Zweitklägers anerkannt und dieses An-

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ERBRECHT

erkenntnis verspätet (erst nach der Entscheidung des Verlassenschaftsgerichts) widerrufen hätten. Überdies sei die Betroffene am 20. 6. 2013 gar nicht mehr testierfähig gewesen. § 568 ABGB aF sei außerdem wegen Verstoßes gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verfassungswidrig gewesen, weshalb diese Bestimmung insb im Erbrechsstreit als verfassungswidrig und der UNBehindertenrechtskonvention widersprechend zu bekämpfen gewesen wäre.

[19] Das Erstgericht sprach den Klägern jeweils einen Betrag von 614.896,90 € sA zu; das Mehrbegehren wies es unbekämpft ab. (…)

[20] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten nicht Folge. (…)

[21] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil höchstgerichtliche Rsp dazu fehle, ob ein zum Zeitpunkt seiner Errichtung wegen Verstoßes gegen § 568 ABGB aF formungültiges Testament durch die Übergangsbestimmung des § 1503 Abs 7 Z 4 und 5 ABGB idF ErbRÄG 2015 im Nachhinein geheilt werde und somit Gültigkeit erlangen könne.

[22] In seiner Revision macht der Beklagte zusammengefasst geltend, durch das ErbRÄG 2015 sei nachträglich das Erfordernis der Beirückung bzw des notariellen Protokolls weggefallen, weshalb das Testament im Zeitpunkt des Erbfalls wirksam gewesen sei. Im Übrigen sei § 568 ABGB aF verfassungswidrig gewesen, weshalb das Testament von Anfang an formgültig gewesen sei. Die Kläger hätten daher im Verlassenschaftsverfahren aufgrund der sie treffenden Schadensminderungsobliegenheit einen Antrag nach Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG stellen müssen; hätten sie das getan, wäre das Testament für rechtsgültig erklärt worden. Außerdem sei die Betroffene bei Abfassung des Testaments nicht mehr testierfähig gewesen, zumal eine partielle Testier(-un-)fähigkeit dem österreichischen Recht fremd sei; für die Unwirksamkeit des Testaments reiche es daher aus, dass die Betroffene nur „einfache Willensbildungen“ verstehen habe können. (…)

[24] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, aber nicht berechtigt.

[25] 1.1. Ob Testierfähigkeit vorlag, ist eine Frage der rechtlichen Beurteilung, die aufgrund der Feststellungen über den Geisteszustand des Erblassers und den Grad der Beeinträchtigung der Willensbildung zu beantworten ist (vgl RIS-Justiz RS0012408). An die Testierfähigkeit legt die Rsp weniger strenge Maßstäbe an als an die Geschäftsfähigkeit. Richtschnur für die Bejahung der Testierfähigkeit sind die kognitiven Fähigkeiten eines 14-Jährigen. Nicht jede geistige Erkrankung oder bloße Abnahme der geistigen Kräfte schließt die Testierfähigkeit aus. Es darf nur nicht die Freiheit der Willensbildung aufgehoben sein, insb etwa infolge von Wahnvorstellungen. Jedenfalls muss immer das Bewusstsein vorliegen, ein Testament zu errichten (RIS-Justiz RS0012402 [T4]; vgl auch RIS-Justiz RS0012427). Die Testierfähigkeit fehlt nur dann, wenn der Erblasser nicht einmal das Bewusstsein hatte, eine letztwillige Anordnung zu treffen und ihm das Verständnis ihres Inhalts zur Gänze abging. Die Beeinträchtigung des Bewusstseins des Erblassers muss so weit gehen, dass die normale Freiheit der Willensbildung aufgehoben ist (RIS-Justiz RS0012402).

[26] 1.2. Ausgehend von den getroffenen Feststellungen haben die Vorinstanzen die Testierfähigkeit der Betroffenen zutreffend bejaht. Von einer bloß „partiellen Testierfähigkeit“ (vgl dazu 2 Ob 609/87) ist das Berufungsgericht ohnehin nicht ausgegangen.

[27] 2. Die Vorinstanzen haben auch zutreffend eine Heilung des ursprünglich wegen Verstoßes gegen § 568 ABGB aF formungültigen Testaments verneint:

[28] 2.1. Gem § 568 ABGB idF FamRÄG 2004 (= BGBl I 2004/58) konnte eine Person, für die ein Sachwalter nach § 273 ABGB bestellt ist, sofern dies gerichtlich angeordnet war, nur mündlich vor Gericht oder Notar testieren; dies galt nicht im Fall des § 597 ABGB. Das Gericht musste sich durch eine angemessene Erforschung zu überzeugen suchen, dass die Erklärung des letzten Willens frei und mit Überlegung geschehe. Die Erklärung musste in ein Protokoll aufgenommen, und dasjenige, was sich aus der Erforschung ergeben hat, beigerückt werden. Im Fall eines notariellen mündlichen Testaments traf die Nachforschungspflicht den Notar (6 Ob 282/07z mwN). Dieser Prüfvorgang war dem Protokoll über die Erklärung des letzten Willens in einem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit der Testamentserrichtung beizurücken (vgl 6 Ob 282/07z = RIS-Jus-

tiz RS0123218). Es ist hA, dass diese ins Protokoll aufzunehmende Erklärung über die Prüfung der Testierfähigkeit und deren Ergebnis eine Formvorschrift war, deren Verletzung die Erklärung des letzten Willens ungültig machte (RIS-Justiz RS0021949).

[29] 2.2. Im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention und ihres autonomiefreundlichen Ansatzes wurde § 568 ABGB aF mit dem ErbRÄG 2015 ersatzlos eliminiert (Apathy/Neumayr in KBB, ABGB6, § 567 Rz 4 mwN). Nach der Übergangsbestimmung des § 1503 Abs 7 Z 4 ABGB verlieren Anordnungen der Gerichte nach § 568 ABGB aF, wonach eine Person unter Sachwalterschaft nur mündlich vor Gericht oder Notar testieren konnte, mit 1. 1. 2017 ihre Gültigkeit; die letztwilligen Verfügungen, die auf Grundlage der früher in Geltung gestandenen Bestimmungen errichtet wurden, blieben aufrecht.

[30] 2.3. Die Aufhebung des § 568 ABGB aF vor dem Ableben der Betroffenen führte allerdings entgegen dem Standpunkt des Beklagten nicht zu einer Heilung des Formmangels des vor dem Inkrafttreten des ErbRÄG 2015 errichteten Testaments. Gem § 575 ABGB ist die Form letztwilliger Verfügungen nämlich anhand jener Rechtslage zu beurteilen, die zum Zeitpunkt ihrer Errichtung galt. Eine ursprünglich wegen eines Formmangels ungültige letztwillige Verfügung kann also nicht durch eine nachträgliche Änderung der Rechtslage geheilt werden (vgl Fischer-Czermak/Pierer in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang, ABGB3, §§ 566–568 aF, §§ 566–568 Rz 12; ebenso A. Tschugguel, Neues zur Form letztwilliger Verfügungen, EF-Z 2016/83, 177). Der vom Beklagten ins Treffen geführten gegenteiligen Ansicht von Vonkilch/Kehrer (in Fenyves/ Kerschner/Vonkilch, Klang, ABGB3, § 5 Rz 12 mwN), wonach zwar hinsichtlich der grundsätzlichen Gültigkeit einer letztwilligen Verfügung jedenfalls auf den Errichtungszeitpunkt abzustellen sei, in favor testamenti allerdings eine Heilung einer formungültigen letztwilligen Verfügung anzunehmen sein werde, falls diese zumindest späteren Formerfordernissen entspreche und dem Erblasserwillen dadurch zum Durchbruch verholfen werden könne, kann angesichts des klaren Wortlauts des § 575 ABGB nicht gefolgt werden.

[31] 3. Auf die vom Beklagten behauptete Verfassungswidrigkeit des § 568 ABGB aF kommt es hier nicht an. Der Beklagte erklärte den Klägern, dass seinem Substituten bei der Errichtung des Testaments ein Fehler unterlaufen sei, weshalb ein Anerkenntnis des Erbrechts der Tochter des Zweitklägers alternativlos sei. Genau dieser Rat des Beklagten stand nämlich seiner Forderung, die Kläger hätten im Verlassenschaftsverfahren einen Normprüfungsantrag nach Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG stellen müssen, von vornherein entgegen: Um einen solchen Antrag überhaupt stellen zu können, hätten die Kläger nämlich entgegen dem ausdrücklichen Rat des Beklagten („alternativlos“) das Erbrecht der Tochter des Zweitklägers gerade nicht anerkennen dürfen, sondern ihre Erbantrittserklärungen unter Behauptung der Verfassungswidrigkeit der Bestimmung des § 568 ABGB aF aufrecht halten müssen.

[32] 4. Die Revision muss daher erfolglos bleiben. (…)

§§ 765, 789, 1487a ABGB iFamZ 2023/122

Verjährung des Anspruchs gegen den Geschenknehmer nach § 789 ABGB

OGH 17. 1. 2023, 2 Ob 214/22t

Die kurze Verjährungsfrist des § 1487a ABGB beginnt für Pflichtteilsansprüche frühestens ein Jahr nach dem Tod des Erblassers zu laufen. Dies gilt auch für die subsidiäre Haftung des Geschenknehmers nach § 789 ABGB. Es würde einen erheblichen Wertungswiderspruch darstellen, wenn die Verjährung eines subsidiären Anspruchs des Pflichtteilsgläubigers gegen den haftenden Geschenknehmer früher beginnen würde, als jene des Hauptanspruchs. § 765 Abs 2 ABGB weist damit eine planwidrige Lücke

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auf, die durch analoge Anwendung dieser Bestimmung auf den Anspruch nach § 789 ABGB zu schließen ist.

§§ 778, 804, 812 ABGB; §§ 2, 176 AußStrG iFamZ 2023/123 Keine Rekurslegitimation von Pflichtteilsberechtigten bei Bestellung eines Posteritätskurators

OGH 17. 1. 2023, 2 Ob 238/22x

Pflichtteilsberechtigte sind in der Abhandlung auf die Geltendmachung der Rechte nach §§ 778, 804, 812 ABGB beschränkt. Von der Verwaltung des Verlassenschaftsvermögens, worunter auch die Bestellung von Kuratoren fällt, sind Pflichtteilsberechtigte ausgeschlossen.

Der Umstand, dass die Kosten eines Posteritätskurators (Substitutionskurators) die für den Pflichtteilsanspruch relevante reine

Verlassenschaft schmälern, vermag eine Rekurslegitimation des Pflichtteilsberechtigen gegen den Kuratorbestellungsbeschluss nicht zu rechtfertigen.

§§ 677 f, 1035 ff, 1435 ABGB iFamZ 2023/124

Kostenersatz für Pflegeleistungen

OGH 17. 1. 2023, 2 Ob 217/22h

Nimmt eine Person bei einem Angehörigen mit dessen Einverständnis Betreuungs- und Pflegeleistungen vor, finden die §§ 1035 ff ABGB mangels Eigenmacht keine Anwendung (Ablehnung von 8 Ob 37/16y). Auch bei Pflegeleistungen setzt der Anspruch nach § 1435 ABGB analog grundsätzlich nur die Erkennbarkeit der Erwartung einer Gegenleistung voraus.

Art 9, 15 VO Brüssel IIb

iFamZ 2023/125

Beginn der Dreimonatsfrist mit Umzug des Kindes; Zuständigkeitstransfer nach Umzug

EuGH 27. 4. 2023, CM, C-372/22

In der Rechtssache C-372/22 hat der EuGH über ein Vorabentscheidungsersuchen des Tribunald’arrondissement de Luxembourg (Bezirksgericht Luxemburg, Luxemburg) am 27. 4. 2023 im Verfahren CM/DN für Recht erkannt:

1.Art 9 Abs 1 VO Brüssel IIa ist dahin auszulegen, dass für den Beginn der Dauer von drei Monaten, während der die Gerichte des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes abweichend von Art 8 Abs 1 VO Brüssel IIa für die Entscheidung über einen Antrag auf Änderung einer endgültigen Entscheidung über das Umgangsrecht zuständig bleiben, auf den Tag nach dem tatsächlichen Umzug des Kindes in den Mitgliedstaat seines neuen gewöhnlichen Aufenthalts abzustellen ist.

2.Die VO Brüssel IIa ist dahin auszulegen, dass das Gericht des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes, das nach Art 9 dieser VO für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, von der in Art 15 VO Brüssel IIa vorgesehenen Verweisungsbefugnis zugunsten des Gerichts des Mitgliedstaats des neuen gewöhnlichen Aufenthalts dieses Kindes Gebrauch machen kann, sofern die in diesem Art 15 geregelten Voraussetzungen erfüllt sind.

Anmerkung

Angefragt wurde, ob auf den Tag nach dem tatsächlichen Umzug des Kindes oder auf den Tag nach der gerichtlichen Entscheidung, mit der der Zeitpunkt der Änderung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes festgelegt wurde, abzustellen sei. Aus dem klaren Wortlaut des Art 9 Abs 1 VO Brüssel IIa ergibt sich, dass der Unionsgesetzgeber die Zuständigkeit der Gerichte des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes auf der Grundlage dieses Artikels auf eine Dauer von drei Monaten nach dem körperlichen Verbringen des betreffenden Kindes von einem Mitgliedstaat in einen anderen, um dort den neuen gewöhnlichen Aufenthalt dieses Kindes zu begründen, beschränken wollte. Keine Bestimmung der VO Brüssel IIa lässt die Annahme zu, dass dieser Zeitraum von drei Monaten mit einem Ereignis beginnen könnte, das vor dem tatsächlichen Umzug des betreffenden Kindes liegt, wie etwa der gerichtlichen Entscheidung, mit der – gegebenenfalls mit auf-

geschobener Wirkung – der Zeitpunkt der Änderung des gewöhnlichen Aufenthalts dieses Kindes festgelegt wurde.

Ein nationales Gericht könne demnach dem umgangsberechtigten Elternteil nicht die gegebenenfalls eingetretene „Rechtskraft“ einer Entscheidung entgegenhalten, mit der das Umgangsrecht und dessen Modalitäten ursprünglich festgelegt wurden, um den Antrag dieses Elternteils auf Änderung des Umgangsrechts für unzulässig zu erklären; andernfalls würde der in Art 9 Abs 1 VO Brüssel IIa genannten Dauer von drei Monaten, während der die Gerichte des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes abweichend von Art 8 leg cit weiterhin für die Entscheidung über einen solchen Antrag zuständig sind, die praktische Wirksamkeit genommen.

Wichtiger pro futuro ist die Lage nach der VO Brüssel IIb. Hier haben sich allerdings nur die Artikelnummern geändert: Art 9 VO Brüssel IIa wurde durch Art 8 VO Brüssel IIb, Art15 VO Brüssel IIa durch Art 12 VO Brüssel IIb ersetzt.

Art 22 HUÜ iFamZ 2023/126

Vollstreckbarerklärung eines weißrussischen Unterhaltstitels –keine Ordre-public-Widrigkeit einer Überalimentierung; keine Vollstreckung einer „Geldstrafe“ nach dem HUÜ

OGH 15. 3. 2023, 3 Ob 7/23k, 3 Ob 8/23g

(…) [9] 3. Im Verfahren ist unstrittig, dass auf den für vollstreckbar zu erklärenden Beschluss das HUÜ anwendbar ist. In dessen Art 22 sind diverse Versagungsgründe für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen angeführt, deren Vorliegen der Antragsgegner in seinem Rekurs behauptet hat.

[10] 4.1. Gem Art 22 lit a HUÜ können die Anerkennung und Vollstreckung einer ausländischen Entscheidung verweigert werden, wenn diese mit der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Vollstreckungsstaats offensichtlich unvereinbar sind.

[11] 4.2. Nach stRsp ist ein Verstoß gegen den ordre public nur dann zu bejahen, wenn die Anerkennung oder Vollstreckbarerklärung einer ausländischen Entscheidung mit der österreichischen Rechtsordnung völlig unvereinbar wäre (vgl RIS-Justiz RS0121001). Weil die Ordre-public-Klausel eine systemwidrige Ausnahme darstellt, wird allgemein sparsamster Gebrauch gefordert, eine schlichte Unbilligkeit des Ergebnisses genügt ebenso wenig wie der bloße Widerspruch zu zwingenden österreichischen Vorschriften. Gegenstand der Verletzung müssen vielmehr Grundwertungen der

INTERNATIONALE ASPEKTE Juni 2023 170
RECHTSPRECHUNG Internationale Aspekte Robert Fucik

österreichischen Rechtsordnung sein. Zweite wesentliche Voraussetzung für das Eingreifen der Vorbehaltsklausel ist, dass das Ergebnis der Anwendung fremden Sachrechts und nicht bloß dieses selbst anstößig ist und überdies eine ausreichende Inlandsbeziehung besteht (vgl RIS-Justiz RS0110743; vgl auch RIS-Justiz RS0002402).

[12] 4.3. Ausgehend von dieser Judikatur hat das Rekursgericht zutreffend einen Verstoß der weißrussischen Entscheidung gegen den österreichischen ordre public verneint. Es trifft zwar zu, dass nach der österreichischen Rsp hohes Einkommen des Unterhaltspflichtigen nicht dazu führen darf, den Unterhaltsberechtigten über die Angemessenheitsgrenze des § 231 ABGB hinaus zu alimentieren (RIS-Justiz RS0047447). Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der sogenannte Unterhaltsstopp (die Luxusgrenze) zwangsläufig nur dann zur Anwendung kommen kann, wenn der Unterhaltsanspruch eines Kindes gerichtlich festgesetzt wird; bezieht ein unterhaltsberechtigtes Kind hingegen Naturalunterhalt, wird es in aller Regel auch an einem (weit) überdurchschnittlichen Einkommen der Eltern partizipieren, ohne dass eine Luxusgrenze eingezogen würde. Aber auch ein gegenüber mehreren Kindern geldunterhaltspflichtiger Elternteil kann nicht daran gehindert werden, (nur) einem dieser Kinder freiwillig höheren (auch die Luxusgrenze übersteigenden) Geldunterhalt zu leisten. Schon aus diesem Grund kann keine Rede davon sein, dass der Unterhaltsstopp eine Grundwertung der österreichischen Rechtsordnung wäre, deren Verletzung einen Verstoß gegen den ordre public begründete. Damit geht auch die Argumentation des Antragsgegners mit dem durch die Überalimentierung gefährdeten Kindeswohl ins Leere. (…)

[17] 5.1. Der Versagungsgrund des Art 22 lit b HUÜ liegt vor, wenn die für vollstreckbar zu erklärende Entscheidung das Ergebnis „betrügerischer Machenschaften im Verfahren“ ist.

[18] 5.2. Der Antragsgegner beruft sich in diesem Zusammenhang nur darauf, die Mutter des Antragstellers habe „mutwillig“ –trotz Vorliegens des materiell rechtskräftigen Bruchteilstitels – eine neuerliche Klage in Weißrussland erhoben, nachdem der OGH zu 4 Ob 191/20x ausgesprochen habe, dass die Anpassung des Bruchteilstitels dem österreichischen Exekutionsgericht obliege; in dieser Klage habe sie tatsachenwidrig behauptet, die Anpassung sei nur nach Einholung eines Sachverständigengutachtens möglich, wobei die Kosten dem minderjährigen Kind angelastet würden.

[19] 5.3. Mit diesem Vorbringen kann der Antragsgegner von vornherein keine „betrügerischen Machenschaften“ im weißrussischen Verfahren darlegen, sondern höchstens ein (allenfalls bewusst) wahrheitswidriges Vorbringen einer Prozesspartei in einem zweiseitigen Verfahren, dem er, hätte er sich am Verfahren beteiligt, entgegentreten hätte können.

[20] 6.1. Gem § 22 lit c HUÜ können die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung verweigert werden, wenn ein denselben Gegenstand betreffendes Verfahren zwischen denselben Parteien vor einer Behörde des Vollstreckungsstaats anhängig und als erstes eingeleitet worden ist.

[21] 6.2. Der Antragsgegner beruft sich in diesem Zusammenhang in dritter Instanz erstmals nicht auf das seinerzeit vor dem Erstgericht zu 5 P 265/17g anhängige Unterhaltsfestsetzungsverfahren, das jedoch auch nach seinem eigenen Vorbringen bereits zu 4 Ob 191/20x beendet wurde, sondern auf den vom Minsker Gericht im Jahr 2017 geschaffenen Bruchteilstitel. Auch dieses Verfahren ist aber zweifellos nicht mehr anhängig. Dass der Antragsteller nach dem Standpunkt des Antragsgegners „durch seine Machenschaften über zwei exekutierbare Titel in Österreich verfügt“, kann den Versagungsgrund des § 22 lit c HUÜ von vornherein nicht verwirklichen.

[22] 7.1. Gem Art 22 lit d HUÜ können die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung verweigert werden, wenn die Entscheidung unvereinbar ist mit einer Entscheidung, die zwischen

denselben Parteien über denselben Gegenstand entweder im Vollstreckungsstaat oder in einem anderen Staat ergangen ist, sofern diese letztgenannte Entscheidung die Voraussetzungen für die Anerkennung und Vollstreckung im Vollstreckungsstaat erfüllt.

[23] 7.2. Das Rekursgericht hat eine Unvereinbarkeit des weißrussischen Bruchteilstitels und des weißrussischen Festbetragstitels verneint. Eine Unrichtigkeit dieser Beurteilung vermag der Antragsgegner mit der bloßen Behauptung, dem zweiten Gerichtsbeschluss stehe der erste entgegen, nicht darzutun. Dass gem § 405 EO aufgrund des Bruchteilstitels während der Zeit seiner aufrechten Vollstreckbarerklärung in einem (österreichischen) Exekutionsverfahren die Festsetzung eines Festbetrags erfolgen hätte können, was tatsächlich nie geschehen ist, führt noch nicht zur Unvereinbarkeit der beiden weißrussischen Entscheidungen.

[24] 8.1. Der Versagungsgrund des Art 22 lit e Fall 1 HUÜ liegt vor, wenn in den Fällen, in denen der Antragsgegner im Verfahren im Ursprungsstaat weder erschienen noch vertreten worden ist, der Antragsgegner, sofern das Recht des Ursprungsstaats eine Benachrichtigung vom Verfahren vorsieht, nicht ordnungsgemäß vom Verfahren benachrichtigt worden ist und nicht Gelegenheit hatte, gehört zu werden.

[25] 8.2. Der Antragsteller hat mit seinem verfahrenseinleitenden Antrag (ua) eine Bescheinigung des weißrussischen Gerichts vorgelegt, wonach dem Antragsgegner (auch) die „Klageschrift über die Verbesserung des Beschlusses und Änderung des Verfahrens und der Methode zur Alimentation für das minderjährige Kind“, die dem für vollstreckbar zu erklärenden Beschluss zugrunde lag, im Rechtshilfeweg über das Erstgericht (zu ergänzen: durch Hinterlegung) zugestellt wurde, er die Dokumente aber nicht abgeholt hat. Des Anschlusses einer Kopie des Rückscheins bedurfte es schon deshalb nicht, weil sich das Original ohnehin im (in der Bescheinigung mit der Aktenzahl angeführten) Rechtshilfeakt des Erstgerichts befinden muss.

[26] 8.3. Der Antragsgegner bemängelt, dass der Rekursentscheidung jegliche Begründung fehle, warum er ordnungsgemäß verständigt worden sei. Dabei ignoriert er jedoch, dass er in seinem Rekurs (wie auch im Revisionsrekurs) kein konkretes Vorbringen erstattet hat, warum die Zustellung nicht ordnungsgemäß erfolgt sei. Dass er die „Klageschrift“ nicht erhalten hat, trifft zwar nach dem Inhalt der Bescheinigung des weißrussischen Gerichts zu, dies ist aber – mangels gegenteiliger Anhaltspunkte – allein der von ihm zu vertretenden Tatsache geschuldet, dass er es unterlassen hat, die hinterlegte Sendung abzuholen.

[27] 8.4. Mag es auch für den Antragsgegner im Februar 2021 einerseits wegen der Corona-Pandemie und andererseits wegen der politischen Situation in Weißrussland schwierig bis unmöglich gewesen sein, zur Gerichtsverhandlung am 10. 2. 2021 anzureisen, ist seinem Vorbringen kein Hinweis darauf zu entnehmen, warum es ihm nicht möglich gewesen wäre, einen weißrussischen Rechtsanwalt mit seiner Vertretung zu beauftragen. (…)

[31] Mit „Beschluss (Versäumnisurteil)“ des Gerichts des Bezirks Zentralnij der Stadt Minsk vom 10. 2. 2021 wurde über den Antragsgegner eine Strafe (ein Verzugszuschlag) für die nicht rechtzeitige Alimentation des Antragstellers zugunsten dessen Mutter iHv 200.000 € verhängt.

[32] Mit Beschluss vom 19. 8. 2021 (ON 11) wies das Erstgericht den Antrag des Antragstellers, diese Entscheidung für Österreich für vollstreckbar zu erklären, ab. Dieser Antrag beziehe sich nicht auf die Geltendmachung oder Hereinbringung seines Unterhaltsanspruchs, sondern auf eine gerichtliche Entscheidung, mit der über den Antragsgegner eine Geldstrafe (Konventionalstrafe) verhängt worden sei. Das HUÜ sei aber auf eine solche Entscheidung nicht anwendbar. Im Verhältnis zwischen Österreich und Weißrussland existiere kein Staatsvertrag, der die gegenseitige An-

INTERNATIONALE ASPEKTE Juni 2023 171

erkennung und Vollstreckung von zivil- oder strafrechtlichen Entscheidungen regle. (…)

[36] 1. Der Revisionsrekurs setzt sich mit der Argumentation des Rekursgerichts, wonach es sich bei der Geldstrafe nicht um eine Unterhaltsforderung iSd HUÜ handle, inhaltlich nicht auseinander, sondern betont bloß, dass die Zahlungsverpflichtung aus einer Unterhaltspflicht des Antragsgegners resultiere. Dies ist zwar vordergründig richtig. Allerdings übersieht der Antragsteller dabei, dass –wie sich insb aus den in den Entscheidungsgründen (dem „Motivationsteil“) der weißrussischen Entscheidung dargelegten gesetzlichen Bestimmungen ergibt – aus dem Versäumnisurteil berechtigt nicht er selbst (als unterhaltsberechtigtes Kind), sondern seine Mutter (als „Unterhaltsempfängerin“) ist, der der Unterhaltsschuldner bei verschuldetem Unterhaltsrückstand eine Strafe iHv 0,3 % der Summe des nicht bezahlten Unterhalts für jeden Tag der Verspätung zu leisten hat. Schon deshalb liegt es aber auf der Hand, dass es sich hier um keine Unterhaltsforderung iSd HUÜ handeln kann, zu deren Geltendmachung der Antragsteller legitimiert ist. (…)

Anmerkung

1.Die „Playboy-Grenze“ hat in der erstinstanzlichen Praxis manchmal das Gewicht eines Geßlerhuts und wird befolgt, ohne dass der Sinn dieser „Vermeidung unpädagogischer Überalimentierung“ noch beachtet wird. Gut zu hören, dass sie zumindest nicht eine Grundwertung des österreichischen Rechts ist, deren Nichtanwendung mit der österreichischen Rechtsordnung völlig unvereinbar wäre.

2.Die Frage, ob eine Verzugsfolge zu den „Zinsen“ oder „Konventionalstrafen“ zählt, wirft nicht eben einfache Aspekte funktionaler Rechtsvergleichung auf. Im konkreten Fall konnte der OGH dies auf sich beruhen lassen, weil jedenfalls verschiedene Gläubiger vorlagen (Kind für Unterhalt, Mutter für die Verzugsstrafe). Da in manchen Fällen der pflegende Elternteil als Unterhaltsgläubiger tituliert wird (zB in England und Wales), wird sich dieser Weg nicht im Verhältnis zu jedem Staat gehen lassen.

§ 414 EO

Anpassung eines Bruchteilstitels

OGH 19. 4. 2023, 3 Ob 36/23z

iFamZ 2023/127

(…) [9] 1. Das vorliegende Verfahren betrifft den Antrag des Antragsgegners auf Anpassung der Vollstreckbarerklärung gem § 414 EO in Folge der EO-Novelle 2016 (vormals § 84c EO). Diese Bestimmung ermöglicht es, die inländische Vollstreckbarerklärung nachträglich an eine zwischenzeitlich (nach Rechtskraft der Vollstreck-

barerklärung) erfolgte Aufhebung oder Abänderung des ausländischen Exekutionstitels anzupassen. Die Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen für die Aufhebung bzw Änderung der Vollstreckbarerklärung liegt bei demjenigen, der die Aufhebung bzw Abänderung begehrt (vgl Höllwerth in Deixler-Hübner, EO, §414 Rz1 f; Slonina in Angst/Oberhammer, EO3, § 84c EO Rz1 und 7).

2. Zeitraum vom 1. 6. 2016 bis 31. 12. 2020

[10] Die Beurteilung des Rekursgerichts, dass der ursprüngliche Unterhaltstitel des Minsker Gerichts für den genannten Zeitraum unberührt geblieben sei, vermag der Antragsgegner nicht mit nachvollziehbaren Argumenten zu entkräften. Seine Behauptung, dass der zweite Beschluss des Minsker Gerichts vom 10. 2. 2021 ohne ausdrücklichen Vorbehalt für den genannten Zeitraum ein vollkommen neuer Unterhaltstitel sei, der den ursprünglichen Unterhaltstitel zur Gänze außer Kraft gesetzt habe, ist ausgehend von der – den Grundsätzen für die Auslegung eines hier ausländischen Exekutionstitels entsprechenden – Beurteilung des Rekursgerichts unhaltbar.

3. Zeitraum ab 1. 1. 2021

[11] 3.1. Für diesen Zeitraum hat das Minsker Gericht mit seiner Entscheidung vom 10. 2. 2021 den ursprünglichen Bruchteilstitel über Antrag des Antragstellers in einen Festbetragstitel umgewandelt. Dabei hat es insb auf Art 94 des Gesetzbuchs der Republik Belarus über Ehe und Familie Bezug genommen und ausgeführt, dass Kindesunterhalt – in Abweichung zu Art 92 leg cit – ua dann in einer festen Geldsumme festgesetzt werden kann, wenn der Unterhaltspflichtige Einkommen in unregelmäßiger Höhe bezieht oder die Unterhaltseinbringung schwierig ist, was hier der Fall sei. Außerdem habe sich die materielle Einkommenssituation und der Familienstand des Unterhaltspflichtigen geändert, weshalb – auf der Grundlage des im österreichischen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachtens – ein Unterhaltsbetrag von 5.000 € pro Monat gerechtfertigt sei.

[12] 3.2. Für die Frage, ob der ursprüngliche Unterhaltstitel (hier Bruchteilstitel ab 1. 1. 2021) aufgehoben oder abgeändert wurde, ist entscheidend, ob dieser nach der Entscheidung des Minsker Gerichts weiterhin Vollstreckungsgrundlage sein soll oder ob die Vollstreckung für den genannten Zeitraum nur mehr auf Basis des neuen Unterhaltstitels zu erfolgen hat. Die Auslegung der Entscheidungen des Minsker Gerichts nach dem Wortsinn führt zum Ergebnis, dass für den Zeitraum ab 1. 1. 2021 nur mehr der neue Festbetragstitel maßgebend sein soll, zumal das Minsker Gericht in dieser Hinsicht sogar von einer Neubemessung des Unterhalts wegen geänderter Einkommens- und Familienverhältnisse des Unterhaltspflichtigen ausgegangen ist.

[13] Das Erstgericht hat damit die Vollstreckbarerklärung vom 13. 6. 2018 hinsichtlich des hier in Rede stehenden Zeitraums zu Recht aufgehoben, weshalb dessen Entscheidung wiederherzustellen ist.

INTERNATIONALE ASPEKTE Juni 2023 172

Hochkonflikthafte Eltern

ALEXANDRA LOIDL*

Im Jahr 2023 blickt die bundesweite Familiengerichtshilfe auf ihr zehnjähriges Bestehen zurück. Anlässlich dieses Jubiläums werden in der iFamZ Beiträge und Erläuterungen Einblick in die einzelnen Aufgaben der Familien- und Jugendgerichtshilfe geben.

Trennungsfamilien mit hochkonflikthaftem Beziehungsgeschehen nehmen einen verhältnismäßig großen Teil der Ressourcen des Justizapparats im Bereich Pflegschaftsrecht in Anspruch. Die Arbeit ist nicht nur zeitlich aufwändig, sondern erfordert auch andere Vorgehensweisen als bei weniger konflikthaften Konstellationen. In diesem Beitrag wird erläutert, was in derartigen Fällen zu beachten ist und wie die Arbeit der Familiengerichtshilfe im Bereich Hochkonflikthaftigkeit aussehen kann.

I.Grundlegendes

* Hochkonflikthaftigkeit ist ein Phänomen, mit dem Fachkräfte im Pflegschaftsrecht eher früher als später in Kontakt kommen. Familien in Hochkonfliktphasen sind anders: Sie fallen durch häufige Kontaktaufnahmen, langjährige durchgehende oder wiederkehrende Befassungen, hohe emotionale Intensität in ihren Vorbringen und durch das Scheitern üblicher Vermittlungs- und Befriedungsversuche auf.

II.Was bedeutet Hochkonflikthaftigkeit?

Etwa fünf bis zehn Prozent der Scheidungs- und Trennungsfamilien nehmen Schätzungen zufolge einen hochkonflikthaften Verlauf, binden jedoch zirka 80 % der Kapazitäten von Institutionen.1 Unter dem Begriff hochkonflikthafte Familien werden jene Eltern subsumiert, deren Konflikte ums Kind nach Trennung und Scheidung über eine längere Zeit hinweg andauern, anwachsen und schließlich außer Kontrolle geraten, mit nicht selten negativen Auswirkungen für die Kinder.2 Dabei handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe. Typische Merkmale der Eltern (zB reduzierte Verträglichkeit, unflexible Denkstrukturen, hohe emotionale Beteiligung an der Elternkommunikation etc) variieren sowohl im Hinblick auf deren Auftreten als auch auf deren Intensität stark.

Der Versuch, den Begriff Hochkonflikthaftigkeit bei Trennung und Scheidung zu definieren, zu klassifizieren und daraus Leitsätze für die Praxis abzuleiten, wird von mehreren Autoren aufgegriffen. Im Rahmen des Forschungsprojekts „Kinderschutz bei hochstrittiger Elternschaft“ des Deutschen Jugendinstituts werden jene Scheidungs- und Trennungsfamilien als hochkonflikthaft bezeichnet, in denen ein so hohes Konfliktniveau vorliegt, dass „erhebliche Beeinträchtigungen

■ auf den Ebenen des Verhaltens und/oder der Persönlichkeit mindestens eines Elternteils,

*Mag.a Alexandra Loidl ist klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin und Teamleiterin der Familien- und Jugendgerichtshilfe Wels.

1 Barth/Deixler-Hübner/Jelinek (Hrsg), Handbuch des neuen Kindschafts- und Namensrechts (2013); Dettenborn, Hochkonflikthaftigkeit bei Trennung und Scheidung (Teil 1), Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe 2013, 231; Dietrich/Paul, Hoch strittige Elternsysteme im Kontext Trennung und Scheidung, in Weber/Schilling (Hrsg), Eskalierte Elternkonflikte2 (2012) 13 (15).

2 Dietrich et al, Arbeit mit hochkonflikthaften Trennungs- und Scheidungsfamilien (2010) 10.

■ der Beziehung zwischen den Eltern untereinander und zwischen ihnen und dem Kind sowie

■ der Nutzung von institutioneller Hilfe zur Klärung der Konfliktsituation vorhanden sind“.3

Bei Hochkonflikthaftigkeit stehen die emotionalen Probleme der Eltern im Vordergrund, die Expartner:innen sind nicht in der Lage oder willens, selbst kleine Konflikte ohne Hilfe des Gerichts zu lösen, die Kinder werden in die Paarkonflikte miteinbezogen, die Beziehung zwischen Elternteil und Kind leidet, die Kinder werden dadurch gefährdet und Versuche, den Konflikt zu beenden, scheitern.4

Hochkonflikthafte Eltern haben häufiger verfestigte Ansichten und Feindbilder, neigen zu Misstrauen, wenig Kooperation und fühlen sich in Konfliktsituationen mit dem/ der ehemaligen Partner:in tendenziell hilflos. Häufig findet sich bei diesen Elternteilen die Selbstwahrnehmung als Opfer, mit einer stark ausgeprägten Tendenz zur Schwarz-WeißMalerei in Bezug auf sich selbst (als den fähigen Elternteil) und den anderen (als den bösen, unfähigen Elternteil). Negative Emotionen wie Wut, Enttäuschung, Trauer und Hass, die trennungsbedingt auftreten, werden weiter im Konflikt mit dem/der Expartner:in ausgetragen und können nicht erfolgreich reguliert werden. Aus diesem Grund fällt es ihnen auch besonders schwer, zwischen Paar- und Elternebene zu unterscheiden (mit dem Ziel, zugunsten der Kinder zu kooperieren). Zudem wird ein besonderes Bemühen um eine positive Selbstdarstellung beobachtet.5

III.Entstehung von Hochkonflikthaftigkeit und Konfliktdynamik

Doch wie entsteht eigentlich hochkonflikthaftes Verhalten?

In der Regel kommt es durch eine Trennung zum Verlust von Perspektiven, was die psychische Stabilität und den Selbstwert negativ beeinflusst und sowohl Ängste als auch psychosomatische Beschwerden begünstigt.6 Bei hochkonflikthaften Verläufen bestehen bei den Paaren zusätzlich Schwierigkeiten, sich emotional voneinander zu lösen. Hinzu kommen bestimmte kognitive Verarbeitungs- und Interpretationsmuster, die die Konflikteskalation begünstigen. Ein Beispiel

3 Dietrich et al, Trennungs- und Scheidungsfamilien, 12.

4 Dietrich/Paul in Weber/Schilling, Eskalierte Elternkonflikte2, 13 (15).

5 Dietrich et al, Trennungs- und Scheidungsfamilien, 13 f.

6 Dietrich/Paul in Weber/Schilling, Eskalierte Elternkonflikte2, 13 (16).

ZEHN JAHRE FAMILIENGERICHTSHILFE Juni 2023 173

für ein konfliktbegünstigendes Verarbeitungsmuster ist die Übergeneralisierung, dh das voreilige und übertriebene Schlussfolgern ohne ausreichende Grundlage. Dies kann sich zB darin zeigen, dass ein Elternteil ein einzelnes Fehlverhalten eine/r Expartner:in als Beweis für eine totale Erziehungsunfähigkeit nimmt. Ein anderes Beispiel ist das Katastrophisieren, dh die Neigung, negative Aspekte einer Situation oder mögliche negative Konsequenzen in übertriebenem Maße wahrzunehmen. Konkret kann sich dies zB in der Überzeugung niederschlagen, ein angebliches Fehlverhalten einer Expartnerin/eines Expartners führe zu einer dauerhaften psychischen Schädigung des Kindes.

Zum besseren Verständnis der Konfliktdynamik wurden verschiedene Stufenmodelle entwickelt und weiterentwickelt. Als besonders praktikabel und anerkannt in der Fachliteratur hat sich ua jenes nach Alberstötter.7 erwiesen. Basierend auf einem allgemeinen Modell der Konflikteskalation nach Glasl entwickelte Alberstötter ein auf eskalierte Scheidungskonflikte angepasstes Drei-Stufen-Modell, in dem die Einschätzung der Intensität des Konflikts und der personalen Ausweitung zu einem komplexen Problemsystem ermöglicht werden soll.

In der ersten Stufe (zeitweilig gegeneinander gerichtetes Reden und Tun) wird eine Verhärtung der Positionen der Konfliktparteien sichtbar, allerdings verfügen die Parteien noch über die Hoffnung, dass Spannungen durch Gespräche gelöst werden können. Das Konfliktgeschehen kann sich wieder beruhigen.

In der zweiten Stufe (verletzendes Agieren und Ausweitung des Konfliktfelds) nimmt der Konflikt an Intensität und der Anzahl Beteiligter zu. Andere Personen werden einbezogen, der/die Konfliktpartner:in als unveränderlich böse wahrgenommen, wobei trotz Erhitzung und Ausweitung des Konfliktfelds eine Elternkooperation häufig noch möglich ist. Ab dieser Stufe spricht Alberstötter von Hochkonflikthaftigkeit

Auf Stufe drei (Beziehungskrieg) entwickelt sich ein „Kampf um jeden Preis“, bei dem extreme Gefühle von Verzweiflung und Hass dazu führen, dass einerseits eine Distanzierung vom Konfliktgegner stattfindet (verbal und körperlich) und andererseits ein Bedürfnis nach Rache sowie Destruktion entsteht. Dem/Der Gegner:in werden unmenschliche Züge zugeschrieben, die letztlich auch die psychische, physische und materielle Vernichtung moralisch rechtfertigen. Ein Konflikt wird jetzt ohne Rücksicht auf beteiligte Dritte geführt, Kinder werden häufig als Spielfiguren verwendet. Sie werden aktiv oder passiv im Elternkonflikt instrumentalisiert, mit dem Ziel, die Beziehung zwischen dem Kind und dem anderen Elternteil zu zerstören. Die Interessen des Kindes können nicht mehr wahrgenommen werden.

Überschneidungsfeld häusliche Gewalt

Häusliche Gewalt und Hochstrittigkeit in Elternbeziehungen sind überschneidende Felder. Kindler 8 plädiert dafür, Fälle mit

erheblicher Partnerschaftsgewalt, unabhängig vom Konfliktniveau und von bisherigen Lösungsversuchen, von Fällen mit hochstrittigem Trennungs- und Scheidungsverlauf getrennt zu betrachten, weil der Schutz vor fortgesetzter körperlicher und psychischer Gewalt vorrangig zu behandeln ist. Eine große Herausforderung besteht darin, herauszufiltern, in welchen Fällen berechtigte Anliegen und Sorgen betreffend Gewalthandlungen vorherrschen und in welchen Parteien sich „lediglich“ aufgrund der Konfliktdynamik als Opfer erleben. Dabei kann auch eine Befassung der Familiengerichtshilfe hilfreich sein. Keinesfalls sollte im Zweifel aber der Opferschutz vernachlässigt werden.

Was hilft bei wem? Grundsätzlich gilt, unabhängig davon, wer mit den Parteien arbeitet: Je niedriger die Konfliktstufe, desto weniger Intervention ist nötig. Je höher die Konfliktstufe, desto aktiver, direktiver und strukturierender ist zu arbeiten.

Auf der niedrigsten Eskalationsstufe (Stufe 1 bei Alberstötter) bezieht sich der Konflikt vorwiegend auf die Inhaltsebene. Ein Perspektivenwechsel der Parteien ist noch möglich, Beratung fruchtet. Die Einstellungen der Parteien und die Handlungsebene sind weitgehend unproblematisch, Selbsthilfekräfte zur Konfliktbewältigung sind noch aktiv. Daher ist das vorrangige Ziel die Regelung von Interessengegensätzen durch Moderation der Konfliktparteien. Es kann auf Sachebene vermittelt werden. So können die Eltern zB bei der Vereinbarung eines Kontaktrechts zwischen Elternteil und Kind ihren Blick auf die Bedürfnisse des Kindes lenken und relevante Faktoren berücksichtigen (etwa Alter von Kind, Bindungsbedürfnisse, organisatorische Bedingungen).

Ab der mittleren Konfliktstufe (Stufe 2 bei Alberstötter) weitet sich der Konflikt auf die Beziehungsebene aus. Reine Vermittlung ist nicht ausreichend, eine stärker geleitete Schlichtung des Konflikts wird notwendig. Die Parteien sind auf Fremdhilfe angewiesen. Dabei sind auch hinter den Positionen liegende Einstellungen der Parteien zu berücksichtigen. So könnte zB eine verdeckte Angst, das Kind nach der Trennung ganz zu verlieren, einen Elternteil dabei behindern, bei der Vereinbarung eines Kontaktrechts rational über verschiedene Optionen zu diskutieren.

Auf der höchsten Stufe (ab Stufe 3 bei Alberstötter) wird der Konflikt auch auf der Handlungsebene geführt. Die Positionen der Parteien sind verfestigt, deren Akzeptanz von Interventionen von Fachkräften sinkt. Insb die Bereitschaft zu gemeinsamen Gesprächen mit dem jeweils anderen Elternteil ist vermindert. Viele Interventionen können aufgrund der dysfunktionalen Konfliktbewältigungsstrategien der Parteien immer weniger an der Eskalation ändern. Dettenborn und Walter empfehlen, Interventionen auf der Verhaltensebene zu setzen (einfachere Lernformen wie Verhaltenskonditionierung durch Belohnung oder „Strafe“ oder Vermeiden negativer Folgen).9 Was sich dadurch ändert, ist vorwiegend äußeres Verhalten und weniger die vorhandenen Einstellungen und Bereitschaften. Ein Machteingriff einer dritten Person oder Institution ist notwendig, um das Verhalten der Parteien zu kontrollieren und zu sanktionieren. Die Notwendigkeit, auf Maßnahmen mit Zwangscharakter und Sanktionsdruck zurückzugreifen, steigt (zB Trennung der Parteien, begleitete Kontakte, Androhung von Ordnungs-

INTERDISZIPLINÄRER AUSTAUSCH Juni 2023 174
7 Alberstötter, Wenn Eltern Krieg gegeneinander führen, in Weber/Schilling (Hrsg), Eskalierte Elternkonflikte2 (2012) 29. 8 Kindler, Äpfel, Birnen oder Obst? Partnerschaftsgewalt, Hochstrittigkeit und die Frage nach sinnvollen Interventionen, in Walper/Fichtner/Normann (Hrsg), Hochkonflikthafte Trennungsfamilien2 (2013) 111 (124 f). 9 Dettenborn/Walter, Familienrechtspsychologie2 (2015) 152.

mitteln, Änderung von Obsorgeregelungen). Das Risiko einer Kindeswohlgefährdung steigt, weshalb eine Zusammenarbeit des Gerichts mit der Kinder- und Jugendhilfe angezeigt sein kann.10

IV.Die Arbeit mit hochkonflikthaften Parteien

Nachdem es sich bei hochkonflikthaften Familien bei Gericht oft um aufwandsintensive „Wiederkehrer:innen“ handelt, deren Konflikte sich nicht dauerhaft lösen lassen, ist auch die Familiengerichtshilfe in weiterer Folge häufig mit ihnen befasst. Das Vorliegen von Hochkonflikthaftigkeit kann einen Unterschied in der Arbeit der Familiengerichtshelfer: innen begründen.

Eine hilfreiche Ausgangslage für die Arbeit der Familiengerichtshelfer:innen sind in jedem Fall zumindest vorläufige Regelungen des Gerichts zu Obsorge und Kontaktrecht. Diese können dabei helfen, dem Kindeswohl abträgliche Faktoren hintanzuhalten. So kann zB durch eine vorläufige Kontaktrechtsregelung einem Kontaktabbruch zu einem Elternteil entgegengewirkt oder durch eine Veränderung der Kontaktregelung (zB vorläufige Besuchsbegleitung) Kinderschutz gewährleistet werden. Zudem schaffen vorläufige Regelungen die Basis für die spätere gründliche Erarbeitung einer langfristigen einvernehmlichen Regelung oder – je nach Produkt11 – für die Überprüfung, woran die festgelegte Regelung scheitert.

Bei mittlerer Konflikthaftigkeit (wobei es sich hierbei laut Alberstötter bereits um Hochkonflikthaftigkeit handelt) kann zum Teil das fachliche Repertoire der Familiengerichtshilfe noch voll ausgeschöpft werden. Alle Produkte können durchgeführt werden, es sind keine methodischen Einschränkungen (zB Verzicht auf gemeinsame Elterngespräche) angezeigt. Allerdings ist eine intensivere Moderation der Parteien nötig. Zudem ist bei Interventionsversuchen das Zielmanagement zu überdenken. Beratungsziele sollten sich im niedrigen, realistischen Bereich befinden, was zB bedeuten würde, dass keine harmonische, kooperative Elternbeziehung das Ergebnis der Befassung sein kann, sondern eine Reduktion feindseliger Interaktionen oder ein Erarbeiten konkreter Lösungen für kleine, konkrete Teilbereiche. Wichtig ist dabei, Vorgaben, Aufträge und Vereinbarungen sowie Ergebniskontrolle genau zu formulieren und auf konkretes Verhalten zu beziehen. ZB ist das Ziel, „mehr Informationen bezüglich des Kindes auszutauschen“ wenig konkret und ungeeignet. Hilfreicher wäre es stattdessen, Kommunikationsmittel und -zeiten festzulegen, zB „der Vater schreibt der Mutter freitags ein SMS mit Informationen zur Hausübung am Wochenende“. Hinsichtlich des Zeitmanagements ist zu beachten, dass eher in langfristigen Zeiträumen gedacht werden muss, weil sich Konflikte systematisch selbst befeuern und wie verfestigte Positionen – oben beschrieben – eine Einstellungsänderung der Parteien erschweren.

Ab dem Vorliegen ausgeprägter Hochkonflikthaftigkeit ist ein Hinwirken auf Einvernehmen nicht mit hinreichen-

der Erfolgswahrscheinlichkeit durchführbar,12 weil die Änderung von Verhaltensbereitschaften und Einstellungen nur bedingt möglich ist. Gemeinsame Gesprächstermine verlaufen durch den gestörten Kommunikationsstil der Parteien meist wenig konstruktiv, können aber zusätzliche Kränkungen und Verhärtungen der Positionen hervorrufen. Eine direkte Kommunikation der Eltern kann daher kontraindiziert sein. Für die Familiengerichtshilfe kann dies bedeuten, dass ein Produktwechsel notwendig ist.

Besuchsmittlungen zur Regelung von Kontakten werden beim Vorliegen ausgeprägter Hochkonflikthaftigkeit wenig erfolgsversprechend sein, weil Parteien eher versuchen, die Termine zur Darstellung ihrer Ansichten zu nutzen, als sich auf eine echte Vermittlungsarbeit einzulassen. Auch die intensive Arbeit im Rahmen eines Clearings zur Herbeiführung einer einvernehmlichen Regelung kann ungeeignet sein. Stattdessen kann ein Bericht an das Gericht erfolgen.

Sollte das Gericht weitere fachliche Informationen benötigen, kann die Beauftragung einer Fachlichen Stellungnahme hilfreich sein. Zu beachten sind dabei zusätzliche Inhalte, wie zB die Auswirkungen der Hochstrittigkeit auf die Kooperationsfähigkeit der Eltern, auf die psychische Verfassung der Kinder oder auf das Risiko für eine Kindeswohlgefährdung. Auf Basis der anschließenden Beschlussfassung kann die Einhaltung der beschlossenen Inhalte im Rahmen einer Besuchsmittlung zur Durchsetzung der Kontakte von der Familiengerichtshilfe überprüft werden.

Bei besonders ausgeprägter Hochstrittigkeit ist parallel zur Bearbeitung immer zu beachten, ob zusätzliche Maßnahmen notwendig sind. So können zB durch massive Hochstrittigkeit Umgangsfähigkeit und Erziehungsfähigkeit von Eltern vorübergehend eingeschränkt sein und eine vorläufige Aussetzung von Kontaktrecht oder Obsorge notwendig machen.

Wichtig erscheint die Transparenz in der Arbeit den Parteien gegenüber, auch hinsichtlich der Abbruchkriterien für die Bearbeitung (Was muss passieren, damit zB Besuchsmittlung von der Familiengerichtshilfe beendet wird? Was muss passieren, damit ein Gespräch von der Familiengerichtshilfe beendet wird?). Auch ein gut koordiniertes Vorgehen zwischen Familiengerichtshilfe und Gericht erscheint in dieser Konfliktstufe sinnvoll und notwendig.

Eine Bearbeitung hochkonflikthafter Fälle bei der Familiengerichtshilfe birgt aus fachlicher Sicht viele Vorteile. Standardmäßig ist eine Fallreflexion mit einer/einem zweiten Mitarbeiter:in möglich, was dabei hilft, sich vor dem „Konfliktsog“ zu schützen. So kann auch eine Parteilichkeit, die von hochkonflikthaften Parteien offen oder verdeckt eingefordert wird, leichter verhindert werden. Die Einsicht in den Pflegschaftsakt hilft dabei, sich einen neutralen Blick auf den Fallverlauf zu verschaffen und die Konfliktdynamik gut einschätzen zu können. Auch professionelle Außenperspektiven können eingeholt werden, zB von der Kinder- und Jugendhilfe oder von Betreuungseinrichtungen von Kindern. Durch die Berichtspflicht der Familiengerichtshilfe an das Gericht werden die erhobenen Informationen dokumentiert

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10 Dettenborn/Walter, Familienrechtspsychologie2, 153 ff. 11 Zu den Produkten der Familiengerichtshilfe s „Standards der Familiengerichtshilfe – Handbuch“, iFamZ 2016, 50. 12 Dettenborn/Walter, Familienrechtspsychologie2, 151.

und ist eine enge Abstimmung mit Entscheidungsträgern möglich.

V.Fazit

Die professionelle Arbeit mit hochkonflikthaften Familien ist besonders fordernd. Eine angepasste Vorgehensweise bei Gericht und bei der Familiengerichtshilfe kann dabei helfen,

wenig erfolgversprechende Maßnahmen einzudämmen und sowohl den Kindern als auch den Parteien verletzendes Konfliktgeschehen zu ersparen. Nicht zuletzt ist die Wichtigkeit einer guten Zusammenarbeit zwischen allen Fachkräften, die mit hochkonflikthaften Familien befasst sind, zu nennen. Sie hilft nicht nur den Fachkräften selbst, sondern resultiert in noch qualitätsvollerer Arbeit, von der letztlich auch die Kinder profitieren.

Die Auswirkungen von Hochkonflikthaftigkeit auf das Erleben von Kindern

MICHAELA GRUBER / ELKE MIESENBÖCK*

Im Jahr 2023 blickt die bundesweite Familiengerichtshilfe auf ihr zehnjähriges Bestehen zurück. Anlässlich dieses Jubiläums werden in der iFamZ Beiträge und Erläuterungen Einblick in die einzelnen Aufgaben der Familien- und Jugendgerichtshilfe geben.

Hochkonflikthafte Trennungsfamilien nehmen im Arbeitsalltag jener Einrichtungen, die im familienrechtlichen Bereich tätig sind, einen besonderen Stellenwert ein. Sie beanspruchen viele Ressourcen, und oftmals stellt sich die Frage, ob das Agieren der Eltern nicht bereits die Grenze zur Kindeswohlgefährdung überschritten hat. In diesem Beitrag wird versucht, diese spezielle Problematik zu charakterisieren und dabei der Fokus auf das Erleben der Kinder sowie die Auswirkungen von Hochstrittigkeit auf die kindlichen Entwicklungsbedingungen gerichtet. Zudem wird beleuchten, wann eine Kindeswohlgefährdung vorliegt.

I.Was bedeutet Hochkonflikthaftigkeit?

* Hochkonflikthaftigkeit wird insofern definiert, als diese „ein so hohes Konfliktniveau meint, dass Beeinträchtigungen auf den Ebenen des Verhaltens und/oder der Persönlichkeit mindestens eines Elternteils, der Beziehung zwischen den Eltern untereinander und der Elternteile mit dem Kind sowie der Nutzung von institutioneller Hilfe zur Klärung der Konflikte so erheblich sind, dass eine Reduktion der Konflikte zur Klärung von Alltagsfragen mit herkömmlichen rechtlichen und/ oder beraterischen Hilfen nicht angemessen möglich erscheint und eine erhebliche Belastung der Kinder wahrscheinlich ist.“1 Die folgende Fallgeschichte2 veranschaulicht eine derartige Entwicklung

Fallbeispiel 1

Zum Zeitpunkt der Scheidung im Jahr 2014 war Jonas 5,5 Jahre alt. Die Eltern vereinbarten die Obsorge beider Eltern und ein 14-tägliches Kontaktrecht. In den folgenden drei Jahren stellte der Vater immer wieder Anträge auf Ausweitung der Kontakte, die im Rahmen von Tagsatzungen einvernehmlich gelöst werden könnten.

2017 stellte der Vater einen Antrag auf Festlegung des Hauptaufenthalts bei ihm, wogegen sich die Mutter aussprach. Jonas war zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt. Der Vater gab an,

*Mag.a Michaela Gruber ist klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin und Teamleiterin, DSAin Elke Miesenböck Sozialarbeiterin und stellvertretende Teamleiterin der Familien- und Jugendgerichtshilfe Bruck an der Mur.

1 Fichtner, Trennungsfamilien – lösungsorientierte Begutachtung und gerichtsnahe Beratung (2015) 65.

2 Die Namen aller Beteiligten und spezifische Details wurden aus Datenschutzgründen in allen Fallbeispielen verändert.

dem Wunsch des Kindes nachzukommen, die Mutter sah darin die Beeinflussung des Vaters. Im Rahmen eines Clearings einigten sich die Eltern auf die Beibehaltung des Hauptaufenthalts bei der Mutter und auf eine Ausweitung der Kontakte.

Ab Jänner 2020, Jonas war elf Jahre alt, wurde von beiden Elternteilen in rascher Abfolge eine Vielzahl von wechselseitigen Anträgen gestellt, die für Jonas die Folge hatten, dass er seinen Vater wenig bis gar nicht mehr sah. Er begehrte dagegen auf, woraufhin seine Mutter psychische Auffälligkeiten an ihm zu erkennen meinte und ihm Psychotherapie zur Seite stellte. Jonas hatte Termine bei Gericht, der Familiengerichtshilfe und bei einem Gutachter zu absolvieren. Er gab an, seinen Vater häufig sehen zu wollen. Diese Termine in Folge von verschiedensten Anträgen hielten bis Herbst 2021 an. In dieser Zeit veränderte sich auch Jonas‘ Haltung, er gab nach und nach an, seinen Vater weniger, schließlich gar nicht mehr sehen zu wollen.

Im Oktober 2021 erging aufgrund der Weigerung von Jonas, seinen Vater sehen zu wollen, der Beschluss hinsichtlich der Aussetzung der Kontakte. Jonas war 12,5 Jahre alt.

Das vorliegende Beispiel zeigt, wie sich die Dynamik in hochstrittigen Familien zuspitzen kann und wie die Kinder darauf reagieren können. Mehr und mehr Anträge werden gestellt, unterschiedliche Institutionen werden mit dem Fall betraut und die Kinder werden von verschiedenen Personen und Institutionen zu ihrer Situation befragt. Es werden, neben den Kindern, Personen aus dem sozialen Umfeld einbezogen, wodurch sich der Konflikt ausweitet. Gängige Beratungs- und Interventionskonzepte zeigen oftmals keine Wirkung.

INTERDISZIPLINÄRER AUSTAUSCH Juni 2023 176

II.Welche Belastungen ergeben sich für die Kinder?

Kinder reagieren in unterschiedlicher Art und Weise auf diese Flut von Einflüssen. Die Reaktionen können zB von Regression über Einnässen oder Schulschwierigkeiten bis hin zu Überangepasstheit reichen. Nicht selten sind wie im angeführten Fallbeispiel Kontaktabbrüche die Folge. Es gilt jedoch zu beachten, dass nach einer Trennung der Eltern immer Reaktionen der Kinder zu erwarten sind, weil diese damit ihrem Erleben und ihrer Trauer Ausdruck verleihen, zumal die elterliche Trennung auch für die Kinder eine Krise darstellt, Veränderungen mit sich bringt und eine Neuorientierung und damit oft viele Anpassungsleistungen von den Kindern erfordert. Hier kann es als gesund angesehen werden, dass Kinder darauf reagieren und damit zeigen, dass es ihnen schlecht geht und es nötig ist, dass sich jemand um sie kümmert. Nicht übersehen werden sollten allerdings jene Kinder, die scheinbar keine Reaktionen auf die elterliche Trennung zeigen, da hier die Gefahr besteht, dass sich, zB durch unterdrückte Konflikte oder Abwehr, Belastungen nach innen richten bzw bestehen bleiben.

Während die oben beschriebenen Auswirkungen vorübergehende Reaktionen der Kinder auf das Erlebnis der elterlichen Trennung darstellen, können im Fall von Hochstrittigkeit gravierende Belastungen für die Kinder hinzukommen, die sich durch den persistierenden elterlichen Konflikt ergeben. Sie nehmen die Belastungen und das Unglück ihrer Eltern wahr, blicken unsicher in ihre Zukunft, häufig entstehen Ängste und sie fühlen sich alleine gelassen.

Fachleute sind sich einig, dass ein anhaltender Elternkonflikt den vermutlich schädlichsten Wirkfaktor für Kinder nach der elterlichen Trennung oder Scheidung darstellt.3 Wann überschreitet jedoch die Belastung der Kinder durch den elterlichen Konflikt die Grenze zur Kindeswohlgefährdung?

III.Was bedeutet Kindeswohl bzw Kindeswohlgefährdung?

Zur Erörterung dieser Fragestellung sei ausgeführt, dass es sich beim Begriff des Kindeswohls bzw der Kindeswohlgefährdung um einen mehrdimensionalen Begriff handelt, der sowohl psychosoziale als auch rechtliche Aspekte beinhaltet bzw berücksichtigt. Definiert sind einerseits die Voraussetzungen, unter denen ein Kind unversehrt aufwachsen und sich optimal entfalten kann, andererseits wird aufgezeigt, wann ein Eingriff von Seiten des Staates notwendig ist.4 In Österreich wurde versucht, das Kindeswohl in § 138 ABGB in zwölf Punkten zu definieren. Die Vielzahl von Kategorien zeigt, dass es mitunter schwierig ist, festzumachen, ab wann man dezidiert davon sprechen kann, dass ein Umstand oder ein Verhalten das Kindeswohl gefährdet. Hochstrittigkeit wird hier nicht als eigene diagnostische Kategorie angeführt, jedoch wirkt sich diese in mehreren der zwölf genannten Bereiche aus. Ist die Familien- und Jugendgerichtshilfe mit einer

fachlichen Stellungnahme beauftragt, werden alle zwölf Kriterien in den Blick genommen.

IV.Wie wirkt sich Hochkonflikthaftigkeit auf Kinder aus?

Die Folgen können vielfältig sein. Nicht enden wollende Konflikte zwischen den Eltern stellen massive Belastungen für ein Kind dar, besonders dann, wenn Konflikte offen ausgetragen werden. Kinder fühlen sich diesen hilflos ausgesetzt und zwischen den Eltern zerrissen. Aufgrund noch nicht entsprechend ausgebildeter Bewältigungsmechanismen, der grundlegenden kindlichen Tendenz, sich „schuldig“ zu fühlen sowie dem speziellen Naheverhältnis zu den Eltern, geraten Kinder nahezu unweigerlich in – oft unlösbare – Ambivalenzen, Loyalitätskonflikte und andere Problemlagen

Der persistierende Konflikt beansprucht die emotionalen Ressourcen aller Beteiligten. So kommt es nicht selten vor, dass Eltern nicht mehr dazu in der Lage sind, die Bedürfnisse des Kindes zu erkennen, geschweige denn, diese von den eigenen zu trennen und die tatsächliche Belastung ihrer Kinder einzuschätzen. Vielmehr steht die Durchsetzung der eigenen Vorstellungen im Vordergrund bzw wird dies mit Erfordernissen des Kindeswohls begründet. Mitunter kommt es dazu, dass ein Elternteil aufgrund der eigenen Erlebnisse und Wahrnehmungen davon überzeugt ist, dass das Kind dem anderen Elternteil gegenüber ebenso zu empfinden hat, wie es selbst. Es kommt zu Koalitionsdruck, oftmals auch zur Parentifizierung. Kinder nehmen ihren Eltern gegenüber eine beschützende, aber auch regulierende Funktion ein, wodurch es zu einer Rollenumkehr kommt. Dies wiederum übersteigt die Fähigkeiten eines Kindes, Überforderung auf emotionaler Ebene ist die Folge.

Die Eltern sind mitunter so stark mit ihrem Konflikt beschäftigt, dass sie aus den Augen verlieren, dass Kinder besonders in solch belastenden Situationen Orientierung und Halt von Erwachsenen brauchen, häufig jedoch Gegenteiliges erleben. Im Idealfall zeichnet sich positives Erziehungsverhalten durch feinfühlige elterliche Zuwendung aus, was Kindern Sicherheit vermittelt. Im Fall von hochstrittigen Familienkonstellationen sinkt jedoch die elterliche Zuwendung, die Ressourcen für kindorientierte Erziehung werden geschwächt. Ebenso fließen unweigerlich vorhandene negative Emotionen in die Interaktion mit den Kindern ein.

Anhaltender Streit bedroht jedenfalls die emotionale Sicherheit von Kindern. Die scheinbare Unversöhnlichkeit der Eltern aktiviert Trennungs- und Verlustängste beim Kind. Das Erleben, dass aus einer ehemals geliebten Person, die ein Teil der engsten Bindungspersonen eines Kindes ist, eine dämonisierte Person wird, dies aus Gründen, die für ein Kind nicht verständlich sind, muss jedenfalls zu emotionalen Verunsicherungen führen. Es kann einem Kind signalisieren, dass es bei Fehlverhalten ebenfalls abgelehnt werden könnte. Daraus resultiert eine Angst vor dem Verlassenwerden und das Kind wird sich darum bemühen, dem verbliebenen Elternteil seine Loyalität zu beweisen.

Wird die emotionale Sicherheit von Kindern, die im Übrigen ein Grundbedürfnis darstellt, in ihrem Familiengefüge

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3 Staub, Das Wohl des Kindes bei Trennung und Scheidung (2018) 33. 4 Neudecker, Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung, in Familien- und Jugendgerichtshilfe, Bundesweite Grundeinschulung (2021) 5 f.

bedroht, so kann sich dies in einem erhöhten Ausmaß von Angst und einer erhöhten physiologischen Erregbarkeit zeigen, die die emotionale Überforderung eines Kindes abbilden. Durch die langanhaltende Dauer der Elternkonflikte, einhergehend mit dem bereits erwähnten Koalitionsdruck und der emotionalen Verunsicherung, kann sehr häufig eine zunehmende Verschlechterung der Beziehung der Kinder zum getrennt lebenden Elternteil beobachtet werden. Die gängige Fachliteratur zu diesem Thema weist darauf hin, dass das Kind mangels Handlungsalternativen und zum eigenen Schutz schließlich oftmals einen Kontaktabbruch seinerseits herbeiführt. So führt zB Behrend an, dass ein solches Verhalten „dem Entwicklungsbedarf und eigentlichen Interesse des Kindes klar zuwiderläuft. Es ist Ausdruck schwerwiegender psychischer Belastung, weil die Trennung das Kind zur Preisgabe seiner existentiell wichtigen Bindung an einen geliebten Elternteil führt.“5 Der Kontaktabbruch wirkt mitunter plötzlich und unverständlich, resultiert aber aus den vorangehenden Belastungen, wobei aufgrund von häufigen Befragungen des Kindes durch verschiedene Professionist: innen, (familiären) Einflüssen oder wahrgenommenen Enttäuschungen weitere Belastungen hinzukommen. Ein Kontaktabbruch erscheint hier oftmals für das Kind als geringeres Übel, läuft jedoch seinen Bedürfnissen, wie sie auch im Rahmen der Kindeswohlkriterien unter § 138 ABGB definiert sind, zuwider. In diesem Zusammenhang sei aufgezeigt, dass der Kontaktabbruch bzw die Kontaktverweigerung ein Phänomen darstellt, das nur im Kontext von Scheidungskonflikten und -reaktionen zu finden ist.6

Da das Kind permanent damit beschäftigt ist, das Verhalten und den Konflikt seiner Eltern im Auge zu behalten und möglicherweise kalmierend auf diese einzuwirken, kann es sich nicht auf seine eigenen Bedürfnisse konzentrieren, woraus dysfunktionale Anpassungsstrategien resultieren können. Kurzfristig zeigt sich dies zB in Form von Schwierigkeiten in der Schule oder regressiven Tendenzen. Langfristige Folgen zeigen sich in Problemen der Gestaltung sozialer Beziehungen, einem erhöhten Trennungsrisiko bei späteren eigenen Beziehungen, in verminderter Stressresistenz und Affektregulation.7

Eine weitere Auswirkung persistierender Elternkonflikte kann sich insofern zeigen, als es für befasste Fachkräfte oft schwierig ist, aus den Aussagen der Kinder Rückschlüsse auf deren tatsächliche Bedürfnisse zu ziehen, weil sich die Kinder ausschließlich an den Bedürfnissen der Eltern orientieren (müssen) und ihre eigenen Gefühle im Zusammenleben mit hochkonflikthaften Eltern nicht mehr wahrnehmen und ausdrücken können. Des Weiteren führt die erlebte Hilflosigkeit dazu, dass das Erleben von Selbstwirksamkeit bei den betroffenen Kindern beeinträchtigt ist, was zusätzlich Defizite in der Identitätsentwicklung zur Folge haben kann. Aus diesen Gründen muss von Fachkräften beachtet werden, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit keine unbeeinflusste Willensäußerung vorliegt. So ist in der Praxis häufig zu beobachten,

5 Behrend, Kindliche Kontaktverweigerung nach Trennung der Eltern aus psychologischer Sicht (2009) 180.

6 Behrend, Kindliche Kontaktverweigerung, 51.

7 Walper/Fichtner, Zwischen den Fronten – Psychosoziale Auswirkungen von Elternkonflikten auf Kinder, in Walper/Fichtner/Normann (Hrsg), Hochkonflikthafte Trennungsfamilien2 (2013) 91 (97).

dass Kinder ihren Eltern jeweils genau das erzählen, von dem sie glauben, dass diese es hören möchten, und dies auch in Gesprächen mit Fachkräften tun. Fthenakis und Walbiner beschreiben in diesem Zusammenhang, dass der Kindeswille im Fall von Hochstrittigkeit aus ungesunder Identifikation mit einem Elternteil resultieren kann, die wiederum die emotionale Entwicklung des Kindes negativ beeinflusst. Andere Kinder hingegen übernehmen Verantwortung für den aus ihrer Sicht bedürftigeren Elternteil und verbünden sich mit diesem.8

Es zeigt sich, dass die Auswirkungen von Hochkonflikthaftigkeit auf Kinder äußerst vielfältig und weitreichend sind sowie mehrere der unter § 138 ABGB gelisteten Kindeswohlkriterien berühren. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Kinder, die über einen langen Zeitraum feindseligen Elternkonflikten ausgesetzt sind, eine gravierende Symptomatik aufweisen können, die auch als Strategie dient, sich dem elterlichen Konfliktfeld zu entziehen, jedoch immense Schädigungen nach sich ziehen kann. Die Auswirkungen von Hochkonflikthaftigkeit auf Kinder umfassen das gesamte Spektrum psychischer Störungen des Kindesalters und betreffen sowohl externalisierendes als auch internalisierendes Problemverhalten.9 Nach Walper sind die Belastungen vergleichbar mit jenen bei Vernachlässigung oder Misshandlung.10

Damit in Zusammenhang steht, dass eskalierte Konflikte die Qualität des elterlichen Erziehungsverhaltens beeinträchtigen und bei den Eltern zu verminderter Erziehungsfähigkeit führen. In weiterer Folge wird die Beziehung und/ oder die Beziehungsqualität zu beiden Elternteilen beeinträchtigt.11 Hinzu kommt, dass hochkonflikthafte Eltern oftmals keine Hilfen für das Kind akzeptieren. Nicht alle Eltern sind – wenn auch nicht vorsätzlich – bereit oder in der Lage, an der Situation etwas zu ändern (wie auch bei anderen Gefährdungs-Settings).

Somit gehen eskalierte Konflikte mit einer verringerten Fähigkeit der Eltern einher, insgesamt kindeswohldienliche Bedingungen zu schaffen. Hochstrittige Elternkonflikte stellen eine bedeutsame Risikosituation für Kinder dar. Daraus ergibt sich, dass in allen betroffenen Fällen, ein Hilfebedarf gegeben ist.

V.Wann wird die Schwelle zur Kindeswohlgefährdung überschritten?

„Die Gefährdungsschwelle ist erreicht bzw. wurde überschritten, wenn in hochkonflikthaften Familien summarisch vier Gefährdungskriterien vorliegen:

1.Einschränkung der Erziehungsfähigkeit des hauptsächlich betreuenden Elternteils oder beider Elternteile aufgrund der kognitiven Verengung auf den Elternkonflikt,

8 Fthenakis, Die Familie nach der Familie (2008) 104.

9 Staub, Wohl des Kindes, 36; Fichtner, Trennungsfamilien, 69; Walper/Langmeyer, Belastungs- und Unterstützungsfaktoren für die Entwicklung von Kindern in Trennungsfamilien, in Volbert/Huber/Jacob/Kannegießer (Hrsg), Empirische Grundlagen der familienrechtlichen Begutachtung (2019) 13.

10 Walper/Langmeyer in Volbert/Huber/Jacob/Kannegießer, Empirische Grundlagen, 13 (24).

11 Walper/Fichtner in Walper/Fichtner/Normann, Hochkonflikthafte Trennungsfamilien2, 91.

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2.behandlungsbedürftige Belastungssymptomatik des Kindes, 3.eingeschränkte Bewältigung altersentsprechender Entwicklungsaufgaben und 4.Fehlentwicklung in der Eltern-Kind-Beziehung.“12

Des Weiteren ist nach Kindler.13 der Kipppunkt zur Kindeswohlgefährdung überschritten, wenn gerichtliche Maßnahmen (zB Kontaktregelung oder Änderung des Hauptaufenthalts) nicht ausreichend erscheinen und eine Herausnahme des Kindes mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Verbesserung der Situation für das Kind führen würde. Eine deutliche Mehrheit hochkonflikthafter Familien bewegt sich allerdings unterhalb dieser Schwelle, ab der eine Kindeswohlgefährdung abgeklärt werden muss. Eine pauschale Beantwortung der Fragestellung ist nicht möglich, es ist immer die Prüfung des Einzelfalls erforderlich.14

Das folgende Fallbeispiel zeigt eine Situation auf, in der die Grenze zur Kindeswohlgefährdung überschritten wurde.

Fallbeispiel 2

Bei der Scheidung der Eltern im Jahr 2013 waren David vier und Thomas zwei Jahre alt. Im Scheidungsvergleich wurden die Obsorge beider Eltern und ein 14-tägliches Kontaktrecht von Samstag auf Sonntag festgelegt. Kurz nach der Scheidung wurden der Mutter vom Vater mehrere Male die Autoreifen zerstochen, was die Kinder mitbekamen. Es kam zu einer strafrechtlichen Verurteilung des Vaters. In weiterer Folge kam es zu verschiedenen wechselseitigen Anträgen und Anzeigen bei der Polizei sowie zu mehreren Kontaktabbrüchen zwischen den Kindern und dem Vater.

Im Zuge diverser Gespräche bei verschiedenen professionellen Einrichtungen äußerten die Kinder immer wieder den Wunsch nach Kontakt zum Vater, infolge der zerstochenen Reifen aber auch nach wie vor Ängste um die Mutter. Bei David wurde im Jahr 2019 eine hyperkinetische Störung diagnostiziert. Der Vater lehnte die vorgeschlagenen Behandlungen (medikamentös und psychotherapeutisch) ab. Die Mutter verweigerte im Gegenzug jeglichen Austausch mit dem Vater und bezeichnete diesen den Kindern gegenüber als Dämon.

Im Herbst 2021 begannen sich bei Thomas Auffälligkeiten zu zeigen, die sich in Zwangshandlungen manifestierten. Nach mehreren Monaten ambulanter psychotherapeutischer und fachärztlicher Begleitung kam es im Sommer 2022 zu einem achtwöchigen Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die dort gestellte Diagnose lautet auf Achse I: Anpassungsstörung mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten bei anhaltender Belastung durch hochstrittige Eltern.

David wollte seinen Vater mittlerweile nicht mehr sehen, Thomas äußerte noch immer den Wunsch nach Kontakt.

Während im ersten Fallbeispiel noch keine klinisch relevanten Auffälligkeiten des Kindes festgestellt werden konnten, zeigt sich hier bereits eine massive Belastungssymptomatik. Es wird deutlich, wie verhärtet die Fronten zwischen den Eltern sein können. Auch wenn beide Eltern kognitiv nachvollziehen konnten, dass der vorherrschende Konflikt und die offene Austragung Thomas so sehr schädigten, dass eine mehrwöchige stationäre Behandlung notwendig wurde, gelang es ihnen dennoch nicht, aus der Konfliktdynamik auszusteigen.

Bei jeglichem professionellen Angebot hat zumindest eine Partei den Eindruck, zu sehr nachgeben zu müssen und dadurch das Gesicht zu verlieren – und für Thomas spitzt sich die Situation weiterhin zu.

VI.Fazit

Es konnte aufgezeigt werden, dass viele unterschiedliche Faktoren in ihrem Zusammenwirken dafür verantwortlich sind, was Hochstrittigkeit bei einem Kind bewirkt. In der Praxis ist es jedenfalls notwendig, umfassende Erhebungen hinsichtlich des kindlichen Belastungsniveaus vorzunehmen, die sich allerdings nicht auf den Elternkonflikt alleine beschränken, sondern seine gesamte Lebenssituation und mögliche weitere Stressfaktoren umfassen sollten, um die spezifische Gefährdung abschätzen und auch konkrete und angepasste Unterstützungsmaßnahmen (zB Einsatz von ambulanten Hilfsdiensten, therapeutische Unterstützungen, Beauftragung eines Kinderbeistands etc) empfehlen zu können. Dies kann zB in Form einer fachlichen Stellungnahme der Familien- und Jugendgerichtshilfe passieren, wobei diese im Rahmen ihrer Befassung keine klinischen Diagnosen stellt.

In der Arbeit mit hochstrittigen Familienkonstellationen ist somit ein Augenmerk darauf zu richten, wie Kinder in diesem Kontext geschützt und Eltern zur Inanspruchnahme professioneller Unterstützung motiviert werden können, um den Fokus wieder auf die Bedürfnisse ihrer Kinder richten zu können. Dies bedeutet auch, dass nicht mehr die von den Eltern gestellten Anträge, sondern der Schutz des Kindes in den Vordergrund gerückt werden sollte. Das Verhalten der Eltern wird als Risiko für das Kind bewertet, der Blickwinkel des Kindes wird in den Mittelpunkt gestellt. Bei anhaltender Hochkonflikthaftigkeit erscheint somit eine reine Elternberatung nicht ausreichend, sondern es bedarf spezieller Interventionskonzepte zur intensiven Arbeit mit den Eltern, zudem müssen diese auch Unterstützungsmaßnahmen für die Kinder enthalten. Dabei sollte in zeitlichen Abständen überprüft werden, ob durch die gesetzten Maßnahmen eine Verbesserung für das Kind herbeigeführt werden konnte und ob diese zur Sicherung des Kindeswohls geführt haben. Sind bei den betroffenen Kindern massive Schädigungen festzustellen, die auf den Elternkonflikt zurückzuführen sind, sind die Eltern nicht willens und/oder in der Lage, diesen entgegenzuwirken und haben gerichtliche Interventionen (wie Abänderungen bei Obsorge- oder Kontaktregelungen) nicht zu einer Verbesserung geführt, kann auch im Kontext von Hochkonflikthaftigkeit, so wie bei anderen Formen von Kindeswohlgefährdung, abzuwägen sein, ob ein Eingriff von außen im Sinne einer (vorübergehenden) Fremdunterbringung zum Schutz und zur Entlastung des Kindes erforderlich ist.

Im Fall von Hochstrittigkeit prasselt eine Vielzahl von Faktoren auf die betroffenen Kinder ein, die sich negativ auf deren Lebenssituation auswirken. Aus fachlicher Sicht erscheint es unabdingbar, den Fokus im Umgang mit hochstrittigen Familien auf das Erleben der Kinder zu lenken und dementsprechend in multiprofessioneller Zusammenarbeit Konzepte zu entwickeln, die zu deren Entlastung beitragen und deren Situation verbessern.

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12 Dietrich/Fichtner/Halatcheva/Sandner, Arbeit mit hochkonflikthaften Trennungsund Scheidungsfamilien (2010) 32. 13 Kindler, Kinderschutz im BGB, FPR – Familie, Partnerschaft, Recht 2012, 422. 14 Dietrich/Fichtner/Halatcheva/Sandner, Trennungs- und Scheidungsfamilien, 32.

Möglichkeiten, Chancen und Grenzen der Besuchsmittlung

CLAUDIA WEISS*

Im Jahr 2023 blickt die bundesweite Familiengerichtshilfe auf ihr zehnjähriges Bestehen zurück. Anlässlich dieses Jubiläums werden in der iFamZ Beiträge und Erläuterungen Einblick in die einzelnen Aufgaben der Familien- und Jugendgerichtshilfe geben.

In diesem Beitrag wird den Fragen nachgegangen, was eine Besuchsmittlung können soll, was eine solche tatsächlich kann und woran sie scheitert.

I.Was ist Besuchsmittlung?

* In Verfahren zur Regelung oder Durchsetzung des Rechts auf persönliche Kontakte kann die Familiengerichtshilfe als Besuchsmittlerin eingesetzt werden (§ 106b AußStrG). Dies geschieht nicht auf Antrag der Parteien, sondern ausschließlich durch Gerichtsbeschluss. Grundsätzlich kann eine Besuchsmittlung fünf Monate dauern; bei Bedarf kann sie allerdings verlängert werden, wobei die Verlängerung Gerichtsgebühren von derzeit 236 € pro Elternteil auslöst.

Ziel jeder Besuchsmittlung ist es, jene Konfliktpunkte, die zur Störung der Kontakte geführt haben, herauszuarbeiten, Kontakte zwischen Kindern und deren getrennt lebenden Elternteilen zu planen, anzubahnen, zu unterstützen und in weiterer Folge ins Laufen zu bringen. Außerdem wird an einer konstruktiven Elternkommunikation und Kooperation gearbeitet, sodass die Eltern nach dem Ende der Besuchsmittlung (wieder) in der Lage sind, diese Aufgaben selbständig wahrzunehmen.

Je nachdem, ob die Besuchsmittlung zur Regelung der Kontakte oder zur Durchsetzung installiert wurde, wird der Fokus mehr auf der Erarbeitung eines für alle Beteiligten passenden und lebbaren Kontaktrechts liegen oder aber darauf, dass das bereits bestehende Kontaktrecht tatsächlich zur Umsetzung gelangt.1

II.Möglichkeiten der Besuchsmittlung

Da die Bearbeitung dieses Auftrags zahlreicher Instrumente bedarf, sind dafür verschiedene Wege und Herangehensweisen möglich, wobei manchmal durchaus Kreativität und Fantasie gefragt sind.

Folgende Instrumente können eingesetzt werden:

■ Gespräche mit den Eltern, einzeln und als Elterngespräche;

■ neutrale Außensicht auf die Situation;

■ Deeskalation des Elternkonflikts durch Triangulierung;2

■ Bewusstseinsbildung, Beratung und Aufklärung über die Auswirkungen der elterlichen Handlungsweisen für das Kind; Psychoedukation;

■ Beobachtung von Übergaben mit nachfolgender Reflexionsmöglichkeit;

1 Vgl Erhart/Wohlfarter, Besuchsmittlung in Kontaktrechtsverfahren, iFamZ 2016, 194; Erhart/Raffelsberger, Praxishandbuch Kinder- und Jugendschutz (2018) Kap2.11.

2 Triangulierung bedeutet, dass eine dritte Perspektive eingebracht und damit der Diskussionsraum dreidimensional wird.

■ Beobachtung von Kontakten bzw Verhaltensbeobachtung mit nachfolgender Reflexionsmöglichkeit;

■ direktes Einwirken durch die nachgehende Arbeit bei zB Übergaben oder Hausbesuchen;

■ Gespräch mit dem Kind: Dieses erfährt Unterstützung, wird gehört, ernst genommen und berücksichtigt;

■ notwendige Erhebungen im Umfeld (zB Schule, Kindergarten etc);

■ Fokus auf das Kind sowie dessen Gefühle und Wahrnehmungen;

■ Erstellung von (Stufen-)Plänen und Erprobung von Kontakten während des mehrmonatigen Verlaufs;

■ praktische Anleitung für Elternkommunikationsstrategien und einen respektvollen Umgang;

■ Kontrollfunktion bezüglich der Einhaltung von Vereinbarungen.

III.Chancen der Besuchsmittlung

Aufgrund der zahlreichen Möglichkeiten innerhalb des Auftrags eröffnen sich viele Chancen für die Parteien, eine grundlegende oder wenigstens teilweise Änderung und somit Verbesserung der belastenden Ausgangssituation zu erreichen. Durch die sehr intensive und nachgehende monatelange Arbeit mit den Eltern findet durchaus auch Beziehungsarbeit statt, im Rahmen derer im Idealfall ein Vertrauen entsteht, durch das sich die Eltern möglicherweise auf Entwicklungsprozesse einlassen können.

In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, dass durch die neutrale und professionelle Mitwirkung der Besuchsmittler:innen Entlastung und Beruhigung eintreten kann, wenn der betreuende Elternteil diverse Ängste und Sorgen iZm den Kontakten hat, indem zB Kontakte beobachtet werden oder im Vorfeld mittels Hausbesuchs die Eignung des Wohnumfelds für einen Kinderbesuch festgestellt werden kann.

Da viele Eltern schon längere Zeit mit ihrem Konflikt beschäftigt sind, ist oftmals Mut- und Hoffnungslosigkeit zu beobachten. Wenn es in der Besuchsmittlung gelingt, durch motivierende Haltung die Eltern zu einem Neuanfang zu bewegen, kann mitunter ein Herausführen der Beteiligten aus der Problemtrance und ein Hinführen zur Lösungstrance gelingen. Manche Eltern können sich nur noch schwer vorstellen, dass sich die bestehenden Probleme tatsächlich lösen lassen und sind verwundert, was sich alles verändert, wenn das gelungen ist.

Weiters kann der Rahmen der Besuchsmittlung als Übungsfeld genützt werden, um neue Kontaktrechtsmo-

INTERDISZIPLINÄRER AUSTAUSCH Juni 2023 180
*Dr.in Claudia Weiss ist Mitarbeiterin der Familien- und Jugendgerichtshilfe Salzburg.

delle auszuprobieren und diese im Rahmen der Elterngespräche weiterzuentwickeln, festzulegen oder – wenn sich das Modell doch nicht bewährt hat – wieder zurückzunehmen. Es können erste Anbahnungskontakte (entweder nach längerer Unterbrechung oder wenn es noch nie Kontakte gegeben hat) geplant, gestaltet und ausprobiert werden, wobei sich der neutrale Boden, die Anwesenheit der Mitarbeiter: innen und die nachfolgende Reflexion sehr unterstützend auswirken.

Nicht zu unterschätzen ist auch der Lerneffekt, durch den bei den Eltern ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, wie sie ihre Kooperation und Kommunikation besser gestalten können. Dabei besteht die Chance, dass die Eltern jene Gesprächsregeln verinnerlichen und auch weiterhin umsetzen, auf die sie im Verlauf der Besuchsmittlung hingewiesen wurden. Es wird mit ihnen erarbeitet, wie Übergaben idealerweise ablaufen und wie Kontakte verlaufen sollten, damit sich das Kind unbelastet und stressfrei zwischen ihnen bewegen kann. Aufgrund der monatelangen Dauer der Besuchsmittlung kann das erwünschte und dem Kindeswohl entsprechende Verhalten lange genug geübt werden, um es als ständige Verhaltensweise zu verinnerlichen. Eltern können von der Besuchsmittlung profitieren, indem sie sich der eigenen Befindlichkeiten bewusstwerden und diese hintanstellen, damit die Bedürfnisse des Kindes an die erste Stelle rücken können. Sensibilität und Empathie dem Kind gegenüber werden geschärft und gefördert, wenn im Verlauf der Besuchsmittlung immer wieder thematisiert wird, wie sich das Kind fühlt.

Zudem lässt sich in den fünf Monaten der Besuchsmittlung echtes Interesse am Kind von vorgeschobenem Interesse unterscheiden, und die Zuverlässigkeit des besuchenden Elternteils wird im Interesse des Kindes überprüft.

Gespräche mit dem Kind haben in erster Linie ein Kennenlernen zum Ziel, aber auch das Hören und Ernstnehmen der kindlichen Sichtweise sowie die Aufklärung und Entlastung. Entlastung kann erfolgen, indem dem Kind erklärt wird, dass sich die Eltern bemühen, an einer für alle Beteiligten guten Lösung zu arbeiten, und dass das Kind keine Schuld am Elternstreit hat.

IV.Grenzen der Besuchsmittlung

Bei vielen Besuchsmittlungen ist es trotz größter professioneller Bemühungen nicht möglich, eine Umkehr zu erreichen. Letztlich müssen die Eltern selbst wollen, dass sich etwas ändert – und sie müssen es selbst tun.

Wenn Väter oder Mütter die Kampfebene nicht verlassen können, weil die Konflikte schon zu lange anhalten und so intensiv sind, dass andere Optionen als Kampf gar nicht mehr in Betracht gezogen werden können, bleiben die sinn-

vollsten Interventionen mitunter wirkungslos. In diesen Fällen der Hochstrittigkeit kann man als Besuchmittler:in mitunter nur auf die negativen Folgen und gefährdenden Auswirkungen der elterlichen Unversöhnlichkeit auf das Kind hinweisen und hoffen, dass die eine oder andere Botschaft zumindest gehört wird.

Sind die Verletzungen noch so frisch, dass die eigene Emotion und Bedürftigkeit alles überlagert und Mütter oder Väter es nicht schaffen, die Empfindungen des Kindes als etwas Eigenes zu sehen, kommt die Besuchsmittlung an ihre Grenzen. Betrachtet ein Elternteil die Besuchsmittlung als Bühne, um den eigenen Befindlichkeiten möglichst viel Raum und Aufmerksamkeit zu verschaffen, wird er/sie die Kooperation beenden, sobald die Bühne nicht (mehr) zur Verfügung gestellt wird. Auch in diesen Fällen bleibt oft nur die Möglichkeit, auf den Schaden, der durch dieses Verhalten beim Kind ausgelöst wird, hinzuweisen.

Elternteile, die sich wenig in die Gefühlswelt ihres Kindes hineinversetzen können und ihr Kontaktrecht überwiegend als Recht betrachten, das es gegen jeden Widerstand durchzusetzen gilt, bringen die Besuchsmittlung ebenfalls häufig an die Grenzen.

Bei Persönlichkeitsstörungen oder Persönlichkeitsakzentuierungen der Eltern muss zur Kenntnis genommen werden, dass die Bemühungen im Rahmen der Besuchsmittlung oft ins Leere gehen.

Es sind mitunter aber auch die Kinder, die in der Besuchsmittlung Grenzen aufzeigen So zB jene verweigernden Kinder, die den (vermeintlich) schwächeren Elternteil stärken und stützen wollen, sich deshalb zu 100 % loyal verhalten möchten und Kontakte zum anderen Elternteil nicht zulassen.

Schwer aufzulösen sind auch jene Konstellationen, bei denen Elternteile die Verweigerungshaltung ihres Kindes induzieren und bestärken, um sich beim Ex-Partner/bei der Ex-Partnerin auf diese Weise zu rächen oder ihn/sie zu bestrafen. Nicht immer gelingt es hier, dem Vater oder der Mutter zu vermitteln, dass mit dieser Haltung in erster Linie das Kind bestraft wird, indem es einen Elternteil opfern muss, um beim betreuenden Elternteil bestehen zu können.

Wurden Kinder tatsächlich persönlich gekränkt oder haben sie das Gefühl, von einem Elternteil verlassen, belogen oder getäuscht worden zu sein, sind sie je nach Entwicklungsstufe mitunter sehr unversöhnlich und wehren sich massiv gegen Kontakte.

Zum Glück hat sich in den zehn Jahren, in denen das Instrument Besuchsmittlung zur Verfügung steht, gezeigt, dass es oft genau das war, was den meisten Familien in ihrer schwierigen Lage geholfen hat: neue Perspektiven zu finden und im Interesse der Kinder auch umzusetzen.

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Die Einbindung von Kindern in die Befassung der Familiengerichtshilfe

ASTRID ZIERER*

Im Jahr 2023 blickt die bundesweite Familiengerichtshilfe auf ihr zehnjähriges Bestehen zurück. Anlässlich dieses Jubiläums werden in der iFamZ Beiträge und Erläuterungen Einblick in die einzelnen Aufgaben der Familien- und Jugendgerichtshilfe geben.

Kinder stehen im Zentrum von Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren, somit auch der Tätigkeit der Familiengerichtshilfe. Dieser Beitrag gibt einen Überblick darüber, wie Kinder – ua abhängig von der Familienkonstellation sowie von Auftrag und Fragestellung des Gerichts – auf unterschiedliche Weise in die Befassung der Familiengerichtshilfe eingebunden werden.

I.Grundlegendes

* Das Ziel von Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren liegt in der Wahrung des Kindeswohls nach § 138 ABGB. Dabei ist besonders darauf zu achten, dass die Kinder durch diese Verfahren nicht zusätzlich belastet werden.1 Es ist Teil des Kindeswohls, dass die Meinung des Kindes abhängig von dessen Verständnis und Fähigkeit zur Meinungsbildung berücksichtigt wird. Weiters sollen Beeinträchtigungen, die ein Kind durch eine Um- oder Durchsetzung von Maßnahmen gegen dessen Willen erleiden könnte, vermieden werden. Rechte, Ansprüche und Interessen des Kindes sollen gewahrt bleiben sowie Loyalitätskonflikte und Schuldgefühle des Kindes reduziert werden. Gem § 105 AußStrG sind Kinder in Verfahren über Pflege und Erziehung oder die persönlichen Kontakte vom Gericht zu hören. Unter bestimmten Umständen kann dieses Gespräch auch unterbleiben oder von einer geeigneten anderen Stelle, zB der Familiengerichtshilfe, übernommen werden.

Dettenborn schlägt vor, „unter familienpsychologischem Aspekt als Kindeswohl die für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes oder Jugendlichen günstige Relation zwischen seiner Bedürfnislage und seinen Lebensbedingungen zu verstehen“.2 Daraus kann die Aufgabe der Familiengerichtshilfe abgeleitet werden, ein gutes Verständnis für die aktuellen Bedürfnisse des betroffenen Kindes sowie für dessen aktuelle und durch die Veränderung von Obsorgeund/oder Kontaktrechtsregelungen möglichen Lebensbedingungen zu bekommen. Um dies zu ermöglichen, werden die Kinder je nach Alter, Auftrag des Gerichts und Thema der elterlichen Uneinigkeit auf die eine oder andere Art aktiv/direkt oder lediglich passiv/indirekt in die Befassung der Familiengerichtshilfe eingebunden. 3

Es kann für Kinder sehr belastend sein, die unterschiedlichen Sichtweisen der Eltern mitzuerleben und ihren diesbezüglichen Konflikten ausgesetzt zu sein. Die Familiengerichtshilfe hat immer wieder mit Eltern(teilen) zu tun, die vorschlagen, das Kind entscheiden zu lassen, wie zB das Kontaktrecht geregelt sein soll oder bei welchem Elternteil es wohnen möchte. Nach fachlicher Einschätzung bringt dies

*Mag.a Astrid Zierer, MSc war Mitarbeiterin der Familien- und Jugendgerichtshilfe Linz.

1 Erlass zur Familiengerichtshilfe vom 13. 1. 2022, 2021-0.333.184, 5.

2 Dettenborn, Kindeswohl und Kindeswille (2021) 50.

3 Zu unterschiedlichen Sichtweisen und Formen des Einbezugs von Kinder bei Begutachtung und Beratung s Fichtner, Trennungsfamilien – lösungsorientierte Begutachtung und gerichtsnahe Beratung (2015) 129 ff.

Kinder oftmals in einen Loyalitätskonflikt, der eine weitere Steigerung der Belastung des Kindes und dessen Überforderung zur Folge haben kann. Nach Barth-Richtarz können Loyalitätskonflikte „gemildert werden, indem Eltern den Kindern die Botschaft vermitteln, dass sie es ausdrücklich wünschen, dass das Kind auch zum anderen Elternteil eine gute Beziehung hat, und dass es in Konfliktsituationen zwischen den Eltern nicht Sache des Kindes ist, zu entscheiden, wer von beiden Recht hat und auf wessen Seite es sich folglich stellen müsste“.4 Zu seinem eigenen Schutz hat das betroffene Kind im Gerichtsverfahren keine formelle Entscheidungskompetenz.5 Aus Sicht der Familiengerichtshilfe steht bei den Gesprächen mit den Kindern im Vordergrund, ihnen einen Ort zu bieten, an dem sie ihre Bedürfnisse, Befindlichkeiten und Belastungen mitteilen können.

Von den Fachkräften der Familien- und Jugendgerichtshilfe wird stets mitbedacht, ob für das betroffene Kind im laufenden Verfahren ein Kinderbeistand oder eine andere Unterstützungsmaßnahme zielführend ist. Gegebenenfalls wird das in den fachlichen Stellungnahmen der Familiengerichtshilfe fachlich begründet empfohlen.

II.Art der Teilnahme der Kinder

Bei den meisten Aufträgen seitens des Gerichts liegt es im Ermessen der zuständigen Fachkraft der Familiengerichtshilfe, zu entscheiden, ob und wenn ja, in welcher Form das betroffene Kind aktiv/direkt miteinbezogen wird. Ausgenommen davon sind Aufträge, bei denen das Gericht explizit ein Kindergespräch beauftragt.

Im Folgenden wird näher ausgeführt, wann und in welcher Form Kinder aktiv/direkt oder passiv/indirekt an der Befassung der Familiengerichtshilfe teilnehmen.

A.Aktive/direkte Teilnahme

Einen direkten Kontakt zwischen dem betroffenen Kind und der Familiengerichtshilfe kann es im Rahmen von Gesprächen mit dem Kind, Interaktionsbeobachtung,6 Verhaltens-

4 Barth-Richtarz, Was brauchen Kinder unterschiedlichen Alters angesichts der Scheidung ihrer Eltern? (2006) 188.

5 Vgl Dettenborn, Kindeswohl, 114.

6 Videogestützte Interaktionsbeobachtung, bei der hinsichtlich einer konkreten Fragestellung entsprechend den Vorgaben im internen Handbuch zur Interaktionsbeobachtung der Familien- und Jugendgerichtshilfe strukturiert vorgegangen und Beobachtetes systematisch ausgewertet wird. Beobachtet wird gewöhnlich die Interaktion zwischen einem Kind und einem Elternteil. S dazu Jacob, Interaktionsbeobachtung von Eltern und Kind (2016).

INTERDISZIPLINÄRER AUSTAUSCH Juni 2023 182

beobachtungen7 und Hausbesuchen im Haushalt der Elternteile geben. Eine Anwesenheit der Kinder bei Gesprächen mit den Eltern wird gewöhnlich abgelehnt, um diese nicht zusätzlich zu belasten. Ausnahmen kann es hierbei bei explizit in dieser Form geplanten Gesprächen geben.

Mitglieder interner Arbeitsgruppen der Familien- und Jugendgerichtshilfe erstellen Standards für verschiedene Aspekte der Tätigkeit und entwickeln diese bei Bedarf und wissenschaftlichen Neuerungen weiter. Solche gibt es zB für die Interaktionsbeobachtung und für die Gesprächsführung mit Kindern. Letztere beinhalten ua eine Aufklärung über die Weitergabe des Gesagten sowie die Anpassung des Settings und der Gesprächsführung an das betreffende Kind bzw den richterlichen Auftrag. Ein Hören des Kindes im Sinne der Ermittlung von dessen Wünschen, Anliegen und Sorgen und gegebenenfalls eines Kindeswillens findet bei der Familiengerichtshilfe gewöhnlich und bei altersgemäßer Entwicklung ab einem Alter von sechs Jahren statt. Die Gesprächsführung wird seitens der Familiengerichtshilfe an das Alter und die Entwicklung des Kindes angepasst 8 Verhaltens- und Interaktionsbeobachtungen ermöglichen der Familiengerichtshilfe direkte Wahrnehmungen zum Umgang des Kindes und des Elternteils miteinander. Aus diesen Situationen können durch die Auswertung vorab festgelegter Beobachtungskategorien oftmals Rückschlüsse auf die Beziehung gezogen werden. Zudem können Wünsche und/oder besondere Bedürfnisse des Kindes sichtbar werden. In den meisten Fällen dient das Gespräch mit dem betroffenen Kind dazu, dessen Anliegen, Meinungen, Wünsche und Sorgen zu erheben. Fichtner 9 nennt als zentrale Fragenbereiche den Entwicklungsstand, die Ressourcen und die Belastungen des Kindes, dessen Betreuungserleben und Umfeld sowie die Beziehungen und Wünschen des Kindes. Weitere Themen, die sich als für die Belastungen von Kindern aus Hochkonfliktfamilien besonders relevant erwiesen haben, sind, wie Kinder den elterlichen Konflikt, die Trennung von einem Elternteil, die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, weitere nötige Anpassungsleistungen ihrerseits sowie das elterliche Erziehungsverhalten erleben und bewältigen. Wie bereits ausgeführt, liegt der Fokus der Familiengerichtshilfe bei den Gesprächen darauf, herauszufinden, wie es dem betroffenen Kind geht und was es beschäftigt und braucht.

Im Rahmen einer Besuchsmittlung kann es sinnvoll sein, einem Kind die Tätigkeit der Familiengerichtshilfe zu erklären. Wenn es den Eltern gelingt, in der Besuchsmittlung oder im Clearing eine Vereinbarung zu erarbeiten, kann das Kindergespräch dazu dienen, diese dem betroffenen Kind zu erklären. Zudem gibt es eine Sonderform des Auftrags, im Rahmen einer spezifischen Erhebung ein Kindergespräch zu führen, bei dem das Gespräch der Familiengerichtshelfer: innen mit dem betroffenen Kind im Beisein der/der zustän-

7 Verhaltensbeobachtungen kann es in strukturierter Form oder als Gelegenheitsbeobachtungen geben. Der Unterschied zur Interaktionsbeobachtung besteht darin, dass die Interaktion zwischen dem Kind und der anderen Person (zumeist einem Elternteil) nicht mittels Videos aufgezeichnet und nicht anhand der im internen Handbuch zur Interaktionsbeobachtung der Familien- und Jugendgerichtshilfe festgelegten Kriterien ausgewertet wird.

8 Vgl Delfos, „Sag mir mal …“ Gesprächsführung mit Kindern (2015).

9 Vgl Fichtner, Trennungsfamilien, 136.

digen Richter:in stattfindet. Dabei wird das Kindergespräch von der Familiengerichtshilfe gestaltet und geführt, an einigen Standorten bringt sich der/die Richter:in jedoch gegen Ende des Gesprächs selbst ein.

Bei fachlichen Stellungnahmen überprüft die Familiengerichtshilfe teilweise, ob es sich bei dem vom betroffenen Kind geäußerten Wunsch um einen Kindeswillen entsprechend der fachlichen Definition handelt. Dettenborn definiert den Kindeswillen als „altersgemäß stabile und autonome Ausrichtung des Kindes auf erstrebte, persönlich bedeutsame Zielzustände“.10 Er nennt Zielorientierung (Vorstellung dazu, was sein soll und wie dies erreicht werden kann), Intensität (die Zielvorstellung wird entschieden und auch bei Hindernissen angestrebt), Stabilität (der Wunsch bleibt über eine zeitliche Dauer hinweg stabil und wird gegenüber verschiedenen Personen kommuniziert) und Autonomie (es handelt sich um ein individuelles, selbst initiiertes Streben11) als Mindestanforderungen an das Vorliegen eines Kindeswillens.

Der Kindeswille soll zur Kenntnis genommen, geprüft und abhängig von seinem Verhältnis zum Kindeswohl und anderen Kindeswohlkriterien berücksichtigt werden.12 Ist es für Kinder nicht nachvollziehbar, warum ihr Wille nicht berücksichtigt wird, kann dies zB zu einer Labilisierung ihrer Selbstwirksamkeitserwartung und ihres Selbstvertrauens oder zum Verlust ihrer Orientierung führen.13 Daher sollte gelten: „So viel Akzeptierung des Kindeswillens wie möglich, so viel staatlich reglementierender Eingriff wie nötig, um das Kindeswohl zu sichern.“14 Daraus ergibt sich, dass auch ein Kindeswille nie das alleinige Kriterium für eine fachliche Einschätzung seitens der Familiengerichtshilfe sein kann und deren Empfehlungen dem geäußerten Kindeswillen durchaus auch widersprechen können.

Fichtner spricht von einer Vermittlungs- bzw Übersetzungsfunktion von Berater:innen und Sachverständigen: „Zum einen ist das Kind zu unterstützen, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen, zum anderen sind diese dann den Eltern zu vermitteln.“15 Dies findet bei der Familiengerichtshilfe vor allem bei Besuchsmittlungen, aber auch in den anderen Produkten Anwendung.

B.Passive/indirekte Teilnahme

Selbst wenn mit dem betroffenen Kind kein Gespräch geführt wird oder es keine Verhaltens- oder Interaktionsbeobachtung gibt, stehen das Kind und seine Bedürfnisse im Fokus der Familiengerichtshilfe. So bringt das Studium des Gerichtsakts oftmals Informationen dazu, wie lange die elterlichen Konflikte schon andauern und wie deren Ausmaß einzuschätzen ist, ob es besondere Lebensumstände des Kindes und/oder der Familie gibt, Eltern das Kind als belastet einschätzen und ob das Kind schon einmal gerichtlich befragt wurde. In den Gesprächen mit den Elternteilen werden diese

10 Vgl Dettenborn, Kindeswohl, 64 ff.

11 Dies schließt Fremdeinflüsse bei der Entwicklung des Willens nicht aus. Selbst ursprünglich induzierte Inhalte können vom betreffenden Kind verinnerlicht und Teil von dessen Identität werden. S dazu Dettenborn, Kindeswohl, 69, 95.

12 Vgl Dettenborn, Kindeswohl, 112 ff.

13 Vgl Dettenborn, Kindeswohl, 115.

14 Dettenborn, Kindeswohl, 83.

15 Fichtner, Trennungsfamilien, 138 f.

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nach den Bedürfnissen des Kindes sowie möglichen Auswirkungen von Veränderungen bestehender Obsorge- und/ oder Kontaktrechtsregelungen auf das Kind gefragt. Im Rahmen von fachlichen Stellungnahmen werden Informationen von Kindergärten, Schulen und Nachmittagsbetreuungen zum Kind eingeholt, um so eine Einschätzung unabhängiger Dritter zu nutzen, die jedoch in einem großen Ausmaß Kontakt zum Kind haben.

Darauf verzichtet, Kinder aktiv in die Fallbearbeitung durch die Familiengerichtshilfe einzubeziehen, wird vor allem dann, wenn dies eine zu große Belastung für das betroffene Kind darstellt, die Sichtweise des Kindes bereits vom Gericht oder mittels Kinderbeistands erhoben wurde oder davon auszugehen ist, dass das Kind aufgrund seines Alters oder des Inhalts der strittigen Thematik (zB Obsorge beider Eltern vs alleinige Obsorge bei Beibehaltung des Orts der hauptsächlichen Betreuung) keine konkrete Vorstellung zu dieser hat.

Im Folgenden werden zwei Beispiele für Fallkonstellationen dargestellt, bei denen keine Kindergespräche geführt werden.

Fallbeispiel 1

Die Eltern der zweieinhalbjährigen Klara, die ihren Vater zuletzt vor zwei Jahren persönlich getroffen hat, einigen sich auf eine schrittweise Ausdehnung des Kontaktrechts, beginnend mit begleiteten Kontakten in einer Besuchsbegleitungseinrichtung. Im Rahmen der Befassung der Familiengerichtshilfe zeigen sich keine Gründe, die gegen einen Kontakt zwischen dem Vater und Klara sprechen. In dieser Fallkonstellation ist das Kind noch sehr jung und wird von einem Gespräch mit dem Kind abgesehen.

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Fallbeispiel 2

Benjamin (acht Jahre) und Thomas (sechs Jahre) verbringen seit der elterlichen Trennung vor dreieinhalb Jahren jede Woche einen Nachmittag und jedes gesamte zweite Wochenende bei ihrem Vater. Das Kontaktrecht ist nicht strittig und funktioniert nach Aussage beider Elternteile gut. Der Vater hat eine Obsorgebeteiligung beantragt, der Ort der hauptsächlichen Betreuung soll bei der Mutter bleiben. Die Mutter möchte die Beibehaltung der alleinigen Obsorge ihrerseits, weil sie sich immer schon vorrangig um die Kinder gekümmert hat und das auch künftig tun wird. Die Eltern sind sich in weiten Teilen einig und es werden keine Probleme rund um den Kontakt der Kinder mit ihren Eltern vorgebracht. Zur Klärung dieser Teilfrage ist die Einbeziehung der Kinder zum aktuellen Zeitpunkt für die Beantwortung der Fragestellung des Gerichts durch die Familiengerichtshilfe nicht notwendig.

III.Überblick und Fazit

Die Mitarbeiter:innen der Familien- und Jugendgerichtshilfe sehen es als ihre Aufgabe an, die Art der Teilnahme der betreffenden Kinder an der Befassung der Familiengerichtshilfe im Sinne des Kindeswohls zu gestalten. Die Absolvierung entsprechender interner und externer Fortbildungen, die Berücksichtigung interner Standards und Handbücher sowie der Austausch mit Kolleg:innen fördern die Kompetenzen der Fachkräfte – sowohl hinsichtlich des Vorgehens im Rahmen der Fallbearbeitung, kindeswohldienliche Entscheidungen zu treffen, als auch erlangte Informationen adäquat auszuwerten.

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KBGG | Kinderbetreuungsgeldgesetz und Familienzeitbonusgesetz –Kommentar

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