GRANDS ENSEMBLES PARIS - Großmaßstäbliche Wohnstrukturen der 1970er und 1980er Jahre

Page 1

GRANDS ENSEMBLES PARIS Großmaßstäbliche Wohnstrukturen der 1970er und 1980er Jahre

Masterthesis von Sarah Moser Wintersemester 2020/21

LSA Lehrstuhl für Städtische Architektur


Texte und Entwurfsprojekte: Copyright bei den Autor:innen. Die Referenzabbildungen wurden als Bildzitate den zitierten Publikationen entnommen.


Grands Ensembles Paris



Grands Ensembles Paris Großmaßstäbliche Wohnstrukturen der 1970er und 1980er Jahre

Sarah Jasmin Moser Lehrstuhl für Städtische Architektur Prof. Dietrich Fink Lehrstuhl für Theorie und Geschichte von Architektur, Kunst und Design Prof. Dietrich Erben Fakultät für Architektur, Technische Universität München Wintersemester 2020 / 2021


Inhalt


4 Einleitung 8 Grundlagen 9 Monumentalität 22 Stadtbild

32 Zeitlicher und politischer Entwicklungskontext 44 Fallbeispiele 45 58 76 86 96 114 122

Les Orgues de Flandre Les Espaces d’Abraxas Les Tours Aillaud Les Arcades du Lac, le Viaduc Les Étoiles d‘Ivry-sur-Seine Les Choux de Créteil Les Arènes de Picasso

134 Zeichnerische Analyse 135 148 160 192

Inszenierung in der Stadt Städtische Elemente Individualität und Vielfalt Erinnerbares Bild

202 Resumée 206 Literaturverzeichnis 212 Verfassererklärung 3


Einleitung

4


Eine Faszination für Großstrukturen des Wohnens führte mich an viele Orte des Stadtzentrums und der Vororte von Paris. Auf der Suche nach den Grands Ensembles prägten mich dabei besonders die Eindrücke der in den 1970er und 1980er entstandenen Großstrukturen – aufgrund ihrer enormen Dimension und Dichte, ihres Maßstabs zum Menschen und zur Stadt, ihrer Radikalität, ihrer Paradoxe, ihrer Härte und Poesie zugleich sowie aufgrund ihrer äußerst starken Atmosphären. Sie versetzen einem in eine andere Zeit, ohne dass man weiß, ob man sich in der Vergangenheit oder in der Zukunft befindet. Aus den Besichtigungen dieser Grands Ensembles im Großraum Paris entstand das Vorhaben, die Architektur, ihre Konzeption und die Hintergründe besser zu verstehen. Dazu werden im ersten Teil dieser Arbeit theoretische Grundlagen beleuchtet, welche Aufschluss auf die Gebäudekomplexe geben können. Die beiden Themenbereiche Monumentalität und Stadtbild werden betrachtet. Beim Beobachten und Durchlaufen der Ensembles wurde schnell klar, dass diese zwei Bereiche untersucht werden müssen, um die Dimension, die Wirkung und den Ausdruck dieser Grand Ensembles erklären zu können. Die Kapitel Monumentalität und Stadtbild zeigen, dass es keine einheitliche Definition der Begriffe gibt, und versuchen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – verschiedene Einblicke in die Bereiche zu geben. Monumentalität und Stadtbild sollen greifbarer gemacht und der Blick auf diese erweitert werden. Das Befassen mit den beiden Themen eröffnet neue Sichtweisen auf Grands Ensembles. Zusätzlich zu der literarischen Recherche über Monumentalität und Stadtbild dient eine Betrachtung der Hintergründe des Pariser Wohnungsbaus und des Entstehungskontextes der Grands Ensembles dazu, diese richtig einordnen zu können. Der zeitliche und politische Entwicklungskontext schafft einen besonderen Rahmen für die Planung und Konzeption der Ensembles. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Faktoren begünstigen die Entstehung von für die Zeit typischen großmaßstäblichen Sozialwohnungsbauten. Ein anschließender Referenzkatalog zeigt sieben Grands Ensembles, die zeitlich, räumlich und konzeptionell in die Untersuchung fallen. Jedes der Fallbeispiele ist eine durch Dichte und Großmaßstäblichkeit gekennzeichnete Reaktion auf den französischen Wohnungsmangel und präsentiert Lösungen für den sozialen Wohnungsbau. Es handelt sich um Ensembles, die alle in den 1970er und 1980er Jahren entworfen wurden und im Großraum Paris zu lokalisieren sind. Sie liegen mit einer Entfernung von maximal 15 km, beziehungsweise 30 Minuten mit öffentlichen Verkehrsmitteln, in guter Erreichbarkeit zum Stadtzentrum von Paris. Neben diesen Charakteristika sind die gewählten Wohnstrukturen Beispiele für eine alternative Formfindung beziehungsweise der beklagten Monotonie des sozialen Wohnungsbaus der direk5


ten Nachkriegszeit der 1950er und 1960er Jahre – der ersten Generation von Grands Ensembles der tours et barres. Sieben Grands Ensembles entsprechen den Auswahlkriterien: Les Orgues de Flandre Les Espaces d’Abraxas Les Tours Aillaud Les Arcades du Lac, le Viaduc Les Étoiles d‘Ivry-sur-Seine Les Choux de Créteil Les Arènes de Picasso In der Untersuchung dieser Ensembles werden Themen wie ihre Entstehungsgeschichte, ihre Intentionen, ihre Komposition sowie die Haltung der Architekt*innen analysiert. Ihre Präsenz in der Stadt und im Quartier, die verschiedenen Funktionen und Angebote, ihre räumlichen Qualitäten auf unterschiedlichen Maßstäben – von den öffentlichen Räumen bis zu den Wohnungsgrundrissen – werden studiert. Die Besonderheiten, Errungenschaften und beispielhaften Qualitäten werden aufgezeigt und individuell spezifische Themenbereiche hervorgehoben. Eine zeichnerische Analyse ergänzt die beobachtende Untersuchung der Ensembles. Auf der Basis einer intensiven Planrecherche entstand eine Transformation der Pläne in vergleichbare Zeichnungen, welche die verschiedenen Grands Ensembles in ihrer Wirkung, Ausformulierung und Konzeption vergleichbar machen. Es wird eine Auswahl an für das jeweilige Ensemble repräsentativer Pläne gezeigt. Mit Hilfe abstrakter, einfacher Zeichnungen werden gewählte Analyseaspekte verglichen, zeigen in ihrer Gegenüberstellung Unterschiede und Gemeinsamkeiten und geben Aufschlüsse über räumliche Organisationen und Entwurfsstrategien.

6



Grundlagen

8


Monumentalität Was wir heute als Monument und als monumental ansehen – wenngleich darüber auch heute kein allgemeiner Konsens herrscht – hat sich im Lauf der Zeit entwickelt und stark verändert. Die Geschichte des Monumentbegriffs ist vielschichtig und komplex. Viele Architekt*innen, Künstler*innen und Autor*innen haben unterschiedliche Positionen zu dem Diskurs entwickelt. Diese lohnt es sich zu betrachten, um ein weiteres Verständnis der Monumentalität zu erhalten. Im Folgenden werden einige Sichtweisen benannt und beschrieben, wenn auch nicht in ihrer kompletten Fülle, die den Blick zum Thema Monument weiten sollen. Ursprung des Monumentbegriffs Der ursprüngliche Sinn des Wortes Monument und somit die Herkunft des Monumentbegriffs ist auf das lateinische Verb monere zurückzuführen. Das lateinische Wort für Monument Monumentum, was auch Denkmal oder Grabmal bedeutet, basiert auf dem lateinischen Verb monere. Dieses bezeichnet „einen Gegenstand, der eine konkrete memoriale Funktion zu erfüllen hat”.1 Wenn ein Gegenstand die Funktion der Gedächtniskraft übernimmt, dann stellt sich die Frage nach einem adäquaten Medium als Träger dieser Erinnerung. Da theoretisch viele Dinge Erinnerungen an Beliebiges hervorrufen, könnten diese folglich als Monumente bezeichnet werden. Die Gegenstände beziehungsweise Medien könnten in den Künsten zu suchen sein. Beispielsweise sind die bildenden Künste an Materielles gebunden, welches vergänglich ist. Die Dichtkunst hingegen schafft, wenn ihre Gedanken von Generation zu Generation übertragen werden, dauerhaftere Erzeugnisse.2 Der österreichische Architekt und Autor Ferdinand von Feldegg schreibt das Monument nicht den Bildenden Künste zu und setzt es auch nicht mit der Architektur gleich. Monumentalität lässt sich nach Feldegg auf „alle Gegenstände menschlicher Hervorbringungen beziehen […], die den Mechanismus des Vergessens zumindest zeitweise außer Kraft zu setzen mögen”.3 Der österreichische Kunsthistoriker Alois Riegl öffnet einen neuen Blick auf die Frage des Monuments. Er beobachtet, dass die Wahrnehmung eines historisch überlieferten Artefakts und dessen Einordnung einer subjektiven Perspektive unterliegt. Was ein Denkmal oder ein Monument war (diese beiden Begriffe wurden synonym verwendet) „entschieden nicht Auftraggeber, Herrscher oder Stifter, sondern die retrospektiven Betrachtungen des Historikers.”4 Die nachträgliche Rezeption entscheidet folglich darüber, ob es sich bei einem Artefakt um ein Monument handelt oder nicht. Wenn ein Produkt erst im 1 Ruhl, Mythos Monument. Urbane Strategien in Architektur und Kunst seit 1945, 11. 2 vgl. Ruhl, 11 f. 3 Ruhl, 12. 4 Ruhl, 14.

9


Nachhinein zu einem Monument erklärt werden kann, so wäre es nicht möglich, bewusst ein Monument zu planen, sozusagen ein gewolltes Monument zu erschaffen. Sowohl Feldegg wie auch Riegl sprechen von dinglichen Produkten, von Gegenständen und Artefakten, welche die Funktion des Monumentes einnehmen. Monumente als Machtrepräsentation Der Umgang mit historischen Artefakten löste ein neues Verständnis des Monumentalen aus. Eine Entwicklung von Architekturen und Artefakten als Mittel der Repräsentation von Macht (welche als gängige Praxis auch heute zu beobachten ist) zu der Präsentation geschichtlicher Ereignisse setzte ein. Historische Artefakte wie Baufragmente, Gemälde, Skulpturen oder Fassadenornamente wurden aus ihrer ursprünglichen Umgebung entnommen, sortiert und in einem Museum präsentiert. Diese museale Entkontextualisierung Anfang des 19. Jahrhunderts wurde zur Selbstverständlichkeit 100 Jahre später. Für den Vorgang der Musealisierung war der Umgang mit Artefakten in den Städten bezeichnend. Nun unterlaufen ganze historischer Stadtzentren einer Musealisierung. Ihre Artefakte werden als Monumente identifiziert, welche es, abgesehen von ihrer einstigen Funktion, zu erhalten galt. Diese Artefakte sind Träger einer nationalen Kunst- und Kulturgeschichte und repräsentieren diese nach außen.5 Architektonisierung des Monuments Im gesamten 19. Jahrhundert vollzieht sich eine „Metamorphose des Monuments von der figürlichen Darstellung zur architektonischen Form”6 und damit eine Monumentalisierung der Architektur. Die Architektur wird zum idealen Medium für die Repräsentation des Monuments, denn sie bringt eine öffentliche Präsenz mit sich und schafft es, ein Kollektiv zu repräsentieren. Die Architektur wird als monumentale Kunst schlechthin angesehen und wird mit dem Monument gleichgesetzt. Nicholas-Claude Ledoux und Étienne-Louis Boullée entwerfen Architekturen, mit denen sie sich von Monumenten als figürliche Darstellungen (z.B. verstorbener Herrscher) abwenden.7 Ihre Entwürfe basieren nicht auf Ikonografien von Einzelpersonen, sondern sie versuchen, mit abstrakten „Elementarformen die égalité der Masse zu symbolisieren”8 und gesellschaftliche Ideale zu präsentieren. Beispielsweise entwirft Boullée ein Kenotaph für Isaac Newton, in Form einer gigantischen Kugel, als Symbol der Ideale der Aufklärung. Die neuen Errungenschaften des menschlichen Geistes und Intellekts sollten in der Architektur baulich zum Ausdruck gebracht werden.

5 vgl. Ruhl, 15 f. 6 Ruhl, 20. 7 vgl. Ruhl, 19. 8 Ruhl, 18.

10


Monumentalität in der Moderne In der Moderne zeichnete sich eine vage Bestimmung von Monumentalität ab. Es stellte sich die Frage, wie die vergangene architektonische Monumentalität in der Zeit der schnell fortschreitenden Industrialisierung und technischen Entwicklungen hervorgebracht werden kann. Walter Gropius spricht sich in Monumentale Kunst und Industriebau für eine „Darstellung höherer transzendentaler Ideen mit materiellen Ausdrucksmitteln, die der sinnlichen Welt des Raums und der Zeit angehören”9 aus. Die materiellen Ausdrucksmittel stellen die neuen monumentalen Formen dar, welche die Grenzen der sinnlich erkennbaren Welt und der Erfahrungen überschreiten sollen. Gropius bringt Monumentalität mit Würde und Erhabenheit zusammen und weckt Assoziationen mit dem Sakralen. Gleichzeitig sieht er Schwierigkeiten, in den verwendeten Materialien seiner Zeit monumentale Wirkung mit den Materialen Eisen und Glas zu erzeugen. Die von Gropius angesprochene monumentale Überhöhung von Industriearchitektur wird im italienischen Futurismus in verschiedenen Visionen umgesetzt. Antonio Sant’Elia zeichnet seine urbanen Visionen und Monumente des Industriezeitalters in der Reihe Città Nuova und thematisiert in dieser Kraftwerke, Bahnhöfe, Flughäfen, und Stadtautobahnen. Die wesentlichen Punkte des monumentalen futuristischen Bauens finden sich in dem von Sant’Elia mitunterzeichneten Manifests Architettura Futurista von 1909. Unter anderem liegen die Schwerpunkte auf dem Thema der Schnelligkeit und Bewegung oder der Glorifizierung städtischer Elemente, wie Fabriken und das Automobil.10 Nine Points on Monumentality Einen sehr wichtigen Beitrag zur Diskussion über eine neue Monumentalität leisten José Luis Sert (spanischer Architekt und Stadtplaner), Fernand Léger (französischer Maler) und Sigfried Giedion (Schweizer Architekturhistoriker) mit ihrem 1943 verfassten und 1958 in dem Band Architecture You and Me veröffentlichten Manifest Nine Points on Monumentality. Zusätzlich äußerte Giedion seine Position in einem Text The Need for a New Monumentality 1944 in dem Buch New Architecture and City Planning (Hrsg. Paul Zucker). Dieser Text unterstreicht die Auffassungen, welche er mit Sert und Léger entwickelt hatte. Die neun Punkte sind keine klare Definition von Monumentalität, jedoch zeigen sie eine klare Intention einer neuen Monumentalität. In ihrer Schrift beschreiben sie ein Abwenden von der auf die Funktion und auch auf die Konstruktion reduzierte charakteristische Architektur der Moderne. Angestrebt werden Gebäude, die mehr sind als rein funktionalistisch und die das soziale und gemeinschaftliche Leben repräsentieren.11 Für die Autoren werden Monumente von Menschen geschaffen, um ihre Ideale zu symbolisieren und diese für die Zukunft sichtbar zu machen. Sie 9 Ruhl, 24. 10 vgl. Ruhl, 25. 11 vgl. Ruhl, 45.

11


rufen dazu auf, öffentliche monumentale Platzanlagen und Monumente zu schaffen, welche die kollektiven Werte der Gesellschaft in der Architektur symbolisch repräsentieren. Dabei müssen Formen des großmaßstäblichen Ausdrucks entwickelt werden, welche frei von den Assoziationen mit unterdrückenden Ideologien der Vergangenheit sind. Die damals bestimmten Monumente (aus den letzten hundert Jahren) werden von den Autoren als „empty shells” bezeichnet, denn sie präsentieren nicht den Geist des Kollektivs ihrer Zeit. Sie wünschen sich Monumente als „human landmarks” und als „expression of man’s highest cultural needs”.12 Monumente sollen eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft darstellen. Um diese Aufgaben zu übernehmen müssen die Monumente mit der Stadt in Verbindung stehen und sollen starke Akzente in der Stadtstruktur setzen. Dazu sollen sie sich nicht in beengten städtebaulichen Situationen befinden, sondern komplett freistehen. Dies sei eine Voraussetzung für Monumentalität und das Erzeugen von Relevanz. Die Autoren fordern den Einsatz von modernen Materialien und Techniken, wie leichte Metallstrukturen und bewegliche Elemente, um neue architektonische Effekte zu erzeugen und die symbolischen Formen aufzuladen. Als Beispiel führen sie Feuerwerke oder Lichteffekte an, welche durch ein Licht- und Schattenspiel bei Wind entstehen können. In der Nacht sollen Projektionen von Formen und Farben auf die Gebäudeoberflächen geworfen werden. Solch eine Art Medienfassade kann Werbezwecken dienen. Weitere Elemente wie Bäume, Pflanzen oder Wasser sind im Gebäudeensemble miteinbezogen und treffen auf die Kombination aus traditionellen Materialien, neuen zeitgenössischen Materialien und Farbe. Die neue Aufgabe der Nachkriegsarchitektur ist für die Autoren eine Reorganisation von kollektivem Leben durch eine Zentrumsbildung, was eine Planung von „civic centers”, also monumentale Ensembles, bedeutet. Öffentliche emotionale und kollektive Ereignisse und Spektakel sollen in das Stadtzentrum integriert werden, um ein Kollektiv zu fördern. 13 Dazu bedarf es einer Synthese der Künste, einer Zusammenarbeit von Architekten, Malern, Bildhauern und Landschaftsarchitekten, um eine Art Gesamtkunstwerk zu erzeugen: Bauten werden zu Skulpturen, Wände gestaltet, und auf Gebäudeoberflächen werden Bilder projiziert. Sert, Léger und Giedion weisen auf Ensembles hin, welche das Zusammenspiel der Künste zeigen. Die Verwendung des Wortes ensemble weist auf eine Komposition eines Komplexes hin, also auf eine Kombination von Einzelformen zu einer Gruppenform. Das Abwenden von singulären Formen zu Gunsten eines Spiels mit Formenkompositionen ist aus dem primitiven Surrealismus der 1930er Jahren bekannt. Diesem war sowohl Sert als auch Giedion zugewandt und dessen Prägung zeigte sich in den Gemälden Légers. Primitive beziehungsweise fremd anmutende und abstrakte Formen wurden gruppiert, wiederholen sich und treten in Kommunikation

12 Giedion, Léger, und Sert, „Nine Points on Monumentality“, 29 f. 13 vgl. Giedion, Léger, und Sert, 29 f.

12


miteinander, sodass ein intuitives Erleben des Betrachters erzeugt wird:14 „Monumental architecture will be something more than strictly functional. It will have regained its lyrical value. In such monumental layouts, architecture and city planning could attain a new freedom and develop new creative possibilities, such as those that have begun to be felt in the last decades in the fields of painting, sculpture, music, and poetry.“15 Auch der amerikanische Architekturkritiker Lewis Mumford distanziert sich von der Moderne und deren Prinzipien wie Adaption und Flexibilität. Diese stehen für ihn gegen Monumentalität: „The very notion of a modern monument is a contradiction in terms: if it is a monument, it cannot be modern, and if it is modern, it cannot be a monument.”16 Wie Sert, Léger und Giedion spricht sich Mumford gegen leere Monumente der Vergangenheit aus und sucht nach einer symbolischen Form. Dabei strebt er ein Erschaffen lesbarer, symbolischer Formen an, die das gemeinschaftliche Leben erneuern sollen. In den 1950er und 1960er Jahren arbeiteten Sert und Giedion an ihren Ideen zur Monumentalität weiter. Serts Architekturen dieser Zeit zeigen, dass er Gebäude als Skulptur denkt, unabhängig von seiner inneren Funktion. Die Bauten funktionieren als Geste im urbanen Raum und im Maßstab der Stadt. Diese Geste ist auch von Weitem lesbar, sodass das Gebäude zum urbanen Markierungszeichen wird. „Sert definiert das Monumentale als extrovertierten, gestisch-formalen Apparat, der darauf basiert, dass die inneren Programme in Richtung einer äußeren, urbanen Logik der Wahrnehmung geformt werden.“17 Giedion entwickelt in seinem 1971 verfassten Buch Architecture and the Phenomena of Transition drei Phasen der Monumentalität anhand der Architekturgeschichte. Als erste Raumkonzeption führt er die Architekturen der Antike an, welche stärker vom äußeren Volumen als von Innenraum geprägt wurden, wie die Zikkurats oder Pyramiden. Sie wirken stark nach außen, während der Innenraum unzugänglich und privat ist. Die zweite Raumkonzeption tritt ein, als durch den technischen Fortschritt deutlich größere Innenräume möglich waren. Dazu zählt Giedion das Pantheon in Rom und den Großteil der Architektur der Gotik, der Renaissance und des Barocks. Deren Gebäude lassen sich durch eine Wirkung nach innen und eine Dramatisierung und Monumentalisierung des Innenraums charakterisieren. Die dritte Raumkonzeption verknüpft die ersten beiden Raumkonzeptionen miteinander. Das monumentale Äußere verbindet sich mit dem monumentalen Inneren.18

14 vgl. D ’Hooghe, „Monumental Turn“, 87 f. 15 Giedion, Léger, und Sert, „Nine Points on Monumentality“, 30. 16 Ruhl, Mythos Monument. Urbane Strategien in Architektur und Kunst seit 1945, 41. 17 D ’Hooghe, „Monumental Turn“, 87. 18 vgl. D ’Hooghe, 87.

13


Neue Monumentalität In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann eine Suche nach einer neuen Monumentalität und ein Nachdenken über die Denkmäler der Vergangenheit. Es gab kein klares Bild von Monumentalität, und die Vorstellungen über die Monumente der Zukunft gingen stark auseinander. Es herrschte Klarheit darüber, dass die vergangenen Repräsentationsformen überholt werden müssten, jedoch gab es keine Einigkeit über die Bedeutung des Monuments und seiner Arten (Regierungsgebäude, Infrastrukturbauten oder Feuerwerke). So unterschiedlich wie die Einstellung hinsichtlich zukünftiger Monumente war, war auch die Vorangehensweise bezüglich historischer Denkmäler.19 Seit den 1940er Jahren bemühten sich Sert, Léger und Giedion um eine neue Monumentalität und der Suche nach einem angemessenen Ausdruck der gesellschaftlichen, kollektiven Werte, welche gemeinsam von Architekt*innen und Künstler*innen erarbeitet werden sollte. Diese Euphorie war bis in die 1960er Jahre stark zurückgegangen. Es herrschte Zweifel darüber ob die zeitgenössische Architektur die Werte ihrer Gesellschaft repräsentierte, und die architektonischen Entwicklungen, basierend auf den Konzepten der Moderne, gerieten ins Stocken. In dieser Zeit entwickelten eine Reihe amerikanischer Architekt*innen und Theoretiker*innen, die von neuen Phänomenen wie der Automobilisierung der Gesellschaft geprägt waren, neue Sichtweisen auf den Monumentalitäts-Begriff. Robert Venturi und Denise Scott Brown sowie Charles Moore verknüpften in den 1960er Jahren das Stadtbild mit der Automobilität und hinterfragten damit das, was bisher als Monumentalität verstanden wurde.20 Robert Venturi und Denise Scott Brown Wenn es darum geht, die Sichtweisen Venturis und Scott Browns zu veranschaulichen, wird oft eine Zeichnung aus deren 1972 veröffentlichen Studie Learning from Las Vegas angeführt. Diese Skizze mit dem Titel I am a Monument wurde ca. um 1968 gefertigt und zeigt einen einfachen, quaderförmigen Baukörper mit regelmäßigen Fensteröffnungen. Auf dem Flachdach befindet sich ein, mit zwei Stützen befestigtes, überdimensionales Schild mit der Aufschrift „I AM A MONUMENT“. Die das Schild umrahmenden Striche zeigen ein durch Licht erzeugten blinkenden Effekt der Werbetafel. Der Baukörper weist keine über seinen Zweck hinausgehenden gestalterischen oder ästhetischen Eigenschaften auf. Er ist eine reine Behausung für menschliche Aktivitäten und somit auf seine Aufgabe maximal reduziert. Trotz seiner Zweidimensionalität und Darstellung als bildhafte Fläche fungiert die Werbetafel durch seine enorme Größe als Blickfang und erhält eine monumentale Wirkung. Dieses Schild ist der Kommunikationsträger, welcher

19 vgl. Ruhl, Mythos Monument. Urbane Strategien in Architektur und Kunst seit 1945, 63. 20 vgl. Ruhl, 100.

14


dem Betrachter erzählt, um was es sich bei dem Gebäude handelt: „um ein Monument, um ein Gebäude monumentaler Qualität und Funktion”. Das heißt, das überdimensionierte Schild steht anstelle der Ausformulierung des Gebäudes, insbesondere einer gestalteten Fassade. Das Gebäude ist in einen funktionalen Teil und einen deutlich separierten kommunikativen, sprechenden Teil gegliedert. Mit dieser Zeichnung propagierten Venturi und Scott Brown die Idee des dekorierten Schuppens.21 Bei dieser Idee ist es wichtig, dass auf Ausdruck durch die Architektur sowie „baukünstlerisches Formenvokabular im engeren Sinne verzichtet und sich stattdessen, um zu kommunizieren, ganz auf konventionelle, referenzielle Zeichen und Symbole stützt, die jedem Mitglied der Gesellschaft sofort verständlich sind.”22 Das auf Venturis Zeichnung dargestellte Monument bedient sich nicht der klassischen architektonischen Konnotationen von Monumentalität, wie Freitreppen, Säulenstellungen oder edlen Materialien, sondern es wird nur zu einem Monument, da es angeschrieben ist. Für Venturi und Scott Brown wird Monumentalität in der Architektur durch wörtliche Beschriftung, also durch Zuschreibung und nicht durch formale Eigenschaften eines Gebäudes hervorgebracht. Monumentalität ist für Venturi und Scott Brown eher eine soziologische und kommunikative Problematik und Frage der sprachlichen Kodierung, nicht ein architektonisches Gestaltungsproblem.23 Dies bedeutet, dass sich Monumentalität nicht auf die gebaute Form der Architektur oder Stadt zurückführen lässt, sondern sie beruht auf einem gesellschaftlichen Einverständnis über die besondere Bedeutung eines signifikanten Ortes. Auch Charles Moore sieht Monumentalität nicht in einer bestimmten Ausformulierung eines Gebäudes, sondern in einem kollektiven Konsens über seine Bedeutung: „Monumentality […] is not a product of compositional techniques […], of flamboyant forms, or even of conspicuous consumption of space, time, or money. It is rather, a function of the society’s taking possession of or agreeing upon extraordinarily important places on the earth’s surface, and of the society’s celebrating their preeminence.”24 Folglich kann eine solche Übereinkunft der Gesellschaft auch Orten, welche nicht architektonisch gestaltet sind, monumentale und symbolische Signifikanz zusprechen. Aus den Beobachtungen Moores, Venturis und Scott Browns resultiert die Frage, welche Eigenschaften ein zeitgenössisches Gebäude haben muss, um eine monumentale Funktion zu übernehmen, also die gemeinschaftlichen Werte einer Gesellschaft zu repräsentieren. Aus traditioneller Sichtweise wären die Eigenschaften zum Ausdruck von Monumentalität Dimension, die Position in der Stadt, die verwendeten Materialien, die Raumwirkung oder die architektonische Formensprache. Diese Sichtweise macht Monumentalität zu einer Eigenschaft der Architektur, welche von dem Gestalter unter Verwen-

21 vgl. Ruhl, 101 ff. 22 Ruhl, 103. 23 vgl. Ruhl, 103. 24 Moore, You have to Pay for the Public Life, 58.

15


dung von verschiedenen Mitteln hervorgerufen werden kann. Hierbei würde dem Architekten die Rolle des Interpreten und Formgeber der Wünsche der Gesellschaft zugeteilt. Diese väterlich dominierende Haltung gekoppelt an den Monumentalitätsbegriff von Giedion kritisieren Venturi und Scott Brown sowie den formalistischen Funktionalismus der modernistischen Architektur. Kollektive Werte durch Architektur können ihrer Ansicht nach nicht von oben auferlegt werden, weshalb sie diese im städtischen amerikanischen Alltag aufsuchten: auf dem Strip von Las Vegas. Da nach Venturi und Scott Brown eine monumentale Wirkung nicht durch ein bestimmtes Formenrepertoire erzwingbar ist, können auch gering repräsentative Gebäude monumental sein. Beispielsweise bei einem Kasinobesuch besteht die Monumentalität im gemeinschaftlichen Ritual dieses Besuches, statt in der architektonischen Form und Gestaltung des Kasinos selbst. Ausschlaggebend sind somit die Rezeption und Wirkung der gebauten Umwelt, welche im Zusammenhang mit der architektonischen Monumentalität steht.25 Venturi und Scott Brown bedauern, dass bei Bauten der „alten” Monumentalität zwar Menschen zusammentreffen, aber keine wirklichen Begegnungen entstehen sowie kein Bewusstsein für das Gebäude und somit kein gesellschaftlicher Zusammenhalt und Identität. Hingegen lokalisieren sie Monumentalität in einer „immateriellen und kollektiven Wahrnehmung eines (nächtlichen) Stadtbildes”.26 Sie verweisen hier auf ein ephemeres Phänomen, welches stark an die von Giedion beschriebenen Feuerwerke als zeitweilige Verwirklichung von Monumentalität erinnern. Monumentalität würde folglich auf Wahrnehmung und Ereignis beruhen.27 So wie Sert, Léger und Giedion nach Monumentalität als Ausdruck kollektiver Werte in der Architektur suchen, verknüpfen auch Venturi und Scott Brown die kollektive Wahrnehmung und die gemeinsame Erfahrung an Monumentalität. Jedoch zeigt sich diese nicht in den städtischen Kristallisationspunkten, nicht in den von Giedion bezeichneten „civic centers” und nicht auf traditionellen urbanen Plätzen, sondern an den Orten der Kommunikation und Mobilität.28 Emblematisch für solche Orte stehen die Infrastrukturbauten, insbesondere die Straße, die zum zeitgenössischen Monument wird. Charles Moore, der diese Ausweitung des Monuments auf anonyme Bauten vornahm, sieht die Monumentalität der Straße in ihrer starken physischen Präsenz im Stadtraum, in ihrer enormen Dimension und ihrer Fähigkeit, die kollektiven Werte der individuellen Mobilität zu repräsentieren. Zwar mischt Moore die neue Anschauung von Monumentalität mit dem traditionellen Monumentalitätsbegriff, jedoch verknüpft er maßgeblich Monumentalität mit Automobilisierung und damit dem kollektiven Wert der Mobilität. Moore bezieht sich zusätzlich auf die Wahrnehmung des Raumes und die Erfahrung, die durch die Mobi-

25 vgl. Ruhl, Mythos Monument. Urbane Strategien in Architektur und Kunst seit 1945, 107 ff. 26 Ruhl, 111. 27 vgl. Ruhl, 112. 28 vgl. Ruhl, 116.

16


Skizze I am a Monument Venturi, Scott Brown, Learning from Las Vegas,2001, 184

Alte versus neue Monumentalität Venturi, Scott Brown, Learning from Las Vegas, 2001, 69

17


lität erzeugt wird. Diese Erfahrung der Stadt als Bild aus dem Auto wird zu einem eingängigen Bild, einer Bildsequenz, welche auch Venturi und Scott Brown verzeichnen: „Das Stadtbild des automobilisierten Betrachters wird zum Ort zeitgenössischer Monumentalität.”29 Die Aufgabe des neuen Monuments, eine spezifische und zeitgenössische Lebensform auszudrücken, beschreibt Laurent Stadler in seiner Schrift Monumente der unmittelbaren Zukunft treffend: „Aus einer Perspektive, welche die Architektur als Ausdruck einer zeitgenössischen Lebensform mit ihrer eigenen Technologie versteht, ist es nicht mehr die Dauerhaftigkeit eines Bauwerks, seine repräsentative Funktion, seine Massivität oder einfach seine Größe, die es als Monument auszeichnet, sondern der Stellenwert, den ihm die jeweilige Zeit zuordnet.”30 Alison und Peter Smithson Mit ihrem 1960 verfassten Aufsatz Fix in The Architectural Review erweiterten Alison und Peter Smithson die gängige Sicht auf die Definition von Monumenten. Sie klassifizierten Gebäude in „Fix” und „Transcient“. Letztere sind für die Architekten vorübergehende, kurzlebige, kleine Bauten, die immer wieder verändert, erweitert oder komplett neu gebaut werden, wie Häuser und Läden. Das für die Smithsons nicht architektonische Milieu aus Lichtreklamen, Schaufenstern oder Postern wird als „increasingly transcient“ eingestuft, da sich diese Elemente kontinuierlich erneuern.31 Im Gegensatz zu der vergänglichen Architektur stehen die als „Fix“ betitelten, dauerhaften Architekturen, wie historische Bauten sowie öffentliche Bauten wie Rathäuser, deren Funktion kontinuierlich ist. Eingeschlossen sind auch Gebäude der Schwerindustrie und Kraftwerke, die schlicht zu teuer waren, um sie häufig Veränderungen zu unterziehen. Neu hinzukommen für die Smithsons die Verkehrsinfrastrukturen, welche sie zu den traditionellen „Fixes“ dazuzählen – das aktuellste „Fix“ seien die großen Autobahnkreuzungen. Die Einordnung eines Gebäudes als „Fix“, angesichts seiner Historie, seiner Größe oder seiner symbolischen Bedeutung für die Gesellschaft der Zeit, scheint es aus dem Prozess der Vergänglichkeit zu entheben.32 Die Untersuchungen von Alison und Peter Smithson haben weniger mit einem historischen Interesse für Denkmalschutz beziehungsweise dem Erhalt historischer Monumente zu tun, sondern vielmehr mit einem komplett neuen Verständnis von Stadt in ihrer Veränderlichkeit.33 Diese Klassifizierung von Infrastrukturbauten als zeitgenössische Monumente sowie deren Gleichstellung mit den traditionellen Monumenten wurde in den 1970er Jahren durch diverse Megastrukturen aufgegriffen. Die italienische Gruppe Superstudio konzipierte ihre Megastrukturen als Stadt in einem einzigen Gebäudekom29 Ruhl, 120. 30 Ruhl, 70. 31 vgl. Ruhl, 74. 32 vgl. Ruhl, 73. 33 vgl. Ruhl, 74 f.

18


Continuous Monument New York Superstudio: Ruhl, Mythos Monument, 2011, 145-182

Continuous Monument, Superstudio Footprint Delft Architecture Theory Journal Discotheques, Magazines and Plexiglas: Superstudio and the Architecture of Mass Culture, 2014, 65

19


plex, welches sich auf der ganzen Welt ausdehnt. Ihr Continuous Monument ist eine einzige Verkehrsinfrastrukturen, die alle anderen Formen von Architektur ersetzt. Durch seine Struktur und ein regelmäßiges Raster reagiert das Continuous Monument auf die historischen Monumente wie beispielsweise das Kolosseum und verschmelzt sie zu einem einzigen großen Monument.34 Während das Continuous Monument als quasi unendliches Brückenmonument in seiner enormen Größe linear ausgerichtet scheint, werden technologische Stadtutopien gedacht, die sich als flächig Megastrukturen über Städte, Flüsse und ganze Landschaften ziehen. Der Planer und Theoretiker Yona Friedmann, Vertreter der französischen Avantgardistengruppe GEAM35 und entwarf um 1960 ein Denkmodell für Paris, welches das Permanente und das Ephemere kombinierte: An die andauernde Großstruktur werden auswechselbare Zellen angebracht. Vorreiter solcher Megastrukturen wie das Continuous Monument oder der Utopie Friedmanns war schon in den 1930er Jahren Le Corbusier, der Denkmodelle entwarf, bei denen alles möglich und nichts festgelegt war. Sein Modell der Stadtautobahn als Viadukt funktionierte wie ein großes Regal, dessen Stockwerksebenen mit seinen Häusern gefüllt wurden und das ganz oben von Autos befahren wurde. Einem Raum oder einem Bau sollte nicht mehr der eine Zweck zugeschrieben werden, sondern er sollte die Aufgabe einer Grundkonstruktion übernehmen, welche mit wechselnden Inhalten gefüllt werden konnte. Während der Rahmen in Le Corbusiers Idee noch in Beton gegossen war, so war das Grundgerüst bei Friedmann eine flexible erweiterbare oder auch verkleinerbare Struktur, die sich somit anpassen und weiterentwickeln lässt.36 Obwohl die reine Größe in den bisher erwähnten Sichtweisen nicht als Eigenschaft zum Erzeugen von Monumentalität ausreicht, ist die physische Dimension ein Merkmal aller Entwürfe und Denkmodelle. Rem Koolhaas beschreibt etwa 30 Jahre später diese Größe der Utopien der 1960er Jahre: „Bigness erlaubt das Unvorhersehbare, indem es Plattformen für die Begegnung des maximal Unterschiedlichen bietet. Die Künstlichkeit und Komplexität von Bigness erlaubt dank der unzusammengehörigen Elemente unerwartete Reaktionen, neue Ereignisse, eine programmatische Alchemie.”37 Stadt als Monument Ende des 19. Jahrhunderts setzte ein Nachdenken über das Monument als singuläres Bild im Rahmen des städtischen Kontextes ein. Durch die Reflexion über eine Einbettung des Monuments in seinen urbanen Kontext wurden die Grenzen zwischen Monument und Stadt langsam aufgelöst. Es stellte sich die Frage nach der Möglichkeit, ein ganzes Stadtbild als Monument zu kon-

34 vgl. Ruhl, 164. 35 Die Groupe d’Études d’Architecture Mobile war eine Studiengruppe für mobiles Bauen, die sich 1957 / 58 im Anschluss an das letzte CIAM-Treffen bildete.vgl. Conrad und Neitzke, Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, 160. 36 vgl. Sonntag, Labor der Moderne. Nachkriegsarchitektur in Europa, 33. 37 Sonntag, 36.

20


servieren im Vergleich zur Erhaltung eines singulären monumentalen Denkmals.38 Der Postmodernist Aldo Rossi begegnet dieser Frage mit einer Klassifizierung basierend auf seinem Verständnis von Stadt. Diese sieht er in ihrer Gesamtheit als Monument, jedoch ist die Stadt nicht wie ein Kunstwerk, welches exakt erhalten werden kann.39 Eine Veränderung der Stadt muss stattfinden können, die es zulässt, dass das Bewahrenswerte und das Gesamtbild erhalten bleibt. Deswegen teilt Rossi die Stadt in primäre Elemente und in eine veränderbare Struktur ein. Die primären Elemente sind gesellschaftlich anerkannte Gebäude, die Monumente der Stadt, die in ihrer Materialität erhalten bleiben sollen. Die veränderliche Struktur ist die der Wohnbebauung, welche nach ihrer Zeit neu gebaut werden kann und nur in ihrem Typus fortbestehen soll.40 Monumentalität im Blickwinkel des Tourismus Der städtische Tourist favorisiert bestimmte Objekte. Was uns anders und fremd erscheint, was aus einer anderen Zeit stammt und uns unzugänglich ist, wird zu einem beachtenswerten Stadtobjekt. Welche von diesen besonders in verschiedenen Medien verbreitet werden, erfahren eine größere Aufmerksamkeit. Die mediale Verbreitung von bestimmten Stadtobjekten führt zu deren Popularität. Damit hat der Tourist einen maßgeblichen Einfluss auf Bedeutung von Objekten inne. Vielleicht schafft erst der Tourismus „die Monumente, durch ihn wird die Stadt monumentalisiert, da im Blick des Touristen das Gebäude aus seinen […] Entstehungszusammenhängen gelöst und es so entzeitlicht wird”.41 Den Touristen interessiert oft nur die Monumentalität wie sie sich als körperliche Präsenz in ihrer reinen Größe äußert sowie das Gefühl des Urbanen, der Großstadt. Die Bedeutsamkeit eines Gebäudes und die kulturellen und geschichtlichen Hintergründe, also der Denkmal- und Erinnerungswert, ist zweitrangig.42 Der Tourist sucht nicht das Gebäude mit all seinen Facetten auf, sondern das Erlebnis, welches an dem Objekt fest gemacht wird. Daraus resultiert die Frage nach den Duplikaten von Monumenten, also ob das Objekt aus seinem Kontext entnommen werden und als Kopie in einem neuen Erlebniskontext platziert werden kann. Ob die gleiche authentische Erfahrung hervorgerufen wird, ist fraglich. Vielleicht manifestiert sich auch das Monument gerade in seiner Reproduktion. Der Architekt Wilfried Kühn charakterisiert das zeitgenössische Monument mit „Medialität und Reproduzierbarkeit“: „das Monument der Moderne ist die Reproduktion, die das Original in den Schatten stellt. Entscheidend für die Kraft der Reproduktion ist ihre Fähigkeit zur Autonomie, die im Akt der performativen Wiederholung entsteht.”43

38 vgl. Ruhl, Mythos Monument. Urbane Strategien in Architektur und Kunst seit 1945, 123. 39 vgl. Ruhl, 135. 40 vgl. Ruhl, 126. 41 Brandt und Meier, Stadtbild und Denkmalpflege. Konstruktion und Rezeption von Bildern der Stadt, 75. 42 vgl. Ruhl, Mythos Monument. Urbane Strategien in Architektur und Kunst seit 1945, 268. 43 Ruhl, 232.

21


Stadtbild Der Begriff des Stadtbildes ist nicht eindeutig, er hat keine abgegrenzte Definition inne und erhält von verschiedenen Autoren unterschiedliche Bedeutungen. Das Lexikon der Kunst von Harald Olbrich deutet ihn sowohl als „optischer Eindruck der Stadt” oder ihrer Teile, wie auch als „Darstellung” in einer der Kunstgattungen, die „den Gesamteindruck einer von außen betrachteten Stadt vermittelt”.44 Heterogenität der Stadt Zwischen der tatsächlichen Stadtform, wie sie wahrgenommen wird, sowie den Faktoren, welche die Stadtform beeinflussen, besteht eine vielschichtige Verknüpfung. Solche, die Stadtform bedingenden Einflussfaktoren, können ökonomischer, politischer, sozialer, technischer, landschaftlicher oder kultureller Natur sein. Demnach ändert sich die architektonische Form der Stadt mit der Zeit. Diese sich verändernden Stadtformen werden in der Literatur und in bildlichen Darstellungen thematisiert. Sie können entweder Veränderungen unterzogen werden oder erhalten werden – bewusst und unbewusst. Die architektonische Form einer Stadt hat Folgen für ihre Bewohner sowie die städtische Kultur. 45 Schon Charles Baudelaire äußerte sich 1861 über die rasanten Veränderungen, die er in Paris im 19. Jahrhundert beobachtet: „La forme d‘une ville change plus vite, hélas que le cœur d’un mortel“.46 Wenngleich es scheint, also ob eine Stadt im Großen und Ganzen gleichbleibt, so verändert sie sich kontinuierlich in ihren Einzelheiten. Es gibt kein finales Ergebnis, sondern Phasen, welche aufeinander folgen. Die unterschiedlichen Phasen bilden sich in ihrer Summe als ein Chaos von Stilelementen, eine Überlagerung und Überblendung von verräumlichten Zeiten ab. Weder eine linear fortschreitende Geschichte noch ein Nacheinander von Baustilen ist ersichtlich, sondern „ein inkongruentes Nebeneinander bzw. Übereinander im Raum” – das Stadtbild scheint von einer „Kollision zahlloser Schichten von Ideen, Bildern und Gefühlen aus Geschichte und kulturellem Gedächtnis”47 geprägt zu sein. Definition von Stadt über ihr Zentrum Das Bild einer Stadt wird oft durch ihr historisches Zentrum generiert. Zusammen mit ihren Monumenten wird das Zentrum zum Erkennungsmerkmal einer Stadt. Nicht nur kann eine Stadt leicht über ihr historisches Zentrum erkannt werden, sondern sie repräsentiert sich über dieses nach außen und gibt räumliche Orientierung und Halt: „In der Altstadt schließlich scheinen

44 Lexikon der Kunst Bd. 6. 45 vgl. Lampugnani und Noell, Stadtformen. Die Architektur der Stadt. Zwischen Imagination und Konstruktion, 12. 46 Lampugnani und Noell, 15. 47 Lampugnani und Noell, 25.

22


Ursprung, Identität und Authentizität einer Stadt verbürgt.”48 Der deutsche Architekt und Stadtplaner Thomas Sieverts beschreibt in seinem Buch Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land treffend „das übermächtige Bild der Alten Stadt“49, welches die Wahrnehmung der heutigen Gesamtstadt, deren historischer Kern nur ein kleiner Teil der Stadtfläche darstellt, verzerrt. Die Gewichtung des Bildes der alten Stadt wird verdeutlicht, indem Sieverts dazu anhält, sich die eigene Heimatstadt ohne historisches Zentrum vorzustellen. Dies gelingt nur äußerst schwer oder gar nicht, obwohl die Flächen abseits des historischen Kerns um ein Vielfaches so groß ist.50 Wie Sieverts verdeutlicht, wird die Stadt fast ausschließlich über ihr historisches Zentrum wahrgenommen, dieses ist das Bild, welches sich in uns einspeichert. Die Wahrnehmung der historischen Stadt ist an ihrem Bild orientiert. Diese zugeschriebene, oft sehr eindeutige, aber auch einseitige Bild findet als Stadtmarketing Anwendung. Damit spielen historische Stadtkerne eine essentielle Rolle für den Tourismus und weisen eine „kulturell identifikationsstiftende Wirkung für die Stadtöffentlichkeit”51 auf. Die Konzentration auf und die Wiederentdeckung von historischen Stadtkernen war eine Tendenz der 1970er Jahre, welche mit einem Aufkommen der Denkmalpflege einherging. Diese Beschäftigung mit dem Bild der Stadt war eine Reaktion auf die Moderne und eine Popularisierung der historischen Stadt – das Kleinteilige, Pittoreske, Malerische – begann.52 Bei der Suche nach dem historischen, urbanen Bild der Stadt wird ein Zeitpunkt in der Geschichte als das historische Image der Stadt gewählt. Diese Vorgehensweise im Hinblick auf die stetige Veränderung des städtischen Raumes scheint problematisch. Erst Veränderung und Wandel der Stadt brachte eine Altstadt hervor. Beispielsweise wurde das alte Paris durch den Städteplaner Georges-Eugène Haussmann radikal verändert und bringt durch seine Eingriffe gleichzeitig das Alt-Paris hervor. Realität vs. Wirklichkeit des Bildes Bilder sind für den Stadtdiskurs unvermeidlich geworden. Stadt besteht nicht nur aus der gebauten Materialität, sie besteht auch aus ihrer Repräsentation über Bilder. In erster Linie sind Stadtbilder eine mediale Konstruktion, anstatt ein Abbild der realen Situation. Diese werden in der allgemeinen Wahrnehmung installiert und bedürfen einem stetigen Hinterfragen, „will man nicht einer rein ikonografischen Sichtweise erliegen”.53 Mit Imagekampagnen versuchen Städte, das hervorzuheben, was sie einzigartig macht, ihr eigenes Label zu kreieren und folglich sich von anderen Städten abzusetzen. Damit zielen sie auf das 48 Lampugnani und Noell, 131. 49 Sieverts, Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land, 30. 50 Sieverts, 30. 51 Klein und Sigel, Konstruktionen urbaner Identität. Zitat und Rekonstruktion in Architektur und Städtebau der Gegenwart, 19. 52 vgl. Brandt und Meier, Stadtbild und Denkmalpflege. Konstruktion und Rezeption von Bildern der Stadt, 11. 53 Brandt und Meier, 80.

23


Anlocken von Tourist*innen, Arbeitskräften und zukünftigen Bewohner*innen: „Bilder erlauben, dass Spezifische zu kommunizieren, aber auch sich als Stadt, als Großstadt womöglich, ikonografisch in Szene zu setzen.”54 In Medien wie Fernsehberichten, Reiseführern oder sozialen Netzwerken wird über Bilder eine Erwartungshaltung vorstrukturiert. Einen Unterschied stellt dabei die Wahrnehmung des Touristen mit der Wahrnehmung des Einheimischen dar. Das Phänomen des Tourismus geht mit der Musealisierung und Ästhetisierung der Stadt einher, denn als Tourist*in wird die Stadt selektiv betrachtet, bestimmte Objekte werden favorisiert.55 Diese sind alte Stadtikonen und Stadtbild-Wahrzeichen der Gegenwart, die einen kontinuierlichen Zuwachs erhalten, hinzu kommen ephemere und zufällige Stadtbilder. Obwohl sich eine einheimische Person näher an der Realität des Stadtbildes befindet, so wird auch der Blick der Einheimischen auf die Stadt von den gleichen Medien geprägt, wie die des Besuchenden. In Bildbänden, in der Werbung, als Logo auf Eintritts- oder Visitenkarten oder in den U-Bahnen werden Bilder der eigenen Stadt konsumiert.56 Die wahrgenommenen Bildsequenzen unterscheiden sich je nach Fortbewegungsart durch die Stadt, bewegt man sich zu Fuß, mit dem Auto, Fahrrad oder U-Bahn. Das Entstehen unterschiedlicher Bildsequenzen ja nach Art der Fortbewegung erinnert an Venturi und Scott Brown, die die Stadt im Vorbeifahren, aus der Perspektive des fahrenden Autos betrachtet haben. Beispielsweise werden dabei die Architekturen der Stadt zu zweidimensionalen Schemen. Städtebilder dienen als Kommunikationsmittel über Besonderheiten und Alleinstellungsmerkmale der Stadt. Dabei ist das Bild eine Erzählung, nicht ein exaktes Abbild der Wahrheit. Im Bild sieht man eine Realität, welche sie nur im Bild gibt. Die uns medial präsentierten Bilder spiegeln nicht die städtische Realität wider, sondern sind inszeniert, interpretieren oder sind eine Sichtweise der Stadt. Durch Stilisierung, Ausblenden oder Überspitzung wird eine andere virtuelle Raumerfahrung erzeugt. Daraus kann eine Befürchtung resultieren, dass das Bild an die Stelle des realen Monuments tritt. Die real erfahrbare Stadt wird durch das medial erzeugte Städtebild ersetzt.57 Anstatt die Wirklichkeit abzubilden, idealisieren Stadtbilder und setzen bewusste Akzente. „Sie bedienen Wünsche und Sehnsüchte, die im Alltag keine Gültigkeit mehr haben, sind gebaute Träume von Geschichte.”58 Es kann sein, dass erst durch Stadtbilder das Malerische oder das Monumentale von Architektur erzeugt wird. Dabei geht es nicht mehr um die tatsächliche Wirklichkeit des Vorhandenen, sondern ein wiedererkennbares und einprägsames ästhetische Bild zu erzeugen.59

54 Brandt und Meier, 113. 55 vgl. Brandt und Meier, 75. 56 vgl. Brandt und Meier, 106. 57 vgl. Brandt und Meier, 13 f. 58 Brandt und Meier, 147. 59 vgl. Brandt und Meier, 140.

24


Kevin Lynch Das Vorstellungsbild „konzentriert sich in der Hauptsache auf eine besondere visuelle Qualität: auf die Klarheit oder ,Ablesbarkeit‘ der Stadtszene. Damit ist die Leichtigkeit gemeint, mit der ihre einzelnen Teile erkannt und zu einem zusammenhängenden Muster aneinandergefügt werden können”.60 Für den Städteplaner Kevin Lynch besteht die ablesbare Stadt aus erkennbaren Symbolen, welche als Muster erfasst werden, das heißt Elemente wie Bereiche, Wahrzeichen oder Grenzlinien werden erkannt und zu einem Gesamtbild zusammengesetzt. Er behauptet, dass Ablesbarkeit für das Bild der Stadt ausschlaggebend sei. Durch das leicht lesbare Bild, welches charakteristisch und klar ist, kann Sicherheit gegeben und die menschliche Erfahrung gesteigert werden.61 Das klare Bild der Umwelt hat eine große Bedeutung für die Gesellschaft oder eine Gemeinschaft, denn es kann der Ausgangspunkt für „die Symbole und die Kollektiverinnerungen der Gruppenkommunikation bilden”.62 Lynch definiert drei Elemente des Vorstellungsbildes der Stadt: Identität, Struktur und Bedeutung. Im Prozess der Bilderzeugung wird das Gesehene identifiziert, um seine Bestandteile beziehungsweise die Gegenstände von anderen unterscheiden zu können. Lynch betitelt das Erkennen eines Gegenstandes als separates Wesen, als „Identität“ im Sinne von Ganzheit oder auch Individualität. Mit der Komponente „Struktur” meint Lynch eine im Bild enthaltene, räumlich strukturelle Beziehung der Gegenstände zu seinem Betrachtenden oder anderen Gegenständen. „Bedeutung“ beschreibt jeglichen Sinn, ob praktisch oder gefühlsmäßig, welcher sich auch als Beziehung äußert. Lynch konzentriert sich auf zwei seiner drei Komponenten: Identität und Struktur. Bedeutung als Kategorie lässt er außen vor, denn Bedeutung innerhalb der Stadt als Gruppenvorstellung sei schwieriger zu beeinflussen bzw. durch physische Formen erzeugbar. Ziel für den städtischen Raum sei es, sich „auf die physische Klarheit des Bildes zu konzentrieren und die Entwicklung der Bedeutung abzuwarten, ohne direkt auf sie hinzuwirken”.63 Als Beispiel physischer Klarheit kann die Silhouette einer Großstadt wie New York angeführt werden, welche individuell unterschiedliche Bedeutungen, wie Dynamik, Größe, Überfüllung oder Stärke, hervorbringt. Für Lynch „wird die Bedeutung durch die scharfumrissene Linie dieses Bildes kristallisiert und intensiviert.”64 Die individuellen Meinungen können trotz Klarheit des Bildes stark auseinander gehen, sodass Lynch zu dem Schluss kommt, Bedeutung von Form trennen zu können. Lynch definiert Einprägsamkeit oder Bildprägekraft als Beschaffenheit eines Gegenstandes, welcher bei allen Betrachter*innen voraussichtlich ein klares und dynamisches Bild des Gegenstands erzeugt. Dabei spielen Eigenschaften wie Anordnungen, 60 Lynch, Das Bild der Stadt, 12. 61 vgl. Lynch, 12. 62 Lynch, 14. 63 Lynch, 19. 64 Lynch, 19.

25


Farbigkeit, Struktur etc. eine große Rolle. Die Bildprägekraft könnte auch als Ablesbarkeit oder Greifbarkeit bezeichnet werden. Nach Lynch lassen sich die Elemente von Stadtbildern in fünf verschiedenen Typen gliedern: Wege, Grenzlinien, Bereiche, Brennpunkte und Merkzeichen. Dies sind die Bausteine, aus denen eine klar lesbare und leicht einprägsame Struktur im Maßstab der Stadt zusammengesetzt ist. Für die weitere Analyse ist es von besonderer Wichtigkeit, den Typ des Merkzeichens etwas genauer zu betrachten.65 Merkzeichen Ein Merkzeichen stellt ein Element dar, welches aus der Gesamtheit ausgesondert wird. Sein Charakteristikum ist Einmaligkeit, Einzigartigkeit und vielleicht auch Merkwürdigkeit. Es ist leicht zu erkennen und schnell aufgrund klarer und einfacher Form, durch eine auffallende räumliche Position oder durch einen hohen Kontrast zu seinem Kontext, als bedeutungsvoll angesehen. Ein Merkzeichen kann durch einen Objekt-Hintergrundkontrast entstehen, wie beispielsweise ein sauberes Merkzeichen in einer schmutzigen Stadt, ein modernes Merkzeichen in einer von historischer Bebauung geprägten Stadt oder ein freistehendes Merkzeichen in einer eng bebauten Stadt. Ein Merkzeichen kann durch die Sichtbarkeit von vielen Orten gebildet werden.66 Beispiel eines fernwirkenden Merk- oder Wahrzeichens ist der Eiffelturm. Dieser ragt räumlich hervor, ist sichtbar von unzähligen Orten der Stadt, bei Tag und durch seinen radialen Lichtstrahl noch verstärkt bei Nacht. Er zeigt den eigenen Standpunkt in der Stadt auf und dient als Orientierungspunkt. Zusätzlich ist der Eiffelturm stark mit der Tradition der Stadt verbunden. Die Bildhaftigkeit eines Merkzeichens wird durch eine solche Verbindung mit konzentrierten Erinnerungen gesteigert. Solche Erinnerungen sind beispielsweise historische Ereignisse, persönliche Verbindungen durch dort stattgefundene Erfahrungen oder eine allgemein bekannte Benennung, beziehungsweise Name des Ortes. Kevin Lynch analysiert in seinem 1960 entstandenen Buch Das Bild der Stadt zehn Charakteristika von Merkzeichen. Diese sollen nicht isoliert betrachtet werden, denn oft treten mehrere Merkzeichen gleichzeitig auf und verstärken, wenn sie in Gruppen auftauchen, gegenseitig ihre Wirkung. 1. Einmaligkeit und Kontrast: Figur-Hintergrund-Schärfe, Einschließung (z.B. eingefasster Platz), Dimension, Nutzung, räumliche Anordnung (z.B. einzelnstehender Turm) 2. Klarheit der Form: Einfachheit der geometrischen Form (leichter in die Vorstellung aufzunehmen, z.B. Kuppelform) 3. Kontinuität: nahes Beieinander von Elementen (z.B. Gebäudegruppe), Wiederholungen von Zwischenräumen (Rhythmisierung), ähnliche oder

65 vgl. Lynch, 18 ff. 66 vgl. Lynch, 97 f.

26


gleiche Oberflächen oder Formen (gleiche Baumaterialien, gleiche Fensterformen komplexer Erscheinung wird eine einzige Identität gegeben 4. Dominanz: Überlegenheit eines Elements über andere, z.B. durch Dimension (kann zu einer Wahrnehmung von Hauptteil mit untergeordneten Teilen führen) Vereinfachung des Bildes 5. Klarheit der Verbindungsglieder: Nahtlinien und Gelenke klar erkennbar (Straßenkreuzungen / Hauptknotenpunkte, Verbindung U-Bahn zur Straße darüber), Punkte müssen gut erfassbar sein 6. Richtungsdifferenzierung: Steigung, Kurven, Andeutung von Himmelsrichtungen (durch Lichteinfall) bedeutsam für großmaßstäbliche Strukturbildung 7. Umfang des Sichtbereiches: Vergrößerung des Blickfeldes durch Eigenschaften wie Aussicht / Panorama (Straßenachsen, breitere Räume), Durchsichten durch Glas oder aufgeständerte Gebäude, Elemente der Gliederung (Blickpunkte / prägnante Objekte zur visuellen Definition des Raumes) 8. Bewegungsbewusstsein: Bewusstsein über die physische Bewegung durch die Stadt, Gestaltungselemente, wie Kurven oder Steigungen verdeutlichen, um Richtungswahrnehmung, Richtungswechsel und Beurteilung über Entfernungen zu stärken Bewegung von großer Bedeutung für die Wahrnehmung von Stadt (Stadt wird aus Bewegung heraus empfunden) 9. Zeitliche Reihenfolge: Reihen von miteinander verknüpften Einzelelementen, z.B. Merkzeichen, die in einer zeitlichen Abfolge wahrgenommen werden (oft an häufig genutzten Wegen), Gesamtheit der Elemente einprägsamer als einzelnes Element 10. Namen und Bedeutungen: Namen zur Steigerung der Einprägsamkeit und Identität, Andeutung der Lage (z.B. Ostbahnhof), Erzeugen von Assoziationen (z.B. soziale, historische oder individuelle Bedeutungen) Unterstützung der Identifizierung mit der Form und Einordnung der Elemente 67 Urbane Identität Identität als Begriff wird meist – in Kultur- und Sozialwissenschaften – auf Subjekte bezogen, in der Betrachtung der gebauten Umgebung aber findet er auf ein oder mehrere Objekte Anwendung. Wenn der Begriff der Identität als ‚Selbstverständnis‘ begriffen wird, ist er einfacher auf Objekte anwendbar.68 Der Kunsthistoriker Wilfried Lipp bringt das Verständnis von Identität mit dem des Selbstverständnisses zusammen und beschreibt es mit einem ‚Daseins-Selbstverständnis‘: „Identität heißt soviel wie Übereinstimmung mit 67 vgl. Lynch, 126 ff. 68 vgl. Klein und Sigel, Konstruktionen urbaner Identität. Zitat und Rekonstruktion in Architektur und Städtebau der Gegenwart, 125.

27


dem, was ist, ist somit Ausdruck eines Daseins-Selbstverständnisses. Das vertraut Da-Seiende ist Voraussetzung für Identität.”69 Neben Identität als Selbstverständnis kann sie auch als Individualität, Einzigartigkeit, Unverwechselbarkeit, Nichtersetzbarkeit, Einmaligkeit, Wiedererkennbarkeit oder Unverfälschtheit beschrieben werden.70 Eine Stadt ist ein Kommunikationssystem, welches Orientierung gibt. Orientierung, um sich zurechtzufinden, aber auch Orientierung im Sinne von orientiert sein, Halt geben und bei sich sein. Es ist von Bedeutung, dass eine Stadt ein Image mit starken Symbolen hat. Damit werden sowohl mehr Touristen angezogen und den Einwohnern eine kollektive Identität gegeben, Symbole, mit denen sie sich verbunden fühlen.71 Der Kunsthistoriker Gerhard Vinken beschreibt die Stadt und ihre Architektur als Träger dieser Verbindung: „Maßgebliche Qualität der Stadt ist nunmehr ihre Bildprägekraft, ihre Potenz […], einprägsame, sinnerfüllte Vorstellungsbilder zu produzieren und zu kommunizieren: die Stadt – und die Architektur – werden als Bilderproduzenten signifikant.“72 Kollektive Stadtwahrnehmung Die Bewohner einer Stadt erzeugen aufgrund ihrer verschiedenen Blickwinkel, ihrer persönlichen Interessen, ihrem Alltag in Arbeit, Studium oder Schule, ihrer sozialen Herkunft, ihrem Bildungsweg etc. in der Tat unterschiedliche subjektive Wahrnehmungen ihrer Stadt. Jeder Bewohner einer Stadt fühlt sich durch Erinnerungen und Bedeutungen mit irgendeinem Teil oder Aspekt der Stadt verbunden. Das individuelle Stadtbild entsteht in einem Prozess aus Betrachter und seiner Umwelt. Der Betrachter nimmt, was ihm die Umwelt bietet, auf, selektiert und versetzt das Gesehene mit Bedeutung. Somit wird die vorgefundene Realität von jedem Betrachter in ein individuelles Bild übersetzt.73 Im Hinblick auf diese individuellen Stadtwahrnehmungen ist es schwierig, von einer allgemeinen städtischen Identitätsfindung zu sprechen. Das individuelle Bild, welches einzigartig ist, gleicht sich trotzdem einer allgemeinen Vorstellung an. Das offizielle Image jeder Stadt setzt sich aus vielen individuellen Vorstellungsbildern zusammen, die von kleineren Gruppen von Menschen gepflegt werden.74 Ein verallgemeinerbare städtische Identität kann sich höchstwahrscheinlich allein auf besondere Objekte in der Stadt oder die Stadt wesentlich strukturierenden Elemente beziehen. Herausstechende Stadtobjekte schaffen es aus verschiedenen Gründen zu identifikationsstiftenden Elementen zu werden, und das für eine Gesamtbevölkerung. Sie haben sowohl eine starke Präsenz im städtischen Raum als auch eine 69 Brandt und Meier, Stadtbild und Denkmalpflege. Konstruktion und Rezeption von Bildern der Stadt, 280. 70 vgl. Klein und Sigel, Konstruktionen urbaner Identität. Zitat und Rekonstruktion in Architektur und Städtebau der Gegenwart, 126. 71 vgl. Brandt und Meier, Stadtbild und Denkmalpflege. Konstruktion und Rezeption von Bildern der Stadt, 217. 72 Brandt und Meier, 170. 73 vgl. Lynch, Das Bild der Stadt, 16. 74 vgl. Lynch, 60.

28


mediale Präsenz und weisen eine historische und kunsthistorische Bedeutsamkeit für die Stadt auf. Die Stadtwahrzeichen als identifikationsstiftende Elemente sind nicht nur für die Stadtgemeinschaft von Bedeutung, sondern auch für Besucher der Stadt, beziehungsweise für Betrachter der Stadt mit Hilfe von anderen Medien. Diese besonderen Stadtobjekte treten durch eine unverwechselbare Form, eine bildliche Gegenwart und Strahlkraft, eine markante Verortung in der Stadt sowie eine Zuordnung mit Symbolen und Bedeutung hervor. Dies erzeugt einen Wiedererkennungseffekt, welcher mit der Perzeption der Stadt effektiv verbunden wird.75 So werden architektonische Stadtwahrzeichen zu Trägern städtischer Identität. Deshalb suchen Städte nach bildwirksamen Stadtsymbolen, um städtische Identität zu generieren. Oftmals werden signifikanten Zeichen im städtischen Raum hergestellt, wie sie unter dem Terminus des „Bilbao-Effekt”76 verstanden werden.77 Eine Tendenz zu auf Überwältigungskraft hin entworfene Architekturen, die zur Unterscheidbarkeit der Städte führen soll, kann verzeichnet werden. Die meisten zeitgenössischen Städte präsentieren sich mit mindestens einem Stadtwahrzeichen, welches die Erkennbarkeit und die Darstellbarkeit der Stadt sicherstellt. Das Wahrzeichen als Erkennungszeichen kann bewusst für verschiedene Zielgruppen eingesetzt werden.78 Ein Beispiel für ein besonderes Stadtobjekt beziehungsweise Wahrzeichen ist der Pariser Eiffelturm. Seine eindeutige Form ist einzigartig in der Stadt, womit er unverkennbar und leicht wiedererkennbar bleibt. Von vielen Punkten, wie Anhöhen oder Straßenfluchten ist der hohe Turm stets präsent. Die eindeutige Position an der Seine, in der Achse zwischen dem Place du Trocadéro et du 11 Novembre und der École militaire gibt ihm eine stadtgeografische Präsenz. Seine reiche Geschichte rund um die Weltausstellung 1889 verleiht ihm eine historische Bedeutung und machte ihn zu einer der Ikonen der Architektur und Ingenieurbaukunst. Die stetig steigende Popularität um den Eiffelturm wird durch eine enorme mediale Präsenz vorangetrieben und führt dazu, dass dieser symbolisch für die Stadt Paris steht. Der Wiedererkennungseffekt des Eiffelturmes ist wirksam mit der Wahrnehmung der Stadt Paris verbunden und ist somit ein identifikationsstiftendes Element für Bewohner, Besucher und Betrachter. Erzeugung und Veränderung von Stadtwahrzeichen Prägnante Stadtbilder sind äußerst identifikationsstiftend. Neben den genannten Aspekten wie eindeutige Form, städtische Präsenz oder Bedeutung und Symbolik ist die Einprägsamkeit des Objekts von großer Relevanz. Sucht man nach den architektonischen Formen und Ausformulierungen, die Iden75 vgl. Klein und Sigel, Konstruktionen urbaner Identität. Zitat und Rekonstruktion in Architektur und Städtebau der Gegenwart, 24. 76 Mit dem Bilbao-Effekt werden Orte beschrieben, die durch eine spektakuläre Architektur gezielt aufgewertet werden sollen, um ihre Stadt ökonomisch und sozial besser zu positionieren. 77 vgl. Klein und Sigel, Konstruktionen urbaner Identität. Zitat und Rekonstruktion in Architektur und Städtebau der Gegenwart, 137. 78 vgl. Lampugnani und Noell, Stadtformen. Die Architektur der Stadt. Zwischen Imagination und Konstruktion, 159.

29


tifikation hervorbringen, muss man die Einprägsamkeit von Gebäuden betrachten. Diese sollten einfach beschrieben werden können – der hohe Turm, der Bogen etc. – oder eine besondere Spezifik benannt werden können – das Gebäude mit den runden Balkonen, das Gebäude mit zwei großen Scheiben etc. Wenn die Sprache von wiedererkennbaren, unverwechselbaren und einprägsamen Formen ist, handelt es sich nicht unbedingt um exzentrische Gebäudeformen. Auch Bauten, die auf reduzierten, minimalen oder skulpturalen Formen beruhen, können zu städtischen Wahrzeichen werden. Beispielsweise wurde der Grande Arche La Défense in Paris zu einem identifikationsbildenden Gebäude. Dieser wurde weniger durch Exaltiertheit und exzentrische Ausstrahlung erreicht, sondern durch Differenz zur gebauten Umgebung, Individualität und Zeichenhaftigkeit.79 Weitere Charakteristika zur Bildung eines Stadtwahrzeichens sind auch im vorangegangenen Abschnitt „Merkzeichen“ beschrieben. Wenn auch Stadtwahrzeichen auf eine bestimmte Art und Weise konzipiert wurden, um beispielsweise besonders einprägsam zu sein, ist dies keine Garantie für eine Dauerhaftigkeit ihrer Bedeutung. Jede Epoche hat ihre eigenen Bedeutungen inne und Auf-, Um- und Abwertungsprozesse durchziehen die unterschiedlichen Schichten der Geschichte der Stadt. Identifikationsstiftende Stadtwahrzeichen für eine allgemeine Stadtgemeinschaft sind nicht statisch, sondern verändern sich. Wie auch die Gesamtstadt im Laufe der Zeit vielfältige Veränderungsprozessen durchläuft, entwickeln sich auch deren Bausteine – unter anderem deren Wahrzeichen – weiter. Neue Wahrzeichen können entstehen, alte verschwinden oder lösen die aktuellen ab. Dabei ist die Gefahr eines Bedeutungsverlustes von Wahrzeichen nicht ausgeschlossen. So kann es beispielsweise sein, dass eine politisch-ikonografische Aufladung von besonderen Stadtobjekten, aufgrund eines politischen Systemwechsels, neu gedacht wird. Mit Bedeutung versetzte Gebäude können eine komplette Neuorientierung von Bedeutung erfahren und als Wahrzeichen für eine Ideologie Instrument politischen Handelns werden.80 Identitätskonstruktion mittels Bildproduktion Nicht allein die architektonische Form und städtebauliche Faktoren sind für die Bedeutungsbildung von Stadtobjekten zuständig. Klar ist, dass die Bildproduktion und die Identitätszuschreibung eng miteinander verknüpft sind (unter Berücksichtigung des Wechselspiels zwischen individuell erfahrenen und medial verbreiteten Bildern): „Beides jedenfalls, sowohl die erinnerten, die alltägliche erfahrenen und die medial verbreiteten Bilder der Städte […] scheint zusammen zu wirken, wenn es um die Konstruktion urbaner Identität geht.”81 Bei der urbanen Identitätssuche sind Gedächtnis und Bild wesent-

79 vgl. Klein und Sigel, Konstruktionen urbaner Identität. Zitat und Rekonstruktion in Architektur und Städtebau der Gegenwart, 142. 80 vgl. Klein und Sigel, 25. 81 Klein und Sigel, 16.

30


liche Identitätsspeicher, denn prägnante Stadtbilder sind besonders identitätsprädestiniert. Der Einfluss von Bild und Identitätsstiftung liegt bei wirtschaftlichen, politischen und auch planerischen Instanzen sowie bei unterschiedlichen Arten von Medien. Der gegenwärtige mediale Einflussbereich erstreckt sich „von der Leitbilderstellung der Stadtentwicklungspolitik bis zur politisch-soziologischen Neudefinition von Stadträumen, von der objektbezogenen bis zur städtebaulichen Denkmalpflege, von der performativen Inszenierung der Städte im Sinne eines kompetitiven Stadtmarketings bis zum urbanen Setting eines Werbeclips”.82 Beispielsweise erzeugt eine nach innen wie nach außen wirkende Identitätsbildung einer Stadt ein positives Image und ist als Standortvorteil in der Konkurrenz mit anderen Metropolen im Sinne des Stadtbrandings zu sehen.83 Die enorme mediale Bildproduktion der Stadt und ihrer Architekturen sowie eine stetige Transformation der gebauten Umgebung können zu Stadtstrukturen führen, die rein auf ihren Bildcharakter ausgelegt sind. Damit kann neben der Bedeutung historischer Bildlichkeit der Städte gezielt auf die Erzeugung neuer für eine Stadtgemeinschaft identifikationsstiftende Stadtobjekte eingegangen werden.

82 Klein und Sigel, 16. 83 vgl. Klein und Sigel, 29.

31


Zeitlicher und politischer Entwicklungskontext

32


Situation nach dem Krieg Die ersten Grands Ensembles in Frankreich entstanden in den 1950er Jahren als Reaktion des französischen Staates auf die enorme Wohnungsnot in den Innenstädten der Ballungsräume. Die Wohnungsknappheit resultierte aus verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Einflüssen. Vor allem die Kriegsschäden aus dem Zweiten Weltkrieg, aber auch die alte, marode und somit immer schwerer bewohnbare Bausubstanz trug erheblich zum Mangel an angemessenem Wohnraum bei. Der Modernisierungsschub der trente glorieuses, die dreißig glorreichen Jahre von Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 bis zur Ölkrise 1975, brachten Prosperität, Wachstum und einen plötzlichen sozialen Wandel mit sich. Dieser Aufschwung beförderte eine zusätzliche Nachfrage an Wohnraum durch den Zuzug vieler Menschen in die Städte – vor allem nach Paris.84 Neben der Migration der Landbevölkerung in die Städte wurde der Zuzug aus anderen Ländern durch die Politik unterstützt. General Charles de Gaulle strebte damit einen Ausgleich des durch den Krieg entstandenen Bevölkerungsrückgangs an. Diese Zunahme der Bevölkerung in den Städten wurde von einem demografischen Wandel begleitet. Der Babyboom entstand durch eine geburtenfördernde Politik ab Mitte der 1940er Jahre bis Mitte der 1960er Jahre. Die Gesamtheit dieser Faktoren führte über Jahre hinweg zu einem stetigen Mangel an Wohnraum und einer prekären Wohnungssituation, welche als La crise du logement bezeichnet wurde. Beispielsweise war noch 1962 eine von vier Wohnungen überbelegt und sechzig Prozent der gesamten Wohnungen stammten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.85 Rapide Modernisierung Um die enormen Kriegsschäden in Frankreich zu beheben, wurden die Modernisierungsmaßnahmen sowohl vom Staat als auch von der Marktwirtschaft befördert. Zu Beginn lag das Augenmerk auf der „Wiederherstellung der industriellen Produktion und der Landwirtschaft”86, es wurde schnell und viel produziert, die Gesellschaft wandelte sich von einer agrarisch geprägten zu einer voll industrialisierten. Der französische Staat begegnete der crise du logement mit dem Bau von großmaßstäblichen und dichten Wohnstrukturen, welche die Bezeichnung Grands Ensembles erhielten. Für die Planung dieser Großstrukturen und damit der angestrebten Lösung des Wohnungsmangels stellte sich eine gleichartige Planung mit industrieller Fertigung als idealer Ansatz heraus. Ab 1949 konnten industrielle Fertigungsmethoden im sozialen Wohnungsbau eingesetzt werden. Die so entstandenen sozialen Wohnungsbauten können gewissermaßen als Experimente für industrielles Bauen im großen Maßstab

84 vgl. Neumann und Uterwedde, Soziale und Stadtstrukturelle Wirkungen der Wohnungs- und Städtebaupolitik in Frankreich am Beispiel der Gross-Siedlungen, 81. 85 vgl. Avermaete, „Komplizen einer modernen Gesellschaft. Architektur und Politik in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg“, 31. 86 Avermaete, 30.

33


angesehen werden.87 Die industrielle Fertigung ermöglichte ein schnelles und kostengünstiges Bauen, welches die erste Generation der Grands Ensembles in den dreißig Wirtschaftswunderjahren prägte. Dadurch konnte der Wohnungsmangel schnell gedeckt, den Tendenzen der Zersiedelung des Pariser Umlandes entgegengewirkt und die Menge an Sozialwohnungen bis Mitte der 60er Jahre stark ausgebaut werden.88 Nachdem die Wohnungskonstruktion seit Mitte der 1950er Jahre zur Priorität Frankreichs wurde, ist die Zahl der neu geschaffenen Wohnungen rasant angestiegen und übersteigt seit 1955 200.000, 1965 400.000 Wohneinheiten pro Jahr. 1970 konnten somit fast sechs Millionen neue Wohnungen geschaffen werden.89 Die Architektur und Stadtplanung nahm in der Zeit der Modernisierung Frankreichs und der Bekämpfung der Wohnungskrise eine essentielle Rolle ein. Sie wurde als Protagonist der Vollendung einer wohlhabenden, gesunden und neuen Gesellschaft gesehen. Da die Architektur und Stadtplanung eine so bedeutende Funktion für die Durchführung und das Gelingen der Modernisierung hatten, entstand eine enge Verbindung zwischen der Politik und der Architektur. Bis heute zeigt sich diese wechselseitige Beziehung in der Einbindung der Architektur in die politische Planung sowie die Einbindung der Politik in die Architekturdebatte. Seit Anfang der 1950er Jahre wurde der Wohnungsbau durch staatlich finanzielle und politische Unterstützung gefördert. Vielfältige Programme und Kampagnen begünstigten den großmaßstäblichen Wohnungsbau: - Plan National d’Aménagement du Territoire, durch das MRU (Ministère de la Reconstruction et de l‘Urbanisme) 1950 ins Leben gerufen - Unterschiedliche Campagnes Nationale Construction-Logement - Wettbewerbe für HLMs (Habitations à Loyer Modéré) in den 1950er Jahren - Definition von ZUPs (Zones à Urbaniser en Priorité) 1958 von Bauminister Pierre Sudreau eingeführt90 Die ZUPs entwickeln sich zu einem gängigen Verfahren für die Stadtentwicklung. Die Cité Rotterdam in Straßburg (von Eugène Beaudouin) war das erste Grand Ensemble, welches durch das Schaffen einer Sonderbauzone von enormer Größe unter staatlicher Aufsicht, also durch das Massenwohnbauprogramm ZUP, realisiert wurde. Die Gemeinden konnten Land enteignen, um es entweder privaten Bauträgern für den Bau preiswerter Wohnungen oder öffentlichen Bauträgern des sozialen Wohnungsbaus zur Verfügung zu stellen. Diese großen Parzellen wurden dann als ZUP, Zonen von städtebaulicher Priorität, definiert. 91 In drei Jahren wurden fast hundert solcher Zonen

87 vgl. Sonntag, Labor der Moderne. Nachkriegsarchitektur in Europa, 138. 88 vgl. Neumann und Uterwedde, Soziale und Stadtstrukturelle Wirkungen der Wohnungs- und Städtebaupolitik in Frankreich am Beispiel der Gross-Siedlungen, 81 ff. 89 vgl. Avermaete, „Komplizen einer modernen Gesellschaft. Architektur und Politik in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg“, 32. 90 vgl. Avermaete, 32. 91 vgl. Avermaete, 34.

34


erschaffen, von denen zwölf in der Region Paris verortet waren.92 Wohnen in den neuen Großstrukturen Die Wirtschaftswunderjahre brachten einen neuen Wohlstand mit sich und folglich eine neue und moderne Vorstellung des Wohnens. Die neuen Wohnideale wurden unter anderem in Ausstellungen oder Kinofilmen präsentiert. Beispielhaft hierfür steht Jacques Tatis französischer Kinofilm Mon Oncle (1958), welcher eine Vision des modernen Wohnens zeigt. Solche Präsentationen und Veranschaulichung trugen dazu bei, eine Akzeptanz unter der Bevölkerung hinsichtlich der neuen Wohnformen und der Architektur der CIAM93 zu schaffen. Diese Art des Wohnens wurde als erstrebenswertes Ideal aufgefasst.94 Es entstand ein allgemeines Einverständnis darüber, wie die ideale Wohnung in den Grands Ensembles auszusehen hatte. Typische Wohnungen waren Wohnzellen, welche beispielsweise eine Frankfurter Küche und einen kombinierten Wohn- und Essbereich, dem sogenannten séjour, enthielten (in den Vorkriegswohnungen waren Esszimmer und Salon noch getrennt). Aufgrund de s Konsenses über den Aufbau der Wohnungen entstanden zellenartige Musterformen, die in Katalogen zusammengefasst wurden.95 Die Grands Ensembles propagierten ein modernes, komfortables und hygienisches Wohnen für die Kleinfamilie: Man wollte raus aus der dichten und dreckigen Innenstadt und mit viel Licht, Luft und Sonne wohnen. Die Ideen der Charta von Athen (die Charta von Athen wurde auf dem vierten Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) 1933 in Athen verabschiedet) waren die Basis der Entwürfe, und in den Grands Ensembles zu wohnen war zu Beginn sehr attraktiv.96 Die Rezeption der Wohnungen durch ihre Bewohner war äußerst positiv, und eine deutliche Verbesserung zu ihren vorherigen Wohnungszuständen war zu verzeichnen: „Les immeubles paraissent bien conçus et bien construits ; on sait qu’ils offrent aux habitants – au moindre coût, paraît-il – des salles de bains ou des salles d’eau, des séchoirs, des pièces bien éclairées où les gens peuvent installer leur poste de radio et les télévisions et de chez eux contempler le monde. […] Les immeubles, eux aussi, sont des ‚objets techniques‘ et des machines.” 97 Der französische Philosoph und Soziologe Henri Lefebvre beschreibt die Vorzüge, den Komfort und die Lebensqualitäten, welche die neuen Wohnungen mit sich bringen. Dieser Komfort ist stark an die Maschinen des Alltags, die technischen Objekte, gekoppelt, die einen prägnanten Stellenwert in der Wohnung einnehmen. Hinzu kommt, dass das Gebäude selbst als Maschine beziehungsweise technisches Objekt angesehen wird, was die durch technischen und sozialen Wandel geprägte Mentalität der 1960er Jahre verdeutlicht. 92 vgl. Lucan, Architecture en France (1940-2000), 71. 93 Zwischen 1928 und 1959 fanden die Internationalen Kongresse Moderner Architektur für Architekten und Stadtplaner statt: Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) 94 vgl. Avermaete, „Komplizen einer modernen Gesellschaft. Architektur und Politik in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg“, 31. 95 vgl. Avermaete, 34. 96 vgl. Schüle, Paris. Vordergründe / Hintergründe / Abgründe, 158. 97 Lefebvre, „Septième Prélude: ‚Notes sur la ville nouvelle (avril 1960)‘“, 80 f.

35


Abriss Cité des 4000, 1986 France Inter, Foto: Patrick Aventurier

36


Kritik an den Wohnsituation der Grands Ensembles Neben der positiven Wahrnehmung entstanden nach und nach verschiedene Kritikpunkte an den Grands Ensembles. Beklagt wurde der geringfügige Platz in den Wohnungen, nicht ausreichende Versorgungseinrichtungen wie Geschäfte, Schulen und Dienstleistungen jeglicher Art, der Mangel an kulturellem Angebot, eine schlechte Verkehrsanbindung sowie eine mangelhafte Bauqualität. Diese zeigte sich in zeittypischen konstruktiven und bauphysikalischen Mängeln, oft gab es Probleme mit einer minderwertigen Schallisolierung oder dem verwendeten Sichtbeton. Durch eine mangelnde Baupflege verschlimmerten sich die Bauschäden zunehmend. Auch wurde das öffentliche Leben als gescheitert betrachtet. So befanden sich insbesondere die Hausfrauen in einer Isolation in den Grands Ensembles, während berufstätige Männer diese für die Arbeit verließen und Jugendliche fanden wenig Beschäftigung. Die Grands Ensembles entsprachen oft nicht den sozialen Erwartungen und es stellte sich selten ein Gemeinschaftsgefühl ein. Ein sinnbildlicher und konkreter Verfall der Großwohnsiedlungen setzte ein. Zum Symbol der anwachsenden Probleme der Grands Ensembles wurde die Großwohnsiedlung Les Sarcelles.98 Aus der Unzufriedenheit mit der Wohnsituation entstand der Begriff sarcellite, welcher die Depression der Bewohner von Großwohnsiedlungen bezeichnet.99 Durch soziale Probleme in den Großwohnsiedlungen und das Entstehen von Brennpunkten verschlechterte sich auch das Ansehen ihrer Architektur. Das negative öffentliche Image initiierte eine soziale Segregation und verstärkte diesen kontinuierlichen Prozess. Nicht selten wurde die Architektur der Grands Ensembles, welche in den trente glorieuses entstanden, mit sozialem Abstieg gleichgesetzt. Die Niederlage und Ausweglosigkeit mancher Grands Ensembles resultierte teilweise im Abriss der Gebäude, wie die Sprengung einer Zeile der Cité 4000 1986 in La Courneuve bei Paris. Als Charakteristika der Grands Ensembles der ersten Generation lassen sich die folgenden Punkte erkennen: - Ausgangspunkt der Urbanisierung war zentralistisch: Finanzierung, Planung und Kontrolle unter zentralstaatlicher Aufsicht - Das städtebauliche Konzept folgte den Prinzipien des Funktionalismus: Trennung von Wohnen, Arbeit und Freizeit und somit Konstruktion reiner Wohnanlagen (groß, einzeln, freistehende Türme oder Blöcke tours et barres, großräumige Freiflächen zwischendrin - Anwendung standardisierter Verfahren für die Massenproduktion: industrielle Fertigung vereinheitlichter Bauformen und genormter Bauteile - Konstruktion in Billigbauweise: kostenbedingter Minimalkomfort durch Baumängel der Wärme- und Lärmdämmung, schnelle Abnutzung der

98 vgl. Avermaete, „Komplizen einer modernen Gesellschaft. Architektur und Politik in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg“, 36. 99 vgl. Kockelkorn, „Wuchernde Wohnarchitektur. Die französischen ‚Proliférants‘ der frühen 70er Jahre als staatliches Experiment“, 37.

37


Bausubstanz - Standorte meist am Rand der Innenstädte/an den Peripherien, ab von bestehenden Siedlungsgebieten, da auf der grünen Wiese große Bauflächen leicht und billig zu erwerben waren, Infrastruktureinrichtungen (wie Kindergärten, Schulen, Sozialeinrichtungen etc.) oft erst später realisiert oder immer noch unzureichend100 Villes nouvelles Als Antwort auf die Grands Ensembles der 1960er Jahre wurden neue Städte geplant, welche wie Satellitenstädte gebaut wurden. An den Peripherien von Paris waren dies Cergy-Pontoise, Saint-Quentin-en-Yvelines, Evry, Melun-Sénart und Marne-La-Vallée. Weitere neue Städte wurden in der Provinz bei Lyon, Marseille oder Rouen gebaut. Als enorme Urbanisierungsprogramme der Metropole Paris wurden die Villes nouvelles in zwei Urbanisierungsachsen nordöstlich und südöstlich angelegt. Die neuen Städte werden durch eine Mischung aus Einfamilienhausstruktur pavillons und Großstrukturen, einer schnellen Anbindung an Paris und keiner festen Innenstadt charakterisiert.101 Ein Experimentieren in der Architektur der Villes nouvelles wurde von dessen Führungskräften (Groupe central des villes nouvelles) unterstützt und gewünscht. So wurden die Villes nouvelles um 1980 zu einem priviligierten Experimentierfeld neuartiger Großstrukturen. Dabei ging es um das Schaffen neuer Stadtsymbole, welche die jeweilige neue Stadt repräsentieren und mit dem sich seine Bürger identifizieren konnten. Das Büro von Ricardo Bofill, Taller de Arquitectura, trug maßgebend in dieser Periode dazu bei, Symbole für die neuen Städte zu schaffen. Entstanden sind beispielsweise Les Arcades du Lac, Le Viaduc, Les Colonades de Saint Christophe oder Les Espaces d’Abraxas.102 Henri Lefebvre beschreibt 1960 seine Gedanken zu den Villes nouvelles in der Schrift Notes sur la ville nouvelle. Über diese schrieb er: „Je ne lis pas les siècles, ni le temps, ni le passé, ni le possible.”103 Lefebvre skizzierte die historische Stadt als positives Beispiel voller Vitalität und forderte die Stadtplaner dazu auf, deren Szenarien für den zeitgenössischen Siedlungsbau zu erkennen und in die Planungen einzubringen. Er plädierte dafür die Grands Ensembles nicht als komplett fertige und unbewegliche Strukturen zu sehen, sondern sie mit der sich weiterentwickelnden Gesellschaft auch mit zu verändern. So wie auch andere städtische Gebiete an Veränderungen in den Wohnformen, Typologien und öffentlichen Räumen angepasst werden. Die Entwicklung nach dem Ende der Wirtschaftswunderjahre wirkte sich negative auf das Potential der Veränderung aus, denn die staatlichen Fördermittel wurden deutlich reduziert.104 100 vgl. Neumann und Uterwedde, Soziale und Stadtstrukturelle Wirkungen der Wohnungs- und Städtebaupolitik in Frankreich am Beispiel der Gross-Siedlungen, 3939. 101 vgl. Schüle, Paris. Vordergründe / Hintergründe / Abgründe, 49 ff. 102 vgl. Chouquer und Daumas, Autour de Ledoux: architecture, ville et utopie, 214. 103 Lefebvre, „Septième Prélude: ‚Notes sur la ville nouvelle (avril 1960)‘“, 82. 104 vgl. Avermaete, „Komplizen einer modernen Gesellschaft. Architektur und Politik in Frankreich nach dem Zweiten Welt-

38


Pioniergeist Bau Les Arcades du Lac, Le Viaduc Debarre, Morry, Habiter à Saint-Quentin-en-Yvelines, 2002

39


Architecture proliférante Als Reaktion auf die Missstände der tours et barres der Grands Ensembles bildete sich ein Phänomen in der französischen Architektur Anfang der 1970er Jahre und somit gegen Ende der trente glorieuses aus: die architecture proliférante. Es wurden zwei Wohntypologien, das habitat intermédiaire, was als Terrassen- und Reihenhaussiedlungen übersetzt werden kann, und die architecture proliférante, entwickelt. Letzteres würde wortwörtlich übersetzt wuchernde Architektur bedeuten. Dieser Begriff scheint im Deutschen nicht den ihn beschreibenden Bauten gerecht zu werden und enthält eine eher negative Konnotation. Man könnte versuchen, sie als „Wohnzellenberge, Wohnhügel, Pyramidensiedlung, Terrassenhaus“ zu beschreiben, jedoch scheint es im Deutschen keinen adäquaten Begriff „für jene neuen, flexibel und anpassungsfähig gedachten Wohntypologien, die die Vorzüge des Eigenheims mit Garten, die Lebendigkeit einer dichten innerstädtischen Bebauung und die Funktionalität einer modernen Großwohnsiedlung miteinander verbinden wollten”.105 Die Architekten der proliférants bedienten sich einiger Vorläufer, wie zum Beispiel der strukturalistischen Streichholzschachtelmodellen von Herman Hertzberger oder dem Projekt Habitat’67 von Moshe Safdie und griffen deren Konzeptionen auf. Die proliférants lassen sich durch ihre Komplexität, eine Anpassungsfähigkeit durch standardisierte Bauelementen und einer horizontalen, flächigen Schichtung charakterisieren.106 Der großmaßstäbliche Wohnungsbau blieb auch gegen Ende der trente glorieuses noch ein Thema der Regierung, jedoch entstand seit Mitte der 60er Jahre eine Tendenz zum Eigenheim. Mehr als zwei Drittel der französischen Bevölkerung favorisierte ein Haus mit eigenem Grundstück, den pavillon, gegenüber einer Wohnung. Die entstandene Abneigung der Großwohnstrukturen erklärt sich neben Planungsfehlern und sozialen Problemen sowie dem Prestige, das ein Eigenheim mit sich bringt, auch maßgeblich durch eine Ablehnung „der Bevölkerung gegenüber der französischen Ministerialbürokratie. Deren Macht war in Frankreich mit dem zentralisierten Planungsapparat sozialistischer Länder vergleichbar, weshalb der Großwohnbau im kollektiven Bewusstsein nach der anfänglichen Euphorie der frühen 1960er Jahre weniger ‚Soziale Gerechtigkeit‘ verkörperte”.107 Zusätzlich wurden Studien angefertigt, welche die Zufriedenheit der Bewohner von Einfamilienhäusern und deren von Großwohnsiedlungen erfassen sollte. Ziel der architecture proliférante war es einerseits, den „Großwohnbau weiterhin als politisches Instrument am Leben erhalten, andererseits sollte sie mittels leichter Vorfabrikationssysteme vielfältige Formen- und Fassadenangebote machen und

krieg“, 36. 105 Kockelkorn, „Wuchernde Wohnarchitektur. Die französischen ‚Proliférants‘ der frühen 70er Jahre als staatliches Experiment“, 37. 106 vgl. Kockelkorn, 38. 107 Kockelkorn, 38.

40


damit positive Aneignungsprozesse ermöglichen”.108 Einer der bekanntesten Vertreter dieser Architektur war Jean Renaudie, welcher nach Formen suchte, die Individualität und Aneignungsmöglichkeiten erzeugen und dies, ohne den Grundsätzen der Grands Ensembles, welche auf die Charta von Athen basierten, zu folgen. Die Vorzüge eines Ensembles und die Individualität der Appartements wurde vereint. Die Hoffnung der Architekten der proliférants lag darin, „sowohl eine Vielfalt an Wohn- und Lebensformen anzubieten als auch einen offenen, abwechslungsreichen Zugang zum urbanen Raum und seinen öffentlichen Einrichtungen zu ermöglichen”.109 Dieser experimentelle Wohnungsbau wurde staatlich durch den Plan construction unterstützt. Als wichtigstes Förderprogramm der architecture proliférante wurde er 1971 eingeführt und enthielt verschiedene Programme: - der Ideenwettbewerb PAN (Programme Architecture nouvelle), um junge Architekturbüros eine Chance auf öffentliche Aufträge zu vereinfachen - die Modèles d’Innovation - das REX (Réalisations expérimentales) als Finanzierungsmodell, um eine Realisierung der Projekte zu gewährleisten110 Ende der trente glorieuses Die Ölkrise 1973 brachte eine ökonomische Stagnation mit sich und bremste den Bau von Großwohnungsstrukturen des sozialen Wohnungsbaus, wie man sie aus den vorhergehenden Jahrzehnten kannte. Diese Entwicklung ging in jeder Nation unterschiedlich schnell voran und äußert sich auf verschiedene Weisen. Die Kritik an den Grands Ensembles – gepaart mit den wirtschaftlichen Auswirkungen der Ölkrise – führte Olivier Guichard (Minister für Ausrüstung, Wohnungsbau und Tourismus) 1973 dazu, den Bau von Großwohnungssiedlungen über 1.000 Wohneinheiten in Kleinstädten und mit mehr als 2.000 in Großstädten in ganz Frankreich zu unterbinden.111 Neben der Begrenzung der Wohneinheiten pro Siedlung, schrieb Olivier Guichard eine Mischung von Gebäudetypen und Funktionen vor und untersagte eine architektonische Form, welche von der modernen Bewegung hervorgebracht wurde und in den Großwohnsiedlungen ihren Ausdruck fand.112 Schon in den 1960er Jahren versuchte der Bauminister Pierre Sudreau die Entwicklungen der tours et barres zu stoppen und warnte vor der Ausdehnung der Banlieues, dem Entstehen monofunktionaler Vorstadtbereichen und „the alignment of characterless buildings and desolate houses where human life cannot flourish”.113

108 Kockelkorn, 38. 109 Kockelkorn, 40. 110 vgl. Kockelkorn, 39. 111 vgl. Avermaete, „Komplizen einer modernen Gesellschaft. Architektur und Politik in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg“, 36. 112 vgl. Renaud und Vignaud, „Les tours Nuages“, 97. 113 Mollard, „Tour de banlieue: the grands ensembles of Paris’s periphery“.

41


Alternative Formen Aufgrund der schlechten Bausubstanz und damit schnell auftretende Mängeln, einer fehlenden Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen und einer von den Bewohnern wahrgenommenen Monotonie begann eine Reflexion über die Politik der tours et barres. Die durch den internationalen Stil der 50er Jahre erzeugte Gleichheit geriet in Kritik.114 Die Grands Ensembles, welche während der trente glorieuses entstanden, wurden als Fanal der gescheiterten Moderne angesehen. Es entstand ein Nachdenken über alternative Formen, die auf die Kritik und die Probleme der Grands Ensembles eingeht. Eine neue, zweite Generation von Grands Ensembles entstand, die mit dem traditionellen Bild der Grands Ensembles bricht.115 Gegen Ende der trente glorieuses entstehen einige Großstrukturen, die das Bild der Monotonie aufheben und alternative Formen der Großstruktur aufzeigen. Manche dieser entstanden im Rahmen der Villes nouvelles und der dem Phänomen der architecture proliférante. Heute sind die Grands Ensembles der ersten sowie der zweiten Generation mit vielen Stigmen belegt. Sie werden mit sozialem Abstieg, Kriminalität, Gewalt, Unmenschlichkeit, Anonymität, mangelnder Sicherheit und Hygiene sowie schlechter Bausubstanz assoziiert. Sie evozieren ein Bild des misslungenen sozialen Wohnungsbaus und das Schaffen einer Parallelgesellschaft, welche auf Themen wie Rassismus und Segregation trifft. Obwohl nicht alle Grands Ensembles in den Vorstädten Paris angesiedelt sind, wurden sie das Symbol des Stadtrandes und der Vorstädte; sie wurden mit der Banlieue gleichgesetzt. Sie wurden von Hoffnungsträgern zu Gebäuden der Hoffnungslosigkeit. Somit kam und kommt es immer noch zu Abrissen der Grands Ensembles. Grands projets Seit jeher wurden in Paris monumentale Großstrukturen gebaut, welche das Stadtbild prägen und ikonisch für die Metropole stehen. Die Grands projets-Politik als alte französische Tradition zeigt sich neben den Grands Ensembles des Wohnens, die sich hauptsächlich am Stadtrand und in den Vorstädten befinden, in Großbauten der Verwaltung, Kultur und Kunst, die unter verschiedenen Präsidenten in der Innenstadt gebaut wurden. Große Bauvorhaben die stark von den französischen Präsidenten angetrieben wurden wie das Centre Pompidou, das Institut du monde arabe, La Vilette, die Opéra Bastille oder des Grande Arche in La Défense sollten ein neues Image und eine neue Repräsentation der Stadt Paris verdeutlichen.116 Besonders unter Mitterand entstanden zahlreiche große Gebäude, die von der französischen Mentalität des großen Bauens zeugen. Für die grands projets scheint die Monumentenbeschreibung als eines von dem Herrschenden gesetzten Bauwerks

114 vgl. Schüle, Paris. Vordergründe / Hintergründe / Abgründe, 158. 115 vgl. Blanc, Bonilla, und Tomas, Les Grands Ensembles. Une histoire qui continue …, 48. 116 vgl. Schüle, Paris. Vordergründe / Hintergründe / Abgründe, 109.

42


zu treffen. Die Projekte sind Sinnbilder der Macht und Denkmäler des Wissens oder der Künste. Die Bedeutungszuschreibung hingegen gegenüber der Großprojekte scheint mehrdeutig. Manche der grands projets haben multiple Bedeutungen erhalten oder ihre historische komplett verloren. Die Basilika Sacré-Cœur erhält neben ihrer religiösen Bedeutung die eines Aussichtspunks, einer Orientierungsmarke und in kleiner Form eines Marktplatzes. Der Louvre ist Kunstmuseum und Shoppingmal, nicht mehr Palast; der Eiffelturm nicht mehr Zeichen der industriellen Revolution, und der Triumphbogen hat seine Bedeutung als Siegesbogen verloren (außer an Gedenktagen und bei Feierlichkeiten).117 Der Bau von Großstrukturen scheint nicht bloß eine vergangene Möglichkeit der Machtrepräsentation in der französischen Geschichte zu sein, sondern ist eine bis ins 20. Jahrhundert gängige Praxis und Mittel zur Inszenierung.

117 vgl. Schüle, 100 f.

43


Fallbeispiele

44


Les Orgues de Flandre Fakten Architekt: Martin Schulz van Treeck Bauzeit: 1967-1976 Bestandteile: 4 Wohntürme, 2 Terrassengebäude, Nahversorgungseinrichtungen Wohneinheiten: 1.950 Wohneinheiten, davon 1.237 Sozialwohnungen (63%), 713 Privatwohnungen, Stand 2017 Bauherr: Foyer du Fonctionnaire et de la Famille FFF, heute Immobilière 3F Gesamtfläche: ca. 6,3 Hektar Patrimoine du XXe siècle Entstehungsgeschichte Als eines der seltenen Grands Ensembles ist Les Orgues de Flandre in der Pariser Innenstadt, genauer gesagt im 19. Arrondissement, im Norden der Stadt, aufzufinden. Dort wird es dem Bezirk La Villette zugeordnet und bildet den Häuserblock Riquet aus. In der Mitte des 20. Jahrhunderts war das Riquet-Viertel eine dorfartige Struktur, die durch eine dichte, veraltete, teils auch provisorische Bausubstanz von minderer Qualität sowie einem Gewirr aus Gassen gekennzeichnet war. Diese chaotischen und schlechten Wohnverhältnisse waren im Bezirk La Villette kein Einzelfall.118 Sie gingen mit prekären hygienischen Verhältnissen einher: 23,75% der Wohnungen hatten keinen Frischwasseranschluss, 80,27% keine Toilette, und nur 2,77% hatten eine Badewanne oder Dusche. Neben unterschiedlichen kleinen Handwerksbetrieben befand sich auch die Cité des Flamands im Riquet Block, und diese beherbergte verschiedene künstlerische Aktivitäten. Da der Riquet Block als ungesund und unbewohnbar galt, wurde er als radikal sanierungs- und verdichtungsbedürftig eingestuft. Die Gebäude von etwa 3.000 Bewohnern des Riquet Blocks wurde abgerissen, um einem Stadterneuerungsprojekt Platz zu machen.119 Der Block wurde im 1959 erstellten (1967 gewählten) Plan d’urbanisme directeur (PUD) als Gebiet zur Renovierung festgelegt. Zu dieser Zeit wurde der städtische Block als kleinster Maßstab für Interventionen gesehen.120 Für den Eingriff wurde 1964 die heutige 3F-Gruppe vom Pariser Stadtrat als Bauherr ausgewählt. Ziel der Intervention war, die Dichte von etwa 3.000 auf 5.000 Bewohner zu erhöhen und die Verdichtung der Bebauung, um das demographische Wachstum der Stadt Paris zu nivellieren. Zu Beginn wurde der Riquet Block neudefiniert, indem die ihn umgebende Straßenführung verändert wurde. Die Rue Archereau

118 Alba, „NPNRU Orgues de Flandre. Étude urbaine“, restitution de l’atelier 1, 8 ff. 119 vgl. Mlle Marry, „Renovation urbaine de l’ilot riquet. Paris-XIXe“, 179 f. 120 vgl. Alba, „NPNRU Orgues de Flandre. Étude urbaine“, restitution de l’atelier 1, 7.

45


wurde verlängert und die Avenue de Flandre verbreitert. Die gleichen vor der Sanierung des Gebietes bestehenden Einrichtungen wie Geschäfte, sollten erhalten bleiben, um die Gewohnheiten der Bewohner*innen und Anwohner*innen nicht zu verändern. Als neues, das Quartier aufwertende Element war eine große grüne Parkfläche geplant. Zu Beginn plante der Architekt Maurice-Andre Favette die Maßnahmen für den Riquet Block. Während Teile seiner Entwürfe schon im Bau waren, unterzog er seinen Entwurf immer wieder verschiedenen Überarbeitungen. Der Berliner Architekt Martin Schulz van Treeck wurde als Berater hinzugezogen und löste dann Favette als Architekt ab. Van Treeck behielt Favettes Konzept von vier hohen Türmen im Innern und niedrigere, lineare Bauten an den Rändern des Blockes bei.121 Mit den hohen Türmen reagiert der Architekt klar auf die Notwendigkeiten der Verdichtung und ermöglicht das Freihalten einer großen Fläche des Blockes für den geplanten öffentlichen Park. Die Entwicklung der Orgues de Flandre kommt zum Ende der Periode der Grands Ensembles der ersten Generation und bringt andere Ziele für die architektonische Umsetzung mit sich: das Durchbrechen der Monotonie der tours et barres. Gebäudekomposition und -nutzung Das Ensemble ist stark in seinem Viertel und im Leben der Bewohner des 19. Arrondissement verankert. Die gute Anbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln (zwei Metrostationen der Linie 7) sowie die Lage an der Avenue de Flandre, einer der wichtigsten Straßen des 19. Arrondissement, machen das Ensemble zu einem Bezugspunkt. Neben den Bewohnern frequentieren auch die Anwohner der Umgebung das Ensemble, um Nahversorgungseinrichtungen aufzusuchen oder Freizeitaktivitäten auszuüben. Dies wird durch eine vielfältige Nutzungsmischung ermöglicht, die aus öffentlichen Einrichtungen wie Schwimmbad, Turnhalle, Jugendclub, Kindergarten, Kinderkrippe, überdachter Markt und Postamt sowie privaten Einrichtungen wie Einzelhandel, lokale Künstler*innen und Büros bestehen.122 Oft befinden sich diese Nutzungen in den Erdgeschossbereichen oder im ersten Stock sowie an den Rändern des Blockes, die zu den Straßen zeigen. Teilweise sind Nutzungen wie das Sportzentrum in niedrigeren Gebäuden innerhalb des Blockes angeordnet. Durch die Nutzungsvielfalt entsteht ein fast komplettes urbanes Zentrum, welches alle nötigen Einrichtungen des Alltags aufnimmt. Zu den öffentlichen Angeboten des Blocks zählt auch der etwa ein Hektar große Park im Innern des Blockes, in dem verschiedenen Gebäude des Ensembles angeordnet sind.123 Die gemeinschaftliche Grünfläche ist ein Schwellenraum, der einen geschützten Bereich weg von den stark frequentierten Straßen darstellt und einen Übergang zwischen der Hektik der Stadt und der Ruhe 121 vgl. Alba, restitution de l’aterlier 1, 8 ff. 122 vgl. Schulz van Treeck, „Grandes orgues pour célébrer les HLM“, 43 f. 123 vgl. Loyer, „Les Orgues de Flandre“, 67.

46


des Eigenheims schafft. Organisch verlaufende Fußgängerwege führen durch die Grünfläche zu den verschiedenen Bauten. Der Park dient einerseits als Aufenthaltsraum und Treffpunkt, andererseits als Ort der Passage, zu dem Erschließen von Gebäuden oder dem Durchqueren als Abkürzung. Die Parkplätze der Bewohner des Ensembles sind in mehreren Untergeschossen organisiert. Türme Drei der vier Wohntürme Prélude, Fugue und Cantate befinden sich im Innern des Riquet Blocks, der Turm Sonate ist als einziger durch eine Straße vom Rest des Ensembles abgetrennt. Die vier Türme haben die folgenden unterschiedlichen Höhen: Turm 1 / Prélude: 38 Stockwerke, ca. 123 m Höhe Turm 2 / Fugue: 35 Stockwerke, ca. 104 m Höhe Turm 3 / Cantate: 30 Stockwerke, ca. 96 m Höhe Turm 4 / Sonate: 25 Etagen, ca. 82 m Höhe124 Zwei der Türme sind als reine Punkthochhäuser konzipiert; die anderen beiden Türme Prélude und Cantate werden durch ein siebenstöckiges Sockelgebäude verbunden. Das Zusammenführen zweier Türme mit einer gemeinsamen Basis erzeugt für den Fußgänger den Eindruck einer Masse und nicht den Eindruck von einer punktuellen Anordnung. Der Bauprozess und die Konzeption der Türme sind durch Vorfabrikation bestimmter Elemente stark beeinflusst. Anstatt auf das Vorfabrizieren von beispielsweise Paneelen zurückzugreifen, wurde darauf abgezielt, vorfabrizierte volumetrische Elemente einzusetzen. Da man in Frankreich noch keine kompletten Zellen gießen konnte, wie sie beispielsweise von Moshe Safdie in Montréal für das Projekt Habitat 67 eingesetzt wurden, sollten röhrenförmige Elemente hergestellt und diese übereinandergestapelt werden. Diese Technik sollte für die Schlafzimmer Verwendung finden, welche sich um den Wohnbereich jeder Wohnung gruppieren.125 Der Wohnraum wurde von van Treeck als vereinfachter urbaner Raum aufgefasst. Dabei wurde jedes Zimmer isoliert betrachtet, wie ein Haus, das sich einem kollektiven Raum eines Platzes, also dem Wohnzimmer, zuwendet: „La forme des tours c‘est organisée à partir de logements conçus comme un village dont la salle de séjour sérait la place publique et les autres pièces les habitations ou les services (On peut, par exemple, assimiler la cuisine à un restaurant).“126 Während des Entwurfsprozesses wurde aus technischen Gründen von den vorfabrizierten tubulären Elementen abgesehen und auf die Umsetzung in Ortbeton zurückgegriffen. Jedoch wurde an der Idee der zellenartigen Räume, die durch Überlagerung vertikale Bänder erzeugen, festgehalten. Diese Struktur wurde in einer Kletterschalung, die sich von Niveau zu Ni124 vgl. Mlle Marry, „Renovation urbaine de l’ilot riquet. Paris-XIXe“, 193. 125 vgl. Loyer, „Les Orgues de Flandre“, 38. 126 Schulz van Treeck, „Des orgues en béton“, 8.

47


veau bewegt, an den zwei schon gefertigten Etagen befestigt ist und für eine äußerste Geradheit der Wände sorgt, umgesetzt.127 Neben dem Herstellen von Elementen in Ortbeton wurde das Mittel der Vorfabrikation umfassend eingesetzt, und die Zahl der vorfabrizierten Elemente pro Etage erreicht beinahe die 100. Beispielsweise werden ca. 50 Decken auf der Baustelle nach Größe der Zimmer vorfabriziert.128 Die Assoziation der Räume als eigenständige Zellen brachte den Vorteil des guten Schallschutzes der Zellen sowie den der Flexibilität mit sich. Die einzelnen vorfabrizierten Elemente, welche zu Bündeln von Röhren gestapelt sind, werden auf jeder Etage mit einer ebenso vorfabrizierten Decke geschlossen. Diese entstandenen Röhren werden auf unterschiedlichen Höhen beendet und bilden an diesem Punkt eine Terrasse aus.129 Das Fassadenbild der Türme wird maßgeblich durch die unterschiedlich hohen Röhren bestimmt und erreicht eine hohe Plastizität. Aufgrund dieses Erscheinungsbilds erhielt das Ensemble seinen Namen Orgues de Flandre, was übersetzt die Orgeln von Flandre heißt und auf die Ähnlichkeit von Orgelpfeifen anspielt. Die Referenz zur Musik wird in den Namen der Türme Prélude, Fugue, Cantate und Sonate fortgeführt. Durch die sukzessive Wegnahme von Elementen, also durch die unterschiedlich hohen vertikalen Volumen, wird die Geschossfläche verringert und Wohnungsgrundrisse mit weniger Zimmern erreicht. Das Spiel mit den vertikalen Bändern ermöglicht es, auf den verschiedenen Stockwerken differente Typologien zu definieren. Eine von van Treeck angefertigte Skizze zeigt die schematische Organisation des Regelgeschosses der Türme. Sie verdeutlicht die Struktur des zentralen hexagonalen Kerns, an dessen drei Seiten die Küchen angeordnet sind. Diese bilden zusammen mit dem Kern eine Art Dreieck aus, an dessen Spitzen die Küchen sitzen und so natürlich belichtet werden können. Die Aufzüge und Treppenhäuser sind so in die drei Seiten gelegt, dass sie an den drei verbleibenden Seiten Raum zum Erreichen der Wohnung frei lassen. Neben diesem kompakten Kern entwickelt sich der Grundriss in drei Flügel mit jeweils zwei Wohnungen und somit sechs Wohneinheiten pro Etage. Beim Eintreten in die Wohnungen kann der Blick in große Teile der Räume fallen und wird nach außen erweitert; man erhält einen Blick in die Länge, in die Breite und in die Diagonale der Wohnungen. Alle Wohneinheiten sind in zwei Himmelsrichtungen orientiert, nicht selten laufen Fenster über Eck und ermöglichen jeder Wohnung vielfältige Ausblicke. Jede Wohnung verfügt über eine Loggia, welche als eine Art Pufferzone zwischen Wohnraum und Leere Sicherheit gibt und gegen die Angst vor der Höhe wirkt. Betrachtet man die Fassaden der Türme wechseln sich Bänder aus weißer Keramik und Aluminium ab. Die mit weiß emaillierter Keramik verkleideten 127 vgl. Schulz van Treeck, 8. 128 vgl. Guidoni, „Les grandes orgues de l’architecture“, 63. 129 vgl. Loyer, „Les Orgues de Flandre“, 38.

48


Collage Sicht Silhouette Les Orgues de Flandre von Parc Buttes-Chaumont, Canal Saint-Martin, Porte de la Chapelle Loyer, L‘ŒIL 206-207 Les Orgues de Flandre, 1972, 30 f.

Entwurfsskizze Grundrissschema Wohntürme Loyer, L‘ŒIL 206-207 Les Orgues de Flandre, 1972, 32

49


Wände (2,5 Hektar Fassadenfläche) reinigen sich selbst und tragen bis heute zu einem guten Zustand der Türme bei. Alle Vorsprünge – rechtwinklig oder sehr offenwinklig – sind mit Vorhangfassaden aus vorlackiertem Aluminiumblech versehen. Es entsteht ein Spiel der Farben – weiß und oxidiertes Metall –, der Materialeigenschaften – Brillanz des Email und satiniertes Finish des Metalls – sowie in der Oberfläche – flächig homogen und kleinteilig untergliedert.130 Zeile an der Avenue de Flandre Zwei lange lineare Gebäude laufen entlang der Avenue de Flandre und markieren den Eingang des Riquet Blocks. Ihre Form wird durch terrassenartiges nach vorne und zurück Springen bestimmt. Die Form entsteht durch die Überlagerung von Plateaus mit einem horizontalen Versatz auf jeder Ebene, wodurch Terrassen auf der einen Seite (positiv) und Überhänge auf der anderen Seite (negativ) entstehen. Die Überhänge als prägnante Auskragung Richtung Avenue de Flandre schützt den an den Einzelhandel angrenzenden Fußgängerbereich. Die Fassade zur Avenue de Flandre ist neben der starken Form durch große Balkone und sechseckige Fenster gekennzeichnet, die innenseitige Fassade Richtung Wohntürme durch Betonbrüstungen der Terrassen, die als Pflanzkübel und Sonnenschutz ausformuliert sind.131 Auf dieser Seite der Gebäude ist eine zweite Reihe an linearen Terrassengebäuden mit vier Stockwerken platziert. Leicht freistehend erheben sich Wendeltreppen zu beiden Seiten der Gebäude an den Fassaden. Wie die Wohntürme sind die Fassaden der zwei Eingangsgebäude mit lackierten Aluminiumteilen und selbstreinigender weißer Buchtal-Keramik verkleidet. Mit ihren 15 Geschossen sind die beiden Eingangsgebäude immer noch höher als die sie umgebende Bebauung, jedoch stechen sie weniger heraus als die vier Wohntürme. In ihrer Gestaltung sind sie sehr gegensätzlich zu den meisten Gebäuden entlang der Avenue de Flandre, aber passen sich in die Straßenflucht ein. Die zwei Eingangsgebäude erhalten durch die vielfältigen Terrassenformen und Auskragungen eine skulpturale und komplexe Form. Diese ist sowohl unerwartet und provoziert das Erstaunen, aber ist auch schwer zu beschreiben und einzuprägen. Wenn auch das exakte Bild der Gebäude nicht bleibt, so haftet die Geste der zwei Bauten umso stärker. Der Eindruck eines Tores, insbesondere eines Eingangstores, sowie das Beeindruckende und Erhabene bleibt klar im Gedächtnis. Die Eingangssituation wird durch die Öffnung ins Innere des Blockes gebildet und durch die Symmetrie der überhängenden Gebäudeteile an dieser Stelle sowie einem erhaltenen Eingangstor der Cité des Flamands verstärkt. Dieses Tor ist ein Artefakt aus der Vergangenheit und Geschichte des Blocks. Obwohl beide Eingangstore in einem komplett anderen Maßstab agieren, verstärkt sich der

130 vgl. Guidoni, „Les grandes orgues de l’architecture“, 64 ff. 131 vgl. „Rue de Flandre. La cité des flamands“, 29.

50


Effekt durch die Doppelung. Der Eingang zum Inneren des Blocks ist eines der wenigen symmetrischen Elemente des Ensembles. Jedoch brechen die hohen Türme, welche durch den Eingang sichtbar sind, die Symmetrie. Konzeptionsmethode Endoskop Die Konfiguration des Ensembles entwarf van Treeck mit Hilfe eines Relatoskopes. Dies ist ein optisches Instrument, das es möglich macht, den Blick des Betrachtenden in den Maßstab eines Modells zu bringen. Somit kann der unnatürlichen Blickwinkel des Modells, also der Vogelperspektive, gewechselt werden.132 Das Relatoskop basiert auf dem Oto-Endoskop, welches von van Treecks Vater als Arzt für die Ohrdiagnostik entwickelt wurde. Van Treeck leitete daraus das Endoskop ab und erprobte es an seinen Modellen. Für den Entwurf der Orgues de Flandre war es eine hilfreiche Methode zur Darstellung des komplexen Entwurfsmodells.133 Um die Wirkung von Gebäuden und deren Zwischenräume zu visualisieren, führte van Treeck eine Simulation der Bewegung des Betrachtenden ein. An einem Kransystem befestigt, wurde das bewegliche Endoskop mit einem Teleskop oder einem Videobildschirm verbunden und zeigte die räumlichen Wahrnehmungen, die sich einem bewegten Betrachtenden bieten würden.134 Mit dieser Methode konnte van Treeck das Ensemble nach seiner Intention, das Projekt durch die Zwischenräume zu formen, entwerfen. Der Außenraum soll die Form der Gebäude definieren. Das Interesse galt der Beziehungen zwischen dem Vollen und dem Leeren, dem Gebauten und dem Hohlraum. Er interessierte sich für den Weg des Spaziergängers, für seine Wahrnehmungen, ob er sich im Hohlraum des Blockes oder jenseits, in der Stadt, befand. Deshalb zog er klare Grenzen von Innen und Außen, stärkte die Erkennbarkeit der Zugehörigkeit zum Ensemble und schaffte einfach identifizierbare, plastische Volumen des öffentlichen Raums und der Gebäude. Seine Komposition des Ensembles funktioniert szenografisch, denn die Gebäude sind wie Objekte einer Inszenierung in einer zu durchlaufenden Sequenz angeordnet. Aus der relatoskopischen Studie ergibt sich z.B. die Position des Turms Sonate, welcher durch eine Straße getrennt, etwas weiter von den anderen Türmen weg positioniert ist. Seine Position wurde unter anderem aus der Perspektive des großen Blockeinganges an der Avenue de Flandre her entwickelt.135 Position Martin Schulz van Treeck Die Komposition der einzelnen freistehenden Elemente aus Zeilen, Punkthochhäusern und niedrigeren Gebäuden gibt die Möglichkeit, jedes der

132 vgl. Loyer, „Les Orgues de Flandre“, 76. 133 vgl. Ziegler, „Pariser Politur“, 18. 134 vgl. Thibault, „Martin Schulz van Treeck. Les Orgues de Flandre. 1967 1976, Paris 19e“, 84. 135 vgl. Thibault, 88.

51


52


Links und Rechts: Im Innern des Block Riquet Divisare, Foto: Lorenzo Zandri

53


Gebäude zu umrunden. Anders als die angrenzenden Blöcke, ist der Riquet Block kein geschlossener Blockrand, sondern verfügt über große Öffnungen zwischen den einzelnen Gebäuden. Trotz dieser Offenheit des Blockes werden die Einzelgebäude des Ensembles durch unterschiedliche Charakteristika, wie Formensprachen oder Materialwahl, zusammengehalten und sind als ein Komplex identifizierbar. Sowohl durch die freie Komposition ohne Blockrand als auch durch die Höhe und die Großmaßstäblichkeit kontrastiert Les Orgues de Flandre mit der engen und kleinteiligen Bebauung der direkten Umgebung. In diesem dichten städtischen Raum gibt es keine großen Abstände zwischen den Gebäuden des Ensembles und der Gebäude der Umgebung, und es ist nicht möglich, den nötigen Abstand zu nehmen, um das Ensemble in seiner Gesamtheit zu betrachten. Stattdessen muss man das Ensemble durch- und umlaufen, um es komplett zu verstehen. „Ici, c‘était la perception à grande distance qui m‘intéressait le plus.“136 Die Position der Wohntürme wurde nach ihrer Wirkung von bestimmten Punkten aus festgelegt. Dieser Eindruck wurde von bestimmten Standpunkten in Paris, wie den beiden Hochpunkten Sacré-Cœur und dem Park Buttes-Chaumont aus betrachtet und überprüft.137 Je nach Standpunkt der Betrachtung ergibt sich ein neues Bild. Die Höhenunterschiede der Türme tragen dazu bei, eine lebhafte Wirkung für den Betrachter zu erzeugen. Die niedrigeren Türme erscheinen weiter weg, die höheren Türm näher beim Betrachter gelegen. Durch die Variation der vertikalen Elemente zeigen sich die Türme auf unterschiedliche Weise, und je nach Betrachtungspunkt ergibt sich ein anderes Bild. Mit einer Höhe von bis zu 123 m sind die Türme von Les Orgues de Flandre bis heute die höchsten Wohntürme in Paris. Da sie von weither sichtbar sind, bilden sie einen wichtigen Bestandteil des Landschaftbildes der Stadt und tragen zur Erkennbarkeit des Stadtbildes sowie Verortung des 19. Arrondissements bei.138 Um das Panorama der nordöstlichen Bezirke von Paris zu strukturieren, genügte es nicht, die Vertikalität der Türme zu betonen, sondern sie sollten eine klare und originelle Silhouette erhalten und somit eine Landmarke an der Rue de Flandre ausbilden. Die vier Türme sind keine isolierten oder ausgerichteten Punkte, deren extreme Schlankheit und Höhe sich von der weiten horizontalen Landschaft abheben würde. Hingegen bilden sie eine sehr dichte und breite Gruppe, die an der allgemeinen Horizontalität teilnimmt und durch Anhäufung aufeinanderfolgender Massen mit Fülle hervortritt. Die Türme von Les Orgues des Flandres werden zu einem festen Punkt, welcher einen visuellen Orientierungspunkt schafft.139 Solche stadtbildrelevanten Wirkungen wurden in Fotomontagen getestet. Um den äußeren Ausdruck in der Fernwirkung zu studieren, wurden Bilder von Modellen, die mit einem Relatoskop aus verschiedenen entfernten Blickwinkeln

136 Schulz van Treeck, „Des orgues en béton“, 8. 137 vgl. Schulz van Treeck, „Les orgues de flandre“, 70. 138 vgl. Alba, „NPNRU Orgues de Flandre. Étude urbaine“, retitution de l’atelier 1, 12. 139 vgl. Loyer, „Les Orgues de Flandre“, 37.

54


aufgenommen wurden, in Fotografien eingefügt. Die Konzeption der zwei linearen Bauten parallel zur Avenue de Flandre sind von den gleichen Anliegen wie die der Wohntürme motiviert, sprich der Erkennbarkeit, der Funktion als Orientierungspunkt und Landmarke. Sie sind aber für eine nähere Sicht, für die Perspektive der Straße, der Rue de Flandre konzipiert. Durch ihre Form lenken sie den Blick nach oben. Die umgekehrte Terrassenform ist wie ein halbes Gewölbe über dem öffentlichen Raum, der Straße.140 Die Bedeutung des Raumes, welcher zwischen den Gebäuden entsteht, zeigt sich an der symmetrischen Eingangssituation zum Inneren des Blockes. Der Fokus liegt nicht auf den Gebäuden auf beiden Seiten, sondern auf dem zentralen Raum selbst, welcher dadurch eine bedeutungsvolle, fast sakrale Form erhält. Aber es ist der Raum im Herzen des Riquet Blocks, der am deutlichsten von diesem Ansatz zeugt. Van Treek entwirft die Komposition des Blocks als Amphitheater, welches wesentlich nach Westen hin geöffnet ist und welches sich an die schräge Gebäudefront der Rue de Flandre lehnt.141 Entgegen den linearen Bauten sowie der schon von Favettes Plan realisierten Gebäude im Nordosten des Blocks sind die Bauten im Innern des Blocks frei angeordnet. Das verbindende Sockelgebäude der Türme Prélude und Cantate bildet eine räumliche Grenze des öffentlichen inneren Raums des Blockes. Die anderen beiden Türme stehen isoliert und funktionieren im räumlichen Gefüge wie Drehpunkte, die die Öffnungen zur Umgebung ermöglichen. Die zweite Reihe an linearen Terrassengebäude an der Seite der Avenue des Flandre tragen dazu bei, die optische Wirkung der hohen Gebäude zu dämpfen. Mit dem Blick nach oben entsteht ein Eindruck der sukzessiven Lockerung und Aufweitung des Raumes. Dieser Effekt der Auflockerung des Raumes in der Höhe ist eine visuelle Vergrößerung und soll die Liebe zum Aufschauen hervorbringen. Während die linearen Gebäude sowie die Türme den Blick nach oben lenken, halten Bäume und niedrigere Gebäude den Blick auf einer gewöhnlichen Blickhöhe. Diese Elemente werden zu Vordergründen und Übergängen zu den vertikalen Elementen, dienen also als Verbindung zwischen Boden und den Türmen.142 Laut van Treeck war es die Gestaltung des negativen Raumes, der den Entwurf der Gebäude leitete: „Promeneur attentif ou critique avisé, tu ne pourras les découvrir en scrutant une à une les formes du bâti. Car la forme en tant que telle n‘est pas notre propos. Mais, si tu consens à entendre le ‚recit de l‘espace‘, alors tu pourras percevoir, comprendre et expliquer toi-même.“143 Er zielt nicht auf die Form der Gebäude ab, sondern auf die des Raumes dazwischen. Die gestaltete Leere ergibt die Form der Gebäude. Es geht nicht um eine formelle Virtuosität von Gebäuden, sondern um eine Suche nach einer urbanen Theorie. Van Treeck reagiert mit seinem Ensemble auf

140 vgl. Thibault, „Martin Schulz van Treeck. Les Orgues de Flandre. 1967 1976, Paris 19e“, 85. 141 vgl. Thibault, 8. 142 Loyer, „Les Orgues de Flandre“, 37. 143 Schulz van Treeck, „Grandes orgues pour célébrer les HLM“, 43.

55


den Plan d‘urbanisme directeur von 1959 mit Dichte und Vertikalität, ohne der viel diskutierten Banalität und dem modernen Formalismus der 1960er Jahre zu folgen. Sein Projekt strebt gegen die Monotonie der großmaßstäblichen Wohnungsarchitektur dieser Zeit. Er will weg von rein funktionaler Architektur und hin zur plastischen Gestaltung der Volumina und Außenräume. „Demarche experimentale - vécue - longtemps refusée au nom des ,Ecoles‘ et des ,Chartes‘ qui a pu être appliquée à cet ensemble de l‘ilot Riquet, ou l‘observateur, pour peu qu‘il vienne vivre lui-même les espaces, n‘aura aucun mal a en découvrir les intentions.“144 Für van Treek steht das Raumerlebnis im Vordergrund. Er wünscht sich, dass die von ihm auf experimentelle Art entworfenen Räume von den Betrachtern erlebt und seine Intentionen entdeckt werden. Neben seinen vielfältigen Bemühungen, ein Ensemble zu schaffen, welches eine Relevanz auf unterschiedlichen städtischen Maßstäben hat, wird bewusst der soziale Wohnungsbau in das städtische Gefüge integriert und die Identität des Ensembles mit Vielfalt und Monumentalität umgesetzt. Diese Form von Wohnungsbau bekommt eine starke städtische Präsenz und die Würde der Bewohner des sozialen Wohnungsbaus wird bestärkt. Blick in den Block Riquet von der Avenue de Falandre Divisare, Foto: Lorenzo Zandri

144 Schulz van Treeck, 43.

56


Haupteingang des Block Riquet von der Avenue de Falandre mit Eingangstor der Cité des Flamands Foto: Laurent Kronental

57


Les Espaces d’Abraxas Fakten Architekt: Ricardo Bofill Taller de Arquitectura Bauzeit: 1978-1982 Bestandteile: Le Palacio, Le Théâtre, L’Arc Wohneinheiten: 598 Wohnungen, 2/3 Sozialwohnungen Bauherr: Le Palacio: Client: Comptoir National pour l’Habitation 2000 (CNH 2000), Le Théâtre, L‘Arc: SA Habitations Loxers Moderées les Trois Vallées (D‘HLM Les Trois Vallées) Gesamtfläche: ca. 4,7 Hektar Entstehungsgeschichte Im östlichen Großraum Paris befindet sich die Ville nouvelle Marne-la Vallée, in der Gemeinde Noisy-le-Grand. Marne-la-Vallée ist eine der fünf neu von der französischen Regierung unter Charles de Gaulle geplanten Städte der 1960er Jahre. Diese hat sich mit dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in den 1970er Jahren stark weiterentwickelt. Die essentiellen Adern, wie die Autobahn oder RER (Schnellbahnnetz der Region Paris), trugen zu einem starken Bevölkerungswachstum bei.145 Eine Landmarke soll den Anfang beziehungsweise Eingang der neuen Stadt kennzeichnen, diese symbolisieren und repräsentieren sowie Wohnraum für die lokalen Arbeiter*innen schaffen und ihnen einen Raum zur Erholung geben.146 In Auftrag gegeben wurde das Projekt dem Architekturbüro Ricardo Bofill Taller de Arquitectura, welche ein Ensemble mit monumentalem Charakter entwarfen, das als Treffpunkt und Referenzpunkt der neuen Stadt konzipiert war. Die amorphe suburbane Umgebung von Les Espaces d’Abraxas ist die Gegend Mont d’Est, deren wichtigsten Bestandteile ein Einkaufszentrum mit Kino und ein Zugang zur Autobahn und RER sind. Aufgrund der unmittelbaren Nähe zum Einkaufszentrum wurde das Grand Ensemble Les Espaces d’Abraxas als quasi monofunktionales Ensemble in Auftrag gegeben. Durch das Angebot der staatlich subventionierten Appartements zum Mieten und alternativ zum Kauf sollten Bewohner*innen unterschiedlichster gesellschaftlicher Schichten im Ensemble wohnen und eine soziale Durchmischung gewährleisten. Der Name Les Espaces d’Abraxas, zu deutsch die Räume von Abraxas, weist auf das mesopotamische Symbol Abraxas für gleichzeitig Gut und Schlecht hin.147 Komposition Das Grundstück für Les Espaces d’Abraxas ist an zwei Seiten von einer großen Straße, dem Boulevard du Mont d‘Est begrenzt, an einer anderen von

145 vgl. Bergdoll, „Subsidized Doric“, 74. 146 vgl. Klanten, Marinai, und Niebius, Ricardo Bofill. Visions of Architecture, 120. 147 vgl. Bergdoll, „Subsidized Doric“, 74.

58


einem vierstöckigen Parkhaus mit darüber gebauten Bürogebäuden. Neben dem unmittelbaren Anschluss an das Straßenverkehrsnetz wird das Ensemble durch die nahegelegene RER-Station an das öffentliche Verkehrsnetz angebunden. Les Espaces d’Abraxas liegt in der Verlängerung der Hauptachse von Marne-la-Vallée, die von Elementen, wie dem RER-Bahnhof, Straßenund Schienenverlauf oder einer Grünanlage mit Seen gekennzeichnet ist und kennzeichnet den Eingang der Stadt. Die Axe der Ville nouvelle durchläuft visuell das Ensemble in seiner betonten Perspektive der drei Hauptbestandteile: Le Palacio, Le Théâtre und L’Arc. Diese sequenzartig angeordneten Elemente weisen große Öffnungen in der Stadtachse auf, und weitere kleinere Bestandteile wie Treppen, ein Amphitheater oder Bögen betonen die Perspektive. In Wirklichkeit endet die Perspektive abrupt, wenn man die Parkhausstruktur durch das Tor im Osten erblickt, in der anderen Richtung ist der Blick weit und nach Paris gerichtet. Die Anordnung der Gebäudevolumen an der gestaffelten Zentralperspektive ist laut Ricardo Bofill eine barocke Komposition, französisch und mediterran zugleich. Beispielsweise wirkt die Form von Le Palacio als würde sie einen Cour d’honneur eines französischen Palastes aufspannen.148 Die Komposition des Ensembles ruft gleichzeitig Erinnerungen an die Beaux-Arts Traditionen149 hervor. Durch die großen torartigen Öffnungen von innen nach außen werden gerahmte Bilder der Umgebung und der entfernten Stadt Paris erzeugt. Neben diesen Öffnungen hat das Ensemble wenig Bezug zur Umgebung und ist als geschlossener Komplex, der eine klare Grenze zwischen Innen und Außen ziehen, dargestellt. Es wird nicht nur der Kontext ausgeblendet, sondern das Ensemble ist so konzipiert, dass es nicht von außen in seinem Kontext, sondern von innen und kontextlos betrachtet wird. Das Ensemble ist in seinen Einzelvolumen verschieden, aber in deren Gestaltung einheitlich und in der räumlichen Organisation des Ensembles kohärent. Aufgrund der Dimension und Komposition der drei Gebäude wird eine Hierarchisierung von Le Palacio über Le Théâtre zu L’Arc erzeugt. Diese stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander und erzielen eine Dynamik durch beispielsweise Maßstabssprünge oder Disproportionen. Das gesamte Ensemble sollte von einer Komposition aus Bäumen umgeben sein, die als Pufferzone zur Umgebung dienen. Von dem Boulevard du Mont d‘Est aus gesehen – dies ist die am meisten wahrgenommene Perspektive des Ensembles– zeigt sich dieses als Eingangstor der Stadt und gibt ein starkes Bild ab. Durch den Abstand wird das Ensemble in seiner Gesamtheit betrachtet und wirkt wie ein Objekt in der Landschaft, eine Landmarke und Symbol für Marne-la-Vallée. „lmagine, however, the surprise of the casual traveller to find that this monumental classical complex contains not the town hall and civic center but

148 vgl. Bergdoll, 76. 149 Die Beaux-Arts-Architektur kennzeichnet sich beispielsweise durch an Achsen symmetrisch gruppierten Volumen, durch Wiederholung und Regelmäßigkeit, durch zentrale Räume an Schnittpunkten von Achsen oder durch Räume, die nach ihrer Wirkung beim Durchschreiten entworfen wurden.

59


Innenseite Le Palacio Foto: Laurent Kronental

public housing!“150 Was hier im Journal of Architectural Education 1986 beschrieben wurde, ist die Erwartungshaltung beziehungsweise Verknüpfung eines architektonischen Ausdrucks mit der Nutzung des Gebäudes, welche bei Les Espaces d’Abraxas umgekehrt wird. Diese Inversion der architektonischen Symbolik hinterfragt, ob eine städtische Architektur angemessen Wohnen aufnehmen kann. Le Palacio Die fast 450 Wohnungen auf 18 Etagen plus einem Mezzanine ordnen sich in dem Gebäude Le Palacio in Form eines U an. Interne Wege der drei Seiten bilden an ihren Schnittpunkten „negative“ Ecken aus, die einen kleinen Platz formen, auf dem eine Art Tetrapylon platziert ist. Die Fassade dieser negativen Ecke wird maßgeblich von dem Motiv eines Giebels bestimmt, der sich über mehrere Geschosse erstreckt und der Ecke folgt, also nach innen „geknickt“ ist. Die Gestaltung erinnert an einen Portikus und verweist ins In-

150 Schuman, „Utopia Spurned. Ricardo Bofill and the French Ideal City Tradition“, 27.

60


Hauptsymmetrieachse als verlängerte Perspektive der Ville nouvelle Foto: Sarah Moser, 2019

61


nere des Ensembles.151 Auf den drei Hauptachsen sind freistehende Säulenskulpturen platziert, die die Hauptein- und -ausgänge markieren. Die internen Straßen haben eine komplett eigene Atmosphäre: Die Wände weisen ein starkes Relief auf, das wie eine Rustika wirkt, Treppen sind in die massiven Wände eingeschnitten, Brücken durchkreuzen den hohen Raum, Öffnungen erscheinen unerwartet, Auskragungen verengen den Raum nach oben hin, und Licht fällt dazwischen hinunter. Diese fast surrealistische Atmosphäre erinnert einerseits an die Architekturphantasien Carceri (1745/1760) von Giovanni Battista Piranesi und andererseits an die französische Revolutionsarchitektur des Klassizismus. Die Verbindung zu letzterer liegt nahe, denn eine Gedenktafel für Ledoux ist in diesem Ensembleteil angebracht.152 Die Wirkung dieser Straßenräume in Le Palacio lassen sich mit einem der Hauptarchetypen der modernen Überwachungsarchitektur in Verbindung bringen, nämlich dem piranesischen Gefängnis. Piranesis Radierungen öffnen eine Welt der Zwischenräume, zeigen Treppen, Brücken, Leitern, Tore in verschiedenen Maßstäben und Perspektiven. Sie irritieren und lassen keine Trennung von Innen- und Außenraum zu. Piranesis und Bofills Räume lösen Assoziationen mit dem Unheimlichen und mit Überwachung hervor. Es ist kein beliebiger Zufall, dass Le Palacio als Drehort für zwei weltweit verbreitete Science-Fiction-Filme diente, die den Terror eines autoritären Überwachungsstaates darstellen: Brazil (Terry Gilliam, 1985) und, dreißig Jahre später, der vierte Film der Hunger Games-Reihe (2015).153 Die Fassaden von Le Palacio deuten auf klassische Formen, welche in der französischen Tradition verwurzelt sind. Diese werden von Bofill verändert und erneuert. Die stark artikulierte Ostfassade ist durch eine Vierteilung plus Sockel gegliedert. Der zweite Bereich ist zurückversetzt, der vierte Bereich ist nach vorne gesetzt und erinnert an ein dorisches Gebälk mit reduzierten Triglyphen. Doppelte kannelierte Säulen teilen die Fassade in der Länge in drei Teile, deren Kapitelle sind zu massiven Kuben geformt, welche hoch wie das Gebälk sind. Säulen rhythmisieren die Fassade und reichen vom Sockel mit Bossenwerk bis zum Gebälk und scheinen dieses zu tragen. Der mittlere Teil des Säulenschafts wird im zweiten Abschnitt nach hinten versetzt und zum Negativ der Säule.154 Im Gegensatz zur vielfältigen Artikulation der Fassade sind die standardisierten Fenster durch ein regelmäßiges Fassadenraster geordnet. Sie treten auf den ersten Blick hinter Säulen, Friesen und Gesimsen zurück oder sind in vertikalen Bändern oder als Teil des Gebälks angeordnet. Ohne die reiche Fassadengestaltung wäre das Gebäude eine Komposition zusammengesetzter simpler Kuben. Betrachtet man Le Palacio mit dieser Sichtweise so scheinen die Architekturzitate einen modernistischen Charakter beziehungsweise das Gewöhnliche zu verschleiern. Unter 151 vgl. Chouquer und Daumas, Autour de Ledoux: architecture, ville et utopie, 218. 152 vgl. Chouquer und Daumas, 218. 153 vgl. Kockelkorn, The Social Condenser II. Eine Archäologie zu Wohnungsbau und Zentralität in der Pariser Banlieue am Beispiel der Wohnungsbauten von Ricardo Bofill und Taller de Arquitectura, 21. 154 vgl. Chouquer und Daumas, Autour de Ledoux: architecture, ville et utopie, 217 f.

62


Carceri von Giovanni Battista Piranesi Kent C., Charles W., Body, Memory, and Architecture, 1977, 121

Schnitt / Ansicht durch interne Straße Le Palacio Développement Urbain Noisy-le-Grand, 1981

63


Frühe Entwurfsskizze: Einkleidung einfacher Volumen mit komplexer Fassadengestaltung Klanten, Marinai, Niebius, Ricardo Bofill Visions of Architecture, 2019, 120

der aufwändigen und komplexen Fassade stecken logisch aufgeteilte Volumen.155 Die Organisation der Wohneinheiten ist von dem Bofills Schema des X des Projekts Walden 7 inspiriert. Die zum Großteil Duplexwohnungen von einem bis vier Zimmern sind entweder Eigentumswohnungen oder niedrig bepreiste, beziehungsweise staatlich unterstützte Mietwohnungen und orientieren sich fast ausschließlich zu einer Fassade hin. Um die Wohnungen zu erreichen gibt es außenliegende, überdachte Wege, die Galleries, wie auch Brücken und Treppenhäuser. In jedem Fall tritt man von außen über beispielsweise Laubengänge direkt in die Wohnung, ohne geschlossene Flure. Die Grundrissorganisation von Le Palacio scheint nach der äußeren Form an zweiter Stelle entworfen zu sein, als ob sie in eine übermächtige Form eingepasst wurden. Die Kritik gilt nicht den Duplexappartements, welche eine Weitsicht über die Metropole Paris haben, sondern den Appartements, welche ausschließlich auf das rückwärtige Parkhaus des nahen liegenden Einkaufszentrums blicken sowie den kleinen Mietwohnungen in der Basis von Le Palacio.156 Le Théâtre Das Gebäude Le Théâtre formt ein 9-stöckiges Kreissegment, etwas größer als ein Halbkreis, das einen zentralen Platz umschließt. Dieser ist als Amphitheater ausgebildet und wird zu einem großen Teil von Le Théâtre abgeschlossen. Das Amphitheater öffnet sich zum großen Gebäude von Le Palacio hin und beschreibt einen theatralen Raum: ein urbanes Theater aus

155 vgl. Chouquer und Daumas, 227. 156 vgl. Bergdoll, „Subsidized Doric“, 87.

64


Bühne, L’Arc als Bühnendekor und Le Palacio als Hintergrund der Szene und dessen Fassade als Bühnenbild entsteht. Die Bewohner von Le Théâtre nehmen die Rolle der Zuschauer ein. 130 3- bis 6-Zimmer-Wohnungen reihen sich in Le Théâtre als Wohnungen mit privilegierter Orientierung – alle Wohnungen sind als Durchschusswohnung konzipiert – aneinander. Damit haben sie sowohl eine Sicht Richtung der Innenstadt Paris als auch eine Orientierung in das Innere des Ensembles. Von dort aus werden sie über acht Treppenhäuser erschlossen; jedes Treppenhaus bedient auf einem Stock nur zwei Wohnungen. Im Halbkreis des Gebäudes reihen sich abwechselnd ein rechteckiges Modul und ein trapezförmiges Modul aneinander. In der Symmetrieachse und Hauptperspektive des Ensembles rahmt eine fünf Stockwerk hohe Öffnung im Gebäude als städtisches Portal die Sicht nach Paris. Auf zwei Niveaus unter dem Gebäude befinden sich Parkplätze für das gesamte Ensemble. Le Théâtre weist zwei sehr unterschiedliche Fassaden nach außen und nach innen auf. Die äußere Fassade ist in drei Abschnitte gegliedert, die auf einer Basis sitzen und im oberen Teil der inneren Fassade von Le Palacio quasi identisch aufgenommen werden. Die drei übereinander befindlichen gleichen Teile sind aus gedoppelten Säulen einer unbestimmbaren Ordnung und blauen Fliesenbändern zwischen den Säulen gestaltet. Jeweils nach drei Etagen ergibt sich ein kleiner Balkon. Durch die Balkonbrüstungen ergeben sich horizontale Bänder.157 Die innere Fassade ist im Vergleich zur äußeren stark vertikal angelegt und als Gegengewicht zur Monumentalität von Le Palacio konzipiert. Große Säulen aus Glas, in denen sich entweder Erkerfenster oder ein Treppenhaus befindet, ziehen sich über sieben Etagen. Sie wirken wie eine reflektierende Leinwand, welche Le Palacio reflektiert. Die in verschiedene Richtungen geneigten Glasflächen brechen das Bild von Le Palacio in unzählige kleine Teile und lassen seine Wirkung zersplittern. Über den Glassäulen sitzt ein zweistöckiger Fries aus Balkonen, der von einem Gesims gekrönt wird. Als Abschluss war eine reiche Vegetation vorgesehen. Die Erkerfenster erschweren die Nutzung des Raumes, denn sie dringen in den angrenzenden Raum ein, sodass die Wand abgerundet werden muss. Die Erker fallen beliebig, in ein Wohnzimmer, in ein Schlafzimmer, in einen öffentlichen Flur, in der Mitte des Raumes, oft zur Seite. Sie scheinen einer willkürlichen Platzierung zu unterliegen beziehungsweise scheinen die Grundrisse in das vorhandene Volumen des Gebäudes ohne Rücksicht auf die räumlichen Konsequenzen eingefügt worden zu sein. Die Anpassung der Innenräume an das äußere Volumen indiziert das Entwerfen von außen nach innen und somit eine Priorisierung der Räume im Ensemble.

157 vgl. Bergdoll, 87.

65


Skizze Ricardo Bofill Innenraum Le Théâtre Klanten, Marinai, Niebius, Ricardo Bofill Visions of Architecture, 2019, 128

66


Außenfassade Le Palacio Divisare, Foto: Lorenzo Zandri

67


Gläserne Säulen von Le Théâtre als reflektierende Leinwand Foto: Sarah Moser, 2019

Blick aus den Balkonen von Le Théâtre ins Innere des Ensembles Foto: Laurent Kronental

68


L‘Arc Im Zentrum befindet sich ein drittes Gebäude, welches den Effekt der mise en scène verdeutlicht. Bei L‘Arc handelt es sich um einen romantischen, nicht um einen triumphalen Bogen. Ein nicht funktionales, triumphales und repräsentatives Symbol der Geschichte wird funktional gemacht und zweckentfremdet. Bofill funktioniert den Triumphbogen als architektonische, große Geste um, indem er ihn mit Wohnungen füllt. Verschiedene Wohnungstypen von Studios sowie 3- und 4-Zimmer-Wohnungen, insgesamt 20 Wohneinheiten, sind in neun Stockwerken untergebracht. Eine geplante Begrünung des Daches des L’Arc mit wucherndem Grün hätte einen Gegensatz zur perfekt geplanten Symmetrie des Ensembles ausgebildet sowie einen grünen Übergangsbereich zwischen Beton und Himmel geschaffen.158 In der Tat war es Bofills Wunsch, die gesamten Dächer der einzelnen Gebäude mit Vegetation zu überziehen, die das Ensemble im Laufe der Zeit überwuchern sollte. Dies hätte zu dem Bild einer Art Ruine beigetragen; ein romantisches Bild, welches Bofill schon mit seinem Triumphbogen als romantischem Bogen versucht hat zu konstruieren. Zwischenräume Der öffentliche, gemeinschaftlich genutzte Raum, der zwischen den einzelnen Elementen des Ensembles liegt, ist ein wichtiger Aspekt von Les Espaces d’Abraxas. L‘Arc zwischen Le Palacio und Le Théâtre gliedert den Innenraum des Ensembles in zwei unterschiedliche Freiräume. Der Le Palacio zugewandte Bereich ist eine lockere Baumbepflanzung auf grüner Wiese, der zu Le Théâtre orientierte Bereich ein Amphitheater mit begrünten Stufen als zentraler Platz. Beide Räume werden stark von den Fassaden der sie umgrenzenden Gebäude bestimmt. Es herrscht Unklarheit über die Art der Nutzung der öffentlichen Räume, da häusliche, alltäglichen Aktivitäten im Amphitheater stattfinden sollen, um seinen städtischen Maßstab zu rechtfertigen. Der zentrale Platz wird einerseits erdrückend, durch die Dimension der Gebäude, andererseits faszinierend und fesselnd wahrgenommen. Er ist komplett von hohen Gebäuden umschlossen und zusätzlich durch das Amphitheater einseitig eingetieft. Auf dem Platz stehend, fällt der Blick ausschließlich durch die großen Öffnungen der Hauptachse, die wie schmale Schlitze in den Gebäuden wirken, nach außen. Die Anordnung der Gebäude um den Platz herum, insbesondere von Le Théâtre, erzeugt eine sehr exponierte Situation des Amphitheaters. Jegliches Geschehen auf dem Platz kann von allen Wohnungen durch deren Erkerfenster perfekt beobachtet werden. Diese erscheinen fast schon wie die Logen eines Theaters. Die Räume, in denen alltägliches Geschehen inszeniert wird, beschreibt die Zeitschrift Progressive

158 vgl. Klanten, Marinai, und Niebius, Ricardo Bofill. Visions of Architecture, 127.

69


Architecture, 1982 als „as much an event as a place”.159 Im Vergleich zu dem großmaßstäblichen Raum des Amphitheaters stehen quasi keine Räume mit einem intermediären Maßstab. Das Journal of Architectural Education 1986 beschreibt dieses Phänomen: „either the epic drama of the whole population in the civic-scaled amphitheater, or the mini-dramas of six hundred private family lives”.160 Wenig Räume lassen spontane nachbarschaftliche Begegnungen zu beziehungsweise fördern diese. Obwohl es eine Hand voll Atelierräume und einen Gemeinschaftsraum in Le Palacio unterhalb der mittig verlaufenden Freitreppe gibt, beleben diese nicht die Nutzung des zentralen Platzes, denn sie sind durch die gepflanzten Bäume und den l’Arc voneinander abgetrennt.161 Verherrlichung des Alltags Bofills Architekturen für den sozialen Wohnungsbau sind ein Versuch, der häuslichen Architektur sowohl einen städtischen Maßstab als auch eine städtische Bedeutung zu geben. Laut Bofill ist Les Espaces d’Abraxas ein bewohnbares Monument des alltäglichen Lebens: „The transformation of space and, to a certain extent, of time will condition and exalt the life of its inhabitants.”162 Die Verherrlichung des alltäglichen Lebens wird erreicht, indem er gewöhnliche Aktivitäten in außergewöhnliche Schauplätze bringt. Im Ensemble lassen sich geschriebene und visuelle Referenzen zu beispielsweise Claude-Nicolas Ledoux oder eine ideologische Verwandtschaft zu Jean-Baptiste André Godin erkennen. Mit diesen teilt Bofill die philosophische Absicht, die gebaute Form mit einer Vision der Verbesserung der menschlichen Gesellschaft zu kombinieren. Dieses Ziel wird nicht durch das Programm des Ensembles erreicht, denn es handelt sich um ein quasi monofunktionales Ensemble ohne Geschäfte, Arbeitsplätze oder soziale Einrichtungen. Die Kraft der Veränderung wird der formalen Bildsprache und der räumlichen Konfiguration zugeschrieben. Ledoux entwarf französische Idealstädte, wie die Königliche Saline in Arc-et-Senans und die Idealstadt in Chaux, Godin entwickelte die Familistère in Guise. Sie teilen das Bestreben, Architektur und Stadtplanung zu verwenden, um das alltägliche Leben gewöhnlicher Leute zu verbessern. Ledoux war von den Idealen der Aufklärung geleitet und setzte die Symbole wie Licht und Sonne in seinem Plan und dessen reiner Geometrie um. Seine Vision von Gesellschaft enthielt den Gedanken der Gleichheit. Jedoch ging es nicht um einen kollektiven Organismus ohne Unterscheidung nach Rang oder Klasse, sondern er symbolisierte durch seine Planung eine Gleichheit, die abhängig und von Hierarchie gekennzeichnet ist. Dies zeigt sich in der zentralen Position des Direktorenhauses in Chaux. Das Projekt war einerseits einer der ersten Versuche, Pro-

159 Bergdoll, „Subsidized Doric“, 87. 160 Schuman, „Utopia Spurned. Ricardo Bofill and the French Ideal City Tradition“, 26. 161 vgl. Schuman, 26. 162 Klanten, Marinai, und Niebius, Ricardo Bofill. Visions of Architecture, 127.

70


duktionsstätten mit Wohnarchitektur der Arbeiter*innen in einem Komplex zu vereinen, und auch ein Versuch, durch die Architektur auf ihre Nutzer*innen einzuwirken und damit ihre Lebenswelt zu verändern. Godin entwickelte eine kooperative Gemeinschaft, die Arbeiten und Leben vereinte und wirtschaftlich wie sozial zu seiner Zeit Erfolg erbrachte. Ledoux, Godin und Bofill teilen die Anschauung eines transformativen Wesens der Architektur. Sie gehen von bestimmten sozialen Beziehungen aus und streben an, diese durch Architektur symbolisch erfahrbar zu machen. 163 „La vie quotidienne, d’ordinaire banalisée, devient alors spectacle.”164 Bofills Theorie der Verherrlichung des alltäglichen Lebens beinhaltet auch dessen Inszenierung. Das alltägliche Leben hat einen Anteil am Spektakel und wird in den gemeinschaftlichen Freiräumen wie dem Amphitheater inszeniert. Doch alltägliche Aktivitäten, wie das Spielen der Kinder, Autowaschen, Wäsche trocknen, Einkäufe erledigen sind in diesen Räumen nicht zu sehen. Solche Aktivitäten scheinen nicht unterstützt, denn zum Beispiel die Autos sind in einer Tiefgarage verstaut, und ein Kinderspielplatz befindet sich außerhalb des Ensembles.165 Konstruktion historischer Formen Für die Konstruktion der Fassaden wurden rationale Bautechnologien verwendet. Die Vorfabrikation der Betonpaneele erlaubte es, sowohl kostengünstig zu bauen als auch das gewünschten Formenvokabular der Fassade umsetzen zu können. Die tragenden Betonpaneele sind eine Mischung aus Sand, weißem und grauen Zement sowie Oxiden, um leichte Farbnuancen von hellen Ocker- und subtilen bläulichen Violetttönen zu erzeugen.166 Die vorfabrizierten Fassadenelemente sind keine einem Raster folgenden Betonpaneele, sondern sie sind in ihre individuelle Form geschnitten, sodass ihre Zusammenfügungen nicht sichtbar sind. „Different readings of the buildings, constant change in scale, and various references to Ledoux, Gaudi and Gabriel, among others, have yielded the eclectic vocabulary which characterizes this project.“167 Bofill verwendet das Mittel der Vorfabrikation, um ein eklektizistisches Vokabular für die Fassaden anwenden zu können. Es werden verschiedene Referenzen angewendet, um eine reiche Architektursprache zu erreichen und damit unterschiedliche Lesarten möglich zu machen. Der historisierende Ansatz des Projektes ist eine generelle Tendenz von Taller de Arquitectura. Das Werk Les Espaces d’Abraxas ist für Bofill eine Art zynische Hommage an die historische Architektur.168 Nicht nur der Ausdruck der Fassade war Beweggrund für die Verwendung historisierender Formen – hier des Klassizismus, sondern auch

163 vgl. Schuman, „Utopia Spurned. Ricardo Bofill and the French Ideal City Tradition“, 21 ff. 164 André und Bofill, Espace d’une vie, 166. 165 vgl. Schuman, „Utopia Spurned. Ricardo Bofill and the French Ideal City Tradition“, 26. 166 vgl. Bergdoll, „Subsidized Doric“, 78. 167 Bofill und Krier, Ricardo Bofill and Léon Krier : architecture, urbanism, and history, 5. 168 vgl. Klanten, Marinai, und Niebius, Ricardo Bofill. Visions of Architecture, 23.

71


Relief der Fassaden der Internen Straßen von Le Palacio; Erinnerungstafel an Claude-Nicolas Ledoux Foto: Sarah Moser, 2019

72


die Konstruktion der Formen, so Bofill. Laut diesem hat der große Maßstab des Projekts in Kombination mit Vorfabrikation und Elementen, die tausendfach wiederholt werden, unweigerlich zum Klassizismus geführt – denn klassizistische Architektur basiert auf einem regelmäßigen Muster, das sich immer wieder wiederholt. Ricardo Bofill hegt eine Begeisterung für Harmonie und Proportion. Er machte Reisen nach Italien, um Palladio, Borromini und Michelangelo zu studieren und die Codes des Klassizismus danach mit dem Mittel der Vorfabrikation und Industrie neu zu schreiben.169 Durch das Ensemble ziehen sich Elemente historischer bekannter Architekturformen, die aber von Bofill mit einer neuen Funktion gefüllt und zweckentfremdet wurden. Es befinden sich Wohnungen im Triumphbogen oder Treppenhäuser in dorischen Säulen. Ihre neue Funktion ist nach außen hin nicht artikuliert und bleibt verschleiert. Verschiedene ironische Kommentare sind im Ensemble zu sehen und wiederholen sich an unterschiedlichen Stellen in anderem Maßstab. Der gesprengte Giebel taucht an verschiedenen Stellen auf und ziert beispielsweise die Stirnseiten von Le Palacio. Dort liegt der Giebel in einem Relief auf der Fassade, ist in ein Rechteck eingeschrieben und in seinem Kraftzentrum des Firstes gesprengt. Die Säulen der Ostfassade von Le Palacio sind im mittleren Bereich unterbrochen, sie zeigen einen negativen Schaft. Die Fassade von Le Théâtre, die ins Innere des Ensembles gerichtet ist, besteht aus Glassäulen, die aufhören, bevor sie das Gesims erreichen. Das Sprengen des Giebels, das Unterbrechen und Entmaterialisieren der Säulen wirkt gegen die ursprüngliche Funktion der Elemente – die Aufgabe des Tragens. Position Ricardo Bofill Auf die Frage, was ein sozialer Wohnungsbau für Bofill sei, nannte er ein wirtschaftliches und soziales System, welches einen benachteiligten Teil der Bevölkerung schnell und kostengünstig unterbringt. Diese Funktion sei schon an der Fassade ablesbar. Bofills Intention ist, dass die Funktion und die finanziellen Mittel nicht die Ästhetik des Gebäudes bestimmen: „Ma preoccupation, lorsque j’ai commencé à construire en France, fut de démonter que cette function et ces coûts draconiens n’imposaient pas une esthétique.“170 Die Verwendung der Formen, wie Theater, Triumphbögen oder Tempel sind bewusst eingesetzt, denn sie sind kulturell vorgeprägt und nicht mit einem sozialen Wohnungsbau assoziiert. In diesem Sinne ist auch der Gebrauch historischer Formen in der Fassadengestaltung Mittel, die gängige Vorstellung des sozialen Wohnungsbaus zu durchbrechen. Ebenso ist die Rückbesinnung auf historische Formen eine Möglichkeit für Bofill, Stadt in einer europäischen Tradition zu denken und ein Fragment der idealen Stadt, für ihn die historische Stadt, zu erschaffen. Dieses Fragment seiner idealen Stadt

169 Klanten, Marinai, und Niebius, 191 f. 170 André und Bofill, Espace d’une vie, 66 f.

73


– für Bofill gleichzeitig eine Utopie – adaptiert er an moderne Konditionen: „L’utopie, pour moi, c’est de trouver une méthode qui soit capable d’adopter le concept fundamental de la ville historique aux contraintes modernes.”171 Die Zuwendung zu klassizistischen Elementen stellte einen radikalen Bruch mit dem Funktionalismus dar. Bofill spricht sich unmissverständlich gegen die Architektur der Moderne aus: „I‘ve never really liked the modern movement. I don‘t like its theories or even its whole aesthetic.”172 Er strebte danach mit dem Modernismus zu brechen, den modernistischen Kubus zu zergliedern und eine klassische Collage zu applizieren.173 Programmatisch ist Bofills Grand Ensemble nicht anders als die der direkten Nachkriegszeit, die Ensembles aus tours et barres, doch er überwindet deren Banalität. Mit der Konstruktion seiner Sozialwohnungsbauten in Frankreich (fünf Ensembles insgesamt) zielte er darauf ab, die Banlieues auf seine Weise zu ästhetisieren und sie mit einprägsamen und symbolträchtigen Ensembles zu stärken.174 Bofill hegte den Wunsch, der Bewohnerschaft von Sozialwohnungsbauten den Genuss von monumentalen Räumen zu ermöglichen, die bisher ein Privileg der höheren sozialen Schichten waren. Der Alltag der Bewohner*innen soll durch die Formen und die Komposition in den Mittelpunkt gestellt und zelebriert werden. Les Espaces d’Abraxas nennt Bofill ein urbanes bewohnbares Monument, ein „momument habitable“.175 Die drei Gebäude des Ensembles bedürfen einem „monumental and symbolic character in order to make them meeting place and point of reference for the new town“.176 Bofill überhöht das Alltägliche so weit, bis das Grand Ensemble als Referenz für eine ganze Stadt dienen kann. Bofills Haltung gegenüber Les Espaces d’Abraxas sieht einige Jahrzehnte nach dessen Fertigstellung anders aus. Einerseits sieht er sein Projekt als gelungen an, anderseits als gescheitert. Als gelungen bezeichnet er die Anwendung der Vorfertigung und sieht es als positiv an, den Gebrauch von Fertigbauelementen in Frankreich vorangebracht zu haben. Seine Intention, die Stadt zu verändern, ist nicht eingetroffen, denn es hat sich in seinen Augen nichts verändert und sein Model von Stadt wurde nicht in anderen Städten aufgegriffen. Er bemerkt, dass auch nach seinem Projekt Les Espaces d’Abraxas weiterhin Ensembles von tours et barres gebaut wurden. In einem Interview 2014 sprach Bofill einen Mangel an sozialer Durchmischung an, einen Mangel an Einrichtungen und Geschäften sowie die Tatsache, dass das Ensemble in sich geschlossen ist, was als problematisch angesehen wurde. Bofill äußert sich, das Experiment Les Espaces d’Abraxas nicht wiederholen zu wollen: „Pour moi, c’est une expérience unique et finie et je ne la répéterai jamais car j’ai vu les difficultés que ça entraîne.”177 171 de Monacan, Villes utopiques, villes rêvées, 274. 172 Bofill, Pierce, und Weaver, „Ricardo Bofill in conversation with Christopher Pierce & Thomas Weaver“, 131. 173 vgl. Chouquer und Daumas, Autour de Ledoux: architecture, ville et utopie, 222. 174 vgl. Klanten, Marinai, und Niebius, Ricardo Bofill. Visions of Architecture, 120. 175 Bofill, L’Architecture d’un Homme, 113. 176 „Les Espaces d’Abraxas“. 177 „Ricardo Bofill : « Je n’ai pas réussi à changer la ville »“.

74


Stimmen „Avant, c’était magnifique, quand on arrivait le soir, les gradins qui mènent au Théâtre étaient allumés. Maintenant, tout ça c’est foutu. C’est dommage que la municipalité ait laissé le quartier dépérir.” Jean-François Desnotes, Bewohner des Théâtre seit 1985, Interview 2014178

„Les appartements sont très spacieux et confortables, ce qui n’est pas forcément le cas dans les constructions modernes.” Sébastien Biscaro, Bewohner des Palacios seit neun Jahren, Interview 2014179

Erschließungs- und Aufenthaltsräume Wohnungen Le Palacio Foto: Laurent Kronental

178 Schuman, „Utopia Spurned. Ricardo Bofill and the French Ideal City Tradition“. 179 Schuman.

75


Les Tours Aillaud Fakten Architekt: Émile Aillaud Bauzeit: 1973-1981 Bestandteile: 18 Wohntürme Wohneinheiten: 1.610, überwiegend Sozialwohnungen Bauherr: Office de HLM de Nanterre, Office de HLM de la Région parisienne Gesamtfläche: ca. 15 Hektar Patrimoine du XXe siècle180 Ensemble und Gebäudeaufbau Das Grand Ensemble Les Tours Aillaud befindet sich in Nanterre, einem westlich gelegenen Vorort von Paris, in unmittelbarer Nähe zu dem Geschäfts- und Hochhausviertel La Défense. Das Ensemble besteht aus 18 Wohntürmen mit gleicher Grundrissform, welche zueinander gedreht in einer Parklandschaft platziert sind. Die unterschiedlich hohen Türme mit 7, 8, 9, 11, 12, 19 und 38 Stockwerken über dem Erdgeschoss lassen einen großen Anteil des Bodens frei. Die Wohntürme sind immer nach dem gleichen Prinzip organisiert und unterscheiden sich ausschließlich in ihrer Höhe. Beispielsweise wird ein Turm des Typs B, welcher mit 38 Etagen als Hochhaus gilt (IGH, immeuble de grande hauteur), wie folgt aufgebaut: Erdgeschoss: Eingangshalle, Appartement des Concierges, Stauraum für Spielgeräte der Kinder sowie ein Raum, der für gemeinschaftliche Zwecke von den Bewohnern genutzt werden kann Stockwerk 1-12: identischer Aufbau von einer 1-Zimmer-Wohnungen, drei 3-Zimmer-Wohnung und eine 5-Zimmer-Wohnungen Stockwerk 13: Technik und 60 Kellerräume Stockwerk 14-25 und 27-38: identischer Aufbau von zwei 2-Zimmer-Wohnungen, eine 3-Zimmer-Wohnung, zwei 4-Zimmer-Wohnungen Stockwerk 26 und letztes Stockwerk: Technik 181 Im Gegensatz zur in Gleitschalung realisierten, wellenförmigen Außenform der Türme sind alle Innenwände und der Erschließungskern mit der vertikalen Zirkulation gerade und oft auch im rechten Winkel angeordnet. Von dem Erschließungskern gehen die tragenden Wände ab, welche so angeordnet sind, dass in den unteren und in den oberen Stockwerken Trennwände platziert werden können, welche unterschiedliche Wohnungsgrundrisse und

180 Das Ministerium für Kultur und Kommunikation (Ministère de la Culture et de la Communication) hat das Label Erbe des 20. Jahrhunderts (Patrimoine XXe siècle) 1999 eingeführt, um die Gebäude und städtischen Ensembles zu identifizieren und für die Öffentlichkeit hervorzuheben. Diese sind Errungenschaften des Jahrhunderts und materielle Zeugen der architektonischen, technischen, wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Entwicklung der Gesellschaft. Mit dem Kulturerbe des 20. Jahrhunderts ausgezeichneten Bauten zeugen von der Einzigartigkeit und einem historischen und denkmalpflegerischen Interesse vgl. Lympia Architecture, „Tours Aillaud. Étude patrimoniale et historique“, 26. 181 Lympia Architecture, 11.

76


dadurch eine typologische Vielfalt erzeugen. So befinden sich auf jedem Stockwerk um die zentrale Erschließung herum fünf Wohnungen, welche über zwei kurze Flure erreicht werden können. Die Appartements sind meist wie ein L angeordnet und gliedern den Wohnraum in einen Flügel für gemeinschaftliche und einen Flügel für privatere Aktivitäten. Der Einfachheit im Grundriss steht die Komplexität der Fassade durch Form, farbliche Gestaltung und der Fensteröffnungen gegenüber. Drei unterschiedliche Fensterformate – quadratisch mit abgerundeten Ecken, rund und salbeiblattförmig – sind in der selbsttragenden Lochfassade zu sehen. Jeder Wohn- und Essbereich wird mit drei der Fenster versehen; jedes Schlafzimmer mit einem. Von außen betrachtet sind die Fensteröffnungen so angeordnet, dass wenig Regelmäßigkeit entsteht und die Fenster nicht ausgerichtet wirken. Sie folgen einer so geschickten Verteilung, die für den Anschein von Unordnung sorgt

Skizze Leitidee Wohntürme im Park mit belebter Promenade IAF/Cité de l’architecture et du patrimoine/Archives d’architecture du XXe siècle, fonds Emile Aillaud, 78 IFA 2005/3, DN-2109-10-01

Fassadengestaltung mit farbigen Glasmosaiksteinen und drei Fensterformaten Semna (Société d’économie mixte d’aménagement et de gestion de la ville de Nanterre)

77


und gleichzeitig auf eine verborgene Ordnung, die der Grundrisse, reagiert. Durch die konvexen und konkaven Bewegungen der Fassade haben die Wohnungen Fenster mit unterschiedlichen Ausrichtungen, und jede Wohnung erhält direktes Sonnenlicht, da sich die Fenster zu mindestens zwei Himmelsrichtungen neigen. Durch die Krümmung der Fassade zeigt jede Wohnung zu sich selbst hin und weg von den angrenzenden Wohnungen, also ermöglicht Ausblicke aus der eigenen Wohnung auf die eigene Wohnung. Das heißt, dass beispielsweise von einem Fenster des Wohnbereiches zurück auf die Fassade und die Fenster der Schlafzimmer geblickt werden kann.

Oben: VordergrundHintergrund Kontrast: Les Tours Aillaud vor dem Hintergrund von den Hochhäusern von La Défense Foto: Laurent Kronental Rechts: freie Anordnung der Fenster, um Unregelmäßigkeit zu erzeugen Foto: Sarah Moser, 2019

Ausdruck der Fassaden Für die Gestaltung der Fassade arbeitete Aillaud zusammen mit dem Künstler Fabio Rieti. Es wurde eine Fassade aus Glasmosaiksteinen entwickelt, welche den Himmel mit Wolken und Ästen von Bäumen thematisiert. Sie sahen die Notwendigkeit, dass die Türme mit der Landschaft selbst geschmückt werden und sich mit dieser verbinden sollten. „Couleur n’est pas nécessairement blanc, bleu ou vert. Couleur est aussi feuillage, soir, matin, drame, comédie, lumière, nuit, orage, beau temps, visage humain, forme 78


79


animale.”182 Je nach Situation, Blickwinkel, Tages- oder Jahreszeit der Betrachtung zeigt sich ein neues Bild und ein neuer Ausdruck des Ensembles. Die Gestaltung der Fassaden und ihre Wirkung im Zusammenspiel mit der Erde, den Bäumen und dem Himmel wurde in vielen kolorierten Zeichnungen erprobt. In seinem Schaffensprozess umgab sich Aillaud oft mit Künstlern und gab ihnen eine essentielle Rolle im Entwurf seiner Gebäude.183 Eine solche Zusammenarbeit von Architekten und Künstler legten Giedion, Sert und Léger in ihren Nine Points on Monumentality (1943) dar. Darin sahen sie die Möglichkeit, eine Art Gesamtkunstwerk zu erzeugen. Sie schrieben von Gebäuden, die zu Skulpturen werden, gestalteten Wänden und Bildern, welche auf Gebäudeoberflächen projiziert werden (siehe Kapitel Monumentalität, Abschnitt Nine Points on Monumentality) Diese formulierten Intentionen konnte Aillaud in der Zusammenarbeit mit Rieti umsetzen. Komposition der Parklandschaft Die 18 Wohntürme sind in eine parkartige Hügellandschaft eingebettet. Die gewellte Fassade wiederholt sich in ihrer Idee auf dem Boden in einer gewellten Landschaft, in der die Türme ohne erkennbares Schema frei platziert sind. Aillaud bezeichnet seine Komposition aus Wohntürmen in dem zugehörigen Landschaftsraum als „labyrinth humain”.184 Sowohl die freie und als zufällig wahrgenommene Anordnung und Unterschiedlichkeit der Türme führen dazu, dass das Ensemble nicht richtungsorientiert ist. Es verzichtet auf jegliche Achsen, Hauptperspektiven und -ansichten oder Unterteilung in primäre und sekundäre Zugänge. Die landschaftliche Gestaltung unterstützt diese allseitige Gleichwertigkeit, indem keine harten Grenzlinien zur Umgebung ausbildet werden. Die allgemeine Neigung des Grundstücks nach Norden wurde genutzt, um die sowieso schon unterschiedlich hohen Türme noch weiter in ihren Höhen zu variieren und somit auch ihre scheinbare Vielfalt zu erhöhen. Zusammen mit der Drehung der Türme und ihrer Fassadengestaltung wird ein Eindruck der Individualität erzeugt. „La forme des tours […] est assez souple et complexe pour que les bâtiments apparaissent comme des sculptures différentes les unes des autres.”185 Trotz ihrer bewusst erzeugten Unterschiede werden die Türme klar als Einheit identifiziert. Durch den Höhenunterschied können auch drei Parkebenen diskret vergraben werden, um das Grundstück weitestgehend frei von Autoverkehr zu gestalten. Neben zwei Straßen führen ausschließlich organisch verlaufende Fußgängerwege zwischen und um die Gebäude herum und stärken den Eindruck eines Parks. Zwischen den Wohntürmen und den Bäumen verläuft eine breite und gewellte Promenade mit unterschiedlichen Spiel- und Aufenthaltsmöglichkeiten.

182 Atelier png, „La cité des nuages“, 1. 183 vgl. Renaud und Vignaud, „Les tours Nuages“, 97. 184 Renaud und Vignaud, 97. 185 Lucan, Architecture en France (1940-2000), 260.

80


Farbstudien zur Fasadengestaltung in Zusammenarbeit mit Künstler Fabio Rieti L’Architecture d’Aujourd’hui 178, 40

81


„L’architecture ne doit pas créer des bâtiments juxtaposes mais des paysages.”186 Mit dem Ziel, eine Landschaft zu entwerfen, wird das Terrain zu Hügeln modelliert – gepflastert, aus Ziegelsteinen oder als Grünfläche. Es entsteht ein fast labyrinthartiger Raum mit einem großen Spektrum an Situationen. Beim Durchlaufen des Ensembles ist es aufgrund der Vielfalt und der Zufälligkeit der räumlichen Situationen und deren Elemente schwierig, dessen Ausmaße zu fassen. Erst ein umfassendes Durchlaufen und Umgehen würde es möglich machen, das Ensemble zu verstehen. Die umfassende Begrünung trägt zu diesem komplexen Landschaftslabyrinth bei. Jeder Wohnung ist einer der gepflanzten Bäume zugeordnet.187 Diese Zuordnung funktioniert über eine in die Pflasterung eingelassene Beschriftung. Da den Wohnungen der Wohntürme kein privater Außenraum zugewiesen ist, stärkt eine solche Geste die Verbindung der Bewohner zum rein öffentlich genutzten Außenraum zwischen den Gebäuden. Das Ensemble befindet sich in unmittelbarer Nähe zu einem öffentlichen, 24 Hektar großen Park, welcher sich in das Ensemble zu ziehen scheint. Der fließende Übergang in den angrenzenden Park macht die Gebäude des Ensembles fast zu einem Bestandteil des Parks. Les Tours Aillaud fungiert als Hybrid aus Park und Hochhausviertel. Position Émile Aillaud „Pour combattre ce que le gigantesque pourrait avoir de trop impressionnant pour l’habitation, l’Architecte a recherché une architecture et une occupation du sol les plus légères possible.”188 Ziel Aillauds ist es, dicht und hoch zu bauen, jedoch weder Monotonie zu erzeugen oder zu sichtbar zu sein. Er versucht durch den geschickten Einsatz von Farben jeden Eindruck von Monumentalität zu mindern.189 Die Farbigkeit der Türme ist nicht dekorativ zu sehen, sondern als Instrument, welches die Türme mit dem Boden und mit dem Himmel verbindet und sie mit ihrer Umgebung verschmelzen lässt. Die individuelle Gestaltung der Türme mit den Glasmosaiksteinen fragmentiert und verklärt die Türme und schwächt die Idee der Monumentalität ab. Es scheint, als sollte durch eine solche Art von Camouflage Architektur, das Monumentale kaschiert oder sogar versteckt werden. „Les tours, d’habitude, établissent leur standing sur leur monumentalité et sur leur architecture panoramique qui les apparentent à des forms des immeubles de bureau de luxe, essentiellement peu aptes à contenir l’individualité de vies privées.”190 Aillaud bringt das Monumentale allein mit Türmen für eine Büronutzung zusammen. Für ihn können monumentale Türme die Individualität des Privatlebens nicht aufnehmen. Dieser Individualität will er gerecht werden durch den Entwurf von einem eindringlichen und prägnanten Ort: „Créer un lieu prégnant, obsé186 Lucan, 80. 187 vgl. Aillaud, „E.P.A.D., tour B1 Nanterre Sud. La Défense, zone B“, 43. 188 Aillaud, 42. 189 vgl. Lympia Architecture, „Tours Aillaud. Étude patrimoniale et historique“, 15. 190 Aillaud, „E.P.A.D., tour B1 Nanterre Sud. La Défense, zone B“, 42.

82


dant.”191 Ein Ort, der so einprägsam ist, um in Erinnerung zu bleiben und auf das Stadtbild einzuwirken. Obwohl die Tours Aillaud sich zurücknehmen und mit den landschaftlichen Komponenten von Vegetation und Himmel ineinanderfügen, entsteht ein Kontrast mit der bebauten Umgebung. Einerseits steht die Architektur durch ihre Andersartigkeit im Gegensatz zu den verschiedenen Gebäuden der direkt umgebenden Bebauung, und andererseits wird ein starker Vordergrund-Hintergrund-Kontrast zu den ebenfalls sehr hohen Türmen des Viertels La Défense ausgebildet. Aillaud entwirft das Ensemble bewusst als Gegenpol zu den Grands Ensembles der ersten Generation. „Rien ne m’agace comme cette expression ‚architecture moderne‘.”192 Von dieser modernen großmaßstäblichen Wohnarchitektur will er sich abwenden. Obwohl er sich der Serienbildung zuwendet – Wiederholung der Fenster, der Grundrisse und der Türme in ihrer Form – schafft Aillaud durch seine Entwurfsentscheidungen Individualität, Einzigartigkeit und auch Kleinteiligkeit. Die Unregelmäßigkeit der Position und der Form der Fenster, die freie Anordnung der verschiedenen Türme sowie die kurzen Verteilerflure im Erschließungsbereich der Wohnungen weichen von der Vorstellung eines stringent übereinander gestapelten Lebensraums von tours et barres der gering verdienenden Bevölkerungsschicht ab. Anstatt viele Wohneinheiten in wenigen Bauten aufzureihen, werden weniger Wohneinheiten in viele Gebäude platziert, mit beispielsweise weniger Briefkästen in Eingangshallen und vergleichsweise kurzen Fluren zu den Wohnungen. Die wahrgenommene Dichte des Grands Ensembles kann dadurch reduziert werden. Aillaud bedient sich solcher unterschiedlichen Mittel, welche die spezielle Nutzung der Türme als sozialen Wohnungsbau unkenntlich macht. Das zeittypische Bild des sozialen Wohnungsbaus wird gebrochen.

191 Renaud und Vignaud, „Les tours Nuages“, 97. 192 Renaud und Vignaud, 97.

83


Stimmen „Je reste très attachée. Nos appartements ne sont pas comme les autres. Ils sont grands, il y a des grandes fenêtres qui laissent passer la lumière du jour. Je suis très attachée aux couleurs mais elles ternissent avec le temps; les mosaïques tombent et on en retrouve régulièrement lorsqu’on se promène dans les allées.” 193 Bewohnerin seit 1983

„C’est la dimension humaine, le tissu humain qui me tient le plus à cœur. Le projet architectural m’a aussi étonnée à l’origine. Malheureusement, ça s’est dégradé ces dernières années. […] Quand on arrivait de La Défense, le soir, lors du coucher du soleil, il y avait une véritable fusion entre les nuages et les tours.” 194 Bewohnerin seit 1990

„Nos tours bleues se mélangent avec le ciel. Quand on arrive par le parc, on a l’impression que les arbres ne font qu’un avec les tours. On voyage entre le sol et le ciel. Quand on regarde les tours, on se demande sans cesse à quelle échelle nous situons-nous. C’est Emile Aillaud qui a souhaité cette poésie architecturale qui fait que je ne veux pas partir vivre ailleurs.” 195 Bewohner 19. Etage Tours 7 seit 1981

Rechts: Eingangssituation eines Wohnturmes; Außenraumgestaltung mit fließender Topografie Foto: Sarah Moser, 2019

193 „“On se sent trahis” : les habitants des Tours Aillaud, à Nanterre, se mobilisent contre la destruction de leur quartier“. 194 „“On se sent trahis” : les habitants des Tours Aillaud, à Nanterre, se mobilisent contre la destruction de leur quartier“. 195 „“On se sent trahis” : les habitants des Tours Aillaud, à Nanterre, se mobilisent contre la destruction de leur quartier“.

84


85


Les Arcades du Lac, Le Viaduc Fakten Architekt: Ricardo Bofill Taller de Arquitectura Bauzeit: 1975-1982 Bestandteile: 4 Blöcke, 4 halbe Blöcke, längliches Brückengebäude Wohneinheiten: 463 Wohneinheiten, Mischung Sozialwohnungen und Eigentumswohnungen Bauherr: Foyer du Fonctionnaire et de la Famille FFF, heute Immobilière 3F Gesamtfläche: ca. 3,1 Hektar Hintergrunde Das Ensemble Les Arcades du Lac, Le Viaduc ist Bestandteil der Ville nouvelle Saint-Quentin-en-Yvelines im Südwesten Paris, nicht weit entfernt vom Schloss Versailles. Neben dem Bestreben das Problem des Wohnungsmangels schnell und wirtschaftlich zu lösen, ist der Bau diese Grand Ensembles auch aus strategischen und repräsentativen Zwecken initiiert worden. Das Projekt diente als Werbung für die neue Stadt Saint-Quentin-en-Yvelines und sollte als neuer attraktiver Ort die Ville nouvelle öffentlichkeitswirksam repräsentieren. Les Archades du Lac, Le Viaduc wurden in zahlreichen Artikeln thematisiert, zierte Printmedien oder war Ort für den Dreh von Werbespots. Der Bauträger 3F zielte mit der Konstruktion des Ensembles, welches von dem renommierten Architekten Ricardo Bofill entworfen wurde, darauf ab, sein schlechtes Image aus den vergangenen Jahren zu verbessern. Die 3F-Gruppe wurde stark mit den Problemen der Grands Ensembles der ersten Generation assoziiert. Für alle Entscheidungsträger des Projekts war das „Produkt“ Bofill gewinnbringend und sein Entwurf für das Ensemble die Möglichkeit, ein Identitätssymbol für Saint-Quentin-en-Yvelines zu schaffen. 196 Konzeption des Ensembles Les Arcades du Lac, Le Viaduc stellt Bofills erstes Projekt in Frankreich dar. Es entstand in zwei Bauphasen, die 1982 und 1986 endeten, denn das Ensemble gliedert sich in zwei Projektteile, jeweils an einem Ende eines künstlichen Sees: Les Arcades du Lac und Le Viaduc im Norden, Les Temples du Lac im Süden. In diesem Kapitel findet auch Les Temples du Lac eine kurze Betrachtung, in der zeichnerischen Analyse des Kapitels 5 liegt das Augenmerk ausschließlich auf Les Arcades du Lac, Le Viaduc. Das Ensemble an dem künstlichen See Lac de la sourderie ist ein reines Wohnquartier, welchem eine strikte Geometrie zugrunde liegt. Gebäude, Straßen und Freiräume folgen Haupt- und Nebenachsen und einer überge-

196 vgl. Debarre und Mory, Habiter à Saint-Quentin-en-Yvelines. Entre utopie et tradition, 89 f.

86


Straße als urbane Passage und Platz als gemeinschaftlicher Lebensraum Le Musée de la ville et le Patrimoine SQY Saint-Quentin-en-Yvelines

ordneten Symmetrie. Das Ensemble sticht deutlich aus seiner Umgebung hervor und grenzt sich von dieser ab. Ein Grünbereich als Pufferzone liegt fast um das gesamte Ensemble herum und erzeugt Abstand zur umgebenden Bebauung. Die orthogonalen Straßen in Les Arcades du Lac werden weitergeführt und laufen in den angrenzenden Gebieten weiter. Die Wohneinheiten von Les Arcades du Lac sind eine Mischung aus Eigentumswohnungen und Sozialwohnungen, die Wohneinheiten von Le Viaduc sind Eigentumswohnungen und die von Le Temple du Lac ausschließlich Sozialwohnungen.197 In den verschiedenen Bestandteilen des Ensembles überlagern sich Anspielungen auf heterogenen Formen, Räume und Zeiten, wie die barocke Form einer Gartenhecke, das Schloss Versailles oder die Schlösser der Loire. Bofill scheint ein postmodern anmutendes Ensemble zu schaffen mit einem Rückgriff auf den Klassizismus und historische Typologien. Peter Hodgkinson, Partner des Büros Taller de Arquitectura, beschreibt das Ensemble in St. Quentin-en-Yvelines als repräsentatives Projekt der Theorie, dass jede Ar197 vgl. Debarre und Mory, 88.

87


Vorfabrizierte Elemente aus eingefärbten Beton und Terrakottafliesen charakterisieren die Räume zwischen den Blöcken, hervorstehende Treppenhäuser in Säulenformen rythmisieren die Straßen Fotos: Sarah Moser, 2019

88


89


chitektur schon erfunden wurde. Es sei ihre Aufgabe, das schon Existierende nach platonischen Regeln neu zu komponieren.198 Les Arcades du Lac Der größte Bestandteil des Ensembles sind Les Arcades du Lac mit acht Gebäuden, die eine Fassade zum See ausbilden. Vier davon sind als Blockrandbebauung mit quadratischem Hof ausgeführt und vier als halbe Blöcke, die mit ihrem offenen Hof Richtung See orientiert sind. Die Komposition der vierstöckigen Gebäude beruht auf der Grundlage der Analogie des französischen Gartens. Nach Bofills Ansatz „construire des symbols en les transformant en espaces communautaires habitables“199 werden die Hecken des Gartens zu Gebäuden transformiert und folgen einer strikten Anordnung aus größeren und kleineren Symmetrieachsen. Die moderne Interpretation des französischen Gartens soll den Bewohnern das Gefühl geben, einen Garten zu bewohnen. Mit dieser Analogie wird das Projekt lokalgeschichtlich verwurzelt, denn es findet seine Inspiration an der symmetrischen Anlage von Schloss Versailles.200 Die Idee des naturnahen Wohnens wird im Gebiet durch die unterschiedlichen Grünräume, wie die Uferpromenade, die weiten Grünflächen neben den Wohnblöcken oder den Gärten in den Höfen der Blöcke, verdeutlicht. Bofill wendet für Les Arcades du Lac die Logik der traditionellen Stadt auf das Gebäudeensemble an. Viele städtische Elemente finden hier Anwendung: das Raster, der Block, die Straße, der Platz und die Arkaden. Diese urbanen Planungsmittel geben dem Ensemble den Eindruck eines eigenständigen Quartiers. Alle Straßen laufen orthogonal und parallel zueinander und bilden ein Raster, welches sich über das gesamte Ensemble zieht. An den Punkten, an denen sich die Straßen kreuzen, öffnen sich die Wohnblöcke und bilden sowohl einen kleinen Platz wie auch den Eingang zu deren Innenhöfe aus. Auf der zentralen Straße, die die Hauptsymmetrieachse des Ensembles darstellt, liegt ein zentraler Platz. Die Elemente Straße und Platz sind für Bofill die essentiellen Räume für das Leben der Bewohner des Ensembles. Die Straßen, charakterisiert durch die Fassaden der Gebäude, zeigen sich als Raum der städtischen Passage, und der Platz wird zum gemeinschaftlichen Lebensraum und Treffpunkt: „La rue et la place sont les deux espaces essentiels capables de faire figurer ‚une cite‘. La rue est un lieu de passage urbain, la place est un séjour collectif, un lieu de rencontre: dans ce projet, des rues étroites et des places intersection traitées comme des espaces urbains actuels, essentiels à la vie de l’ensemble de la cité.”201 Mit der Verwendung traditioneller städtischer Elemente sowie der Applikation einfacher geometrische und wiedererkennbare Formen und Volumen, wie das

198 vgl. Schuman, „Utopia Spurned. Ricardo Bofill and the French Ideal City Tradition“, 28. 199 Debarre und Mory, Habiter à Saint-Quentin-en-Yvelines. Entre utopie et tradition, 14. 200 vgl. Debarre und Mory, 88. 201 Debarre und Mory, 114.

90


Quadrat, der Kreis oder der Zylinder, bedient Bofill die Sehgewohnheiten des Betrachters und stärkt die Wiedererkennbarkeit des Ensembles. Die komplett autofreien Straßen als gemeinschaftlich genutzte Außenräumen werden von den Fassaden der Gebäude charakterisiert. Die Wohnblöcke sind ohne jegliche Zwischenräume unmittelbar an die Straßen gesetzt und wirken deswegen so stark auf den Straßenraum. Die Vor- und Rücksprünge der Fassaden durch beispielsweise zylinderförmige Elemente, welche die vertikale Erschließung enthalten, rhythmisieren die lang fluchtenden Passagen. Vorfabrizierte mit Terrakottafliesen überzogene Betonpaneele werden als Grundlage der Fassade eingesetzt.202 Eine präzise Arbeit der Fassadengestaltung mit unterschiedlichen Fassadenmaterialien, Farben, Texturen der Oberflächen zu einem plastischen Relief ist erkennbar. Dieses wird durch das Spiel von Licht und Schatten zusätzlich bereichert und trägt zu einem komplexen Ausdruck der Fassade bei. Von den Straßen führen acht Eingänge pro Block zu den Treppenhäusern der Wohnblöcke. Durch die hohe Anzahl der vertikalen Erschließungen werden nur zwei Wohneinheiten pro Geschoss erschlossen, und lange Flure können komplett vermieden werden. Die Grundrisse der Wohnungen weisen immer eine doppelte Orientierung auf. Die Anordnung der Wohneinheiten als Durchstichwohnungen ist durch die geringe Tiefe der Blöcke möglich. Auf das Wohnzimmer als kollektiven Raum ist eine größere Bedeutung gelegt worden und im Vergleich zu den anderen Räumen somit geräumig gestaltet.203 Le Viaduc In der zentralen Symmetrieachse des Ensembles und gleichzeitig in der Sichtachse des zentralen Platzes von Les Arcades du Lac liegt Le Viaduc. Dieses führt als Verbindung aus Brücke und Gebäude von der Uferpromenade auf den See hinaus. Der zentrale Weg läuft durch Le Viaduc hindurch und endet auf einer runden Platzform, die eine freie, von Wasser umgebene Fläche darstellt. Le Viaduc war von Bauten, wie der Pont Saint-Bénézet in Avignon, dem römischen Aquädukt von Segovia oder dem Schloss von Chenonceau inspiriert. Die Verbindung von Brücke und Schloss (pont-château) ist auch bekannt aus der Loire-Gegend.204 Durch die Fußgängerstraße aus Brücken können die einzelnen Gebäude von Le Viaduc erreicht werden. Ihre vertikale Erschließung liegt an der Nordseite der Gebäude und bedient maximal zwei Wohnungen pro Stockwerk. Obwohl Le Viaduc aus Einzelbauten besteht, wird durch die Verbindung der Brücken von einem zum nächsten Gebäude sowie einer Verbindung des obersten Stockwerks aller Gebäude ein Eindruck der Einheit erzeugt. Le Viaduc wirkt wie ein zusammengehörendes, 202 vgl. Klanten, Marinai, und Niebius, Ricardo Bofill. Visions of Architecture, 109. 203 vgl. Klanten, Marinai, und Niebius, 115. 204 Klanten, Marinai, und Niebius, 103 f.

91


Le Viaduc ragt auf den Lac de la sourderie Foto: Laurent Kronental

langes Gebäude mit hohen Öffnungen als Durchblicke, die in regelmäßigen Abstand über den Brücken verortet sind. Auch Les Arcades du Lac, jedoch besonders Le Viaduc wird durch seine exponierte Lage auf dem See auffallend inszeniert: „[…] the central space is a void treated as a sheet of water, which at times reflect symmetrical elements and at others distorts the image.”205 Wie Bofill erläutert, kann durch die Spiegelung von Le Viaduc auf der Wasseroberfläche das Bild verstärkt oder unter anderen Konditionen verklärt werden. Bei Reflexion der Gebäude wird eine weitere Symmetrieachse eingeführt und das Bild von Le Viaduc verdoppelt. Die Wasserfläche ist ein Mittel der Dramatisierung und Inszenierung des Gebäudes. Dies erinnert stark an Sert, Léger und Giedions Manifest Nine Points on Monumentality, in welchem sie die Integration von Wasser in die Ensembles propagieren. Die vielfältigen Reflektionen der Architektur auf der Wasseroberfläche bedienen ihren Wunsch nach Lichteffekten und von architektonischen Effekten zur symbolischen Aufladung von Formen.

205 Bofill und Krier, Ricardo Bofill and Léon Krier : architecture, urbanism, and history, 6.

92


Les Temples du Lac Die in der zweiten Bauphase entstandenen Gebäude von Les Temples du Lac komplettieren das Gesamtensemble um den Lac de la sourderie und fassen diesen an seinem südlichen Ende ein. Die Wohngebäude, welche von klassischen griechischen Formen angeregt sind, bestehen aus einem zentralen Tempel mit zwei Viertelkreis-Kolonnaden und abschließenden Pavillons. Wiederkehrende Motive sind Bögen, Giebel und Pilaster. Durch strikte Geometrien der Gebäude können identische Module für das ganze Ensemble verwendet werden. Vorfabrizierte Betonpaneele werden als Grundlage der Fassade eingesetzt, sind mit Elementen wie Pilastern und Gesimsen ausformuliert und verweisen so auf die historischen, klassizistischen Formen, die sie inspirieren. Bofill bezeichnet den daraus resultierenden Stil als „modern classical”.206 Der zentrale tempelartige Bau mit grünem Innenhof und Durchschusswohnungen ist in der Achse von Le Viaduc positioniert und stellt die Symmetrieachse für die Gebäude von Les Temples du Lac dar. Von dieser Achse laufen die beiden Kolonnaden aus kleinen individuellen Duplex-Wohnungen an der Promenade des Sees entlang.207 An deren Ende ist jeweils ein quadratischer Pavillon platziert, der gleichzeitig die Ecken des Sees markiert. Die Gebäude von Les Temples du Lac nehmen ähnliche Themen wie die von Les Arcades du Lac, Le Viaduc auf, wie die starken Symmetrien, die Inspiration von historischen Formen oder die Anwendung neuer Technologien. Position Ricardo Bofill Ricardo Bofill bezeichnet das Ensemble als „Le Versailles du peuple“, also das Versailles des Volkes. Er sieht seinen Auftrag darin, das alltägliche Leben der Bewohner*innen eines sozialen Wohnungsbaus mit seiner Architektur zu verherrlichen. Er will ihnen das Leben in einem Kunstwerk ermöglichen, welches nicht für eine Elite reserviert ist. Seine Methode, diese Ambition zu realisieren, ist die Kombination eines Formenvokabulars aus einer anderen Zeit und der modernen Technologien.208 Beispielsweise ermöglicht die Vorfabrikation der Fassadenelemente eine kosten- und zeitgünstige Realisierung in Serie. „L’architecture reprend, sans les copier, différents thèmes du passé, mais de manière éclectique, saisissant certains moments de l’histoire en les juxtaposant, préfigurant ainsi une nouvelle époque. Par magie, on se trouve dans un lieu connu, pourtant nouveau.”209 Ricardo Bofill spielt mit der Neukombination unterschiedlicher Formen aus verschiedenen Zeiten und mit dem Eindruck eines neuen gleichzeitig vertrauten Ortes. Das Ensemble, welches die Ville nouvelle Saint-Quentin-en-Yvelines repräsentieren soll, übernimmt die Aufgabe einer Landmarke. Da aufgrund der

206 Klanten, Marinai, und Niebius, Ricardo Bofill. Visions of Architecture, 109. 207 „Les Temples du Lac“. 208 vgl. Debarre und Mory, Habiter à Saint-Quentin-en-Yvelines. Entre utopie et tradition, 88. 209 Bofill, „Les Arcades du Lac“, 5.

93


relativ niedrigen Gebäude das Ensemble nicht durch seine Höhe hervorstechen kann, wurde eine andere Art von Weitsicht erzeugt. Der Komplex ist so entworfen, dass er durch parkartige Grünflächen und den weit angelegten See Abstand von der umgebenden Bebauung gewinnt. Das Ensemble isoliert sich fast komplett von seiner Umgebung, und es entsteht eine Klarheit des Bildes, die sich durch die Weite der Anlage ergibt. Da es den Betrachtenden möglich ist, ausreichend Abstand von den Gebäuden zu nehmen, kann die gesamte Anlage betrachtet und erfasst werden. Dieses Erlebnis der weiten Aussicht erinnert an ein angelegtes Panorama, wie man es von einer Skyline einer Stadt kennt, und schafft ein einprägsames Bild, welches mit der Stadt Saint-Quentin-en-Yvelines in Verbindung gebracht wird und diese repräsentiert. Kevin Lynch stellt in seinem Buch Das Bild der Stadt die Frage, ob eine weite Aussicht öfters in den urbanen Raum integriert werden könnte. Das Erlebnis eines solchen Stadtraumes bezeichnet er als „Entzücken“ und spricht sich für das Anlegen weiter, ausgedehnter Flächen in Städten aus.210 Der Entwurf des Ensembles ist eine Ablehnung der Architektur der Großwohnsiedlungen der Nachkriegszeit, welche unter der Charta von Athen entstanden sind. Die Konzeption, Komposition und Ausführung der Außenräume der Anlage und Volumina der Gebäude von Les Arcades du Lac, Le Viaduc zeugen von dieser Ansicht. Über die Komposition der Wohnungen von Les Arcades du Lac gibt es nur wenige Äußerungen Bofills. Insbesondere die Grundrisse von Les Arcades du Lac zeigen zum Großteil einfache Wohnungsschnitte, die den Bemühungen der Außenraumgestaltung nachstehen. Die Immobiliengesellschaft 3F spricht in ihrem Exposé der Wohnungen von Les Arcades du Lac von einfach einzurichtenden und einfach zu bewohnbaren Appartements.211 Es wird die Frage aufgeworfen, welchen Stellenwert für Bofill die äußere Wirkung, das Bild, die Fassade im Verhältnis zur Konzeption des Inneren, der Wohnungen hat. Im Hinblick auf die gewünschte Verbesserung der Situation des großmaßstäblichen Wohnungsbaus stellt sich die Frage, ob die Wohnungsgrundrisse reicher als die der Sozialwohnungen der tours et barres sind oder ob durch die Aufwendigkeit der Fassaden, der Außenraumgestaltung etc. ein gewöhnlicher Sozialwohnungsbau kaschiert wird. „The centre of a city can be imagined as a baroque church: all you need to do is transform into dwellings the thickness of its walls and into streets and squares its internal spaces.”212 Bofill beschreibt sein Vorgehen und die Reihenfolge, nach der er entwirft. Erst war das Bild da, die äußere Form, die dann die Wohnungen aufnimmt. Im Falle von Les Arcades du Lac ist dies das Bild des französischen Gartens, der Hecken, die als Gebäude ausformuliert werden. In einem Artikel des Magazins Domus von 1986 wird Bofills Entwurfsstrategie treffend beschrieben. Nur das äußere Erscheinungsbild, die Hülle ändert sich, welche die sich wiederholenden Zellen von Wohneinheiten 210 vgl. Lynch, Das Bild der Stadt, 57. 211 vgl. Bofill, „Les Arcades du Lac“, 3. 212 Irace, „Ricardo Bofill. Taller de Arquitectura“, 5.

94


zusammen hält, und gruppiert sie zu einer Großform: „What changes is the outward appearance of the ,shell‘, the shape of the ,container‘. These are conceived in terms of a unitary plastic mass which leaves the cellular repetition of its components to state its styles as a whole, together with the acrobatics of superform imposed on it.”213

Le Viaduc erscheint von der Uferpromenade aus wie ein zeilenartiges zusammenhängendes Gebäude Foto: Laurent Kronental Foto: Sarah Moser, 2019 213 vgl. Irace, 5.

95


Les Étoiles d’Ivry-sur-Seine Fakten Architekt: Renée Gailhoustet, Jean Renaudie Bauzeit: ca. zwei Jahrzehnte von Mitte der 1960er Jahre bis Mitte der 1980er Jahre Bestandteile: (nach Jahr ihrer Fertigstellung geordnet) Tour Raspail, Tour Lénine, Danielle Casanova, Cité Spinoza, Tour Casanova, Cité du Parc, Jeanne Hachette, Tour Jeanne Hachette, Jean-Baptiste Clément, Le Liégat, École Einstein, Voltaire, Marat Wohneinheiten: ca. 1.300 V112, überwiegend Sozialwohnungen Bauherr: Office Public HLM (OPHLM) Ivry-sur-Seine Gesamtfläche: ca. 15 Hektar Entstehungsgeschichte Zum Bau des Grand Ensembles Les Étoiles d’Ivry-sur-Seine trugen verschiedene Einflussfaktoren bei. Ivry-sur-Seine ist eine Arbeitergemeinde südöstlich des Pariser Zentrums mit kommunistischer Stadtverwaltung. Die französische Regierung führte 1958 das Gesetz der Zone à urbaniser en priorité (ZUP) ein, welches großflächige Entwicklungen ermöglichte. Im Stadtzentrum von Ivry-sur-Seine wurden große Bereiche als Zone à urbaniser en priorité ausgezeichnet, was eine Stadtsanierung auf großer Fläche begünstigte und vereinfachte. Verschiedene Faktoren erleichterten die Konzeption und Realisierung eines architektonisch experimentellen sozialen Wohnungsbauprojekts, wie das in Ivry-sur-Seine. Da der Wohnungsbau öffentlich in Auftrag gegeben wurde, stand den Architekten ein reichliches Budget der Zentralregierung zur Verfügung. Auch der Fortschritt in der Bautechnologie sowie die Größe an unbebautem Land an den Peripherien von Paris begünstigten die Situation. Der soziale, wirtschaftliche und politische Kontext, in dem das Projekt konzipiert wurde, trug dazu bei, dass ein großer Plan wie in Ivry-sur-Seine umgesetzt werden konnte. Die Architektin Renée Gailhoustet beschreibt dies 2018 in einem Interview: „in the private sector there was a lot more reticence towards innovation because they were afraid of losing their money. But in the public sector, we often met people who were very open.“214 Die Realisierung des Projektes wäre heute auf die gleiche Weise quasi nicht möglich. Solche Grands Projets waren ein gängiges Medium der französischen Stadterneuerung und wurden von der allgemeinen Politik und den Gemeinden unterstützt.215 Es begann zudem ein Prozess der Dezentralisierung, welcher Arbeitgebern finanzielle Anreize zur Verlagerung ihrer Firmen in die Provinzen bot. In Ivry-sur-Seine, wie auch in vielen Pariser Vororten, hatte 214 Chabani und Edom, „Revisit: Les Étoiles d’lvry, Paris, France, by Jean Renaudie and Renée Gailhoustet“. 215 vgl. Ayers, „Les «étoiles» d’Ivry-sur-Seine“, 121.

96


Prinzip der pyramidenartigen Schichtung von Formen in verschiedenen Bauten, früher Lageplan,1970 Service archives-patrimoine Mairie d‘Ivry-sur-Seine

dies zur Folge, dass große Grundstücke für eine Neubebauung verfügbar wurden.216 Die steigenden Bevölkerungszahlen, der Mangel an innenstadtnahem günstigem Wohnraum und die Planung, zwei Hauptstraßen (Rue Danielle-Casanova und Rue Lénine) zu verbreitern, die durch das Stadtzentrum von Ivry-sur-Seine führen, führte 1958 zur Entscheidung, das verfallene Zentrum zu sanieren.217 Da die Straßenerweiterung ohnehin große Abrisse mit sich brachte, wurde im Zuge dieses Bauvorhabens die gesamte Gegend enteignet und komplett neugeplant.218 Das Projekt wurde phasenweise realisiert, denn man setzte sich als Ziel, das Innenstadtleben zu erhalten und die verdrängte Bevölkerung umzuquartieren. 1969 wurde Renée Gailhoustet zur Hauptarchitektin ernannt, ein Jahr später holte sie Jean Renaudie hinzu. Das rund 30 Jahre andauernde Stadterneuerungsprogramm in Ivry-sur-Seine erreichte den Bau von ca. 1.300 Wohneinheiten, welche zum Großteil aus Sozialwohnungen bestehen, 30.000 m2 Geschäftsfläche, 18.000 m2 Bürofläche, 3.500 Parkplätze und eine Vielzahl an öffentlichen Einrichtungen.219

216 vgl. Scalbert, A right to difference: the architecture of Jean Renaudie, 41. 217 vgl. Scalbert, „Ivry-sur-Seine Town Centre“, 44 f. 218 vgl. Ayers, „Les «étoiles» d’Ivry-sur-Seine“, 117. 219 vgl. Gailhoustet, „Öffentlichkeit ist eine große Quelle der Freiheit, Tour Raspail, Cite Spinoza, Marat“, 112.

97


Leitideen für das Ensemble Das Ensemble Les Étoiles d’Ivry-sur-Seine zieht sich wie ein elastisches Gewebe über große Teile der Innenstadt von Ivry-sur-Seine und umfasst eine Vielzahl an größeren und kleineren Bauten, die gemeinsam als teppichartige Struktur das Gesamtensemble bilden. Es werden ein paar dieser Gebäude, welche maßgeblich für den Ausdruck des Ensembles verantwortlich sind beziehungsweise essentielle Entwurfsgedanken verdeutlichen, erläutert. Das Gesamtensemble ist von der Idee der Durchmischung von Funktionen und Nutzungen geleitet. Statt einer Trennung in Funktionszonen stapeln und durchmischen sich soziales Wohnen, Büros, Einzelhandel und weitere öffentliche Nutzungen auf verschiedenen Ebenen. Die Mischnutzung geht über die „nur“ öffentliche Erdgeschosszone hinaus. Die Architekten zielen auf Wohnraum, dessen Zugang zu öffentlichen Einrichtungen, Einzelhandel und grünen Freiflächen gewährleistet ist.220 Im Ensemble zeigen sich alle Stufen zwischen öffentlich und privat. Beispielsweise gibt es Gemeinschaftsräume, undefinierte Räume zur gemeinschaftlichen Aneignung oder halböffentliche Zonen der Wohnungserschließung, die zeigen, dass eine strikte Trennung von öffentlich und privat aufgelöst wird. Individualität als Leitidee – trotz sozialem Wohnungsbau – wird durch eine strukturelle Komplexität erzeugt, regt zur kreativen Aneignung der Räume an und bringt Vielfalt mit sich – einst ein Störfaktor in der standardisierten Massenproduktion des sozialen Wohnungsbaus.221 Blickbeziehungen, verschachtelte Wege, Überschneidungen der Räume und eine Kontinuität der Zirkulation von einem Gebäude zum nächsten verbinden die einzelnen Bestandteile in Ivry-sur-Seine zu einem zusammengehörigen Grand Ensemble. Das Dreieck beziehungsweise die Diagonale als die das Ensemble dominierende Form bringt ihm den Namen Les Étoiles d’Ivry-sur-Seine (étoile = Stern). In der Planung dieses Ensembles „kommen zwei Dinge zusammen, die sich in der Regel ausschließen, nämlich die Erhabenheit des selbständigen Ensembles und die Individualität einzeln ablesbarer Wohneinheiten”.222 Tour Raspail Der 1968 fertig gestellte Tour Raspail ist eines der frühen Projekte der Innenstadtsanierung von Ivry-sur-Seine. Dieser Turm von Renée Gailhoustet ist noch von der Architektur der Moderne und den Wohnkonzepten von Le Corbusier geprägt. Jedoch entwickelte Gailhoustet erste Ideen komplexer Grundrisse sowie von vielfältiger Nutzungsmischung, welche in den Gebäuden der darauffolgenden Jahre weitergedacht wurden. Von insgesamt fünf Türmen, die zum Ensemble gehören, war der Tour Raspail der einzige, welcher der Beginn einer Suche nach neuen räumlichen Qualitäten darstellte

220 vgl. Gailhoustet, 112. 221 vgl. Scalbert, A right to difference: the architecture of Jean Renaudie, 7. 222 Kockelkorn, „Wuchernde Wohnarchitektur. Die französischen ‚Proliférants‘ der frühen 70er Jahre als staatliches Experiment“, 39.

98


und auf das Kommende hingedeutet hat.223 Der Tour Raspail war somit ein Vorläufer weiterer Gebäudekomplexe des Grand Ensembles in Ivry-sur-Seine. Der Turm besteht aus zwei Volumen, die zueinander verschoben und mit einem Erschließungskern verbunden sind. Durch die Verschiebung des Doppelturms entsteht ein öffentlicher Platz mit einer pavillonartigen Konstruktion, welche als Kiosk oder Kunstschaufenster dient. Im Erdgeschoss befinden sich weitere öffentlichen Nutzungen, wie Einzelhandel oder diverse Dienstleistungen. Gailhoustet belässt es nicht bei einer öffentlich genutzten Erdgeschosszone, sondern entwirft die beiden obersten Etagen des Turmes als gemeinschaftlich genutzte Räume, wie Malerateliers und ein bepflanzter Dachgarten mit skulpturalen Strukturen aus Beton. Gailhoustet zeigt auf, dass eine Vernetzung von öffentlichen und privaten Bereichen auch vertikal organisiert sein können. Die Wohnungen im Innern des Turmes sind durchgesteckte Split-Level-Maisonetten, die wie weiter gedachte Wohnkonzepte von Le Corbusiers Unité d‘Habitation und der Idee des Semi-Duplex von Georges Candilis, Mitglied des Team X224, erscheinen. 225 Durch die Organisation auf drei Halbebenen entsteht ein Raum, der sowohl vielfältig, kompakt und damit wirtschaftlich ist. Die Raumhöhe wirkt stark vergrößert, und die Anordnung erlaubt lange Schrägblicke durch die Wohnung.226 Die Themen der optischen Vergrößerung von Wohnraum, des Schaffens von Vielfältigkeit im Grundriss und die Mischung von Nutzungen abseits einer nur öffentlichen Erdgeschosszone prägen alle nach dem Tour Raspail entworfenen Projekte des Ensembles. Danielle Casanova Architekt: Jean Renaudie Bauzeit: 1970-1972 Wohneinheiten: 82 unterschiedliche Appartements Weitere Nutzungen: Einkaufspassage, Büro, Lager, Parkplätze Das Gebäude Danielle Casanova war das erste Projekt von Jean Renaudie im Rahmen der Erneuerung des Stadtzentrums. Die Formen des Gebäudes basieren auf einer geometrischen dreieckigen Struktur mit Diagonalen von 45 Grad. Das Gebäude ist terrassiert, jedoch ist die Idee des Hügels noch nicht so stark ausgeprägt wie in seinen späteren Projekten. Trotzdem stellt die bei Danielle Casanova schon angedeutete pyramidale Struktur einen einzigartigen Bruch mit den räumlichen Mustern des sozialen Wohnungsbaus aus dem vorangegangenen Jahrzehnt dar. Neben der Einführung der Dreiecksstuktur

223 vgl. Scalbert, A right to difference: the architecture of Jean Renaudie, 42. 224 Das Team X, auch Team 10 oder Team Ten war eine Architekturgruppe, die 1953 aus dem 10. CIAM Kongress (Congrès International d’Architecture Moderne) heraus entstand und dessen Kritik der klassischen Moderne galt. vgl. Bofill und Krier, Ricardo Bofill and Léon Krier : architecture, urbanism, and history, 6. 225 vgl. Gailhoustet, „Öffentlichkeit ist eine große Quelle der Freiheit, Tour Raspail, Cite Spinoza, Marat“, 115. 226 vgl. Scalbert, A right to difference: the architecture of Jean Renaudie, 42.

99


Straßenansicht von Danielle Casanova rechts Divisare, Foto: Lorenzo Zandri

100


Blick über die Cité du Parc mit direkt angebautem Gebäude Danielle Casanova rechts Foto: Laurent Kronental

101


ist es auch das erste Projekt mit bepflanzten Terrassen für jede der Wohneinheiten. Das Dach eines Appartements bildet eine Terrasse des Appartements darüber. Die Terrasse als Teil der Wohneinheit erzeugt den Eindruck des Wohnens in einem vorstädtischen Haus und nicht in einem innenstadtnahen Geschosswohnungsbau. Die Terrassen schaffen sowohl eine Verbindung der Wohnungen miteinander als auch eine Verbindung mit der Umgebung und mit der Stadt. Der individuelle Außenraum erzeugt sowohl Intimität, da durch die Terrassen benachbarte Wohnungen visuell weiter entfernt sind, als auch Sicherheit, da hinter den Fenstern nicht direkt die Leere kommt, sondern der Innenraum in den Außenraum verlängert wird. Trotzdem bieten die Terrassen die Möglichkeit, in den Kontakt mit Nachbarn zu treten, was durch deren Anordnung sogar verstärkt wird. Durch individuelle Anpflanzung können die Bewohner die äußere Wirkung des Ensembles Danielle Casanova mitbestimmen und verwandeln. Seine Erscheinung wechselt zudem mit den Jahreszeiten und gibt ihm immer wieder einen anderen Ausdruck. Nicht nur alle Wohnungen profitieren von einem grünen Garten, auch die Büros haben Zugang zu Terrassen. Die Struktur des Gebäudes besteht aus Trägern und Stützen und ermöglicht somit Freiheit in der Grundrissgestaltung.227 Jede der 82 Wohneinheiten ist unterschiedlich entworfen und gleicht keiner anderen. Die Räume in Renaudies Gebäuden scheinen bewusst verwirrend. Sie sind nur teilweise abgetrennt und geschlossen, sie enthalten Übergangsbereiche ohne vorgeschriebene Funktion. Gemeinschaftlich genutzte Räume in der Wohnung sind ungewöhnlich großzügig. Die Fassaden nehmen das Spiel der Dreiecke und Diagonalen auf. Die Außenstützen des Tragwerksrasters enden in jedem Geschoss in einer umgekehrten Dreiecksvoute, die jegliche Unterzüge überflüssig macht. Im höheren Erdgeschoss, welches leicht zurückversetzt ist, sodass eine überdachte Fußgängerzone entsteht, sind sie aus rein expressiven Gründen verbreitert. An den Stützen sind vorgefertigte niedrige Wände befestigt, die an den unteren Ecken zurückgezogen sind, um tiefere Fenster zu ermöglichen.228 Jeanne Hachette Architekt: Jean Renaudie Bauzeit: 1970-1975 Wohneinheiten: 40 Wohnungen, 26 verschiedene Wohnungstypen Weitere Nutzungen: Passage mit Einzelhandel, Büro, Gastronomie, Lager, Parkplätze, 3 Kinos (jedoch nicht realisiert) Das Gebäude Jeanne Hachette ist eine pyramidenartige Struktur aus drei gestapelten Geschossen aus Geschäften, darüber Büros und danach Wohnungen mit einem labyrinthartigen Charakter, die sich bis zu neun Stock-

227 vgl. Gailhoustet, „Öffentlichkeit ist eine große Quelle der Freiheit, Tour Raspail, Cite Spinoza, Marat“, 114. 228 vgl. Scalbert, A right to difference: the architecture of Jean Renaudie, 47.

102


Oben: Gestapelte Dreiecksstruktur Jeanne Hachette ohne Beschränkung auf 45° oder 90° Winkel Unten: Grundriss 1. Obergeschoss Mischnutzung aus Einzelhandel, Büro, Terrassen; strukturiert durch interne Passage Service archivespatrimoine Mairie d‘Ivry-sur-Seine

103


Öffentliche Treppen zum „Entdecken“ von Jeanne Hachette; mindestens eine private Terrasse je Wohneinheit Foto: Laurent Kronental Divisare, Foto: Lorenzo Zandri

104


werken auftürmen. Vielfältige Kommunikationswege auf verschiedenen Niveaus, offene Volumen und flexible Räume kennzeichnen das Gebäude.229 Die Typologie von Jeanne Hachette erlaubt Vergleiche zu nordafrikanischen Kasbahs oder italienischen Hügelstädten, jedoch ist in Ivry-sur-Seine das Gebäude selbst der Hügel.230 Da es keine starke natürliche Topographie gab, wurden durch das Stapeln von Elementen Hänge und Steigungen geschaffen. Öffentliche Treppen von drei Seiten des Komplexes erlauben es, vom Straßenniveau den Hügel bis fast zu den obersten Etagen zu erklimmen.231 Solche unerwarteten Wege ermöglichen es dem Fußgänger – Besucher*in oder Bewohner*in von Ivry-sur-Seine – immer mit dem Gebäude zu interagieren: „The intention is to create architecture that you can walk not just around but through, over or under, and which would be welcoming to inhabitants of the rest of the town.”232 Die Struktur spannt sich über die Avenue Georges Gosnat und wird mit dem ein Jahrzehnt später gebauten Projekt Voltaire (1985) auf der anderen Straßenseite verbunden. Dieses führ das Gebäude Jeanne Hachette fort, greift die gleichen Themen wie dieses auf und ist sich so ähnlich in der Gestaltung, sodass die beiden Gebäude wie eines wirken. Solche brückenartigen Situationen ermöglichen aus den einzelnen Gebäuden ein zusammengehöriges Ensemble zu schaffen. Obwohl alle Wohnungen unterschiedlich ausformuliert sind, zeichnen sich Gemeinsamkeiten und Prinzipien der Grundrisse ab. Meist handelt es sich um Duplex-Wohnungen, bei denen eine Küche und ein großzügiger Wohn- und Essbereich sich auf der unteren Etage befinden, sehr kleine Schlafzimmer mit einem zusätzlichen kleinen Bad auf der oberen Etage. Individuell genutzter Raum ist zugunsten gemeinschaftlich genutztem Raum klein gehalten. Die beiden Geschosse sind durch eine Wendeltreppe verbunden und durch einen Luftraum über dem Wohnzimmer zusätzlich verknüpft. Während Elemente wie Bad, Küche sowie auch die Position der Betten klar definiert sind, ist der gesamte Raum, der sich um diese fixen Elemente herum befindet, nicht definierter Raum, der interpretiert und angeeignet werden soll. Die einzelnen Wohnungen scheinen individuell nach qualitativen Kriterien, wie Lichteinfall, Aussicht, Flexibilität und Geräumigkeit entworfen zu sein. Das Zusammenspiel dieser Faktoren gibt jeder Wohnung einen komplett eigenen Charakter. Das Einführen der Diagonale führt zu einem erhöhten Lichteinfall, es lässt die Räume größer wirken und ermöglicht multiple Aussichten und Orientierungen. Die grundrissbestimmenden Diagonalen sind nicht wie bei Danielle Casanova auf 45 oder 90 Grad beschränkt, sondern werden flexibel geformt. Die sich in jede Richtung faltende Fassade ergibt Bänder aus Sichtbeton und aus Glas. Dieses sind unterbrochen, wenn zweigeschossige Räume, geschaf-

229 vgl. Loyer, Histoire de l’architecture française. De la Révolution à nos jours, 2. 230 vgl. Chabani und Edom, „Revisit: Les Étoiles d’lvry, Paris, France, by Jean Renaudie and Renée Gailhoustet“. 231 vgl. Scalbert, A right to difference: the architecture of Jean Renaudie, 143. 232 Borden, „Innovation in Social Housing in France, 1970-1990“, 95.

105


fen durch einen Luftraum über einem Wohnraum, an der Fassade liegen. Das Thema der Dreiecksform wird mit den Balustraden der Terrassen aufgegriffen. Le Liégat Architekt: Renée Gailhoustet, Jean Renaudie Bauzeit: 1971-1982 Wohneinheiten: 146 Mietwohnungen Weitere Nutzungen: Passage mit Einzelhandel und Büros (hauptsächlich Architekturbüros und Ateliers), Parkplätze, multifunktionaler Gemeinschaftsraum (Local Collectif Résidentiel LRC) „On a dépassé le côté répétitif des structures orthogonales.”233 Gailhoustet und Renaudie demonstrieren im Gebäude Le Liégat einen sozialen Wohnungsbau, der Wiederholungen vermeidet und keiner Aufreihung denselben Wohneinheiten bedarf. Das bis zu neun Stockwerken terrassierte Gebäude Le Liégat zeigt sich wie Danielle Casanova und Jeanne Hachette vielfältig und komplex, jedoch mit runderen Formen. Eine Stützenkonstruktion, als Resultat einer Studie über die Kompatibilität von Raster und runden Formen, wird eingesetzt, um ein Raster aus hexagonalen Zellen und radial davon ausgehenden Trägern zu realisieren. Mittels dieses Stützenrasters ist eine flexible Grundrissgestaltung möglich. Wände werden von Stütze zu Stütze gezogen und formen komplexe und abwechslungsreiche, polygonale Grundrisse. Eine mäandrierende Passage, die über mehrere Eingänge erschlossen wird, verbindet zwei das Ensemble durchlaufenden Straßen sowie den Place Voltaire. Dadurch frequentieren, zusätzlich zu den vor Ort arbeitenden und einkaufenden Personen und Nutzer*innen der öffentlichen Einrichtungen, Passanten die Passage als Abkürzung durch den Straßenblock. Im Innern des Gebäudes weitet sich die Passage auf und wächst in ihrer Höhe an. Mit Hilfe von Innenhöfen wird natürliches Licht bis zur Passage geleitet.234 Ebenso gruppieren sich die Wohnungen um solche Innenhöfe, die einerseits zur Belichtung dienen und andererseits sehr private Außenräume schaffen. Teilweise sind diese von mehreren Wohnungen zugänglich und bilden geschützte nachbarschaftliche Räume aus. Zusätzlich hat jede Wohnung einen Zugang zu einer großen Terrasse. Im Vergleich zu den Terrassen bei Danielle Casanova und Jeanne Hachette, welche ausschließlich einer Wohnung zugeordnet und voneinander abgetrennt sind, zeigen sich die Terrassen von Le Liégat als miteinander verbunden. Sie sind gleichermaßen mit einer 30 cm dicken Erdschicht bedeckt und ermöglichen damit eine vielfältige Bepflanzung.235 Zur weiteren Verbesserung der Belichtung – viele Wohnungen sind nach Norden ausgerichtet – ermöglichen tiefe Einschnitte in die Fassade das 233 Catsaros, „L’habitat collectif singularisé“, 18. 234 vgl. Scalbert, „Ivry-sur-Seine Town Centre“, 47. 235 vgl. Gailhoustet, „Öffentlichkeit ist eine große Quelle der Freiheit, Tour Raspail, Cite Spinoza, Marat“, 110.

106


Komplexe Fassaden Le Liégat durch Struktur aus hexagonalen Zellen Service archives-patrimoine Mairie d‘Ivry-sur-Seine

Einfallen von direktem Sonnenlicht in die Wohnräume. Infolgedessen gibt es Wohnungen mit einer Orientierung von bis zu vier Himmelsrichtungen. Unter den höchsten Punkten des Gebäudes liegen die Versorgungsschächte. Um diese Achse herum fächern sich die Wohnungen auf. Jede Wohnung ist anders konfiguriert, sogar die sanitären Räume variieren, denn sie sind um die Schächte herum positioniert, aber von Stockwerk zu Stockwerk unterschiedlich angeordnet.236 Wenngleich die Gesamtwohnungsfläche den Normen des Sozialwohnungsbaus entspricht, wirken die Wohnungen trotzdem auffallend geräumig. Aufgrund der Grundrissanordnung kann der zentrale Wohnraum oftmals nicht von einem Blickwinkel komplett erfasst werden.237 Marat Architekt: Renée Gailhoustet Bauzeit: 1971-1986 Wohneinheiten: 136 Wohneinheiten Weitere Nutzungen: Einkaufspassage, Gastronomie, Parkplätze, Sporteinrichtungen, Metrostation Das Ensemble Marat verknüpft auf beispielhafte Weise die private Wohnnutzung mit dem öffentlichen Leben. Über einer unterirdischen Parkgarage sitzt ein zweigeschossiger Sockel aus einer Einkaufspassage, welche einerseits bis zum Gebäude Jeanne Hachette verläuft und andererseits mit einem brückenartigen Bau die Rue Marat überquert. Auf dieser Seite der Straße befindet sich das westliche Ende von Marat mit vielen weiteren in das Gebäude integrierten öffentlichen Nutzungen, wie eine Metrostation und Sporthallen. Das Dach über den Sockelgeschossen ist terrassiert und nimmt auf unterschiedlichen Niveaus Gastronomie und Einzelhandel auf. Die Wohneinheiten sind von der Struktur der Wohnungen des Tour Raspail inspiriert und über verschiedene Etagen vertikal ausgerichtet. Manche dieser

236 vgl. Catsaros, „L’habitat collectif singularisé“, 17. 237 vgl. Scalbert, „Ivry-sur-Seine Town Centre“, 47.

107


Wohnstruktur Le Marat mit Höfen, Plätzen unterschiedlicher Größen Divisare, Foto: Lorenzo Zandri

108


Oben: Ansicht Le Marat mit chrarakteristischen sich verschneidenden Pultdächern Unten: Schematische Schnitte Le Marat; Schichtung verschiedener Funktionen (Metro, Parken, Einzelhandel, Büro, Atelier, Wohnen etc.); Lichthöfe zur Belichtung Service archives-patrimoine Mairie d‘Ivry-sur-Seine

109


Passage Le Marat als Brückenelement und Zugang zu Einzelhandel, öffentliche Einrichtungen; verbindet sich mit Passage von Jeanne Hachette Service archives-patrimoine Mairie d‘Ivry-sur-Seine

110


weisen Sichtbeziehungen mit der im Sockel liegenden Einkaufspassage auf. Alle Wohnungen sind durch Verschneidungen ihrer Pultdächer charakterisiert und verfügen über sehr tiefe Räume – bis zu 20 Meter. Diese werden über eingelassene Innenhöfe von geringer Größe belichtet. Mit diesen klein gegliederten Lichthöfen, den Pultdächern und Erkern setzt Gailhoustet ein Zeichen gegen die Formensprache der klassischen Moderne.238 Position Jean Renaudie und Renée Gailhoustet Aus den einzelnen Gebäuden des Ensembles zeigt sich die Haltung der Architekten gegenüber dem großmaßstäblichen Wohnungsbau der Moderne. Sie positionieren sich gegen die Wiederholung, einfache Organisationen und gegen Zonierung im Sinne der Funktionstrennung der funktionalistischen Stadt: „Une ville est un organisme complexe où se mélangent un grand nombre de fonctions qui ne peuvent se limiter à 4.“239 Ihre Position gegen den funktionalistischen Städtebau der modernen Architektur sowie auch Renaudies Engagement im Team X lassen vermuten, dass die Ansichten der Architekten im Strukturalismus gründen.240 Renaudie und Gailhoustet gehörten nicht dem Team X an, aber waren dennoch von deren Ideen durchdrungen. Anschauungen des Strukturalismus, wie das Erstellen eines Kommunikationsnetzes beziehungsweise Kommunikationsrasters, eine Interaktion zwischen Gegebenheiten des Raumes und seinem Benutzer, der Interpretationsspielraum in der Nutzung der Räume sowie Möglichkeit für das Wachsen und Verändern der Lebenswelten, sind auch in Ivry-sur-Seine umgesetzt.241 Die extreme Vielfalt der Gebäude, wie eine unterschiedliche Gestaltung jedes Appartements, ist nicht typisch für strukturalistische Bauten, welche aus einer Komposition aus gleichen Elementen bestehen. Die enorme Komplexität des Ensembles auf verschiedenen Ebenen vom Grundriss bis zum Stadtraum verknüpft mit einer Einheit aller Elemente, aus denen das Ensemble besteht, zeigt Renaudies Ansicht von Stadt: „La ville est une combinatoire qui s’organise sur une structure; une structure complexe qui évite la dissociation et la ségrégation des éléments et qui est porteuse d’un nombre beaucoup plus grand de combinaisons que la structure du zoning basée sur la juxtaposition et la philosophie du simple.”242 Die Unterschiede in den Wohnungen sind Produkt eines langen Entwurfsprozesses, welche nicht erklärt oder rechtfertigt werden können. Es entstand eine Architektur, die nicht auf den funktionalen Forderungen der Modernisten oder den psychologischen Überlegungen der Soziologen beruht, sondern auf einem System reiner, sachlicher Unterschiede. Renaudie stellte sich eine Art der Aneignung vor, bei der die Bewohnerschaft den Prozess lediglich dort aufnimmt, wo der Architekt ihn aufgehört hat. Die Bewohner*innen begeg238 vgl. Gailhoustet, „Öffentlichkeit ist eine große Quelle der Freiheit, Tour Raspail, Cite Spinoza, Marat“, 121. 239 vgl. Lucan, Architecture en France (1940-2000), 224. 240 vgl. Gailhoustet, „Öffentlichkeit ist eine große Quelle der Freiheit, Tour Raspail, Cite Spinoza, Marat“, 113. 241 vgl. Hermann und Lüchinger, „Strukturalismus - eine neue Strömung in der Architektur; Strukturalismus - Ideologie“, 20 f. 242 Lucan, Architecture en France (1940-2000), 224.

111


nen den Eigenheiten des Plans mit ihren eigenen und eignen sich auf diese Weise ihren Raum an. Dies funktioniert am besten, wenn ihnen bewusst ist, dass ihre Wohnung einzigartig ist. Renaudie lehnte es ab, Bewohnern gängige Kategorien aufzuerlegen und in Form von Einheiten und Verbrauchertypen zu denken. Wenn man in typischen Wohnungen denkt, müsste man auch in typischen Nutzern denken. Er lehnt es ab, bestimmte Wohnformen einer bestimmten sozialen Schicht zuzuordnen, und sieht Architektur als eine Reihe komplexer Beziehungen zwischen Räumen wie auch zwischen Menschen.243 Die Einführung der Diagonale wie bei Danielle Casanova oder Jeanne Hachette erlaubt es, den begrenzten Raum, denn es handelt sich um einen sozialen Wohnungsbau, optisch zu verlängern und zu erweitern. In manchen der Wohnungen ergeben sich Eindrücke großer Entfernungen durch Perspektiven von bis zu 15 m Länge.244 Eine solche räumliche Vielfalt sieht Renaudie als eine Form von Luxus an. Renaudie und Gailhoustet sprechen sich für Wege, mit einem Spiel von Stegen, für verschlungene Wege und für sich kreuzende Wege, aus. Damit sollen Begegnungen unter den Bewohnern und anderen Flanierenden gefördert werden. Ziel ist, die Straßen stark zu beleben und alles, was nicht streng funktional ist, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.245 Durch die hohe Komplexität ist kein eindeutiges gleiches Bild des Ensembles für jeden Bewohner, Anwohner, Passanten oder Besucher zu verzeichnen. Was bleibt, ist ein individuelles Bild einer räumlichen Situation, wie eine öffentliche Einrichtung, eine Wohnung oder eine Passage, also eine im Vergleich zur Gesamtheit des Ensembles kleine, fassbare und memorable räumliche Situation. Das große Bild des Ensembles hingegen ist das Bild eines beziehungsweise mehrerer Hügel aus verschachtelten Elementen, welche teils von wildem Grün überhangen sind. Es gibt keine Hauptansicht, sondern ein hoch komplexes räumliches Gefüge. In einem Artikel der AA Files von 1992 wird dieses Phänomen beschrieben: „A sense of identity is for the most part obtained at close range – looking down from one’s one terrace or out of one’s own shop – and therefore it will be different for each person, and will not necessarily add up to a collective, urban image.”246

243 vgl. Scalbert, A right to difference: the architecture of Jean Renaudie, 50. 244 vgl. Ayers, „Les «étoiles» d’Ivry-sur-Seine“, 117 f. 245 vgl. Catsaros, „L’habitat collectif singularisé“, 17. 246 Scalbert, „Ivry-sur-Seine Town Centre“, 48.

112


Stimmen „C’est une catastrophe! Ce n’est pas un centre-ville, ça! C’est lourd, c’est sale, tout ce béton est déprimant. Rien ne semble fini. Il faudrait un gros coup de peinture. […] Les appartements ne sont pas fonctionnels. […] Comment meuble-t-on un truc comme ça? Il faudrait faire du sur-mesure.”247 Monsieur Z. Bewohner im Ensemble seit 30 Jahren

„C’est biscornu, il faut dire ce qui est. Il y a des pointes partout. En arrivant, j’ai dû me séparer de beaucoup de meubles et en prendre d’autres. C’est vrai qu’il faudrait presque faire du sur-mesure.”248 Madame B. Bewohnerin im Ensemble

Wohneinheiten Voltaire am Place Voltaire; im Hintergrund Le Liégat Divisare, Foto: Lorenzo Zandri

247 Ayers, „Les «étoiles» d’Ivry-sur-Seine“, 116. 248 Ayers, 119.

113


Les Choux de Créteil Fakten Architekt: Gérard Grandval Bauzeit: 1970-1974 Bestandteile: 11 Wohntürme, 2 Schulen Wohneinheiten: 654, 420 in Eigenbesitz, 234 zur Miete, überwiegend Sozialwohnungen Bauherr: l’Office central interprofessional du logement (Ocil) Gesamtfläche: ca. 29 Hektar Patrimoine du XXe siècle Entstehungsgeschichte Das Ensemble Les Choux de Créteil befindet sich in der Gemeinde Créteil, in der südöstlichen Banlieue von Paris. Créteil war in den 1950er Jahren ein kleiner, ländlicher Ort, dessen Land hauptsächlich dem Gemüseanbau gewidmet war. Die freien landwirtschaftlichen Flächen wurden zunehmend für den Bau von Wohnquartieren genutzt (z.B. Grands Ensembles Mont-Mesly von Charles-Gustave Stoskopf). Dies brachte einen rasanten Bevölkerungswachstum mit sich sowie einen Mangel an Nahversorgung und Arbeitsplätzen vor Ort. Dieses Ungleichgewicht konnte erst durch eine Anbindung des öffentlichen Nahverkehrs an Paris verringert werden. Aus diesen Erfahrungen heraus wurden die zukünftigen Quartiersplanungen in Créteil von Anfang an mit dem Bau von öffentlichen Gebäuden verknüpft, um reine cité-dortoir 249 zu vermeiden. 1968 fiel die Entscheidung, sieben neue Wohnquartiere in Créteil zu planen und dafür sieben Architekten zu beauftragen mit dem Ziel, spielerische Entwürfe für multifunktionale Quartiere zu erzeugen. Deswegen wurde jedem der Gebiete ein Element des täglichen Lebens zugeteilt, sprich der Bau eines öffentlichen Gebäudes initiiert. Gérard Grandval interveniert im neunundzwanzig Hektar großen Quartier du Palais, zu dem auch das Gerichtsgebäude von Créteil, die Université Paris-Est Créteil und ein Einkaufszentrum gehören. Das Gebiet situiert sich zwischen der Autobahn 86 und zwei Landstraßen und ist eine ehemalige Fläche des Gemüseanbaus, genaugenommen des Kohlanbaus. Grandval beschreibt das vorgefundene Gebiet mit einem Mangel an Geschichtlichkeit: “II n‘y avait rien: pas de site, pas d‘historicité, rien a quoi se raccrocher, juste des trognons de choux.”250 Das einzige Bezugselement ist der Kohlanbau, welcher im Namen des Ensembles aufgegriffen wird (choux = Kohl) und auch im Entwurf formal thematisiert wird.251 249 Eine cité-dortoir („Schlafstadt“) bezeichnet eine Stadt mit einem kleinen Arbeitsmarkt, deren Hauptzweck darin besteht, Wohnungen zu bündeln. Anstatt in dieser Stadt eine Tätigkeit auszuüben, sind die Bewohner oft in einer nahen gelegenen Großstadt beschäftigt und pendeln zwischen der cité-dortoir und ihrem Arbeitsort. Freizeit- und Nahversorgungseinrichtungen sind oft in nur geringen Maß oder gar nicht vorhanden. 250 Saint-Pierre, „Gérard Grandval Les Choux de Créteil“. 251 vgl. Saint-Pierre.

114


Gebäudeaufbau Bei den Wohntürmen gibt es zwei unterschiedliche Gebäudetypen, die Form Dahlia und die Form Épis de maïs. Dahlia ist ein rundes Gebäude mit 44 Meter Durchmesser und sechs Stockwerken. Eine Autorampe windet sich über die ersten drei Stockwerke, welche zum Parken genutzt werden. Ein dreistöckiger Ring aus 2- und 5-Zimmer-Wohnungen liegt darüber. Der zentrale Hohlraum wird als Garten genutzt. Nur ein einziges Gebäude dieses Schemas wurde umgesetzt, da seine Realisierung zu teuer war. Von den ebenfalls runden Wohntürmen der Form Épis de maïs mit 21 Meter Durchmesser und 14 Stockwerken wurden zehn Stück realisiert. Jeder polygonale Turm besteht aus 18 Seiten und tragenden Wänden aus Beton sowie Fassaden aus Holz, welche in Serie gefertigt wurden. Auf jedem Stockwerk befinden sich vier Wohneinheiten mit drei oder vier Zimmern. Ein zentraler Kern mit Treppenhaus, Aufzügen und einem kreisförmigen Flur bedient die Wohnungen. Deren Grundrisse werden radial mit einem Ring aus Badezimmer und Toilette sowie einem Ring an Wohnräumen gegliedert. Es ergeben sich trapezförmige Räume.252 Immer drei Gebäude Épis de maïs sind um ein einstöckiges, kreisförmiges Volumen herum angeordnet, welches als Garage für Autos der Bewohner dient. Diese Form von drei Wohntürmen mit deren Garagen wird als wiederkehrendes Muster verwendet, das auf gleiche Weise mehrmals auf dem Gebiet wiederholt wird. (Das Auto wird nicht komplett unsichtbar in einer Tiefgarage platziert, sondern in die Systematik des Ensembles der Gesamtanlage integriert.) Als öffentliche Gebäude wurden zwei Schulen im Ensemble realisiert, welche auch durch runde Formen umgesetzt sind. Die Raumaufteilung folgt demselben System aus ringförmigen Schichten, wie in den Wohntürmen. In mehreren Ringen legen sich die verschiedenen Räume um einen zentralen Patio. Die Kreisform zieht sich durch das gesamte Ensemble und wird auf unterschiedlichen Maßstäben sichtbar. Dies reicht von der Außenkubatur der einzelnen Bauten, wie Wohntürme, Schulen und Garagen, über die Erschließung von Treppenhaus und Flur bis in die radiale Schichtung der Räume in den Grundrissen. Durch die Kreisform wird eine Zuordnung von Elementen zum Ensemble ermöglicht, durch sie wird eine Verbindung der einzelnen Bestandteile miteinander geschaffen. Die Komposition der Kreise und das dadurch gezeichnete Bild wirkt äußerst grafisch und formal. Betrachtet man das Ensemble in seiner Ganzheit mit seiner Vielzahl an Kreisen, so ruft es Erinnerungen an die grafischen Werke von Sonia Delaunay hervor. Die Serienbildung des Kreises ist einerseits Mittel, um eine Einheit zu schaffen und gleichzeitig der Abgrenzung von anderen Formen der Umgebung.

252 vgl. Saint-Pierre.

115


116


Links: Wohntürme des Typs Épis de maïs Oben: Zugang zu Wohntürmen Fotos: Sarah Moser, 2019

117


Element Balkone Selbst durch günstiges Bauen war es Grandval unmöglich, die Größe der normierten Wohnungen zu erhöhen. Um diesen Mangel auszugleichen entwirft er großzügige Außenbereiche, die den Gebäuden ihre Identität geben: blütenblattförmige auskragende Balkone mit langem Schaft. Diese fast acht Quadratmeter großen Elemente sind immer in der Achse einer Wand, welche zwei Zimmer voneinander trennt, gesetzt. Sie schützen vor Einblicken in die Wohnung, geben Privatsphäre und ermöglichen gleichzeitig den Blick nach draußen. Jede Wohnung hat einen Zugang zu mindestens zwei dieser Balkone. Insgesamt sind 1.350 Balkone gefertigt worden, was mit Hilfe von Vorfabrikation realisiert werden konnte. Die Balkone sind das ausschlaggebende Element für den Ausdruck der Gebäude. Je nach Blickwinkel wird ein anderes Bild erzeugt. Beispielsweise hebt der Blick von unten ausschließlich die Balkone hervor, sodass die eigentliche Fassade zurücktritt, und die Balkonelemente scheinen zur Fassade zu werden. Die ursprüngliche, jedoch nicht umgesetzte Idee des Architekten war eine komplette Begrünung der Fassade. Gepflanzte Weinreben am Fuße des Gebäudes sollten an den Balkonen hochranken und das Ensemble zu einem vertikalen Garten aus Gebäuden machen. Grandvals Intention war eine Verbindung von Mineralisch mit Pflanzlich und eine Gebäudehaut, welche durch die Pflanzen von Jahreszeit zu Jahreszeit und über Generationen hinweg ihre Art der Bepflanzung und ihre Farben verändern würden.253 Komposition der Parklandschaft „II est temps de rompre avec une architecture très minerale, très brutale dans ses volumes. II faut creer des formes plus souples, plus végétales. Des villes plus feminines, plus accueillantes. Et quand le paysage n‘existe pas, il est indispensable de l‘inventer.”254 Mit der Bestrebung, stärker bepflanzte, weichere und einladendere Stadträume zu schaffen, bettet Grandval die einzelnen Elemente des Ensembles in ein künstliches Landschaftsrelief ein. Die Gebäude sind frei angeordnet und folgen keinem stringenten Raster. Allein die Form von drei Wohntürmen mit zentraler Garage wiederholt sich, jedoch sind diese Formen zueinander gedreht, sodass beim Durchlaufen des Gebietes keine Wiederholung spürbar wird. Die Hügel des Landschaftsreliefs kehren das Ensemble nach innen und dienen als Lärm- und visueller Schutz von den umgebenden Straßen. Böschungen verbergen die Garagen der Autos, welche tiefer liegen und deswegen aus dem Blickfeld verschwinden. Viele organisch verlaufende Fußgängerwege führen zu, um und zwischen den Gebäuden hindurch und laden auf spielerischer Weise zum „Entdecken“ des Ensembles ein. Die Landschaft um die Gebäude gestaltet sich wie ein Park, der zwischen den Gebäuden hindurchfließt. Seine Bäume verdecken immer

253 vgl. „2020 Vision: An Interview with Gérard Grandval“. 254 vgl. Saint-Pierre, „Gérard Grandval Les Choux de Créteil“.

118


wieder Teile der Gebäude und lassen auch die Umgebung des Ensembles verschwinden. Befindet man sich im Innern des Komplexes, wird die Umgebung von den Choux de Créteil nicht mehr wahrgenommen, einzig die nahegelegenen Wohntürme des Ensembles schauen zwischen und hinter Bäumen hervor. Durch eine homogene Gestaltung der Landschaft und der Gebäude sowie die Andersartigkeit und dadurch Abgrenzung zur Umgebung wird das Ensemble zu einem eigenen Quartier und kreiert seinen eigenen Kontext.

Lageplan aus radialen Strukturen Gérard Grandval

119


Position Gérard Grandval „J‘ai toujours été persuadé que les gens souffrent d‘habiter des bâtiments sans visage, des grands ensembles qui ne racontent rien”255 Wie Grandval sich äußert, ist es sein bestimmtes Ziel, seinen Gebäuden ein Gesicht zu geben. Er strebt gegen anonyme Wohngebäude und arbeitet deshalb daran, Eigenarten hervorzubringen, welche ein einprägsames Bild erzeugen. Ein solches einfach erinnerbares Bild kann bei den Bewohnern die Identifikation mit dem Ort und die Zugehörigkeit zu ihm stärken. Die Neuartigkeit des Ensembles und dessen Einprägsamkeit seiner Bauten wurde im Film über die Jahre immer wieder aufgegriffen. Neben einer Vielzahl von Videodrehs im Bereich der Musik wurden Filme wie La Ville bidon von Jaques Baratier 1976 in Les Choux de Créteil gedreht. Grandval sieht eine symbolische Bedeutung in diesen bleibenden Ereignissen sowie die kontinuierliche Verbindung, die zu diesen Gebäuden besteht.256 „J‘enrageais devant l‘utilitarisme consternant des villes aux immeubles alignés comme dans des camps militaires, qui se construisaient encore alors que Ia guerre était terminée depuis plus de vingt ans.”257 Grandval positioniert sich zu der Entstehungszeit der Choux de Créteil gegen eine stringente Architektur von aneinandergereihten Wohnblöcken. Mit diesem Bild, welches die Grands Ensembles der ersten Generation bestimmte, soll bewusst gebrochen werden. Als Reaktion auf die Gebäude und Ensembles, die im Sinne der Charta von Athen entstanden sind, sucht Grandval eine Alternative für die bisherigen Grands Ensembles. Er bezeichnet sich als „anti-Le Corbusier“ und spricht sich für eine zu ihm gegensätzliche Architektur aus: „La fleur, c’est l’anti-cube”. Dabei war es seine Absicht mit einer lyrischen Architektur über den funktionellen Aspekt hinauszugehen, die Architektur als Sprache zu nutzen, welche ein Element der Aufwertung und Kommunikation für die Stadt ist und den Bewohnern die Möglichkeit zu bietet, den Ort zu ihrem eigenen zu machen.258

255 Saint-Pierre. 256 vgl. Saint-Pierre. 257 Saint-Pierre. 258 vgl. Saint-Pierre.

120


Je zwei vorgefertigte Balkonelemente pro Wohneinheit Foto: Sarah Moser, 2019

121


Les Arènes de Picasso Fakten Architekt: Manuel Núñez Yanowsky Bauzeit: 1980-1984 Bestandteile: achteckiges Sockelgebäude, 2 Gebäudescheiben, Geschäfte, Schulen Wohneinheiten: 540 Wohneinheiten, ausschließlich Sozialwohnungen Bauherr: Foyer du Fonctionnaire et de la Famille FFF, heute Immobilière 3F Gesamtfläche: ca. 5,6 Hektar Entstehungsgeschichte Les Arènes de Picasso entstand in einer Zeit, in der die Politik einen großmaßstäblichen Sozialwohnungsbau förderte. Ein Ensemble mit hoher Dichte, Wiedererkennbarkeit und repräsentativer Wirkung für die Stadt sollte entstehen. Das Ensemble findet sich in Noisy-le-Grand, einer Gemeinde, die zur Ville nouvelle Marne-La-Vallée gehört. Kurz vor dem Baubeginn für das Ensemble wurde auch der Bau des nahe gelegenen Projekts Les Espaces d’Abraxas von Ricardo Bofill Taller de Arquitectura in Noisy-le-Grand begonnen. Les Arènes de Picasso ist somit das zweite Projekt, das die Ville nouvelle charakterisieren soll. Manuel Núñez Yanowsky war selbst einer der Partner in Ricardo Bofills Taller d’Arquitectura von 1962-1987.259 Es lassen sich deswegen Ähnlichkeiten im Entwurf wie Komposition oder Fassadengestaltung erkennen. Der Titel Les Arènes de Picasso war vorbestimmt und nicht von Núñez Yanowsky selbst gewählt. Man erhält trotzdem den Eindruck, als ob er für sich die Substanz Picassos Gemälde durch das Zelebrieren von Formen transformiert hat.260 Komposition des Ensembles Les Arènes de Picasso besteht aus einer Gebäudekomposition um einen achteckigen Platz herum. Zwei 17-stöckige Gebäudescheiben in West-OstRichtung markieren die Längsachse des Ensembles. Diese zwei prägnantesten Elemente des Ensembles erhielten im Laufe der Zeit Namen wie Camemberts oder wurden als Sonnen bezeichnet. Durch die Form und Position der Scheiben im Westen und Osten ist die Allegorie des Sonnenauf- und Sonnenuntergangs naheliegend. Die Querachse wird im Norden durch ein weiteres höheres Gebäude mit neun Stockwerken markiert, im Süden durch niedrigere zweistöckige mit zylinderförmigen Gebäudeteilen versehenen Bauten akzentuiert. Zwischen den Gebäuden in den vier Himmelsrichtungen schließen siebenstöckige Gebäude das Oktagon. Der Platz lässt durch seine vier Öffnungen, welche zu den vier Himmelsrichtungen zeigen und durch hohe oder 259 vgl. Jodidio, „Works of Manolo Nuñez-Yanowkry“, 117. 260 vgl. Meade, „Breaking out of the mould“, 33.

122


niedrige Gebäudeteile markiert sind, gezielte Blicke in die umgebende Stadt zu. Durch die über mehrere Stockwerke reichenden Öffnungen kann gut einund ausgeblickt werden, und das Ein- und Austreten wird deutlich betont. Im Innern des Ensembles, sprich auf dem zentralen achteckigen Platz, wird die Umgebung der Anlage ausgeblendet. Die Gebäude schirmen die Umgebung komplett ab, nur das eigene Ensemble ist sichtbar. Eine neue andere Welt wird betreten, und eine klare Abgrenzung zwischen Drinnen und Draußen gezogen. Dieser von Gebäuden eingefasste Platz bekommt als gemeinschaftliches Zentrum, als kommunaler Treffpunkt eine essentielle Bedeutung für das Ensemble. Durch seine Komposition im Verhältnis zu den Gebäuden bricht er mit dem oft ungenutzten öffentlichen Raum der Grands Ensembles der ersten Generation, welche unter den Gestaltungsregeln der Charta von Athen entworfen wurden. Das öffentliche Leben auf dem Platz von Les Arènes de Picasso wird regelrecht inszeniert. Jegliches Geschehen kann von den vielen, dem Platz zugewandten Wohnungen von ihren Fenstern, Loggien und Balkonen aus beobachtet werden. Es gibt aber auch Wohneinheiten, die auf der rückwärtigen Seite der Gebäude positioniert sind und nicht auf den Platz zeigen. Sie erleben diese starke Inszenierung und Theatralisierung des Geschehens nicht. Meist wird die Erschließung dieser Wohnungen trotzdem über den zentralen Platz erreicht, es fehlt jedoch das Erlebnis der Wahrnehmung des Platzes aus der Wohnung heraus. Die starke Zentrumsbildung und Ausrichtung nach innen wird durch Gebäude zu beiden Seiten des Weges, welcher von Westen sowie von Osten auf die Scheiben und Eingangstore zuführt, verstärkt. Durch ihre gleiche Gestaltung der Gebäude sowie ihre Höhe im Vergleich zur Breite des Weges wird eine Sogwirkung erzeugt, die auf die Tore zuführt und in den Platz leitet. Diese Szenografie baut eine Spannung auf, welche beim Betreten des Platzes entladen wird, und intensiviert das Erlebnis durch den Kontrast der Enge der auf das Tor zuführenden Straße und die enorme Weite, die sich auf dem Platz auftut. Den Platz in seiner Form umlaufend führt eine Promenade aus Strebebögen. Diese ist durch ein paar Stufen höher gesetzt und erlaubt es, den zentralen Platz besser zu überschauen. Das gesamte Ensemble verwendet diverse städtische Elemente, wie der zentrale Platz, die Sichtachsen West-Ost und Nord-Süd, Wege, die den Platz einfassende Arkade oder die großen Eingangstore. Diese Elemente werden durch eine starke Symmetrie, sowohl in der Querachse Nord-Süd und noch stärker in der Längsachse West-Ost, hervorgehoben. Die Symmetrie zeigt sich einerseits in der Ensemblekomposition und Anordnung der Elemente wie auch in den Fassadengestaltungen. Neben den Sozialwohnungen finden sich im Ensemble Einrichtungen des Einzelhandels und der Bildung wieder. Trotz der Mischungsnutzung gibt es Flächen im Erdgeschoss, die zum Wohnen dienen. Die geneigte gewölbte Form der Arkade soll mehr Licht in die Wohnungen leiten, die Balkone sind verkleidet, um Einsichten zu verhindern und Abstand zum öffentlichen Raum zu schaffen. 123


Zwei große Gebäudescheiben markieren die zentrale Achse durch das Ensemble Foto: Laurent Kronental

Um den zentralen achteckigen Platz legt sich eine Arkade Foto: Sarah Moser, 2019

124


125


Links: Lineare symmetrische Bauten entlang der Hauptachse unterstützen die Dramaturgie des Eintretens auf den Platz Rechts: Vorfabrizierte Fassadenelemente erzeugen ein komplexes Formenspiel Fotos: Sarah Moser, 2019

126


127


Vorfabrikation der Fassade Der Bau von Les Arènes de Picasso ist maßgeblich von neuen technologischen Mitteln beeinflusst. Alle Fassaden des Projekts sind komplett vorfabriziert. Die Vorfertigung der einzelnen Teile erlaubt eine schnelle Montage auf der Baustelle. Der Prozess scheint sehr industriell, jedoch ist er zur Zeit des Baus von Les Arènes de Picasso noch nicht komplett automatisiert. Abgesehen von einigen Arbeitsschritten, wie Mischen von Bestandteilen, Rütteln und Heben von Teilen, überwiegen manuelle Tätigkeiten. Arbeitsschritte, wie Modifikation der Formen, Gießen des Betons, Ausschalen, Oberflächenbearbeitung werden von Handwerkern übernommen. Die ästhetische Qualität eines Panels hängt entscheidend vom Know-how und der Geschicklichkeit der Handwerker ab. Die Farbigkeit der Paneele wird durch Einfärben des Betons, welcher aus einer Mischung aus lokalen Steinen, Sand und weißem Zement besteht, mit Hilfe von Oxiden und seine Oberflächenstruktur durch

Zeichnung einiger prägnanter vorfabrizierter Betonelemente der Fassade Amouroux, Architecture Interieure Cree 195, La préfabrication comme art, 1983

128


Waschen und Bürsten mit Wasser sowie Sandstrahlen erreicht.261 Anhand geschnitzter Positive aus Holz werden Polyesterformen hergestellt, ab 100 Abdrücken werden Stahlformen verwendet. Für das Ensemble gibt es 49 Serien von Gussformen, welche in 250 Variationen davon hergestellt werden und insgesamt ca. 5.000 Güsse mit rund 8.600 Tonnen Beton. Hinter die Fassadenpaneele werden standardisierte Flügelfenster gesetzt. Um das Paneelraster der Fassaden zu überdecken, setzte Núñez Yanowsky ein reiches Fassadenrelief ein, welches eine hohe Komplexität aufweist, die das Raster erst bei genauerem Hinsehen erkennen lässt. Die vorfabrizierten Paneele tragen nur sich selbst und steifen die Wände der Gebäude aus, welche in einer standardisierten Struktur aus Schottenbauweise vor Ort gegossen wurden. Nur in bestimmten Bereichen, wie den in der Längsachse, zu den Scheiben hinführenden Gebäudeflügeln, handelt es sich um tragende Paneele. Trotz des Aufwands der Gestaltung der Fassade liegen die Kosten des Ensembles bei nur vier bis sieben Prozent über dem Budget, was als angemessene Spanne im sozialen Wohnungsbau gesehen wird. Núñez Yanowsky sieht das Projekt als Prototyp für die Entwicklung von vorfabrizierten Gebäuden mit einem System aus verschiedenen Einzelteilen, die eine große Freiheit der Gestaltung erlauben. 262 Verbindung mit französischer Architekturgeschichte „The Place Picasso, then, is a blend of architectural history from the flying buttress to Ledoux set in a context of science fiction.”263 Núñez Yanowsky wendet ein reiches Spiel von Referenzen, stilistische und konstruktive Zitate im Ensemble an. Es häufen sich vielfältige Formen, die französische Architekturthemen aufgreifen und das Ensemble an seinem Ort verankern. Er erkundete Paris und seine Architektur und ließ sich zur Schaffung verschiedener Formen inspirieren. Der gefärbte Beton mit seiner sandgestrahlten Oberfläche verleiht eine Farbigkeit und Haptik, wie sie für Pariser Wohngebäude typisch sind.264 Die den Platz umlaufende Arkade, als bezeichnendes Motiv Pariser Platzgestaltung, besteht aus gotisch anmutenden Strebebögen, wie man sie bei der Kathedrale Notre-Dame de Paris vorfindet. Rosenfenster solcher gotischen Kathedralen, insbesondere der Île-de-France Region, werden in der Gestaltung und Fensterkomposition der beiden Wohnscheiben aufgegriffen. Diese entstanden auch durch eine Orientierung an sphärischen Geometrien wie die von Étienne-Louis Boullée und Claude-Nicolas Ledoux. Die starken Symmetrien und die Komposition des Ensembles rufen eindeutige Ähnlichkeiten zu Architekturen, wie sie im 19. Jahrhundert in der École des Beaux-Arts in Paris entstanden sind, hervor. Die Beaux-Arts-Architektur kennzeichnet sich beispielsweise durch an Achsen symmetrisch gruppierten

261 vgl. Bédarida, „L’honneur retrouvé de la préfabrication“, 82 ff. 262 vgl. Bédarida, 32 ff. 263 Jodidio, „Works of Manolo Nuñez-Yanowkry“, 120. 264 vgl. „Buildable Design“, 15.

129


Volumen, durch Wiederholung und Regelmäßigkeit, durch zentrale Räume an Schnittpunkten von Achsen oder durch Räume, die nach ihrer Wirkung beim Durchschreiten entworfen wurden. Solche Entwurfsansätze ziehen sich ausdrücklich durch Les Arènes de Picasso. Eine Ähnlichkeit im Grundriss kann bei der École des Beaux-Arts entstandenen Entwürfen mit dem Ensemble von Núñez Yanowsky festgestellt werden.

Vergleich Grundriss Les Arènes de Picasso (unten) mit Beaux-Arts Grundriss von Alphonse de Gisors, Hotel des douanes et de l‘octroi, 1823 Drexler, The Architecture of the Ècole des beaux-arts,1977

130


Tonnenform Eines der prägnantesten Elemente des Ensembles sind die zwei großen Scheiben, welche die Platzeingänge nach Westen und Osten markieren und die sozialen Wohnungen aufnehmen. Die Tonne als Form in der Architektur ist bekannt aus Beispielen wie der AEG Turbinenfabrik von Peter Behrens (1910) oder dem zentralen Bogengang des Crystal Palace von Joseph Paxton (1851), jedoch scheint die Idee der bewohnten Tonne neu.265 Ein weiteres Gebäude mit prägnanter Tonnenform ist die Nationalbibliothek in Paris (Bibliothèque Nationale) von Étienne-Louis Boullée, deren Innenraum eine Tonne darstellt, welche menschliche Erkenntnis verherrlichen soll. Es geht bei ihm um eine spezifische Gestaltabsicht, und zwar die der Überhöhung einer Bedeutung und Verkörperung von Idealen. Die französischen Architekten der Revolutionsarchitektur sahen in Formen wie dem Kreis, der Kugel und dem Zylinder primär geometrische Körper, welche als „Tochter der Astronomie“ gesehen wurden. Mit diesen Formen wurden „kosmische Motive“ assoziiert und die Form wurde Ausdruck von Idealen. Núñez Yanowsky füllt die bekannte Tonnenform mit neuem Inhalt, dem des sozialen Wohnens. Hier stößt er an die Grenzen dieser Form, denn eine Tonne ist schwer in ihrer Längsachse teilbar. Nur die Tonne als ein Raum, beziehungsweise eine Teilung in der Querachse in kleinere Scheiben, behält den Eindruck und die Wirkung der Form.266 Durch die enorme Dimension der Scheibe werden die einzelnen Wohneinheiten von Les Arènes de Picasso zu einem so kleinen Bestandteil des Ganzen, sodass die Wohnungen nicht mehr die äußere Form spüren und von dieser profitieren können. Position Manuel Núñez Yanowsky Núñez Yanowsky, welcher eine Theaterschule besuchte und keine klassische Architekturausbildung durchlief, sieht sein Architekturschaffen als Weiterführung seiner Theaterkarriere. Er selbst bezeichnet sich als „stage producer“267 und zeigt in seinen Entwürfen eine szenografische Herangehensweise. Sein Interesse und die Arbeit im Theater wird in Les Arènes de Picasso sichtbar. Eine räumliche Szenografie zeigt sich beispielsweise in der Dramatisierung der Perspektiven, dem Lenken der Wege auf der Zentralachse oder dem Beobachten des zentralen Platzes. Der Entwurf des Ensembles hebt Núñez Yanowsky von anderen französischen Großwohnstrukturen, die in den vorhergegangenen Jahrzehnten entstanden sind, ab. Er bemängelt die Architektur der Moderne, weil sie zweckgebunden und praktisch, beziehungsweise erdgebunden und prosaisch sei. Für ihn ist das Ziel eine kosmische Architektur zu schaffen, wie er sie beispielsweise bei Boulées Kenotaphen für Isaac Newton identifiziert. Wie dieser einen Nachthimmel konstruierte, so entwarf Núñez Yanowsky eine 265 vgl. Jodidio, „Works of Manolo Nuñez-Yanowkry“, 119. 266 vgl. Gert, „TonnenWeise“, 314 f. 267 „Manuel Núñez Yanowsky“.

131


aufgehende Sonne im Osten und eine untergehende Sonne im Westen. Núñez Yanowsky hegt eine Faszination für hoch technologische Fortbewegungsmittel wie Spaceshuttles, Raketen, Satelliten und Raumstationen und bedauert es, dass diese von Ingenieuren und nicht von Architekten entworfen werden.268 Der Architekturtheoretiker Charles Jencks erkennt die Faszination für eine technologische Ästhetik und bezeichnet das Ensemble als eine Kreuzung aus Piranesi und einer Computerkonsole.269 Beide gegensätzlich wirkende Tendenzen geben Aufschluss über Núñez Yanowskys Inspirationsquellen. Die Zeichnungen und Drucke von Piranesi aus dem 18. Jahrhundert trugen viel dazu bei, Laien und Architekten mit den Ruinen des kaiserlichen Roms vertraut zu machen. Hier gab es ein neues Konzept von Monumentalität, welches in einer Vergangenheit verankert war, die so weit entfernt war, dass sie für einen Unwissenden praktisch unverständlich war. Wie Piranesis engmaschige Gefängnisszenen lassen sich auch die römischen Ruinen am besten im Sinne der Macht verstehen, die durch die bestimmte Darstellung des architektonischen Raums hervorkommt. Piranesis Grafiken übten Einfluss auf die französischen Architekten der Aufklärung aus: Die Herrlichkeit Roms konnte, so zeigen Piranesis Grafiken von römischen Ruinen, in Stein symbolisiert werden. Les Arènes de Picasso zeigt eine Verwandtschaft mit dem Entwurf für die Saline in Chaux von Claude-Nicolas Ledoux, einer der ersten idealen Städte des Industriezeitalters. In der Ledoux‘schen Stadt sollte das Haus des Direktors (Maison des Directeurs de la Loue) stehen, dessen runde Form eine frappierende Ähnlichkeit mit den Scheiben von Les Arènes de Picasso aufweist. Die Referenz von Chaux als Stadt für arme Arbeiter scheint zuerst angemessen für ein Sozialwohnungsprojekt, jedoch verwendet Núñez Yanowskys das Bild des Direktorenhauses und projiziert es auf die Sozialwohnungen von Les Arènes de Picasso.270 Dieses bewusste Spiel mit einem Bild von Macht, welches er für einen reinen Sozialwohnungsbau einsetzt, zeigt seine Haltung und die soziale Geste der Überhöhung des sozialen Wohnens: „Pour moi la monuméntalité, c‘est exalter la vie des gens.“271 Referenz Er sieht unterschiedliche Arten von Monumentalität: „the kind that crushes you, and the kind that elates.”272 Für das Ensemble wählt er eine Monumentalität, welche beschwingend und erhebend wirkt und die es schafft, seine Bewohner zu verherrlichen.

268 vgl. Jodidio, „Works of Manolo Nuñez-Yanowkry“, 119. 269 vgl. Meade, „Breaking out of the mould“, 34. 270 vgl. Jodidio, „Works of Manolo Nuñez-Yanowkry“, 119 f. 271 Martel und Moudot, Les Arènes de Picasso 1985 Réalisation. 272 Jodidio, „Works of Manolo Nuñez-Yanowkry“, 119.

132


Achteckiger zentraler Platz, eingerahmt von den Gebäuden des Ensembles; die Platzgestaltung wechselte über die Jahr Foto: Sarah Moser, 2019

133


Zeichnerische Analyse

134


Inszenierung in der Stadt Die betrachteten Grands Ensembles zeichnen sich durch eine Veränderung in der Stadtstruktur aus. Lagepläne der Ensembles in ihrer städtischen Umgebung zeigen, in welchem Maßstab sie agieren. Durch ihre Größe können sie die Ausmaße eines Stadtquartiers erreichen. Die Ensembles sind teilweise stärker in ihren Kontext integriert, orientieren sich an ihm oder grenzen sich völlig ab. Sie verfolgen eine neue Logik und schaffen dadurch ihren eigenen Kontext. Es wird deutlich, ob ein Ensemble wie ein Gewebe horizontal über große Flächen gezogen ist oder ob ein kleiner Footprint entsteht und Einzelgebäude punktuell positioniert sind. Die Ensembles können an ihre Umgebung direkt angrenzen oder als freistehendes Ensemble Abstand suchen. Sichtbar werden unterschiedliche Gruppenformen, die nach diversen Logiken aufgebaut sind, wie eine Komposition orientiert an Symmetrieachsen, oder nach sehr freien Anordnungen. Die schematische Darstellung der Ensemble-Silhouetten zeigt die Größenveränderung in der Höhe sowie die Einfügung in das Höhenprofil der Umgebung. Durch starkes Überragen der umgebenden Bebauung kann eine Sichtbarkeit von weitem erzeugt werden, so dass das Ensemble zu einem Referenz- und Orientierungspunkt wird. Mittel wie das Herausstechen durch Höhe, das Panorama eines Ensembles durch Abstand zu dem freistehenden Ensemble oder die Position in Straßenachsen können eine stadtbildprägende Wirkung erzeugen.

135


Verortung Fallbeispiele 2 km

3

4

136


1 Les Orgues de Flandre 2 Les Espaces d‘Abraxas 3 Les Tours Aillaud 4 Les Arcades du Lac, Le Viaduc 5 Les Étoiles d‘Ivry-sur-Seine 6 Les Choux de Créteil 7 Les Arènes de Picasso

1

2 7 5 6

137


Les Orgues de Flandre 100 m

GSEducationalVersion

138


Les Espaces d‘Abraxas 100 m

GSEducationalVersion

139


Les Tours Aillaud 100 m

ionalVersion

140


Les Arcades du Lac, Le Viaduc 100 m

GSEducationalVersion

141


Les Étoiles d‘Ivry-sur-Seine 100 m

GSEducationalVersion

142


Les Choux de Créteil 100 m

GSEducationalVersion

143


Les Arènes de Picasso 100 m

GSEducationalVersion

144



Höhenentwicklung Ensemble im Vergleich zur Umgebung

Durchschnittshöhe Umgebungsbebauung

Les Orgues de Flandre

GSEducationalVersion

Les Espaces d‘Abraxas

Les Tours Aillaud

146


Les Arcades du Lac, Le Viaduc

Danielle Casanova als Beispiel für Les Étoiles d‘Yvry-sur-Seine

Les Choux de Créteil

Les Arènes de Picasso

147


Städtische Elemente Wie die Ensembles in ihrer Dimension an Stadtquartieren und deren Logik orientiert sind, so zeichnen sich auch deren Elemente in den Fallbeispielen ab. Die Ensembles sind sehr dichte Strukturen, aber Dichte allein bringt kein urbanes Leben hervor. Städtische Elemente wie Platz, Straße / Weg, Grenzlinie, Portal, Grünfläche, Park, Passage oder Brücke finden Anwendung. Sie sind von äußerster Relevanz, um ein urbanes Gebiet erzeugen zu können. Elemente wie die Straße als urbane Passage oder der Platz als gemeinschaftlicher Lebensraum sind essentiell für städtisches Leben. Anhand des Elementes der Wege wird beispielhaft deren Logik in Wegeschemen betrachtet. Die Lagepläne zeigen die Logik der Gebiete und die Integration der städtischen Elemente in die Gesamtkomposition. Es zeigt sich mit welchen Bestandteilen diese aufgebaut ist, ob mithilfe von Freiformen, symmetrischen Formen, offene oder geschlossene Formen. Erkenntlich wird das Verhältnis der einzelnen Gebäude zueinander, des Zwischenraums, der sich durch sie ausbildet, beziehungsweise der Raum, der sie umgibt und die städtischen Elemente definiert. Die Außenräume bewegen sich in einem Bereich von öffentlich bis privat. Manche Ensembles zeigen ausschließlich diesen Kontrast, andere arbeiten mit einer feinen Staffelung von gemeinschaftlichen zu privaten Räumen, die mit Hilfe von städtischen Elementen ausgebildet sind.

148


Les Orgues de Flandre 100 m

GSEducationalVersion

149


Les Espaces d‘Abraxas 100 m

150


Les Tours Aillaud 100 m

151


Les Arcades du Lac, Le Viaduc 100 m

GSEducationalVersion

152


Les Étoiles d‘Ivry-sur-Seine 100 m

1 Danielle Casanova 2 Cité du Parc 3 Jeanne Hachette 4 Jean-Baptiste-Clément 5 Le Liégat 6 Voltaire 7 Marat

2

5

1

6

3

4

7

153 GSEducationalVersion


Les Choux de Créteil 100 m

154


Les Arènes de Picasso 100 m

155 GSEducationalVersion


Wegeorganisation Autostraßen Fußgängerwege

Les Orgues de Flandre

Les Espaces d‘Abraxas

156


Les Tours Aillaud

Les Arcades du Lac, Le Viaduc

157


Les Choux de Créteil

Les Arènes de Picasso

158


Les Étoiles d‘Ivry-sur-Seine

159


Individualität und Vielfalt Die Kategorie der Vielfalt ist in mehreren Aspekten von Bedeutung. Die Vielfalt an Funktionen spielt eine wichtige Rolle für die Bewohner*innen des Ensembles und bringt ihnen und auch der städtischen Öffentlichkeit einen großen Mehrwert. Sie ist wichtig, um das Ensemble mit der Stadt zu verknüpfen und es zusätzlich zu beleben. Die Vielfalt der Nutzungsmischung wird in einem Schema betrachtet. Mit Hilfe von weiteren Schemen der Wohnungserschließung in den Ensembles wird die individuelle Adressbildung untersucht. Eine solche Kleinteiligkeit ist in diesen dichten Wohnstrukturen von hoher Wohnungsanzahl bedeutsam. Die Steuerungsmöglichkeiten für eine soziale Vielfalt bei der Planung eines Wohngebietes sind eher indirekt. Sie ergeben sich in der Diversifikation des Wohnraumangebotes von Faktoren wie Größe, Preis oder Qualität. Eine räumliche Vielfalt kann durch unterschiedliche Gebäudetypen wie Punkthochhaus, Zeilenbauten oder Teppichbebauung mit gleichen Grundrissen oder durch unterschiedliche Grundrisse in selbiger Gebäudeform realisiert werden. Manche der Ensembles kombinieren diese Vorgehensweisen und zeigen sich mit einer Bandbreite an Wohnungstypologien. Für jedes Ensemble wird eine repräsentative Wohnung jeder Wohnungsgröße gezeigt, um den Umfang der Vielfalt und deren Individualität an Wohnungsgrundrissen zu erfassen. Es lässt sich erkennen, ob Spezifik der Ensembles in den Wohneinheiten sichtbar ist oder ob die Grundrisse der Außengestaltung des Ensembles nachstehen.

160


Nutzungsmischung Wohnen Einzelhandel Büro/Atelier Öffentliche Einrichtungen (Schulen, Gemeinschaftsräume, Sport etc.) Parken

Les Orgues de Flandre EG

Les Espaces d‘Abraxas EG

161


Les Tours Aillaud EG

GSEducationalVersion

Les Arcades du Lac, Le Viaduc EG

162


Les Étoiles d‘Ivry-sur-Seine EG + weitere Etagen Danielle Casanova

163


Les Choux de Créteil

Les Arènes de Picasso

164


Erschließungsstruktur

Les Orgues de Flandre Erschließung Regelgeschoss Wohntürme

Les Espaces d‘Abraxas Le Théâtre Erschließung Regelgeschoss

Les Espaces d‘Abraxas Le Palacio Erschließung Beispielgeschoss 14.+ 17. Etage

165


Les Tours Aillaud Erschließung Regelgeschoss Wohntürme

Les Arcades du Lac Erschließung Regelgeschoss Wohnblöcke

alVersion

Le Viaduc Erschließung Regelgeschoss

166


Les Étoiles d‘Ivry-sur-Seine Danielle Casanova Erschließung Beispielgeschoss 3. Etage

Les Choux de Créteil Erschließung Regelgeschoss

Les Arènes de Picasso Erschließung Wohnscheiben Beispielgeschoss 8. Etage

167


Grundrissvariation Beispiel Les Orgues de Flandre + Les Tours Aillaud 10 m

Verkleinerung Geschossfläche mit steigender Etage

2

3

2

3

3

3

4

4

4

4

4

Beispielgeschoss obere Etagen

Beispielgeschoss untere Etagen

4

GSEducationalVersion

GSEducationalVersion

168


Verschiebung weniger Innenwände bei gleichbleibender Geschossfläche

4

Obere Etagen

2

2

3

4

Untere Etagen

3

3

1

3

5

GSEducationalVersion

GSEducationalVersion

169


Les Orgues de Flandre 5m Verschiedene Ausrichtungen

2 Zimmer ca. 64 m2 + Terrasse 3 m2 Obere Etagen

3 Zimmer ca. 82 m2 + Terrasse 3 m2 Obere Etagen

170


4 Zimmer ca. 97 m2 + Terrasse 3 m2 Untere Etagen

171


Les Espaces d‘Abraxas - Le Palacio 5m

1 Zimmer ca. 56 m2 EG + Mezzanin

2 Zimmer ca. 61 m2 1. Etage

172


3 Zimmer ca. 76 m2 14. Etage

3 Zimmer ca. 81 m2 + Balkon 4 m2 7.+ 8. Etage

14e

173


4 Zimmer ca. 81 m2 + Balkon 4 m2 6. Etage

174


Les Espaces d‘Abraxas - Le Théâtre 5m

3 Zimmer ca. 70 m2 EG

4 Zimmer ca. 98 m2 1.- 5. Etage

175


5 Zimmer ca. 120 m2 1.- 5. Etage

6 Zimmer ca. 142 m2 7.- 8. Etage

176


Les Tours Aillaud 5m Verschiedene Ausrichtungen

1 Zimmer ca. 43 m2 1.- 12. Etage

2 Zimmer ca. 56 m2 14.- 25. + 27.- 38. Etage

177


2 Zimmer ca. 60 m2 14.- 25.+ 27.- 38. Etage

3 Zimmer ca. 77 m2 1.- 12. Etage

178


3 Zimmer ca. 85 m2 Alle Wohnetagen

4 Zimmer ca. 94 m2 14.- 25. + 27.- 38. Etage

179


4 Zimmer ca. 96 m2 14.- 25.+ 27.- 38. Etage

5 Zimmer ca. 109 m2 1.- 12. Etage

180


Le Viaduc 5m

1 Zimmer ca. 27 m2 + Balkon 2 m2 EG

2 Zimmer ca. 40 m2 + Balkon 2 m2 EG

181


3 Zimmer ca. 75 m2 + Terrassen 22 m2 4. Etage

4 Zimmer ca. 93 m2 + Balkone 4 m2 1.- 3. Etage

182


5 Zimmer ca. 107 m2 + Terrassen 22 m2 4. Etage

183


Les Arcades du Lac 5m

2 Zimmer ca. 62 m2 + Balkon 1 m2 1. Etage

3 Zimmer ca. 64 m2 + Loggia 3 m2 1. Etage

184


4 Zimmer ca. 87 m2 + Loggien 4 m2 3. Etage

5 Zimmer ca. 100 m2 + Balkon 1 m2 1. Etage

185


Les Étoiles d‘Ivry-sur-Seine 5m

2 Zimmer ca. 56 m2 + Loggia 7 m2 3. Etage

3 Zimmer ca. 78 m2 + Terrassen 36 m2 5. Etage

GSEducationalVersion

186


4 Zimmer ca. 114 m2 + Terrassen 35 m2 5. Etage

5 Zimmer ca. 90 m2 + Terrassen 63 m2 4. Etage

187


Les Choux de Créteil 5m Verschiedene Ausrichtungen

3 Zimmer ca. 64 m2 + Balkone 24 m2 Alle Etagen

4 Zimmer ca. 77 m2 + Balkone 30 m2 Alle Etagen

188


Les Arènes de Picasso 5m

2 Zimmer ca. 49 m2 8.- 9. Etage

3 Zimmer ca. 83 m2 14. Etage

189


4 Zimmer ca. 90 m2 +Balkone 2 m2 EG - 1. Etage

5 Zimmer ca. 96 m2 +Balkone 2 m2 EG

190



Erinnerbares Bild Eine gewählte, für das jeweilige Ensemble repräsentative Fassade wird gezeigt. Sie zu studieren ist von großer Relevanz, denn die Fassadenansichten sind das Bild, das sich für den Betrachtenden in der Stadt ergibt und die Wirkung, die das Ensemble ausbildet. Die Fassaden haben Einfluss darauf, ob das Ensemble ein einfach erinnerbares Bild erzeugt, und sind maßgeblich an seiner Wiedererkennbarkeit und Einprägsamkeit beteiligt. Die Fassaden zeigen sich nicht nur den Fußgänger*innen, die am Ensemble vorbei oder durch es hindurch gehen, sondern auch den Bewohner*innen selbst. Durch die Größe und die Ausmaße der Ensembles blicken seine Bewohner aus ihren Wohnungen oft auf das Ensemble selbst. Sie sind somit sowohl in ihrer Wohnung als auch über den Blick aus dem Fenster mit dem Ensemble konfrontiert.

192


Les Orgues de Flandre 10 m

Fassade Ost / Avenue de Flandre

193


Les Espaces d‘Abraxas 10 m

Eckfassaden Le Palacio

194


Fassade Ost Le Palacio

195


Les Arcades du Lac, Le Viaduc 10 m

196


Fassade Süd Hauptachse Ost-West

197


Les Tours Aillaud 10 m

Beispielfassade Wohntürme

198


Les Étoiles d‘Ivry-sur-Seine 10 m

Fassade West / Avenue Danielle Casanova

199


Les Choux de Créteil 10 m

Beispielfassade Wohntürme

200


Les Arènes de Picasso 10 m

Fassade Ost Innen Wohnscheiben

201


Resumée

202


Wie sehr oft im Rahmen der Diskussion um die Pariser Grands Ensembles werden meist deren sozialen Schwierigkeiten und baulichen Probleme beleuchtet sowie ein darauf beschränktes einseitiges Bild präsentiert. In den Untersuchungen der Arbeit wurden diese Themen bewusst nicht beleuchtet, denn dabei handelt es sich um soziologische und politische Entwicklungen, die nicht mit der Architektur vermischt werden sollten. Die öffentlichen Diskurse zeigen, dass negative Entwicklungsprozesse vorschnell auf bestimmte bauliche Strukturen projiziert werden und die Architektur als Ursache herangenommen wird. Hingegen führte eine komplexe Mischung aus reiner sich verändernder Bewohnerstruktur über die Jahre durch die Gentrifizierung der Pariser Innenstadt sowie der politischen Förderungen des Eigenheimbaus und somit ein Auszug aus Großwohnstrukturen der Besserverdienenden und fehlenden Unterhaltungskosten zu vielfältigen Schwierigkeiten. Die Arbeit konzentriert sich auf die Architektur der Ensembles und betrachtet deren Qualitäten. Bis heute gibt die französische Gesetzgebung den Gemeinden vor, dass 20 Prozent des Wohnraums sozialer Wohnraum sein muss. Dies bedeutet, dass der Wohnraum – egal ob von öffentlichen oder privaten Einrichtungen verwaltet – für Menschen unterhalb einer bestimmten Einkommensgrenze gehalten werden muss. Beispielsweise liegt die Gemeinde Ivry-sur-Seine durch den Bau des Ensembles Les Étoiles d’Ivry-sur-Seine mit 38 Prozent deutlich über der Zielvorgabe. Von den Pariser Arrondissements erfüllen nur sechs von zwanzig die Vorgabe; die acht am schlechtesten abschneidenden Arrondissements erreichen nicht einmal zehn Prozent und bevorzugen es, die daraus resultierende Geldstrafe zu zahlen.273 Damals wie heute ist die Thematik um günstigen städtischen Wohnraum gleichbleibend aktuell. Die Architekt*innen der Fallbeispiele gingen die Aufgabe mit ähnlichen ideologischen Ansichten an. Mit ihren Konzepten strebten sie das Fortführen des großmaßstäblichen Wohnungsbaus an und realisierten einen Massenwohnungsbaus, ohne den Funktionalismus der auf die Grundsätze der Charta von Athen basierten Grands Ensembles der ersten Generation fortzuführen. Es zeigen sich Konzepte, die die Monofunktionalität der Ensembles zu überwinden und mit alternativen Formen die Monotonie zu bekämpfen versuchen. Auch wenn die Architekt*innen dies auf unterschiedlicher Weise umsetzten und Ergebnisse erzielten, die diversen Strömungen wie dem Strukturalismus, Brutalismus, Beaux-Arts Tradition oder der Postmoderne zu geordnet werden können, weisen sie in Einzelaspekten gemeinsame Aspekte auf. Die Fallbeispiele zeigen eine Bandbreite an positiv bewertbaren Strategien, um einen dichten und urbanen sozialen Wohnungsbau zu erzeugen. (Die vier im vorigen Kapitel gewählten Kategorien werden hier zur Einteilung beibehalten.)

273 vgl. Chabani und Edom, „Revisit: Les Étoiles d’lvry, Paris, France, by Jean Renaudie and Renée Gailhoustet“.

203


Inszenierung in der Stadt - Ensemble als Landmarke / Orientierungspunkt z.B. Weitsicht durch Abstandsflächen, um eine ganzheitliche Betrachtung zu ermöglichen z.B. Sichtbarkeit von weitem durch Höhe - Vordergrund-Hintergrund-Kontrast / Herausstechen z.B. durch Maßstabsveränderung in der Stadt, Andersartigkeit der Bausubstanz, Formen weichen von ihrer Umgebung ab (das Tonnendach, der Triumphbogen, der Halbkreis, die Wellenform) - Das Ensemble schafft seine eigene Umgebung / Gebiet mit einer anderen Logik z.B. Ausblenden der Stadt bei geschlossenen Gebäudekompositionen z.B. Maßstab eines Stadtquartiers bei weitläufigen Ensembles

Städtische Elemente - Erzeugung urbanen Lebens durch städtische Elemente z.B. Platz, Straße / Weg, Grenzlinie, Portal, Grünfläche, Park, Passage, Brücke, Raster, Silhouette etc. - Zusammenhang auf unterschiedlichen Maßstäben durch kohärente Elemente z.B. Giebel in Les Espaces d‘Abraxas als Fassadenelement oder freistehend, um Achsen zu markieren z.B. Wellenform bei Les Tours Aillaud in den Fassaden bzw. Form der Türme oder in der Bodengestaltung z.B. Les Orgues de Flandre: unterschiedliche Gebäude werden durch selbe Materialien zu einer Einheit - Staffelung Außenräume von privat zu gemeinschaftlich z.B. Les Arcades du Lac, Le Viaduc: private Balkone in den Obergeschossen, private Gärten im Erdgeschoss, dem Block zugehörige grüne Innenhöfe, Straßen und Plätze des Quartiers, öffentliche Uferpromenade und Grünflächen Richtung Stadt

Individualität und Vielfalt - Eindruck einer kleinteiligen Struktur hervorrufen / Reduktion der wahrgenommenen Dichte z.B. Flure bedienen nur wenige Wohneinheiten, direkter Zugang von außen zur Wohnung, nachbarschaftliche Höfe z.B.bei Vervielfältigung von identischen Gebäuden diese drehen, mit Höhen variieren - Vielfalt in den Wohnungsgrundrissen für Diversität in der Bewohnerschaft - Nutzungsmischung z.B. andere Nutzung in einzelnen Gebäuden des Ensembles 204


z.B. Nutzungsmischung im Gebäude durch öffentliche Erdgeschosszone z.B. Nutzungsmischung im Gebäude durch öffentliche Erdgeschosszone + weitere öffentliche Nutzungen in anderen Geschossen

Erzeugter Ausdruck - Einzigartigkeit / Wiedererkennbarkeit, um Referenzpunkt zu werden - Spezifik des Ensembles innerhalb der Wohnungen spürbar / sichtbar z.B. besondere Fensterformate und Wellenform der Fassade bei Les Tours Aillaud z.B. Diagonalen in Les Étoiles d‘Ivry-sur-Seine - Komplexität der äußeren Formen z.B. Fassadenausdruck mittels Vorfabrizierung z.B. keine Hauptansichtsseite / kein „Vorne“ z.B. sukzessive durch- und umlaufen um das Ensemble zu verstehen, Veränderung des Objekts und stetig neue Perspektiven „La forme d‘une ville change plus vite, hélas que le cœur d’un mortel“ 274, so äußerte sich Baudelaire 1861 über die rasanten Veränderungen in Paris im 19. Jahrhundert. In diesem Blickwinkel sind alle städtischen Entwicklungen zu beobachten, das heißt in ihrem zeitgeschichtlichen Entstehungskontext. Die Grands Ensembles der 1970er und1980er Jahre waren ein Phänomen ihrer Zeit, das durch gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Einflüsse hervorgebracht wurde. Sie zeigen auf eindrucksvoller Weise einen Massenwohnungsbau, der mehr kann als eine anonyme Aufreihung von Wohneinheiten. Als bemerkenswerte Experimente können sie die Idee des großmaßstäblichen Wohnungsbaus weitertragen und zu einem großen Denken im Sinne der Grands Ensembles anregen.

274 Lampugnani und Noell, Stadtformen. Die Architektur der Stadt. Zwischen Imagination und Konstruktion, 15.

205


Literaturverzeichnis

206


A

„2020 Vision: An Interview with Gérard Grandval“, o. J. https://www. greyscape.com/2020-vision-an-interview-with-gerard-grandval/. Aillaud, Emile. „E.P.A.D., tour B1 Nanterre Sud. La Défense, zone B“. L’ Architecture d’Aujourd’hui, Nr. 178 (1975). Alba, Dominique, Hrsg. „NPNRU Orgues de Flandre. Étude urbaine“, 2018 2017. André, Jean-Louis, und Ricardo Bofill. Espace d’une vie. Paris, 1989. Atelier png. „La cité des nuages“, o. J. Avermaete, Tom. „Komplizen einer modernen Gesellschaft. Architektur und Politik in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg“. Arch+, Nr. 203 (2011). Ayers, Andrew. „Les «étoiles» d’Ivry-sur-Seine“. L’Architecture d’Aujourd’hui, Nr. 407 (2015).

B

Bédarida, Marc. „L’honneur retrouvé de la préfabrication“. Monuments Historiques, Nr. 140 (1985). Bergdoll, Barry. „Subsidized Doric“. Progressive Architecture, 1982. Blanc, Jean-Noël, Mario Bonilla, und François Tomas. Les Grands Ensembles. Une histoire qui continue …. Saint-Étienne, 2003. Bofill, Ricardo. L’Architecture d’un Homme. Paris, 1978. ———. „Les Arcades du Lac“, 1983. Bofill, Ricardo, und Léon Krier. Ricardo Bofill and Léon Krier : architecture, urbanism, and history. New York: The Museum of Modern Art, 1985. Bofill, Ricardo, Christopher Pierce, und Thomas Weaver. „Ricardo Bofill in conversation with Christopher Pierce & Thomas Weaver“. AA Files, Nr. 69 (2014). Borden, Iain. „Innovation in Social Housing in France, 1970-1990“. AA Files, Nr. 23 (1992). Brandt, Sigrid, und Hans-Rudolf Meier, Hrsg. Stadtbild und Denkmalpflege. Konstruktion und Rezeption von Bildern der Stadt. Berlin: Jovis, 2008. „Buildable Design“. Southeast Asia building, Nr. 10/97 (1997).

C

Catsaros, Christophe. „L’habitat collectif singularisé“. Tracés: bulletin technique de la Suisse romande, Nr. 7 (2013). Chabani, Meriem, und John Edom. „Revisit: Les Étoiles d’lvry, Paris, France, by Jean Renaudie and Renée Gailhoustet“. The Architectural Review, 20. Mai 2019. Chouquer, Gérard, und Jean-Claude Daumas. Autour de Ledoux: architecture, ville et utopie. Besançon, 2008. Conrad, Ulrich, und Peter Neitzke. Programme und Manifeste zur Architektur 207


des 20. Jahrhunderts. Basel, 2014.

D

D ’Hooghe, Alexander. „Monumental Turn“. Arch+, Nr. 174 (2015). Debarre, Anne, und Pascal Mory, Hrsg. Habiter à Saint-Quentin-en-Yvelines. Entre utopie et tradition. Paris, 2002.

E

Erben, Dietrich. Architekturtheorie. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart. München, 2017.

G

Gailhoustet, Renée. „Öffentlichkeit ist eine große Quelle der Freiheit, Tour Raspail, Cite Spinoza, Marat“. Arch+, Nr. 231 (2018). Gert, Kähler. „TonnenWeise“. Bauwelt, Nr. 10 (1986). Giedion, Sigfried, Fernand Léger, und José Luis Sert. „Nine Points on Monumentality“. In Architecture Culture 1943-1968. A Documentary Anthology, herausgegeben von Joan Ockman. St.Louis, Columbia University, 1993. Guidoni, Jean-Louis. „Les grandes orgues de l’architecture“. Bâtir, Nr. 29 (1974).

H

Hermann, Hertzberger, und Arnulf Lüchinger. „Strukturalismus - eine neue Strömung in der Architektur; Strukturalismus - Ideologie“. Bauen + Wohnen, Nr. 30 (1976).

I

Irace, di Fulvio. „Ricardo Bofill. Taller de Arquitectura“. Domus, Nr. 668 (1986).

J

Jodidio, Philip E. „Works of Manolo Nuñez-Yanowkry“. a+u, Nr. 161 (1986).

K

Klanten, Robert, Balentina Marinai, und Maria-Elisabeth Niebius, Hrsg. Ricardo Bofill. Visions of Architecture. Berlin, 2019. Klein, Bruno, und Paul Sigel, Hrsg. Konstruktionen urbaner Identität. Zitat und Rekonstruktion in Architektur und Städtebau der Gegenwart. Berlin: Lukas Verlag, 2006. Kockelkorn, Anne. The Social Condenser II. Eine Archäologie zu Wohnungsbau und Zentralität in der Pariser Banlieue am Beispiel der Wohnungsbauten von Ricardo Bofill und Taller de Arquitectura. Zürich, 2017. 208


———. „Wuchernde Wohnarchitektur. Die französischen ‚Proliférants‘ der frühen 70er Jahre als staatliches Experiment“. Arch+, Nr. 203 (2011).

L

Lampugnani, Vittorio Magnago, und Matthias Noell. Stadtformen. Die Architektur der Stadt. Zwischen Imagination und Konstruktion. Zürich, 2005. Lefebvre, Henri. „Septième Prélude: ‚Notes sur la ville nouvelle (avril 1960)‘“. Cahiers Philosophiques, Nr. 118 (2009). Ricardo Bofill Taller de Arquitectura. „Les Espaces d’Abraxas“, 18. März 2021. https://ricardobofill.com/projects/les-espaces-dabraxas/. „Les Temples du Lac“. Zugegriffen 18. März 2021. https://ricardobofill.com/ projects/les-temples-du-lac/. Lexikon der Kunst. Bd. 6. Leipzig, 1994. Loyer, François. Histoire de l’architecture française. De la Révolution à nos jours. Paris, 1999. ———. „Les Orgues de Flandre“. L’ŒIL, Nr. 206–207 (1972). Lucan, Jacques. Architecture en France (1940-2000). Paris, 2001. Lympia Architecture. „Tours Aillaud. Étude patrimoniale et historique“, 2017. Lynch, Kevin. Das Bild der Stadt. Basel, 2010.

M

Manuel Núñez Yanowsky. „Manuel Núñez Yanowsky“. Zugegriffen 18. März 2021. http://www.nunez-yanowsky.com/manuel_nunez_yanowsky/about_ architect. Martel, Jean-Yves, und Jean-François Moudot. Les Arènes de Picasso 1985 Réalisation, 1985. http://www.nunez-yanowsky.com/video_and_gallery. Meade, Martin. „Breaking out of the mould“. The Arcitects’ Journal, Nr. 11 (1985). Mlle Marry. „Renovation urbaine de l’ilot riquet. Paris-XIXe“. Annales de l’institut technique du bâtiment et des travaux publics, Nr. 311 (1973). Mollard, Manon. „Tour de banlieue: the grands ensembles of Paris’s periphery“. The Architectural Review, 23. Mai 2019. Monacan, Patrice de. Villes utopiques, villes rêvées. Ravières, 2003. Moore, Charles W. You have to Pay for the Public Life. Cambridge, 2004.

N

Neumann, Wolfgang, und Henrik Uterwedde. Soziale und Stadtstrukturelle Wirkungen der Wohnungs- und Städtebaupolitik in Frankreich am Beispiel der Gross-Siedlungen. Ludwigsburg, 1993.

O

„“On se sent trahis” : les habitants des Tours Aillaud, à Nanterre, se mobilisent contre la destruction de leur quartier“, 18. Februar 2021. https:// 209


www.lesinrocks.com/actu/se-sent-trahis-les-habitants-des-tours-aillaud-nanterre-se-mobilisent-contre-la-destruction-de-leur-quartier-131256-23-01-2018/.

R

Renaud, Dominique, und Philippe Vignaud. „Les tours Nuages“. L’Architecture d’Aujourd’hui, Nr. 439 (2020). Le Monde. „Ricardo Bofill : « Je n’ai pas réussi à changer la ville »“, 18. März 2021. https://www.lemonde.fr/societe/article/2014/02/08/ricardo-bofill-je-n-ai-pasreussi-a-changer-la-ville_4359887_3224.html. „Rue de Flandre. La cité des flamands“. La Construction Moderne, Nr. 10 (1977). Ruhl, Carsten, Hrsg. Mythos Monument. Urbane Strategien in Architektur und Kunst seit 1945. Urban Studies. Bielefeld: Transcript, 2011.

S

Saint-Pierre, Raphaëlle. „Gérard Grandval Les Choux de Créteil“. Le Moniteur, 17. März 2017. Scalbert, Irénée. A right to difference: the architecture of Jean Renaudie. London: Architectural Association, 2004. ———. „Ivry-sur-Seine Town Centre“. AA Files, Nr. 23 (1992). Schüle, Klaus. Paris. Vordergründe / Hintergründe / Abgründe. München: Aries, 1997. Schulz van Treeck, Martin. „Des orgues en béton“. La Construction Moderne, Nr. 2 (1975). ———. „Grandes orgues pour célébrer les HLM“. L’ Architecture d’Aujourd’hui, Nr. 187 (1975). ———. „Les orgues de flandre“. Le mur vivant, Nr. 43 (1977). Schuman, Tony. „Utopia Spurned. Ricardo Bofill and the French Ideal City Tradition“. Journal of Architectural Education, Nr. 40, 1 (1986). Sieverts, Thomas. Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land. Berlin, 2008. Sonntag, Ingrid, Hrsg. Labor der Moderne. Nachkriegsarchitektur in Europa. Dresden, 2014.

T

Thibault, Estelle. „Martin Schulz van Treeck. Les Orgues de Flandre. 1967 1976, Paris 19e“. AMC, Nr. 116 (2001).

Z

Ziegler, Volker. „Pariser Politur“. Bauwelt, Nr. 40–41 (2014).

210



Verfassererklärung

212


Ich versichere, dass ich die vorstehende Arbeit selbständig und ohne fremde Hilfe angefertigt und mich anderer als der im beigefügten Verzeichnis angegebenen Hilfsmittel nicht bedient habe. Alle Stellen, die wörtlich oder sinngemäß aus den Veröffentlichungen entnommen wurden, sind als solche kenntlich gemacht. Sarah Jasmin Moser München, den 30. März 2021

213



Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.