Sozialutopie
Großwohnbauten der 1960er und 1970er Jahre Gescheiterte Vergangenheit oder visionäre Zukunft?
Masterthesis von Lisa Häberle Wintersemester 2019/20
LSA Lehrstuhl für Städtische Architektur
SOZIAL UTOPIE
SOZIAL UTOPIE GROSSWOHNBAUTEN DER 1960ER UND 1970ER JAHRE GESCHEITERTE VERGANGENHEIT ODER VISIONÄRE ZUKUNFT?
THEORIE ZUR MASTERTHESIS VON LISA HÄBERLE, LEHRSTUHL FÜR STÄDTISCHE ARCHITEKTUR, PROF. DIETRICH FINK; LEHRSTUHL FÜR THEORIE UND GESCHICHTE VON ARCHITEKTUR, KUNST UND DESIGN, PROF. DR. PHIL. HABIL. DIETRICH ERBEN, FAKULTÄT FÜR ARCHITEKTUR, TECHNISCHE UNIVERSITÄT MÜNCHEN, WS 2019/ 2020
VORWORT Die vorliegende Arbeit entstand in den vergangenen zwei Semestern, Sommersemester 2019 am Lehrstuhl fßr Theorie und Geschichte von Architektur und Wintersemester 2019/2020 in Kooperation mit dem Lehrstuhl fßr Städtische Architektur. Die Ergebnisse der Arbeit des Sommersemesters (Teil A) werden in zusammengefasster Form bis Seite 144 wiedergegeben. Der nachfolgende Text sowie der gesamte zweite Teil (Teil B) fasst die theoretische Grundlage der Masterthesis im Wintersemester 2019/2020 zusammen.
INHALT
EINLEITUNG
-10-
TEIL A DER GROSSWOHNBAU 1970: ARCHITEKTUR IM WOHLFAHRTSSTAAT 01 DIE VORLÄUFER
UTOPIE UND MACHBARKEITSWAHN
02 KONTEXT 1970
-20-
ÜBERLEITUNG: ALLGEMEINE UMBRUCHSTIMMUNG IN DEUTSCHLAND ZWISCHEN 1960 UND 1973
-32-
DER WOHLFAHRTSSTAAT
-34-
GESELLSCHAFT DER GLEICHEN LEITBILDER DES STÄDTEBAUS ÖFFENTLICH, PRIVAT, GEMEINSCHAFTLICH [EXKURS] STUDIE: ‚WOHNWERTE IM SOZIALEN WOHNUNGSBAU‘
03 FALLBEISPIELE
-40-42-46-56-
WOHNUNGSBAU IM WOHLFAHRTSSTAAT AM BEISPIEL DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND
-70-
WOHLFAHRTSSTAATLICHER EINFLUSS: DIE BAUGESCHICHTE DER AUTOBAHN-ÜBERBAUUNG BERLIN
-74-
DIE AUTOBAHNÜBERBAUUNG: REZENSIONEN DAMALS UND HEUTE
-88-
WOHNUNGSBAU IN FRANKREICH GEMEINSCHAFTLICHE WOHLFAHRT: DIE POLARITÄT AUS ÖFFENTLICH UND PRIVAT IM STADTZENTRUM IVRY SUR SEINE, PARIS DAS STADTZENTRUM IVRY SUR SEINE: REZENSIONEN UND ZUSTAND HEUTE WOHNUNGSBAU VOM ROTEN WIEN BIS ZUR ‚AUSTRIFICATION‘
-92-96-116-120-
INDIVIDUELLE WOHLFAHRT: LEBENSQUALITÄT UND BEWOHNERZUFRIEDENHEIT IM WOHNPARK ALT-ERLAA
-126-
11. REZENSIONEN ZUM WOHNPARK ALT ERLAA HEUTE
-141-
04 STRUKTURELLER AUFBAU
KRITERIEN GROSSWOHNBAU BARBICAN ESTATE, LONDON
BRUNSWICK CENTER, LONDON ALEXANDRA ROAD, LONDON FORUM CITY, MÜHLHEIM AN DER RUHR NECKERUFERBEBAUUNG, MANNHEIM COLLINI CENTER, MANNHEIM UNI CENTER, KÖLN IHME ZENTRUM, HANNOVER THERESIENHÖHE, MÜNCHEN
05 DIE TYPOLOGIE DES GROSSWOHNBAUS 1970
ZENTRALITÄT VIELFALT
GEMEINSCHAFT INDIVIDUALITÄT 5. MOBILITÄT
ZWISCHENFAZIT
-144-146-152-158-164-170-172-178-182-188-
-196-198-200-202-
-204-
TEIL B DER GROSSWOHNBAU 2020 [EXKURS] DAS GROSSE IM GROSSWOHNBAU STATUS QUO: DAS JAHR 2020
01 DIE VORLÄUFER RÜCKBLICK 1970-2020
-210-212-
-220-
02 KONTEXT 2020 WOHNUNGSPOLITIK
‚RENAISSANCE‘ DER GROSSSTADT POLARITÄT ÖFFENTLICHER RAUM DIE STADT 2020 GESELLSCHAFT 2020 ZWISCHEN MARKT UND STAAT WOHNEN 2020
03 TYPOLOGIE GROSSWOHNBAU 2020
ZENTRALITÄT VIELFALT
GEMEINSCHAFT INDIVIDUALITÄT
-226-234-236-241-256-268-280-
-290-294-308-314-
ABSCHLIESSENDE TYPOLOGISCHE GEGENÜBERSTELLUNG
-318-
LITERATURVERZEICHNIS
-322-
VERFASSERERKLÄRUNG
-330-
EINLEITUNG
NEUBAU-STUDIE: IN STÄDTEN ZU WENIG, AUF DEM LAND ZU VIEL: EINE BEZAHLBARE WOHNUNGEN FINDEN? DAS IST IN VIELEN STÄDTEN ZU EINEM PROBLEM GEWORDEN. LAUT EINER STUDIE IST EIN GRUND, DASS ZU WENIG GEBAUT WIRD - VOR ALLEM IN GROSSSTÄDTEN. AUF DEM LAND SEHE ES DAGEGEN ANDERS AUS. TAGESSCHAU, 22. JULI 2019
ABBILDUNG 9: ENTWICKLUNG DES WOHNUNGSBESTANDES UND DER ZAHL DER HAUSHALTE SEIT 2008 ANZAHL Anzahl
ENTWICKLUNG DES WOHNUNGSBESTANDES UND DER ZAHL DER HAUSHALTE SEIT 2008
Wohnungsbestand private Haushalte
Wohnungsbestand * ab 2012 einschließlich sonstiger Wohneinheiten im Bestand; ** Registerbereinigung im Einwohnermeldewesen
Private Haushalte
Quelle: Statistisches Amt
Tabelle und Kernaussagen: Bericht zur Wohnungssituation in München 2016 – 2017, Referat für Stadtplanung und Bauordnung, München
10
Seit 2008 leben erstmals mehr Menschen in der Stadt und in großurbanen Umfeldern als auf dem Land. Dieser Trend soll sich laut Studien weiter verstärken. Bis 2070 werden schon knapp 70 Prozent der Menschheit ihren Alltag in städtischen Lebensräumen verbringen.1 Doch gerade innerstädtischer Wohnraum fehlt, besonders im Bereich des geförderten Wohnungsbaues.2 Dieser wird, bedingt durch stetige Baulandverknappung und steigende Bodenpreise3, zumeist in städtischer Randlage errichtet4 und über kurz oder lang zur kontinuierlichen Vertreibung breiter Bevölkerungsschichten aus den Stadtkernen beitragen. Sollte die Geschichte nicht Besseres gelehrt haben? Das ‚Scheitern des modernen Städtebaus‘, versinnbildlicht mit der inszenierten Sprengung des sozialen Wohnbauprojekts Pruitt Igoe am 16. März 1972 in St. Louis, Missouri, USA, zeigte wie fatal Segregation in der Peripherie und homogene Belegungsstrukturen bestimmter Bevölkerungsschichten sein können.5 Die baugeschichtliche Epoche der ‚Boomjahre‘6, beginnend mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollte dennoch nicht als Sackgasse der Architekturgeschichte angesehen werden. Immerhin sind rund 40 Prozent aller Bauten in Westdeutschland in dieser Zeit entstanden. Keine andere Epoche hat das Aussehen europäischer Städte so geprägt und Wohnbestände in diesem Umfang errichtet.7 Kaum eine Metropole kann ernsthaft auf die großen Wohnungsbaubestände der Baudekaden der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verzichten, weil sie zur Versorgung der Bevölkerung mit preiswertem Wohnraum dringend gebraucht werden“8. Diese Phänomene erfolgten zwar nicht in allen europäischen Ländern gleich, aber doch in ähnlichen Grundzügen in zeitliche versetzten Abschnitten. Die Errichtung der Bauten dieser Jahrzehnte lässt sich auf alle Fälle, mit besonderem Blick auch auf den sozialen Wohnungsbau für Breite Bevölkerungsschichten9, quantitativ als Beispiellos beschreiben. In der Öffentlichkeit sind diese Großstrukturen zumeist negativ konnotiert10, da diese häufig nicht differenziert genug betrachtet und häufig als Ort der Kriminalität und des Vandalismus betitelt werden. Die tiefere Auseinandersetzung zeigt hingegen, dass sich in den Wohnarchitekturen, beginnend in den 1960er Jahren, gerade auf sozialer Ebene konkrete Weiterentwicklungen des Massenwohnungsbaus der direkten Nachkriegszeit (unteranderem die 1 2
3 4 5 6
7.
8 9 10
vgl. Seiss, Reinhard (Hg.): Harry Glück, Wohnbauten, müry Salzmann Verlag, 2014, S.14 vgl. Die Zeit: Schwund an Wohnraum: Die Zahl der Sozialwohnungen sinkt. Wie kann das sein – und was hilft dagegen? 8. August 2018; Handelsblatt: Die Schattenseite des Immobilienbooms: In deutschen Metropolen werden die Wohnungen knapp – und immer teurer. Viele Menschen können sich das nicht mehr leisten. Was die Gründe sind und womit Mieter künftig rechnen müssen, 13. Dezember 2012; Handelsblatt: Kritik am Wohngipfel – „Deutschland hat keinen Mangel an Regulierungen, sondern an Wohnungen“Die Bundesregierung will den Wohnungsmarkt besser regulieren – dabei fehlt vor allem Wohnraum. Die Immobilienbranche fordert Anreize zum neu bauen.12. November 2018 vgl. Grafik ARCH + 231: The Property Issue: Von der Bodenfrage und neuen Gemeingütern S. 56: Preis für Wohnbauland in München nach Gemarken 2016 und vgl. Grafik Nettokaltmiete bei Erstbezug 2017 vgl. aktuelle Bauprojekte und Sozialewohnungen nach Stadtvierteln karte vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Auf Kritik folgt Neudefinition die Boomjahe: ein häufig verwendete Beschreibung der Zeit zwischen 1945 und 1975 (auch als ‚le trente gloriouse‘ bezeichnet); vgl. allgemein: Hassler, Uta/Dumont Ayot, Cat- herine (Hrsg.): Bauten der Boomjahre. Paradoxien der Erhaltung. Zürich 2009; Hnilica, Sonja: Eine ganze Stadt in einem Haus. Multifunktionale Stadtzentren der Boomjahre, in: Apfelbaum,Alexandra; Bredenbeck, Martin; Escher, Gudrun;Leyser-Droste, Magdalena; Utku, Yasemin : Im großen Maßstab. Riesen in der Stadt, Klartext Verlag, 2017; Langenbergm Silke: Bauten der Boomjahre: architektonische Konzepte und Planungstheorien der 60er und 70er Jahre, 2011 Hnilica, Sonja:Leben in der Raumstation. Großstrukturen der sechziger und siebziger Jahre, in: Apfelbaum,Alexandra; Escher, Gudrun; Utku, Yasemin: Mit den Riesen auf Augenhöhe Ein neuer Blick auf Großstrukturen der 1960er und 1970er Jahre, 2017, S.22 Sächsische Akademie der Künste (Hg.): Labor der Moderne. Nachkriegsarchitektur in Europa, Dresden,2014 S.6 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: der Wohlfahrtsstaat (Residual- und Massenmodell in der Wohnungspolitik) vgl. zum Beispiel: Berliner Kriminalitätsstatistik für 2015:Gefährliches Leben in Großsiedlungen aus Lichtenbergmarzahn, August 2016; Großsiedlungen: Vom Symbol des neuen Wohnens zum Sozialgetto aus: Deutschlandfunkkultur, Dezember 2018; aber auch: Vom Ein- und Auszug der Vahraonen. 50 Jahre Wohnzufriedenheit aus Arch+203, Juni 2011, S. 65 (Dualität aus Öffentlichem Blick und Wohnzufriedenheit)
11
Wohnungssituation 2016 – 2017 | Wohnungsbauförderung und Schutzinstrumente der Bestandspolitik
BESTAND AN SOZIALEN WOHNUNGEN UND AKTUELLE BAUVORHABEN
ANTEIL GEFÖRDERTER WOHNUNGEN UND GROSSE WOHNUNGSBAUPROJEKTE (MITTELFRISTIGE REALISIERUNG) KARTE 13: GEFÖRDERTE WOHNUNGEN NACH
2,5 km
STADTBEZIRKSTEILEN 2017
Herberg-/ Hochmuttingerstraße
24
Ratold-/ Raheinstraße
Bayernkaserne, Bayernkaserne Ost
Diamaltgelände
11
23 10
22
Aubing-Ost-Straße Freiham Nord, 1. Realisierungsabschnitt Gleisharfe Neuaubing
Meiller
12 Georg-Brauchle-Ring, Gasw erksgelände Nord
9
25
1
8 7
2
ANTEIL GEFÖRDERTER WOHNUNGEN
Stadtbezirk bis 5,0%
Isar
Baumkirchner Straße
PaulanerGelände
5
Werksviertel am Ostbahnhof
14
Anzinger Straße
6
Drygalski-Allee, EON Gelände
19
13
3
Zschokkestraße
20
Prinz-Eugen-Park
Kreativquartier
Zentrale Bahnflächen, Birketweg
Zentrale Bahnflächen, Pasing
Parkstadt Schwabing, Lilly-Reich-Straße
4
Zentrale Bahnflächen, Paul-Gerhardt-Allee
21
Domagkpark
Haldenseestraße
Hochäckerstraße
18
17
16
Mess estadt Riem 4. Bauabschnitt
15 Mess estadt Riem 5. Bauabschnitt, Arrondierung Kirchtrudering
Friedrich-Creuzer-Straße Otto-Hahn-Ring
Siemens Campus & Hochhaus
GROSSE WOHNUNGSBAUPROJEKTE (MITTELFRISTIGE REALISIERUNG)
ANTEIL GEFÖRDERTER WOHNUNGEN 500 bis 1.000 WE
GROßE WOHNUNGSBAUPROJEKTE (MITTELFRISTIGE REALISIERUNG)
5,1 bis 15,0%
bis 5,0 % 1.000 bis 2.000 WE
15,1 bis 25,0%
5,1 über bis 15,0 2.000 % WE
500 bis 1.000 WE
über 25,0%
15,1 bis 25,0%
1.001 bis 2.000 WE
über 25,0%
über 2.000 WE
Geometrische Grundlagen: Landeshauptstadt München Kommunalreferat – Geodatenservice Datengrundlagen: Landeshauptstadt München, Sozialreferat Stand: 2017
NETTOKALTMIETE ALS INDIKATOR ENORM HOHER BODENPREISE NETTOKALTMIETEN BEI ERSTBEZUG 2017
KARTE 10: ERSTBEZUGSMIETEN (NETTOKALT) 2017
Feldmoching/ Hasenbergl Am Hart
Langwied
Freimann
Allach/ Untermenzing
Milbertshofen Moosach
Obermenzing Aubing
Schwabing-West
Nymphenburg Neuhausen
Schwabing
MaxvorstadtLehel Schwanthalerhöhe Altstadt
Pasing
Hadern
Bogenhausen
Riem
Haidhausen Ludwigsvorstadt Laim Westpark Isarvorstadt Au Berg am Laim Sendling
Obersendling Forstenried Thalkirchen Fürstenried
Giesing
Harlaching
Trudering
Ramersdorf
Perlach
Solln
NETTOKALTMIETEN BEI ERSTBEZUG 2017
Wohnungsmarktgebiete
15,45-16,99
unbebaute Flächen
17,00-17,99
Nettokaltmieten bei Erstbezug 2017 15,45 – 16,99
18,00-18,99 19,00-19,99
Isar
20,00-25,01
Stadtbezirke
Geometrische Grundlagen: Landeshauptstadt München Kommunalreferat – Geodatenservice Datengrundlagen: Immobilien Scout GmbH
17,00 – 17,99 Grafik oben: Bericht zur Wohnungssituation in München 2016 – 2017, Referat für StadtStand: 2017
planung und Bauordnung, München, S.54 unten: Ebd. S.33;S.65; Grundlagen: Geome-
trische Grundlagen: Landeshauptstadt München, Kommunalreferat-Geodatenservice; 18,00 – 18,99 Datengrundlage: Landeshauptstadt München, Sozialreferat Stand:2017
19,00 – 19,99 20,00 – 25,01
Siedlung Pruit Igoe) unterscheiden lassen. „Alles in allem hatten die 60er Jahre eine schlechte Presse. Es stimmt schon, was sie ihren Nachfolgern hinterließen, waren Sanierungsfälle, an denen mangelhafte Materialtechnologie, aggressive Luftschadstoffe, jahrzehntelange Vernachlässigung und soziale Fehlkalkulation gleiche Anteile hatten. [...] Trotzdem, die geglückte Hervorbringungen der Epoche konnten damals als Wege ins Offene erscheinen. Ihre Urheber waren bestrebt, die Demokratisierung der Planung voranzutreiben, waren geprägt von den Veränderungen der Gesellschaft, die das Bauen begleiteten oder vorwegnehmen wollten, beeindruckten in der Verve, mit der sie das Problem numerischer Größe angingen. Die Künstlichkeit und Komplexität von ‚bigness‘11 und die Chance, aus der Unpersönlichkeit gewaltiger Dimensionen eine neue Alchemie der Funktionen zu entwickeln, hat nicht erst Rem Kohlhaas entdeckt.“12 Die 60er und 70er Jahre, eine Zeit allgemeiner Aufbruchsstimmung13, geprägt durch wirtschaftlichen Aufschwung, Wachstums- und Machbarkeitseuphorie und Fortschrittsoptimismus, auf Technik, Steuerung und Beherrschbarkeit der Systeme vertrauend.14Eine Epoche der großen Projekte, von der Mondfahrt und der ersten Mondlandung bis zum schnellen Brüter wurden auch der Größe in der Architektur kaum grenzen entgegengesetzt: „Ich sage das nur, um die Zeit zu erklären (...), die Straßen waren groß, die Häuser waren groß, alles war groß. Fortschritt musste immer groß sein.“15 Bauten, in ihrer Dimension weit mehr, als die konventionelle Bezeichnung eines ‚Hauses‘ erlauben würde, erfüllten bald in hoch verdichteter Form jegliche Bedürfnisse alltäglichen Lebens.16 Die Funktionsmischung substituierte so das Dogma des funktionalistischen Leitbilds der Charta von Athen zu dem der ‚verdichteten Stadt‘ und der ‚Urbanität durch Dichte‘.17 Gesellschaftlich manifestierte sich zeitgleich ein grundlegender Wandel von Werten, Normen und Lebenszielen. Gestärkt durch das politische System, technischen Fortschritt und wirtschaftlichen Aufschwung wuchs die Emanzipation des Individuums.18 Gleichzeitig prägten Rationalisierung und Standardisierung festgesetzte Lebensabläufe und Ziele, 11
während geteilte Wohlstandsansprüche den gesellschaftlichen Zusammenhalt formten.19 „Und doch war das antizipierte Produkt der Nachbarschaftsplanung, der selbstbestimmte Gemeinschaftsmensch, schon geprägt von der »postmodernen« »Sorge um sich«, wie Michel Foucault sie nennt.“20 Das nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden politische System des Wohlfahrtsstaates beeinflusste, durch seinen Habitus von gesellschaftlichem Wohlstand, Chancengleichheit und Individueller Wohlfahrt, maßgeblich diesen Wandel.21Wohlfahrtsstaatlicher Anspruch hoher Lebensqualität und Standards äußert sich häufig in den durch die öffentlichen, gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften realisierten Großwohnprojekte der 60er und 70er Jahren. Innerstädtische- oder zumindest stadtnahe Lage, Funktionsmischung aus kulturellen/kommunikativen, Freizeit-, Einkaufs- und Dienstleistungseinrichtungen, Grundrissvielfalten und hohe Wohnungsqualität sowie den privaten Bereich erweiternde Gemeinschaftsflächen stehen als Ausdruck dessen gesellschaftspolitischem Dogma22 und wären ohne wohlfahrtsstaatliche Interventionen23 in dieser Form wohl nicht entstanden, so die These. AUFBAU DER ARBEIT
Die Arbeit teilt sich in zwei Hauptteile auf, Teil A beschäftigt sich mit der historischen Betrachtung der Nachkriegsjahre, Teil B mit dem 21. Jahrhundert. Dabei soll Teil A mit einem Thesenkatalog aus den charakteristischen Merkmale der analysierten Bauten enden, um die Typologie des Großwohnbaus der Nachkriegsjahre zu formulieren. Die Begrifflichkeiten beschreiben dabei die konkreten inhaltlichen und architektonischen Merkmale dieser Typologie, welche im nächsten Schritt auf das 21. Jahrhundert mit seinen spezifischen städtischen, gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten übertragen werden sollen. Die Kernthematik der vorliegenden Arbeit beschäftigt sich mit der These, ob und wie die Typologie des Großwohnbaus aus den siebziger Jahren in das 21. Jahrhundert transformiert werden kann, um so eine Antwort auf den aktuellen Wohnungsmangel zu finden.
vgl. Pehnt, Wolfgang: Make it Big. Großbauten in den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland und anderswo, S.36 in: Buttlar, Adrian & Heuter, Christoph (Hg.): denkmal!moderne. Architektur der 60er Jahre Wiederentdeckung einer Epoche. Jovis Verlag, 2007 12 Buttlar, Adrian & Heuter, Christoph (Hg.): denkmal!moderne. Architektur der 60er Jahre Wiederentdeckung einer Epoche. Jovis Verlag, 2007, S.12 13 „Das Jahr 1968 steht heute exemplarisch für eine ganze Generation, die gegen Politik und Moral eines spießigen Establishments aufbegehrte, mit entsprechendem Outfit, dazugehöriger Rockmusik, Demonstrationen, Sit-ins und Protesten. Die Bewegung erfasste besonders die Universitäten und Parteien, aber auch Kunst, Musik und Theater.“ aus: Stimmann, Hand: Wohngebirge für die neue Gesellschaft. Megastrukturen und Eskapismus: Was bleibt von der Architektur der 68er? in: Die Welt 28.03.2008 14 vgl. Doering-Manteufel, Anselm: Langfristige Ursprünge und dauerhafte Auswirkungen. In: Jarausch, Konrad Hugo (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008, S. 324. 15 aus Stadtbauwelt 88, 1985 zit. n. Hnilica, Sonja: Der Glaube an das Große in der Architektur der Moderne. Großstrukturen der 1960er und 1970er Jahre. Park Books, 2018 16 vgl. architektonische Beispiele in:Skizzenwerk, II.Typologischer Aufbau; Kapitel: zur Typologie des Großwohnbaus; nachbarschaftliche Begegnung in den ‚Streets in the Sky‘ in Park Hill Sheffield; Funktionsvielfalt ‚par excellence‘ das Barbican Estate 17 vgl. die neuen Leitbilder in Skizzenwerk, Kapitel: das Leitbild ‚Urbanität durch Dichte‘ und individuelle Wohlfahrt 18 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Die Gesellschaft der Gleichen 19 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Die Gesellschaft der Gleichen 20 Kuchenbuch, David: Geordnete Gemeinschaft . Architekten als Sozialingenieure - Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert. Transcript Verlag, 2010s. 306 21 vgl. Skizzenwerk Kapitel: der Wohlfahrtsstaat und die Gesellschaft der Gleichen 22 vgl. Ebd. 23 Interventionen betrifft sowohl die finanzielle Ebene, als die Marktregulierende wie auch gesellschaftliche Ausprägungen welche durch das politische System entstanden
14
AUFBAU TEIL A
Um einen Überblick über den Kontext der 1960er und 1970er Jahre zu schaffen und die Grundlagen zum Verständnis der konkreten architektonischen Fallbeispiele zu vermitteln, ist Teil A der vorliegenden Arbeit in zwei Unterabschnitte gegliedert. Der erste Teil befasst sich mit dem theoretischen und historischen Kontext der Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Aufgrund der Fülle an Themenfeldern aus politischen-, gesellschaftlichenund architektonischen Aspekten wird dieser Teil in Form eines theoretischen ‚Skizzenwerks‘ aufbereitet. Hierbei werden die für die Einordnung und das Verständnis für Zeit und Architektur relevanten Aspekte in aller Kürze auf die wichtigsten Punkte stichwortartig zusammengefasst und mit relevanten Zitaten und Abbildungen ergänzt. Zudem werden die für das Verständnis der im letzten Teil folgenden Analyse der Fallbeispiele notwendigen Grundbegriffe und Typologien stichwortartig zusammengefasst. Dieser Teil ist methodisch ausschließlich von einer Literaturrecherche geprägt. Der zweite Teil bildet die Grundlage für die Transformation des Großwohnbaus der 70er Jahre in die heutige Zeit. Die drei ausgewählten, ausführlich behandelten Großwohnbauten24 sollen mit differenziertem Fokus betrachtet werden. Während die Autobahnüberbauung wohlfahrtsstaatliche Interventionswerkzeuge aufzeigt sollen der Wohnpark Alt Erlaa in Wien und das Stadtzentrum Ivry sur Sein in Paris den Blick auf die individuelle, beziehungsweise gemeinschaftliche Wohlfahrt richten. Die schriftliche Arbeit bedient sich hierbei methodisch sowohl der Literaturrecherche als auch eigener Auseinandersetzung durch Plansätze. Erweitert wird die architektonische Analyse durch 9 weiter Großwohnbauten aus Deutschland und England. Die erarbeitete Charakteristik der Großwohnbauten wird anschließend in einem Themenkatalog zur Klassifizierung der Typologie der Großwohnbauten der 1970er Jahre zusammengefasst. AUFBAU TEIL B
In einem ersten Schritt befasst sich Teil B mit den gesellschaftlichen, politischen und architektonischen Gegebenheiten der vergangenen Jahre. Diese bildet die Grundlage um die Charakteristika des Großwohnbaus der siebziger Jahre an gesellschaftliche und politische Voraussetzungen des 21. Jahrhunderts anzupassen. Die erlangten Kentnisse werden abschließend in einer Gegenüberstellenden Schlussbetrachtung der Typologie 1970 und 2020 gegenübergestellt und bildet so das theoretische Grundgerüst des Architekturkonzepts.
24
vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Charakteristika Großwohnbau
15
TEIL A 1970
ARCHITEKTUR IM WOHLFAHRTSSTAAT
-01DIE VORLÄUFER
UTOPIE UND MACHBARKEITSWAHN "Ich sage das nur, um die Zeit zu erklären (...), die Straßen waren groß, die Häuser waren groß, alles war groß. Fortschritt musste immer groß sein."1
01 UTOPIE GROSSSTRUKTUR 02 STÄDTEBAU DER NACHKRIEGSJAHRE CHARTA VON ATHEN
1
20
Stadtbauwelt 88, 1985; 2.Hiersig, Thilo C.:Die utopischen Architekturmodell der 60er Jahre: Vorgeschichte, Voraussetzung, Realisation. Dissertation, 1980, S.123
03 KRITIK UND NEUDEFINITION
01
„ Die relative Statik des Gebauten gerät mit der gesteigerten Dynamik städtischer Entwicklung in Konflikt.“1
1. Bahrdt, Hans Paul: Die Moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Hrsg.: Ulfert Herlyn, 1998 S.132
Mit Beendigung des Zweiten Weltkriegs sahen sich die meisten Städte den Trümmern des Krieges gegenüberstehen. Nun lag der Fokus auf dem möglichst schnellen Wiederaufbau der Städte. Die direkte Nachkriegszeit, geprägt durch Quantität statt Qualität im Wohnungsbau, suchte vor allem qualifizierten Architekten welche der Aufgabe schnellen Wohnraum zu schaffen gewachsen waren. Dies waren zumeist die Architekten, welche in den 20er und 30er Jahren die moderne Architektur mitbegründeten und die Erfahrung hatten, die damaligen Ideen wieder aufzunehmen und fortzusetzen. Diese architektonische Sprache wurde gerade von der neuen, jüngeren Architektengeneration stark kritisiert. Da diese allerdings aus mangelnder Erfahrung sowieso nicht, oder nur sehr selten beantragt wurden, waren ihre Konzepte rein theoretisch begründet und von „fesselnden“ Verordnungen und Normen losgelöst. Die Steigerung des Produktionsvolumen der Industriestaaten, Mechanisierung, Rationalisierung, Automatisierung, das Wachstum der Bevölkerung und die Verstädterung, wie auch der Rückgang der Arbeitszeit und die damit verbundene Veränderung der Gesellschaft zur „Freizeitgesellschaft“ beeinflussten diese junge Generation Architekten maßgeblich. Zudem fand weiterhin eine Zunahme des tertiären Wirtschaftssektors, mit gleichzeitiger Abnahme des primären Sektors statt und damit eine grundlegende Umstrukturierung der Wirtschaft. Die steigende Innovationskraft der Technik und Forschung, wie bahnbrechende neue Erkenntnisse in Raumfahrt, Elektronik und Kommunikation, Materialproduktion und Transport schürten den „Machbarkeitswahn“ der 60er Jahre. Die Architekturszene hingegen konnte keine annähernden Entwicklungen verzeichnen, was wiederum den Wunsch der jungen Generation anfeuerte. Der Einsatz von Forschung und Demonstrativ-, beziehungsweise Experimentalbauten durch staatliche Förderung in der Bau-und Architekturbranche um neue Baustoffe und Konstruktionstechniken, industrielle Vorfertigung, Mechanisierung und Fertigteilbauweise wurde zunehmend gefordert. 1 Ein „Wendepunkt im Bauen“ lässt sich in den 60er Jahren durch den Pionier des industriellen Bauens Konrad Wachsmann verzeichnen. Raumtragwerke, bestehend aus einer dauerhaften Tragstruktur und völlig flexibler ein- und ausbauten sollten Veränderung der Nutzungsarten und Bereiche im Innerstädtischen Umfeld künftig möglich machen. Dies Idee als Synthese aus wissenschaftlichem Fortschritt und Forschung, gesellschaftspolitischen und soziologischen Bereichen lesbar. Die Hoffnung auf steigende Flexibilität und gleichzeitiger Reduzierung der Monotonie der Städte wurde zum Vorbild für Utopien wie die von Yona Friedman und Schulze-Fielitz`s. Mit der Erfindung des MERO-Systems wurden Max von Mengrighausen und Konrad Wachsmann als Begründer der Industriellen Fertigteilbauweise bis heute angesehen. Das Bild industrieller Fertigung und Rationalisierung im Bauwesen erträumte auch schon Gropius 1924 : „Der größte Teil der Stadtbewohner hat die gleichen Wohn- und Lebensbedürfnisse. Darum ist es unbegreiflich, warum die Häuser, die wir bauen, nicht einheitlich sind, wie zum Beispiel unsere Kleidung, Schuhe, Wagen. Die Bauindustrie muss [sic] ihr Augenmerk vor allem auf die Normierung und auf die Serienproduktion konzentrieren; keine ganzen Häuser, sondern Hauptteile, die danach in verschiedenen Häusertypen montiert werden; das Gleiche läuft auch beim Entwurf moderner Maschinen ab: einige Teile entsprechen internationalen
1. vgl.allgemein Hiersig, Thilo C.:Die utopischen Architekturmodell der 60er Jahre: Vorgeschichte, Voraussetzung, Realisation. Dissertation, 1980; Schumpp, Mechthild : Stadtbau-Utopien und Gesellschaft der Bedeutungswandel utopischer Stadtmodelle unter sozialem Aspekt Gütersloh, Bertelsmann Fachverlag, 1972
21
Abb. : Fliegende Stadt, 1928 Georgi Krutikow aus Hinlica, 2018
Abb unten: Macetti, Silvio: Großwohneinheiten. Berlin 1968, S. 116f. Abb. oben: „Fun Palace“, 1960-1964 © Cedric Price, Canadian Centre for Architecture, Montréa
Normen, so dass [sic] sie auswechselbar sind.“2 Doch auch wenn der frühe Wunsch von Gropius durchaus durch die technischen Möglichkeiten der 60er Jahre als erfüllbar galt, wollte vor allem die nachwachsende Generation sich noch in Ausbildung befindlicher Architekten die technischen Möglichkeiten zur Bewältigung künftiger Probleme nutzen. So entstanden eine reihe utopischer Stadtstrukturentwürfe, wie beispielhaft in der Sommerakademie Salzburg 1965/66 : „[...] die andere Gruppe dagegen überspringt die unmittelbare Realität und versucht, in Experimenten und utopischen Entwürfen Ansätze für die Bewältigung der Zukunft zu gewinnen. Die hier gemachten Vorschläge lassen sich leicht vom Standpunkt des sich mit der Realität auseinandersetzenden Planers kritisieren. Jedoch zeigt die Erfahrung, dass [sic] Utopien Anregung für die Praxis enthalten können, die nicht aus der täglichen Auseinandersetzung mit der Realität gewonnen werden können. Der Grat freilich, auf dem diese Versuch of genug angesiedelt sind, ist schmal; der Absturz in Fantastik oder die Banalität ist groß.“3 Utopien fanden sich aber keineswegs nur in Studentischen Arbeiten wieder, zahlreichen Architekturausstellungen dieser Jahre beschäftigten sich mit utopischen Stadtvisionen. Darunter beispielsweise die Japanischen „Metabolisten“ und „Archigram“. Allgemein können die utopischen Architekturmodelle der 60er als Kritik an der Funktionstrennung und dem von der Charta von Athen propagierten Stil des Funktionalismus gehen werden. „Die Monotonie der Bauten, die Isolation ihrer Bewohner und die Vereinsamung des Einzelnen sollten in den utopischen Modellen überwunden werden. In einer neuen Vision der Gesellschaft wurden die sozialen und urbanen Strukturen miteinander zu einer Synthese verflochte. Megastrukturen schienen geeignet, unterschiedliche Funktionsbereiche in kompakte Anordnungen wieder zu integrieren.“ 4Der utopische Aufwind, den Reyner Banham 1976 rückblickend als 'Megajahr 1964'5 beschrieb, flachte allerdings genauso schnell wieder ab, wie die 'Megastruktur' sich entwickelte. Dies lag natürlich zum einen am hohen utopischen Grad der Entwürfe zum anderen trat die propagierte 'Bevölkerungsexplosion' nicht ein wie erwartete ein und die Experimente sprengten jeden wirtschaftlichen Rahmen. Vom hohen Kunststoffanteil, welcher durch die Ölkrise verursacht einen enormen Preisanstieg verzeichnen musste, der Elementbauweise, welche generell als wirtschaftlich riskant angesehen wurde und die Bereitstellung großräumiger Baugrundstücke für die erträumten Megastrukturen schier unmöglich war. Entscheidend ist aber die Tatsache, dass die Utopien der 60er Jahre das Bauen und die Gestaltung der nächsten Jahre maßgeblich geprägt haben. 2. 3.
Die industrielle Verarbeitung, Vorfertigung und Mechanisierung bestimmt die Äußere und Innere Erscheinung dieser Gebäude, also ihre komplette Struktur und kann so als Grundstein für den Strukturalismus betrachtet werden. Um die Fülle der utopischen Entwürfe etwas einzugrenzen, wurden nachfolgend zwei Kategorien in aller Kürze beschrieben6, die Megastruktur als Trägersystem und Sekundärarchitektur, sowie 'Fun und Flexibilität' Damit soll die fülle und Differenz der Entwürfe aufgezeigt werden und für die später gewählten Fallbeispiele Relevante Tendenzen beschrieben werden. Die utopischen Ideen der 60er Jahre lassen sich immer auch konkret auf soziale und politische Zusammenhänge beziehen und in historische Hintergründe einordnen. Aus soziologischer Sicht in zwei Kategorien unterteilt werden. Zum einen die Utopie als Widerstand gegen eine „Inhumane Gesellschaft“ zum anderen ein „Instrument zum Entwurf von Möglichkeitsmodellen der Wirklichkeit“ 7. Zumeist ist eine Fülle utopischer Entwürfe in Zeiten des Umbruchs spürbar, als antwort auf die Suche nach einer Zukunftsalternative. „Es interessieren die städtebaulichen Vorschläge, die, jeweils in ihrer geschichtlichen Epoche, neue qualitative Momente einführen und Anstöße zur Öffnung anderer städtischer und gesellschaftlicher Dimensionen geben; Modelle also, die im allgemeinsten Sinne ein utopisches Moment enthalten, die also entweder im Bewusstsein [sic] des Entwerfers oder seiner Zeitgenossen oder auch tatsächlich qualitativ Neues, nie Dagewesenes erstreben, die in der unmittelbaren Gegenwart zwar nicht direkt zu verwirklichen sind, doch so als Stimuli und Agens wirksam werden können. In diesem Zusammenhang kommt es vor allem darauf an, den Stellenwert einer mit gesellschaftlichem Problembewußtsein verknüpften utopischen Fantasie [sic] im Hinblick auf gesellschaftliche Veränderungen zu sehen“8 Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal bietet der Kerngedanke der Utopie, welcher entweder nach technischen - oder politisch-sozialen Merkmalen differenziert werden kann. Das technische zeigt sich dabei in der konkreten Form, der Bauweise und der materiellen Dimension und bildet so gleichzeitig den Rahmen für jeweilige soziale Interaktion. Wobei die politisch- soziale Dimension sich auf mehreren Ebenen widerspiegelt. Dies kann sowohl die räumliche Anordnung, die städtebauliche Setzung und die spezifische Ausprägung sein. In diesen zeigt sich immer auf eine bestimmte Art und Weise die ideologische Sicht des Architekten auf die aktuelle Gesellschaft, zukünftige Entwicklungen und der Einfluss von Politik und Wirtschaft.
Argan, Guilio Carlo: Gropius und das Bauhaus. Reinbek bei Hamburg, 19 Zitat von Jacob B. Bakeman beim Abschließenden rundgang der sommerakademie, in: Joedicke, Jürgen: Stadtplanung-Experimente und Utopie in Jacob B. Bakema: Städtebauliche Architektur, Salzburger Studienprojekt der Int. Sommerakademie für Bildende Kunst, Salzburg, 1966. Zitiert nach Hiersig, Thilo C.:Die utopischen Architekturmodell der 60er Jahre: Vorgeschichte, Voraussetzung, Realisation. Dissertation, 1980 4. Hiersig, Thilo C.:Die utopischen Architekturmodell der 60er Jahre: Vorgeschichte, Voraussetzung, Realisation. Dissertation, 1980, S.123 5. vgl. diese und allgemein Banham, Reyner: Megastructure: Urban Futures of the recent Past. Harper & Row Publishers, 1976 S. 70 6. vgl. die Utopischen Vorläufer im Bezug zur Kombination aus Verkehr und Wohnbauten im Kapitel Wohlfahrtsstaatliche Intervention am Beispiel der Autobahnüberbauung 7. Banham, Reyner: Megastructure: Urban Futures of the recent Past. Harper & Row Publishers, 1976 S. 9 8. ebd. S.11f.
24
technisch-/ konstruktive Utopien aus Trägersystem und Megastruktur
politisch-soziale Utopien: ‚Fun und Flexibilität‘
1960 hatte Tokio rund 10 Millionen Einwohner, welche nach damaligen Schätzungen auf rund 15 Millionen steigen sollten. Diese Entwicklung, gepaart mit steigenden Anforderungen an Wohnraum, Freiflächen und Kulturund Erholungseinrichtungen und ansteigendem Verkehr, schien die Erschließung neuer Baugebiete für Tange notwendig. Er schlug für die Errichtung der neuen Stadt eine lineare Struktur vor, in welcher eine zentrale Achse den Stadtkern ersetzen soll. 1Das Verkehrssystem wurde in drei ebenen entlang dieser Achse geführt wodurch sich ein Ringverkehr um die im Mittelpunkt entstehende Stadt ergeben konnte. Die Wohnbauten, beidseitig des Verkehrssystems untergebracht und auf Pfeilern (zur Vertikalen Erschließung und Versorgung) bieten jeweils platz für 15.000 bis 30.000 Einwohner. Die Wohnungen, Kindereinrichtungen, Schulen und Gemeinschaftsanlagen wurden jeweils an den Außenwänden untergebracht. Hinter den Außenwänden befanden sich mehrgeschossige Einkaufszentren und Parkflächen2
Die Kultivierung des Vergnügens wurde in vielen Entwürfen integraler Bestandteil utopischen Denkens. Die Freizeit als ein „Hauptmerkmal des Lebens in einer postindustriellen Kultur“, die dem gesamten Spektrum megastruktureller Projekte gemeinsam war3 „dementsprechend war der vergnügliche Charakter der beherbergten Aktivitäten für die Vision ebenso wesentlich wie die Größenordnung des baulichen Rahmens.“4Die Bedeutung des Interesses an der Thematik der Freizeit, steht also vielmehr als Symbol für den Rahmen der Wahlfreiheit. Die städtebauliche Idee von Team X bildet dabei die sukzessive Ausdehnung von einem anfänglichen Kern: „Wie in einer offenen Gesellschaft bestand indeterminierte Planung aus stets in Entwicklung befindlichen formalen Systemen, die Wandel mit minimalem Ausschluss zuließen, funktionaler Anpassung keine Beschränkung auferlegten und keiner abgelebten sozialen Ordnung nachhingen.“5 Dadurch wird ihr hohes demokratisches Ziel veranschaulicht, die Kontrolle über die Umwelt soll im Idealfall bei jedem Individuum selbst liegen.
1 2 3 4 5.
vgl. Macetti, Silvio: Großwohneinheiten. Berlin 1968, S. 116f. vgl. Macetti, Silvio: Großwohneinheiten. Berlin 1968, S. 116f. Banham, Reyner: Megastructure: Urban Futures of the recent Past. Harper & Row Publishers, 1976, in kapitel acknowledgements, s.80. Van der Ley; Richter, 2008, S. 129 Deutung von Charles Jeneck der Arbeit von Team X in: The closed and Open Society“ in: Modern Movements in Architecture, New York 1985, S.332-339
25
Abb. diese Seite von rechts oben nach links unten Superstudio ‚the continous Monument‘ :Highway, 1969 aus Van der Ley, Sabrina & Richter, Markus: Megastructure Reloaded. Visionäre Stadtentwürfe der sechziger Jahre reflektiert von zeitgenössischen Künst-
lern,2008,S.42; Lower Manhatten Expressway,, Paul Rudolph, 1970 aus Ebd.S.70; Cartoon, Zeitschrift Life,1909 aus Hnilica, Sonja: Der Glaube an das Große in der Architektur der Moderne. Großstrukturen der 1960er und 1970er Jahre, Park Books, 2018 S.188; Roadtown, Edgar Chambless,
1910 aus Ebd. S.11; Plan Obus, Le Corbusier 1920 aus ebd.; Jersey Corridor Projekt: Linear City, Michael Graves, Peter Eisenman, 1964-66 aus Van der Ley, Sabrina & Richter, Markus: Megastructure Reloaded. Visionäre Stadtentwürfe der sechziger Jahre reflektiert von zeitgenössischen Künstlern,2008,S.58; Diese Seite Oben: ; Lower Manhatten Expressway,
Paul Rudolph, 1970 aus Ebd.S.70; unten: Plan Obus, Le Corbusier 1920 aus Hnilica, Sonja: Der Glaube an das Große in der Architektur der Moderne. Großstrukturen der 1960er und 1970er Jahre, Park Books, 2018 S.11 1. Bahrdt, Hans Paul. Hg.: Ulfert Herlyn, 1998 S.185
02
Die erste Bauphase nach dem Ende des zweiten Weltkriegs beschreibt die Jahre ab der Währungsreform 1949. Der Fokus liegt hier ganz klar auf dem tatsächlichen „Wiederaufbau“ von zerstörten Gebäuden und der Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum. Gebaut wurden zum einen Großsiedlungen an den Stadträndern und zum anderen dicht bebaute, autarke Siedlungen in peripherer Lage, die so genanten New Towns in Großbritannien, Grand Ensembles in Frankreich und Sattelitenstädte in Deutschland.Der Bau großer Bauvorhaben durch die Unternehmen und vor allem die öffentliche Hand, konnten nur unter der Voraussetzung eines Wirtschaftsanstiegs und wachsender Steueraufkommen realisiert werden. Somit lassen sich auch in Umfang und Art der Bauprojekte zwei Phasen der Nachkriegszeit unterteilen, wobei die zweite Phase ungefähr um 1965 einsetzte.1 Die Sprengung der Siedlung Pruitt-Igoe in St. Louis, USA zählt bis heute als Zeichen des scheiterns der propagierten Leitbilder der Nachkriegsmoderne. Die Sieldung wurde nach der Charta von Athen aus 33 identischen Hochhausscheiben aufgelockert gestaltet. Sie bot in Sozialwohnungen Raum für über 15.000 Mensch. Mangelnder Freiraumgestaltung und fehlender Folgeeinrichtungen führten zu Segregation und Isolation der Bewohner. Mit dem scheitern wiederholter Versucher Gewalt und Vandalismus zu beenden wurde Pruit-Igoe am 15. Juli 1972 gesprengt. Die Mehrzahl dieser Wohnbauprojekte führten durch ihre suburbane Lage, fehlende Integration in bestehende Stadtstrukturen, fehlende Folgeeinrichtungen für Einkauf, Bildung, Jugendpflege, Erholung, Spiel und Sport, Homogenität der Altersgruppen zu anwachsendem Individualverkehr, Entmischung und Segregation sowie Monotonie.
03
„Ein Zeitalter, das den Menschen sicher auf den Mond und wieder zurückgebracht hat, kann auch die Entwicklung unserer Städte meistern [...].“2 Die suche nach neuen Leitbild wird zum einen durch die zahlreiche Kritik der monofunktionalen, peripheren Bauten und die damit verknüpfte Segregation, steigende Kriminalität und hohe Fluktuation imitiert, zum anderen aber auch maßgeblich durch die anwachsende ‚Verödung‘ der Städte. Bedingt durch eine Ausweitung des tertiären Sektors in Innenstadtgebieten und dem damit rasant ansteigenden Berufspendelverkehr, scheint es notwendig neuen Wohnraum in Stadtgebieten zu generieren. Die Profitopolis Planung pledierte für neue,lebendige, heterogene Stadtstrukturen : „Nur in der gesellschaftlichen vielfalt entsteht lebendiges urbanes Leben. Statt isolierter Ghettos brauchen wir die komplette gesellschaftliche Situation. Die komplexe Lösung einer Wohngegend schließt Isolierung aus und bewirkt durch den Zusammenhang aller Bezüge eine hohe Lebensqualität. Durch die gegenseitige Abstimmung wird ein Funktionssystem hergestellt, das auch in wirtschaftlicher Hinsicht ungleich besser ist, als das übliche System isolierte Funktionserfüllung.“3 1 2 3
vgl. Mit den Riesen auf Augenhöhe: Ein neuer Blick auf Großstrukturen der 1960er und 1970er Jahre, Herausgegeben von Alexandra Apfelbaum,Gudrun Escher, Yasemin Utku Rettet unsere Städte jetzt! 16. Hauptversammlung des Deutschen Städtebautages in München ( 25-27. Mai 1971) Stuttgart, 1971 S.245, zitiert nach ARCH+203, S.46 Lehmbrock, Josef: Städtebau, eine politische Aufgabe. Anmerkung eines Architekten, in: PROFITOPOLIS oder Der Mensch braucht eine andere Stadt. Eine Ausstellung über die miserablen Zustand unserer Städte und über die Notwendigkeit, diesen Zustand zu ändern, damit der Mensch wieder menschenwürdig in seiner Stadt leben kann.
29.11.1971 - 13.02.1972
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1. Jane Jacobs: The Death and Life of Great American Cities. 1961 2. Peter Blake: God‘s own Junkyard, 1964 3. Wolf Jobst Siedler: Die gemordete Stadt: Abgesang auf Putte und Strasse, Platz und Baum, 1964 4. Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, 1965 5. Michel Ragon: Les Erreurs monumentales, 1971 6.Rettet unsere Städte jetzt! Vorträge, Aussprachen und Ergebnisse der 16. Hauptversammlung des Deutschen Städtetages vom 25. bis 27. Mai 1971 in München 7. Profitopolis oder der Mensch braucht eine andere Stadt: Eine Ausstellung über die miserablen Zustand unserer Städte und über die Notwendigkeit, diesen Zustand zu ändern, damit der Mensch wieder menschenwürdig in seiner Stadt leben kann. 29.11.1971 - 13.02.1972 8. Charles Jencks: Modern movements in Architecture, 1977 9. Peter Blake: Form follows Fiasco, 1977
1
2
4
5
8
7
3
6
9
-021970 KONTEXT
DEUTSCHLAND 1960 - 1973 ALLGEMEINE UMBRUCHSSTIMMUNG
"Die 60er Jahre sind die blütezeit des deutschen Wirtschaftswunders gewesen: einerseits enorme Wachstumsraten, Vollbeschäftigung und ein satter Wohlstand und andererseits der uneingeschränkte Glaube an einen indurstirellen Fortschritt, mit dem praktisch alles möglich und auch technisch realisierbar erschien. Im Städtebau wollte man diese Maximalvorstellung nicht nur manifestieren, sondern, ungleich wichtiger, auch visualisieren."1
1 Buttla, Adrian & Heuter, Christoph (Hg.): denkmal!moderne. Architektur der 60er Jahre Wiederentdeckung einer Epoche. Jovis Verlag, 2007, S.107
Auflösung der traditionellen städtebaulichen Leitbilder und neues Planungsdenken2: Rentabilität durch Dichte:1 die Wiederentdeckung und Wertschätzung der historischen Stadt folgte auf die Reaktion auf die 'Verwüstung' der Deutschen Stadtlandschaft durch immer weiter wachsende Einfamilienhaussiedlungen und Großsiedlungen.Auf kommunaler Ebene wurde versucht mittels systematischer und wissenschaftlicher entwicklungspläne dieser Zersiedelung des Umlandes entgegen zu wirken. Dieser Übergang zu einer aktiveren Steuerung führte zu einer neuen Planungsebene, dem ‚Entwicklungsbereich‘, welcher 1971 im Städtebauförderungsgesetz‘ festgeschrieben wurde. Der Fokus lag hierbei auf einer integrativen Planung aus räumlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aspekten.
sollten die nächsten Neubauvorhaben im Zeichen des technischen Fortschritts und der industriellen Bauweise errichtet werden. Die Großsiedlungen wurden unter den Schlagworten Rationalität, Effektivität und Funktionalität gebaut Überwältigt vom Rausch der Baurekorde wurde es für die Wohnungsbaugesellschaften lukrativ, die Geschossflächen zu Maximieren : „Im sozialen Wohnungsbau der 60er und 70er Jahre wurde es dann für die Wohnungsbaugesellschaft im Rahmen des geltenden Planungs-und Bodenrechts und des geltenden Subventionssystems wirtschaftlich sinnvoll, immer noch ein Stockwerk draufzusetzen.“5
Bevölkerungswachstum, Verkehr undTertiärisierung: Die Abwanderung vom Land und der Wachstumsprozess der Agglomerationsräume setzt sich in den 60ern fort. Das Umland der Städte wuchs beständig, während die meisten Großstädte einen Bevölkerungsrückgang verzeichnen mussten. Zeitgleich wurde der Innerstädtische Bau von Warenhäusern, Banken, Versicherungen, Infrastrukturen und Parkhäusern weiter vorangetrieben. Durch diese innerstädtische Tertiärisierung und die Erhöhung der Arbeitsplatzanzahl nahm folglich die Zahl an Pendlern erheblich zu. In München beispielsweise wusch die Zahl der Beschäftigten im innerstädtischen Bereich zwischen 1950 bis 1970 über 88.000. Schon 1960 kamen täglich mehr als 100.000 Pendler in die Stadt,1970 waren es 136.000, vor dem Krieg waren es noch 13.000.2 Der ‚Verkehrsgerechte‘ Starßenausbau rückte nun konsequenterweise an die erste Stelle der Bauaufgaben. Sanierungspraxis: Die Sanierung von städtischen Wohnhäusern zur Verbesserung der Wohnstandards, wie auch Flächensanierungen wurden vermehrt umgesetzt.Diese ‚Modernisierungsagenda‘ wurden häufig durch grundlegende Städtebauliche Veränderung und zahllose Abrisse verfolgt. Die Neustrukturierung der Bewohnerzusammensetzung wurde im Zuge der Sanierung durch ‚Umsetzungen ‚ in Neubaugebiete an den Stadtrand erwirkt. Insofern zielte die offizielle Sanierungspolitik in sozialer Hinsicht nicht allein auf den Abbau der Überbelegung und die Verbesserung der Wohnverhältnisse, sondern explizit auch auf einen ‚Austausch‘ der Bevölkerungsstruktur, deren Zusammensetzung nicht mehr ‚zeitgemäß‘ erschien. 3 Neubau in Großsieldungen: Das bauliche Pendant zur Innerstädtischen Modernisierung und ‚Tertiärisierung‘ war der bau verdichteter, viergeschossiger Großsiedlungen am Stadtrand.Nach erster Befriedigung des Wohnungsmangels in der Folge des Zweiten Weltkriegs, 1 2 3
Wüstenrot Stiftung (Hg.):Das Wohnungsbauerbe der 1950er bis 1970er Jahre Perspektiven und Handlungsoptionen für Wohnquartiere, 2013, S.22ff. Harlander, Tilmann: Wohnen und Stadtentwicklung in der Bundesrepublik. In: Flagge, Ingeborg (Hg.): Geschichte des Wohnens Band 5: 1945 bis heute. Aufbau, Neuaufbau, Umbau. Deutsche Verlags- Anstalt, Stuttgart, 1999 Glotz, Pfeifer, Siedler, S.28 zit. n. ARCH+ 203: Planung und Realität: Strategien im Umgang mit Großsiedlungen
33
DER WOHLFAHRTSSTAAT
01
Die Ursprünge des Sozialestaates fanden sich in Deutschland schon im Kaiserreich im späten 19.Jahrhundert mit Einführung der Sozialversicherung unter Otto von Bismarck. Getragen durch gesellschaftliche Veränderungen, Industrialisierung, Bevölkerungswachstum und Demokratisierung galt der weitere Ausbau sozialer Systeme als Antwort auf wachsende Sicherungsbedürfnisse der Bevölkerung. 1Diese Sicherung beinhaltete Kranken-, Renten und Unfallversicherung und wurde im Jahr 1927 zudem durch eine Arbeitslosenversicherung erweitert. Nach dem zweiten Weltkrieg war ein enormer Ausbau des Sozialstaates in ganz Europa zu verzeichnen. „Alle Länder der Welt sind darum bemüht, im Geiste der Brüderlichkeit und der Klassenverständigung, der das Ende des Krieges prägt, ein System der sozialen Sicherheit zugunsten der Arbeiterschaft und manchmal sogar der gesamten Bevölkerung einzuführen“2 Der Ausbau des Gesundheitswesens, soziale Pflege, aktive Arbeitsmarkt- und Qualifizierungspolitik waren Ausdruck der wachsenden wohlfahrtsstaatlichen Agenda. Ganz im Sinne der begrifflichen Definition der ‚Wohlfahrt‘ waren politische Ziele Wohlstand und hohe Lebensqualität breiter Bevölkerungsschichten. Die vier Säulen des Wohlfahrtsstaates sollten das Individuum nicht nur gegen unvorhersehbare Risiken absichern (das soziale Sicherungssystem und das öffentliche Gesundheitswesen) sondern vielmehr eine Steigerung des sozialen, kulturellen und materiellen Wohlergehens seiner Bürger fördern. Bildungspolitische Neuerungen und eine aktive Wohnungspolitik bildeten die Grundlage für gesellschaftliche und Politische Teilhabe und Chancengleichheit. Durch eine aktive Steuerungsrolle des Staates in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abläufen und dem Einsatz eines beträchtlichen Teils seiner Ressourcen sollten Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum die Grundlage für Gesellschaftlichen Wohlstand bilden. Die Staatlichen Interventionen auf Marktwirtschaftlicher Ebene der 1960er und 1970er gehen in ihren theoretischen Begründungen zurück auf den „Keynesianismus“.Der Kern geht hierbei von der Tatsache aus, dass Angebot und Nachfrage auf den Märkten nicht von selbst zu Vollbeschäftigung führen. Diese Vollbeschäftigung allerdings bildet die Voraussetzung für Stabilität und Wachstum der Volkswirtschaft und obliegt somit dem Staat. 3 Um konjunktionale Einbrüche zu verhindern, fungiert der Staat als wirtschaftlicher Indikator. Mittels Investitionszuschüssen und Zinsverbilligungen soll die private Investitionstätigkeit erhöht werden können. Genügt diese nicht, erhöht der Staat selbst die Nachfrage an bestimmten Marktgütern und finanziert dies mittels Schuldenaufnahme. Mit somit steigender Nachfrage nach Gütern, wird mehr produziert, die Nachfrage nach Arbeitern erhöht und die Kaufkraft gestärkt, also ein wirtschaftlicher aufstieg imitieren.4 Auch der Ausbau staatlicher Infrastrukturleistungen, also von Verkehrswegen,
01 DER WOHLFAHRTSSTAAT 02 WOHNUNGSPOLITIK IM WOHLFAHRTSSTAAT
1 vgl. Nohlen, Dieter:Lexikon der Politik . Schmidt G. Manfred:Band 3: Die westlichen Länder. 1992 Verlag C.H. Beck München, S.550 2 Kommentar von Arbeitsminister Alexandre Parodi in: Journal officiel. Documents de l’Assemblée consultative provisoire, Sitzung vom 5. Juli 1945, Anhang Nr. 507, S. 665. 3 vgl. Schubert, Klau: Handwörterbuch des ökonomischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005. Kapitel Potratz, Wolfgang 4Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 6. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2016. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 201
35
I. DIE SÄULEN DES WOHLFAHRTSSTAAT I.I
I.II
I.III
I.IIII
SOZIALES SICHERUNGSSYSTEM
ÖFFENTLICHES GESUNDHEITSWESEN
WOHNUNGSPOLITIK
BILDUNGSPOLITIK
Sozialversicherung, Rente : absicherung gegen besondere, (unvorhersehbare) Notlagen des Lebens, wie Krankheit etc.
Wohnen als unverzichtbares Gut und menschliches Grundbedürfnis
II. DIE ZIELE DES WOHLFAHRTSSTAAT I.I
I.II
I.III
I.III
WIRTSCHAFTSWACHSTUM
VOLLBESCHÄFTIGUNG
CHANCENGLEICHHEIT
GESELLSCHAFTLICHER WOHLSTAND
für gesellschaftlicheund politisches Teilhabe
Der Wohlfahrtsstaat zielt darauf ab, seinen Bürgern ein höchstmögliches Maß an Wohlstand und Lebensqualität zu gewährleisten.
III. WOHLFAHRTSPRODUKTION DURCH WOHLFAHRTPLURALISMUS1 I.I
I.II
I.III
I.III
STAAT
MARKT
SOZIALE GRUPPEN
GESELLSCHAFTLICHE ASSOZIATIONEN
wesentlicher Träger sozialer Dienste und Einrichtungen
Nachbarschaft, Selbsthilfeinitiativen etc.
Wohlfahrtsverbände, Vereine, gemeinnützige Stiftungen, Non-Profit-Organisationen
IIII. INFRASTRUKTURLEISTUNGEN DES WOHLFAHRTSSTAAT
36
I
III
IIII
IIII
VERKEHRSWEGE & ENERGIEVERSORGUNG
KOMMUNIKATIONSEINRICHTUNGEN
BILDUNGSEINRICHTUNEGN
ÖFFENTLICHEEINRICHTUNEGN
Kommunikations-, Bildungs- und Öffentlichen Einrichtungen führte zu einer Wirtschaftssteigerung. 5 Die politische Umstrukturierung und die damit verbundenen Eingriffe in das tägliche Leben der Bevölkerung führten zu einem weitreichenden Gesellschaftlichen Wandel hin zu einer ‚Gesellschaft der Gleichen‘.6
02
„1971 herrscht ein Wirtschaftsboom hier, Wohnungsmangel und Bauboom dort. 1974 ist die Bundesrepublik infolge des ersten Ölschocks in der tiefsten Konjunkturkrise seit dem Krieg, zugleich gibt es erstmals zigtausende leere Wohnungen (deren Baubeginn allesamt noch in der Phase des Wohnungsmangels gelegen hat). Bis etwa 1981 reicht ein neuer Aufschwung, Wohnungen werden knapp, Hausbesitzer protestieren von Zürich bis Berlin gegen Sanierungen und Modernisierung. Kurz darauf kommt es zu Massenarbeitslosigkeit und Wohnungshalden, am ende der achtziger Jahre herrscht wieder gute Konjunktur und Knappheit an Immobilien.“7Wirtschaft und Baubranche stehen folglich stets in engem Verhältnis. Der Staat folgt dem Investitionszyklus der Bauwirtschaft zumeist. So investiert auch er verzögert mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in den Wohnungsbau, beziehungsweise den sozialen Wohnungsbau. Folglich verstärkt dieser die Schwankungen zusätzlich und belastet so den Zyklus noch mehr. Als Beispiel wäre das Sozialprogramm von 1971 zu nennen. Die 20. 0000 Wohnungen standen 1973 nach der Ölkrise ebenso leer, wie die privater Investoren.8
versorgung von ‚Problemgruppen‘ ab. 11 In europäischen Wohlfahrtsstaaten, ist für viele Menschen die Art und Weise wie und wo sie wohnen, von politischen Entscheidungen abhängig. Sobald staatliche Subventionen direkte Zuschüsse oder Steuerverzicht von Seiten des Staats beim Wohnungsbau greifen, reguliert dieser welches Eigentumsverhältnis und welche Lebensform erwünscht beziehungsweise gefordert ist. „Wohnungspolitik ist also immer Gesellschaftspolitik (...) Ob die soziale Sicherung in einer Gesellschaft eher auf privater Eigenleistung und individueller Vorsorge beruht oder auf kollektiver Vorsorge- und staatlichen Versicherungsinstitutionen, spiegelt sich auch in der Art zu Wohnen wieder.“ 12 „ (..) dann kann die Veränderung der Wohnbedingungen umgekehrt auch als Instrument der Erziehung genutzt werden“ 13 Die Wohnungspolitischen Instrumente reichen dabei von Wohnungsbauförderung, Bestandssicherung, Mietezuschuss und Mieterschutz bis hin zur Eigentumsförderung.
Ebenso kann Wohnungsbau als Wirtschaftspolitisches Element9 wirksam genutzt werden. Das Zusammenspiel aus Wohnbauinvestitionen und daraus resultierender ausgelasteter Bauwirtschaft lässt den Wohnungsbau als wirtschaftspolitische Instrument interessant werden. Durch die damit verbundene Belebung der Gesamtkonjunkur und den positiven Effekt auf die allgemeine Wirtschaft wird von steigendem Bruttosozialprodukt ausgegangen. Neben wirtschaftlichen Zielen kann die Wohungspolitik auch zur Förderung gesellschaftliche Wohlfahrt10 genutzt werden. Organisiert als Massenmodell, kann die Wohnungspolitik die breite Masse der Lohnabhängigen durch sozialen Wohnungsbau unterstützen. Das Residual Modell zielt weniger weitreichend nur auf die Unterstützung in der Wohnraum4. Nohlen, Dieter:Lexikon der Politik . Schmidt G. Manfred:Band 3: Die westlichen Länder. 1992 Verlag C.H. Beck München, S.550 6 Rosanvallon, Pierre: Die Gesellschaft der Gleichen. 2013 7 Stimpel, Roland: Der verbaute Markt: Villenglück und Wohnungsnot. Fischer Taschenbuch Verlag, 1990 8 Ebd 9 Fahey, Tony & Norris, Michelle: Housing in: The Oxford Handbook of the Welfare State. Oxford university press, 2010: 10 Glatzer, Wolfgang: Wohnungsversorgung im Wohlfahrtsstaat: objektive und subjektive Indikatoren zur Wohlfahrtsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Campus Verlag Frankfurt/ New York, 1980 11 nach Harloe, M. 1995: The people‘s home? Social rented housing in Europe and America. 12 Häußermann, Hartmut: Wohnen in: Allemendinger, Jutta & Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang: Soziologie des Sozialstaats: Gesellschaftliche Grundlagen, historische Zusammenhänge und aktuelle Entwicklungstendenzen, S. 167 13 Ebd. S.171
37
Die Verantwortung des Staates für ausgewählte Lebensbereiche nach Ansicht der Bevölkerung 1973 nach Gemeinegrößenklassen1
% 100
1 Sicherheit vor Verbrechen
90
1
80
2
Ärztliche Versorgung
3 Öffentliche Verkehrsmittel
70 60
2
4 Wohnverhältnisse
3
5 Familien einkommen
30
4
20
6 Familien leben
5
50 40
10
Anzahl der Einwohner der Gemeinde
unter 2.000
2.000>20.000
20.000>100.000
100.000>500.000
500.000 und mehr
Tabelle vorherige Seite oben aus: Glatzer, Wolfgang: Wohnungsversorgung im Wohlfahrtsstaat: objektive und subjektive Indikatoren zur Wohlfahrtsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Campus Verlag Frankfurt/ New York, 1980, S.7 Tabelleninhalt vorherige Seite unten: Alber, Jens: Der Sozailstaat in der Bundesrepublik 1950- 1983. Campus Verlag 1989, S.47 Tabelleninhalt diese Seite: Alber, Jens: Der Sozailstaat in der Bundesrepublik 1950- 1983. Campus Verlag 1989, S.209
38
Standards in der Gesetzgebung (DE) zur 'Benötigten' Wohnfläche
120
8 Personen
110
7 Personen 6 Personen
100 90
5 Personen
80
4 Personen
70
3 Personen
60
2 Personen
50
1 Person 40 30 20 II. Wohnungsbaugesetz 1956
II. Wohnungsbaugesetz 1961
Gesetz über I. WohngeldWohnbeihilfen gesetz 1963 1965
Wohnungsbindungsrichtlinien 1972
Wohnungsbindungsrichtlinien 1974
Fertiggestellte Wohnungen in Deutschland Pro Jahr seit 1949: 10,1 Mio, davon 4,9 Mio öffentlich gefördert 700.000
1 Insgesamt
600.000 500.000 400.000 300.000
2 Sozialer wohnungsbau
200.000 100.000 1949 50
55
60
65
39
GESELSCHAFT DER GLEICHEN ARBEITSFREIE TAGE IM JAHR 1960
105
URLAUBSREISENDE 1970
14,6 % **
1685
158
1975
55,9%
1980
57,7%
TARIFLICHE WOCHENARBEITSSTUNDEN 1950 48 1962
44
1973
41
1984
40
URLAUBSTAGE IM JAHR 1950
12
1970
21
1985
30
ANTEIL DER FREIZEITAUSGABEN AM AUSGABEFÄHIGEN EINKOMMEN 1965 9,5% 1970
10,7%
1975
12,9%
1980
13,6%
AUSGABEN FÜR DIE FREIZEIT INSGESAMT 1970 50 Mrd. DM 1986
220 Mrd. DM
*Daten am beispiel von Deutschland **Prozentualer Anteil der Bevölkerung Tabelle aus Hallmann, Heinz-Willi:Sport und Freizeitanlagen. Wohnungsnahe Freizeit. Bundesinstitut für Sportwissenschaft, 1991 Abb. Oben: Exclusive to Pan Am, a restaurant was available in the upstairs lounge of many of the 747 and 747SP aircraft (1977) Foto:Courtesy of Carlos M. Rivera-Cuesta, @adventure
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Der ‚Standartmarkt‘ bestehend aus weitgehend standardisiertem und normativ reguliertem Konsum von vorgefertigten gebrauchs- oder Statusgütern wurde durch standardisierte Arbeiter gewährleistet. Das Recht auf Bildung generiert Lehrplätze für jeden, wobei die Rationalisierung und Technisierung industrielle Abläufe vereinfachte und Experten durch einfach ausgebildete Arbeitskräfte mit standardisierten Qualifikationen ersetzte. „Die wirkliche Errungenschaft besteht darin, dass [sic] man ganz normale Menschen nimmt, sie auf einen eng begrenzten Sachgebiet gründlich schult und dann durch entsprechende organisatorische Vorkehrungen dafür sorgt, dass [sic] ihr Wissen mit dem anderer, ebenso gründlich geschulter Spezialisten – und ebenso normaler Menschen – vereint wird. Auf diese Weise wird das Genie entbehrlich. Was dabei herauskommt, ist zwar weniger begeisternd, aber dafür genauer vorauszubestimmen.“1 An stelle von Bürgertum und Proletariat tritt durch steigenden Wohlstand somit die nivellierte Mittelgesellschaft2 von Angestellten und Facharbeitern. Durch Transferleistungen auf welche breite Bevölkerungsschichten, auch Haushalte mit erwerbsfähigen Anspruch hatten, generierte der Wohlfahrtsstaat zudem eine Unschärfe des Klassencharakters und eine Abschwächung der Bedeutung alter Ungleichheiten. Die Elemente des einstigen bürgerlichen Lebensstils wurden generalisiert und boten Zugang zu Bildung, Urlaub, Bildungsreisen, Krankenrenten, -Versicherungen und das Recht auf Kur. Durch Staffelung der Transferleistungen und breitem Zugang wurden Konfliktpotenziale durch ‚Ungerechtigkeit‘ minimiert. Vielmehr zeichnete sich eine gegenseitige Solidarität3 zwischen unterschiedlichen Gruppen ab. Die zuvor beschriebene Rationalisierungsagenda auf Marktund Arbeiterebene spiegelte sich in allgemeingültigen Ansichten über Lebensziele und Stationen wieder. Die ‚sozial angepasste Persönlichkeit‘ formte sich durch das erstreben einer Normalbiografie. Gleichzeitig war aber auch eine Stärkung und Emanzipation des Individuums zu verzeichnen. Der Wohlfahrtsstaat stärkte das Individuum und löste es aus Klassenverbänden und der Abhängigkeit von der Familie. Durch individuelle Rechtsansprüche bekam ein jedes Individuum die Möglichkeit zur Entfaltung seiner individuellen Lebensstile. Staatliche Sicherung entbehrte die Familie als Sicherungsfaktor und schwächte die wirtschaftliche Bedeutung von Kindern und Ehe. Diese musste fortan nicht mehr 1 2 3
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aus rein wirtschaftlichen Aspekten erhalten werden, da die eigenständige soziale Sicherung der Frau garantiert wurde. Auch das Rollenverständnis zwischen Mann und Frau wurde durch technologische Entwicklungen wie Fernsehen, Telefon und erste Computer international verändert. Diese neue Individualität zeigte sich in einer linksorientierten, liberalen Gesellschaftsentwickelte, welche sich in Abkehr von konservativen Lebensmodellen der 1950er Jahre vor allem in den Jugendbewegungen, die in den sechziger Jahren von Westeuropa und den USA ausgingen formierte: „The formation of new subcultures and movements, generally critical of, or in opposition to, one or more aspects of established society.“4 Weitreichende Bildungsreformen und soziales Sicherungssystem führten zu einer Verschiebung der klassischen Lebenszyklen. Eine Verlängerung der Schulpflicht führt zu einer Verlängerung der Kindheit, gleichzeitig verändert sich auch die Dauer der Bildung und führt zu einer Ausdehnung der Jugendzeit. Zudem wurden durch Transferzahlung, Ausbildungsförderung und Wohngeld neue Lebensphasen wie die „post-adolesenz“ und neue formen der Frühpensionierung eingeführt. Bedingt durch neue Technologien und geregelte Arbeitszeiten, Recht auf Urlaub und steigender Wohlstand entwickelte sich ein neu aufsteigende ‚Freizeitkultur‘ welche durch sinkende Wochenarbeitsstunden, steigende Urlaubstage und steigender Wohlstand zu vermehrten Urlaubsreisen führten.
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Galbraith, Die moderne Industriegesellschaft,1967, S. 78 vgl. Soziale Logik des Allgemeinen: Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne. Suhrkamp, 2017, S.44 vgl. Dallinger, 2009 S.214: „Weil der Wohlfahrtsstaat eine spezifische Organisationsform neben dem Markt bilde, die soziale Risiken abfedert und Ziele wie Gerechtigkeit oder Gleichheit befördern soll, weil er Daseinsvorsorge staatlich und nicht privat organisiert, weil Solidargemeinschaften soziale Risiken auffangen, gilt der Wohlfahrtsstaat generell als solidarisch.“ Marwick, Arthur: The Sixties. Cultural Revolution in Britain, France, Italy and the United States, c. 1958-c.1974. Oxford/New York 1998, S. 17
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LEITBILDER DES STÄDTEBAUS
In den 1960er/1970er Jahren etablierte sich das Verständnis, dass sich die Stadt als komplexes System aus den gebauten Strukturen sowie aus dem Leben der Stadtbürger und Besucher zusammensetzt, wobei die Leitbegriffe Urbanität, Zentralität, Dichte und
Mischung dieses Zusammenspiel ausdrückte. Die unterschiedlichen Ebenen der Mehrzwecknutzung reichten dabei vom Gesamtkontext Stadt bis zum individuellen Wohnbereich.
01 DAS LEITBILD: 'URBANITÄT DURCH DICHTE' UND INDIVIDUELLE WOHLFAHRT 02 ‚MENSCHENGERECHTE WOHNFORMEN‘
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Individualität am Beispiel der Habitat in Montreal
Dichte in den Wohnhochhäusern Englands
Individuelle Wohlfahrt im Wohn-(Umfeld)
Hohe (Funktions-)Dichte in der Komplexbebauung
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Moshe Safdies Habitat in Montreal, fertiggestellt 1967 setzt sich aus einer scheinbar willkürlichen stapelung vorgefertigte Betonkuben zusammen. Dabei wird das Dach des einen die Terrasse des darüber wohnenden. Dies soll die Vorzüge des Einfamilienhauses aufzeigen und wurde als Terrassenhaus in den Folgejahren häufig im sozialen Wohnungsbau angewandt.1Der Komplex fasst 1000 Wohnungen, welche über ein Netz aus vertikaler und horizontaler Verbindungen erschlossen werden. Unter den geneigten Terrassen sind die gesellschaftlichen Einrichtungen wie Schule, Einkaufszentrum, Kultur- und Dienstleistungszentren untergebracht. In der direkten Nachkriegszeit wurden in England, wie auch in vielen anderen Westeuropäischen Ländern siedlungsartige Gebiete errichtet. Die New Towns setzten sich vorerst aus Ein- und Zweifamilienhäusern und später aus drei bis fünf geschossigen Zeilenbauten zusammen. Diese brachten zwar eine deutliche Verbesserung der hygienischen und gesundheitlichen Faktoren, gegenüber den Innenstädten aber auch viele Nachteile (vgl. Kapitel Phase I). So wünschte sich bald auch die Englische Bevölkerung eine rationellere Bebauungsform. Dies und die festgesetzte Erhöhung der maximal zulässigen Dichte führten in der Folge zum vermehrten Bau von Wohnhochhäusern. Hierbei wurde besonders das Gartenhochhaus mit leicht erreichbaren Gemeinschaftseinrichtungen von der Bevölkerung geschätzt.2Zudem schienen Wohnhochhäuser als wirtschaftlich günstig, vor allem auch für den sozialen Wohnungsbau. In England stieg der Anteil der Wohnhochhäuser von sieben Prozent der Gesamtbebauung vor dem Krieg auf 42 Prozent im Jahr 1963.3 „Nicht mehr überwiegend quantitative Probleme, wie z.B. die Durchsetzung hygienischer Mindestbedingungen, Sicherung von Verkehrswegen und Wohnraumbeschaffung stehen im Vordergrund, sondern Probleme der Qualitätsverbesserung der Umwelt als Teil der Lebensqualität, unter Einschluss der Möglichkeiten der Selbstentfaltung des einzelnen Bürgers, gewinnen an Gewicht.“4 Gestaltete Aufenthaltsbereiche, Spielplätze und weitere, unterschiedliche Möglichkeitsräume bilden dabei die bauliche Vorleistung zur Aneignung und können als Parameter für eine hohe individuelle Nutzungsdichte angesehen werde. Fehlen diese Räumlichkeiten, zeichnet sich eine Reaktion der Bewohner aus, in welcher sich diese weitestgehend aus den öffentlichen Freiräumen des nahen Wohnumfelds zurück und verstärkten damit die in vielen Publikationen als Kritikpunkt angeführte „Verödung des öffentlichen Raums“. Es wird damit deutlich, dass sich der Wechsel der Leitbilder in den 1960er Jahren auch und insbesondere in einem neuen Verständnis für den öffentlichen Raum abzeichnete. Arbeit, Wohnen und Einkaufen wird fortan häufig in hochverdichteter Bauweise zusammengebracht. Der verdichtete Städtebau und die großmaßstäbliche Architektur sind daskomplexe Ergebnis von unterschiedlichsten Umbrüchen und neuen wissenschaftlichen Ansätzen: die Thematisierung und das neue Verständnis der Öffentlichkeit und ihrer Bedeutung für die Stadt, der Begriff der Urbanität im Zusammenhang mit dem partizipierenden Bürger sowie 1 2 3 4
vgl. Sächsische Akademie der Künste (Hg.): Labor der Moderne. Nachkriegsarchitektur in Europa, Dresden,2014 vgl . Macetti, Silvio: Großwohneinheiten. Berlin 1968, S. 33 vgl. Muthesius, Stefan & Miles Glendinning: Tower Block: Modern Public Housing in England, Scotland, Wales and Northern Ireland. Yale University Press, 1994 Sieverts, Thomas: Planung und Spielraum in: Glaser, Herrmann (Hrsg.): Urbanistik. Neue Aspekte der Stadtentwicklung. München 1974, S. 72.
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ein neues Gesellschaftsbild, das gemeinschaftliches und gleichwertiges Miteinander aller Bewohner zum Ziel hat.
02 Das Terrassenhaus und der Wohnhügel
Friedrich Spengelin nahm die Kritik an den monotonen Zeilensiedlunge in seinem 1963 veröffentlichten Buch „Menschengerechte Wohnungs- und Siedlungsform“ auf und suchte nach neuen Wohnmöglichkeiten. Er kritisierte das fehlen räumlicher Beziehungen der einzelnen Bauten zueinander, sowie eine übergeordnete, verbindende Struktur. In den Wohnbauten selbst, kritisiert er das Fehlen eines „Fluidums“, welches er als Raumklima bezeichnet.1 Als geeignete Wohnform beschreibt er die Maisonettewohnung, während er bei der Bauform Terrassenhäuser, das Reihenhaus und die Teppichsieldung nennt. Dies Bauformen würden laut Spengelin zur Erhöhten Qualität in den privaten Wohnungen, sowie zur Kommunikationsförderung innerhalb der Nachbarschaft beitragen. Die Terrassenhäuser, oder auch Wohnhügel, in den 60er / 70er Jahren eine immer häufiger entstehende Gebäudetypologie, markierten den Versuch der Monotonie der Betonbauten, wie auch die Zersiedlung des städtischen Umlands mittels begrünten ‚vertikal gestapelten Einfamilienhäusern‘ einhalt zu gebieten. Diese versprachen Freiraumqualitäten des Einfamilienhauses auf den Geschosswohnungsbau zu übertragen und so eine Verbindung von hoher Wohnqualität und hoher Dichte zu generieren. So wurden in den 60er Jahren einige dieser Wohnhügel bzw. Terrassenhäuser errichtet. Hauptmerkmal hierbei, die nach Osten und Westen orientierten, an Schlaf und Wohnraum angrenzenden großzügigen Terrassen, welche ein hohes Maß an Qualität, Privatheit und Ungestörtheit schafften. Die im Inneren entstehenden , schlecht zu belichtenden Hohlräume, wurde als Parkplätze, oder für Gemeinschaftseinrichtungen genutzt.
Die Wohnbrücke eine Sonderform der Straße, zumeist terassiert5
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ENTWICKLUNGSTRENDS IN DER VIELGESCHOSSIGEN BAUWEISE: 1. VIELGESCHOSSIGKEIT ALS EINFACHE VERMEHRUNG DER GESCHOSSZAHL. QUALITATIV ERGEBEN DIESE KEINE NEUEN VERBESSERUNGEN IM VERGLEICH ZU MEHRGESCHOSSIGEN WOHNKOMPLEXEN. 2. VIELGESCHOSSIGKEIT ALS MÖGLICHKEIT EINE NEUE ORGANISATIONSFORM DER VERSORGUNG ZU GENERIEREN. DURCH DIE UNTERBRINGUNG VON FOLGEEINRICHTUNGEN IM SOCKEL KANN EINE NEUE QUALITÄT DURCH RATIONALISIERUNG DES LEBENSABLAUFS VERZEICHNET WERDEN. "DIE LETZTE TENDENZ FÜHRT DEUTLICH ZUR GROSSWOHNEINHEIT" 4
ÖFFENTLICH, PRIVAT, GEMEINSCHAFTLICH „Je stärker Polarität und Wechselbeziehung zwischen öffentlicher und privater Sphäre sich ausprägen, desto ‚städtischer‘ ist, soziologisch gesehen, das Leben einer Ansiedlung.1
01 POLARITÄT AUS ÖFFENTLICHER UND PRIVATER SPHÄRE 02 DIE PRIVATE SPHÄRE
1 Bahrdt, Hans Paul: Die Moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Hrsg.: Ulfert Herlyn, 1998 S.88
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03 NACHBARSCHAFT UND SELEKTIVE MOBILITÄT
01
Ein Ansatz des Urbanitätsverständnises aus den 1970er Jahren setzt Urbanität in den Kontext der Nutzungsverflechtungen. Der Begriff Urbanität steht dann für die Bezugsebene Stadtquartier. Daraus folgt, dass Urbanität „[...] die Zusammenfassung [...] vieler gleicher und verschiedener Nutzungen innerhalb der jeweiligen Bezugsebene“1ist. Diese Definition beleuchtet allerdings nur einen kleinen Teil des Urbanitätsbegriffs. Nach Hans Paul Bahrdt lässt sich der Maßstab des Grades der Urbanität nach der höhe der Wechselwirkung zwischen öffentlicher und privater Sphäre messen. Fehlt diese, so kommt es zur Segregation, welche auch als eine Fehlplanung der funktionalen Stadt gesehen werden kann: „Das Fehlen der Polarität Öffentlichkeit-Privatheit wird verursacht durch Strukturpläne, die dem Prinzip der Entmischung folgen, der räumlichen Funktionstrennung von Arbeit, Versorgung und Wohnen, Freizeit [...] und dem dadurch hervorgerufenen Anwachsen des Individualverkehrs [...]“2 In der Publikation von dem Soziologen Dieter Hassenpflug von 2002 „Die europäische Stadt. Mythos und Wirklichkeit“ unterscheidet dieser zwischen der sozialen, der funktionalen und der ästhetischen Urbanität. Spannend für die Thematik der Großwohnbauten scheint hierbei die Funktionale Urbanität, welche sich durch die „Leistungsfähigkeit des städtischen Raums“ definiert. Hierzu gehören die Aspekte der Zentralität (die Nähe von Funktionen und Nutzungen), Funktionsvielfalt (Wohnen, Arbeiten, Erholen, Sport sind räumlich nah verfügbar), Nutzungsmischung (ein städtischer Raum wird für unterschiedlichste Aktivitäten genutzt) und Funktionspluralismus (unterschiedlichste Räume koexistieren). Sozialökologisch ist nach Edgar Salin die Urbanität abhängig von der Größe der Stadt, der Dichte und der Heterogenität der Bevölkerung, was jeweils bedingt wird durch den Einzugsbereich eines städtischen Markts und die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Die politische Soziologie sieht in Urbanität die Bildung und Leistung eines Städters sowie seine Partizipation an der Stadt. Durch das wachsende Verkehrsaufkommen, gefördert durch den Anstieg des Individualverkehrs, scheint der Charakter öffentlicher Straßen und Plätze verloren zu gehen. Gleichzeitig, geht aber auch ein Teil des privaten Charakters der Wohnung verloren. Dies geschieht durch den massiven Autolärm der überfüllten Straßen und das damit einhergehende Nichtvorhandensein ‚unbehelligter Fußgängerwege‘3. Als Lösungsansatz, kann hier die Verkehrstrennung zwischen motorisiertem und Fußläufigem Verkehr genannt werden. Dies gilt, wie im vorherigen Kapitel beschrieben, als Charakteristikum der Großwohnkomplexe und kann als eine entscheidende Architektonische beziehungsweise Städtebauliche Tendenz der 1970er Jahre angesehen werden.4 Durch die strikte Verkehrstrennung, soll die Teilhabe an der Öffentlichkeit wiederhergestellt werde. Der Raum wird wieder geöffnet für ungestörte und intuitive Bewegung des Fußgängers und spontane, für den öffentlichen 1
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Technische Universität Braunschweig (Hrsg.): Eine Analyse von Nutzungsverpflechtungen und ihrer Bezugsebenen. Mehrzwecknutzung. Multifunktionalität. Urbanität. Braunschweig 1972, S. 33 zitiert nach Beck, Karen: Urbanität durch Dichte? S.71 Technische Universität Braunschweig (Hrsg.): Eine Analyse von Nutzungsverpflechtungen und ihrer Bezugsebenen. Mehrzwecknutzung. Multifunktionalität. Urbanität. Braunschweig 1972, S. 53. zitert nach Beck, Karen: Urbanität durch Dichte? S.70 Bahrdt, Hans Paul: Die Moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Hrsg.: Ulfert Herlyn, 1998 S.180 Dies Leitet sich aus der Fülle der Beispiele, welche als Gebäudekonglomerate ab mitte der 1960er Jahre in ganz Westeuropa entstanden sind. Diese entwicklung kann auch als letzte Stufe der weiterentwicklung der Suche nach architektonischen/ städtebaulichen Lösungen für Großstrukturen gesehen werden, da die Phase der Großstruktur gleichzeitig mit der Ölkrise 1973 einbrach.
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90 | URBANITÄT DURCH DICHTE?
Abb. 8: Titelseite Bauwelt 23/1972
„GESTERN“ „alle sind gleich“
„MORGEN?“ "jeder hat das Recht auf individuelle Identität in dem von ihm augenblicklich genutzten Teil der gebauten Umwelt"
„HEUTE“ „wenige wissen wie verschieden alle sind“unterschiedliche Wohnungsstrukturen für unterschiedliche Lebenssituationen und Familiengrößen: um ein möglichst vielfältiges und gemischtes Wohnquartier zu erzeugen
Quelle: Bauwelt 23, 5. Juni 1972, 63. Jahrgang; Titelbild Funktionalistischer Als Wohnungsgrundriss
spezifische Situation der Privatheit kann dabei das Wohnen angesehen werden. Während im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Wohnen durchaus gelebt wurde, entdecken sowohl Martin Heidegger (1889–1976) als auch Henri Lefebvre (1901–1991) mit dem Beginn des funktionalistischen Bauens einen Bruch in der poetischen Dimension des traditionellen Hauses.172 Beide formulierten eine vergangene Poesie des Wohnens, die weit über die techNutzungsneutraler nische und räumliche Dimension hinausgeht und durch die moderne StädteplaWohnungsgrundriss nung und Architektur verdrängt wird. Entsprechend der Abstufungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit ist auch die Wohnung als Wohnraum eines Individuums, einer Familie oder Wohngemeinschaft, nicht in allen Räumen gleichmäßig privat. Während der Wohnraum als repräsentativer Raum genutzt, wird um Gäste zu empfangen, besitzen die Schlaf- und Arbeitszimmer durchaus intimeren Charakter. Der Wohnraum ist Fließender Wohnungsgrundriss
172 Vgl. Meyer, Kurt: Von der Stadt zur urbanen Gesellschaft. München 2007, S. 268.
Abb. oben: Bauwelt Cover, Heft 23, 1972 aus: Beckmann, 2015 S.90 Abb. unten aus: Zapf, Katrin: Haushaltsstrukturen und Wohnverhältnisse S. 579 In: Flagge, Ingeborg (Hg.): Geschichte des Wohnens 1999
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Die private Sphäre, wie im vorherigen Kapitel beschrieben, meint also die spezifische Wohnung des Individuums. Auch innerhalb dieser Sphäre lassen sich verschieden Abstufungen zwischen Orten des Öffentlichen und des Privaten abstufen. Der Wohnraum würde somit als repräsentativer Raum dem öffentlichem Charakter der Wohnung zuzuschreiben sein, währen Schlafräume durchaus eine gewisse Intimität oder Privatheit ausweisen. Der Wohnraum ist demnach eine „[...] soziale Zwischenstufe, zwischen einem öffentlichen Ort [...] und dem privaten Schlafzimmer.“1 Als 'soziale Zwischenstufe' kann die halböffentlichen Zone bezeichnet werden. Die Polarität dieser drei Zonen, welche in Großwohnbauten in enger räumlicher Verknüpfung koexistieren, sich teilweise überlagern und Sichtbezüge zueinander herstellen gilt es in den Fallbeispielen zu analysieren. Hier liegt die Annahme Bahrds zugrunde, dass die Wechselwirkung von privater und Öffentlicher Sphäre maßgeblich für den positiven Ablauf einer jeden Seite und vor allem für das Urbane, lebendige städtische Leben ist. Nicht nur die Wechselbeziehung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, der Grundstein städtischen lebendigen, urbanen Lebens spielt in den Großstrukturen eine Rolle. Maßgeblich zur Ortsbindung (Identifikation mit dem Wohnheim) und Stärkung des Gemeinschaftlichen Zusammenhaltes innerhalb der Bewohner ,bei gleichzeitiger Reduzierung des negativ Aspekts Anonymität) stellt sich der Halböffentliche Bereich dar, so die These. Diese Schwelle zwischen öffentlich und Privat soll im folgenden versucht werden mit dem Begriff der 'Nachbarschaft' besser zu fassen. Nachbarschaft darf hier allerdings in keinem Falle als Synonym für kommunenähnliche Gemeinschaften oder dörfliche 'Geborgenheit' gesehen werden, sondern vielmehr einen Deutungsansatz der 'Schwellenräumlichkeiten' aus architektonischer Sicht liefern. "Er muss [sic] sich jedoch vor der Nachbarschaftsideologie hüten, die der Stadt gerade das zu nehmen droht, was sie zur Stadt macht [...] Man hofft, dass [sic] sich eine gefühlsbetonte Vertrautheit herausbilden werde, die der Individualisierung des großstädtischen Lebens entgegenwirkt. "2 Die Nachbarschaft bzw. halböffentliche Sphäre, sollte einen gewissen Einzugsbereich nicht unterschreiten , aber zugleich auch nicht überschreiten um eine die Stadt prägende politische, öffentliche Gemeinschaft zu schaffen und Anonymität zu vermeiden: "Die kleinste, als ein Kollektiv erlebte Untereinheit des Sozialgebildes der Stadt darf eine gewisse Größe nicht unterschreiten, wenn das Leben seinen städtischen Charakter nicht verlieren soll. Die Größenordnung muss [sic] erlauben, dass [sic] sich innerhalb dieses Stadtteils eine gewisse Öffentlichkeit herausbildet. Die Voraussetzung diese Öffentlichkeit ist jene unvollständige Integration, die ihrerseits wieder die Unabhängigkeit der Privatsphäre ermöglicht."3
Gemeinschaftliche Einrichtungen, als ergänzung zum Privaten Wohnraum zur Förderung von demokratischem Verhalten, Kommunikation einem Gemeinschaftlichen und gleichwertigen miteinander und Partizipation der Bewohner.
Die Individualität des Individuums, im Grundriss der Wohnbauten ablesbar, lässt sich als umfassenden Teilaspekt, so die These, der hohen Bewohnerzufriedenheit und Lebensqualitäten in den Großwohnbauten feststellen. „Die Dynamik der Wirtschaft und die daraus resultierende Mobilität der Bevölkerung, ferne auch der rasche Wechsel der Einkommensverhältnisse und der Sozialstruktur führen immer wieder zu rapiden Veränderungen des Wohnungsbedarfs am jeweiligen Ort, sowohl in quantitativer als auch in 1.
Steiner, Dietmar: Ich glaube, ich lerne das Wohnen nie. In: Verlag Austria Press (Hrsg.): Wohnen morgen. Wien 1992, S. 10. Zitiert nach Beckman, Karen: Urbanität durch Dichte? S. 90f. 2. Bahrdt, Hans Paul: Die Moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Hrsg.: Ulfert Herlyn, 1998 S.182 3. ebd. 4. ebd. S.184 5. Vgl. Gehl, Jan: Life between buildings. Using public space, 2011
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qualitativer Hinsicht.“ 4 Für je spezifische Lebensarten, oder Situationen, lässt sich in einer fülle unterschiedlicher Wohnungstypologien bekanntlich eine je passende Wohnung besser finden. Zudem stärken Grundrissvielafalten die Bindung des Bewohners an den Wohnort, da die Möglichkeit besteht innerhalb des selben Komplexes eine der neuen Lebenssituation angepasste Wohnung zu beziehen. „Da der Wohnbedarf einer Familie sich je nach Lebensphase wandelt, sollte es möglich sein, daß sie jeweils eine geeignete Wohnung finden, ohne das Quartier und die gewohnte Umgebung wechseln zu müssen.[...] Die Wohnungsmenge muß deshalb so vielgesichtig sein, daß alte und junge Leute, die miteinander verwand sind, entweder unter einem Dach mit den gebotenen Separierungsmöglichkeiten, oder aber auch in der Nachbarschaft die geeignete Wohnung finden.“5 „Ebenso alltäglich wird, (...), allmählich die Erscheinung, daß große Bereiche des Lebens in der Unangefochtenheit einer privtaen Sphäre liegen und sich deshlab eigengesetzlich entwickeln können“6 Genau diesen Aspekt beschreibt das Cover der Bauwelt von 1972, im Gegensatz zum Wohnungsbau der direkten Nachkriegszeit, liegen dem verdichteten innerstädtischen Wohnungsbau der Aspekt der Vielfalt zu Grunde. Diese Vielfalt spiegelt sich nicht nur in der bereits beschriebenen spezifischen Nutzungseigenschaft, sondern vielmehr auch in einer Reihe unterschiedlicher Grundriss- und Wohnungstypologien wieder. Wie auf dem Titelblatt deutlich wird, rückt nicht nur das Thema der Gemeinschaft, sondern vielmehr die Individualität des Individuums in Architektonischen Debatten und Bauten in den Fokus. Der Wandel der privaten Sphäre lässt sich in folgenden Kernaussagen zusammenfassen: 1.Verkürzung der Arbeitszeit Die Verkürzung der Arbeitszeit und die damit verbundene Steigerung der ‚Freizeit‘ stellt neue Anforderungen an Architektur und Städtebau. Das Wohngebiet sollte nunmehr Funktionen für eine adäquate Freizeitgestaltung beinhalten. Es verliert also seine Funktion als ‚Schlafstädte‘ und wird vielmehr zum Hauptlebensmileu. 2.Rationalisierung aller Lebensbereiche Wie schon im Kapitel zur Gesellschaft der Gleichen angesprochen hält die wissenschaftlich- technische Revolution auch im Bereich der individuellen Lebensweise Einzug. Auf Ebene der Wohnungen zeigt sich dies an der Fülle technischer Ausstattung und Geräte, gerade im Bereich des Haushaltes.
laubten kaum Variabilität in den Nutzungen. Vorgegebene Lebensweise der ‚Standartfamilie‘ zeigt sich in den Grundrissen der 50er Jahre. Das Wohnzimmer mit Eßplatz als Familienzimmer gestaltet und der größte Raum der Wohnung. Ergänzt wurde dieser durch ein kleines Elternschlafzimmer, welches an vorgegebner Stelle gerade platz für ein Doppelbett bot, kleine Kinderzimmer, eine kleine Kochküche und ein kleines Bad. Die veränderten Grundrisstypologien der 70er Jahre lassen sich in zwei Kategorien unterteilen. Der Nutzungsneutrale Grundriss, welcher variable Nutzung der einzelnen Räume ermöglichen sollte und in konsequenter Weiterentwicklung zum ‚flexiblen Wohnungsgrundriss‘ausgebaut wurde. Dieser im Bausystem ausgeführt Grundriss sollte den Bewohnern die Möglichkeit einfacher Anpassungen, wie den Versatz von Innenwänden oder Durchbrüche ermöglichen. Dies wurden allerdings in der Realität zu selten durchgeführt, so dass diese Entwicklung sich nicht fortsetzte. Der zweite Typus war der des ‚fließenden Grundrisses‘. Auf Trennwände und Separierung wurde weitgehend verzicht um so höchstmögliche individuelle Nutzungen zu generieren. Im sozialen Wohnungsbau fand diese Form der Grundrissgestaltung allerdings kaum Verbreitung, da gegenseitige Störung der Haushaltsmitglieder bei offenen Grundrissen unvermeidbar sind. Als Maisonette ausgebildet, konnte die Kombination aus fließendem Grundriss, in einem Geschoss und nutzungsneutralem im anderen, ‚Eigenheimqualitäten‘ im Geschosswohnungsbau erzeugen.
3. Von der familiengerechten Wohnung der 1950er Jahre Zu fließenden und nutzungsneutralen Grundrissen der 70er Jahre Die funktionalistischen Grundriss der Nachkriegszeit er-
Nachbarschaft als Solidarität: Nach Max Weber in seiner Publikatoin ‚Grundlagewerk Wirtschaft und Gesellschaft ‚ 1922 bezeichnet der Begriff
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Nachbarschaft als gemeinschaft: So definiert Ferdinand Tönnies 1903 in seinem Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft“ die Nachbarschaft, neben Familie und Freunden als eine der drei grundlegenden Formen von Gemeinschaft. Nachbarschaft behandelt in dieser Phase hauptsächlich dörfliche, ländliche Gefüge.„Nachbarschaft ist der allgemeine Charakter des Zusammenlebens im Dorfe, wo die Nähe der Wohnstätten, die gemeinsame Feldmark oder auch bloße Begrenzung der Äcker, zahlreiche Berührungen der Menschen, Gewöhnung an einander und vertraute Kenntnis von einander verursacht; gemeinsame Arbeit, Ordnung, Verwaltung notwendig macht[...] und muss alsdann um so mehr in bestimmten Gewohnheiten der Zusammenkunft und heilig gehaltenen Bräuchen ihre Stütze suchen“7
Bahrt S. 176 ebd. S.180 Bahrdt, Hans Paul: Die Moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Hrsg.: Ulfert Herlyn, 1998 S.106 Tönnies 1912 (1903), S. 18, zit. n. Althaus, Eveline : Sozialraum Hochhaus Nachbarschaft und Wohnalltag in Schweizer Großwohnbauten, Bielefeld, transcript, 2018, S.32
der Nachbarschaft vielmehr eine Beziehung, welche auf Solidaritätsleistungen innerhalb nebeneinander wohnender. „Nachbarschaft bedeutet praktisch, zumal bei unentwickelter Verkehrstechnik, Aufeinander- angewiesensein in der Not. Der Nachbar ist der typische Nothelfer und ›Nachbarschaft‹ daher Trägerin der ›Brüderlichkeit‹ in einem freilich durchaus nüchternen und unpathetischen, vor- wiegend wirtschaftsethischen Sinne des Wortes.“8 Konzept der Neighborhood-Unit: Die Konzeption der Neighborhood-Unit sieht eine Zonierung der Stadt in verschiedene Stadtteile mit Wohnbereichen, Dienstleistungsinstitutionen und Erholungsflächen vor, also einen funktionellen nachbarschaftlichkeits Begriff. In den USA wurde die neighborhood-unit zur typischen kommunalen Organisationsform.9 In der Soziologie und der Siedlungsplanung wurde das Thema der Nachbarschaft 1923 erstmals zur Diskussion gebracht, mit der Idee der ‚Nachbarschaftseinheit‘ 7 initiiert durch den Planer C.A.Perry. Kritik der ‚Klassischen‘ Nachbarschaftsbezeichnung: Die zweite Phase, welche eine hohe Aktivität im Bereich der Sozialwissenschaften und dem Thema der Nachbarschaft verzeichnen konnte waren die 1960er- und 1970er-Jahre. Mit der steigenden Kritik an der Planungspraxis der vergangen Nachkriegsjahre, wuchs auch die Kritik am Nachbarschaftsbegriff wie er bis dahin verstanden und produziert wurde. Die Nachbarschaftsforschung erfuhr so eine Neuausrichtung und gewann an Ausdifferenzierung. Kritik an der Nachbarschaft: Ein maßgebliches Problem des Begriffes der Nachbarschaftsplanung erfasste Jane Jacobs in ‚The Death and Life of Great American Cities‘ 1961. Sie beklagte, Nachbarschaft könne der ‚Fluidität‘ großstädtischen Lebens nicht gerecht werden, sondern imitiere vielmehr dörfliche Assoziationen.10 „Er [der Begriff der Nachbarschaft] verleitet dazu, das Großstadtleben zu Imitationen kleinstädtischen oder vorstädtischen Lebens zu verzerren“11„Was auch immer Nachbarschaften in der Großstadt auszeichnen mag und welchen Nutzen sie haben mögen, ihre Qualitäten können der städtischen Mobilität und Flexibilität der Nutzung nicht zuwiderlaufen, ohne die Stadt - deren Teil sie sind - wirtschaftlich zu schwächen. Das Fehlen von wirtschaftlicher oder sozialer Unabhängigkeit ist in großstädtischen Nachbarschaften natürlich und notwendig, ein- fach weil sie nur
Teile der Großstädte sind. lsaacs hat recht, wenn er fragt, ob der Begriff der Nachbarschaft in Großstädten nicht sinnlos sei. Er hat so lange recht, wie wir die Nachbarschaften nach kleinstädtischem Muster als unabhängige, bis zu einem hohen Grad autarke Einheiten auffassen.“12 Um Integration von Ortsgebunden Bevölkerungsgruppen zu gewährleisten, scheint die Nachbarschaft ein wichtiger Punkt zu sein. Häufig zählt gute Nachbarschaft aber auch zu einem punkt um Bevölkerungsgruppen, die sehrwohl Wahlmöglichkeiten besitzen an einen spezifischen Ort längerfristig zu binden. „Mit höherem Einkommen, höherer Bildung und beruflicher Stellung nehmen die Anzahl der sozialen Bezugsgruppen einer Person zu und die Bedeutung der Nachbarschaft ab. Umgekehrt werden Nachbarschaftsbeziehungen gerade für untere Sozialschichten wichtiger, was Hamm mit verringerten Mobilitätschancen sowie einer zunehmenden Bedeutung gegenseitiger Hilfeleistungen erklärt“13 Die Nachbarschaft in Weiterentwicklung der früheren ‚dörflichen‘ Begriffsbildung tritt in urbanen Gebieten in veränderter Form in Erscheinung.14 Je dichter die Bebauung, desto besser lässt sich der Einzugsbereich des Nachbarn definieren. In Einfamilienhausgebieten zählen so logischerweise nur ein Bruchteil von Menschen hinzu, während in Großwohnbauten der Kreis deutlich weiter ist. In diesen, formiert sich die Nachbarschaftseinheit in einem Hauszugang, einer Etage oder einer Erschließungszone. 15In welchem Maße Nachbarschaftliche Beziehungen entstehen, scheint maßgeblich von geteilten halböffentlichen und öffentlichen Zonen bestimmt zu werden. 16 Zum Thema der Wechselbeziehung aus öffentlich und Privat und dem richtigen Maß an ‚Nachbarschaft‘ kann auf den Soziologen Kurt Freisitzer zurückgegriffen werden, Er fasst die Qualität zusätzlicher Gemeinschaftlicher Einrichtungen und deren Verhältnis zur privaten Sphäre am Beispiel vom Wohnpark Alt Erlaa wie folgt zusammen: „ Im Wohnkomplex Alt-Erlaa sind je sechs oder sieben Wohneinheiten vom übrigen Wohnkomplex abgetrennt. Dort herrschen Ruhe und Privatheit. Für den Fall aber, daß ein Bedürfnis nach sozialen Kontakten entsteht, gibt es die Möglichkeit, diesen Kontaktwunsch in aller Unverbindlichkeit zu realisieren. Wer Langeweile verspürt, sich einsam fühlt, kann in das Hallenbad gehen, zum Tischtennis, auf das Sonnendeck zum Freibad oder in die Sauna oder kann an Klubaktivitäten teilnehmen.“17
8 Weber 1972 (1921/22), 216) zit. n. ebd. 9 ebd. 10 vgl. Jacobs, Jane: Tod und Leben grosser amerikanischer Städte.Bauwelt Fundamente Band 4, 1963 11 ebd. S.78 12 ebd. S.81 13. Althaus, Eveline : Sozialraum Hochhaus Nachbarschaft und Wohnalltag in Schweizer Großwohnbauten, Bielefeld, transcript, 2018, S.44 14. vgl. Hamm, Bernd :Betrifft: NachbarschaftVerständigung über Inhalt und Gebrauch eines vieldeutigen Begriffs, Düsseldorf, Bertelsmann Fachverlag, 1973 15. ebd. S.98 16 vgl. Althaus, Eveline : Sozialraum Hochhaus Nachbarschaft und Wohnalltag in Schweizer Großwohnbauten, Bielefeld, transcript, 2018,S.65 17. Hass, Hans & Freisitzer, Kurt & Gehmacher, Ernst & Glück, Harry: Stadt und Lebensqualität. Neue Konzepte im Wohnungsbau auf dem Prüfstand der Humanethologie und der Bewohnerurteile. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart, Österreichischer Bundesverlag, Wien, 1985 S.12
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„lsaacs [Reginald lsaacs von der Harvard-Universität ] weist darauf hin, dass Großstadtmenschen beweglich sind. Sie können aus der gesamten Stadt alles, was sie brauchen, auswählen; und sie tun das auch, angefangen von den Arbeitsplätzen und allem, was damit zusammenhängt, bis hin zum Zahnarzt und zu Freunden, Geschäften, Vergnügungen und, in vielen Fällen, den Schulen für ihre Kinder. Großstadtmenschen, sagt Isaacs, sind nicht auf das Provinzlerische einer Nachbarschaft angewiesen. Warum sollten sie auch? Liegt nicht gerade in der großen Auswahl und im Reichtum an Möglichkeiten die Daseinsberechtigung von Großstädten? Der städtischste Bürger ist an der Atmosphäre seines Bezirks und der Straße, in der er wohnt, interessiert, und zwar unabhängig von der Wahl seiner Möglichkeiten außerhalb dieses Bezirks; das Gros der Großstadtbewoh- ner hängt im täglichen normalen Leben sogar sehr von seiner Nachbarschaft ab.Nehmen wir an, was so oft der Fall ist, daß Nachbarn in einem Bezirk nichts von Bedeutung miteinander gemeinsam haben, abgesehen davon, daß sie den gleichen geographischen Zipfel bewohnen. Immerhin wird dieser Zipfel versagen, wenn es ihnen nicht gelingt, ihn ordentlich zu verwalten.“ [ Jacobs1963:80]
SCHWELLENRÄUME =HALBÖFFENTLICH = NACHBARSCHAFT "WORAUF ES ANKOMMT, IST NICHT DIE BLOSSE ZAHL BEIEINANDERWOHNENDER MENSCHEN, SONDERN DIE BESONDERE WEISE, IN DER SIE SICH GESELLSCHAFTLICH ZUEINANDER VERHALTEN.“ [BAHRDT,1998:84] „Zwischenraum“ zwischen der Privatheit der Wohnung und der Öffentlichkeit der Straße, die mehreren Familien und Einzelpersonen zugänglich ist, jedoch durch einen beschränkten Benutzerkreis eine Intimität behält
PRIVAT
HALBÖFFENTLICH
ÖFFENTLICH
Die Wohnung
Gemeinschaftsräume und Einrichtungen von allen Bewohnern geteilt
Versorgungs- und Dienstleistungseinrichtungen
NACHBARSCHAFT EIN ZWIESPÄLTIGES PARADIGMA
„DA WIR UNSERE NACHBARINNEN KAUM JE FREI AUSSUCHEN KÖNNEN, IST ES MEIST EINE ZUFÄLLIG-ERZWUNGENE NÄHE, DIE UNS VERBINDET EIN ZUVIEL AN NÄHE KANN DESHALB AUCH ANGST VOR DEM »ZUVIEL EINER UNENTRINNBAREN WECHSELSEITIGKEIT« (SCHILLING 1997, 11) AUSLÖSEN. NÄHE UND DISTANZ STEHEN KOMPLEMENTÄR ZUEINANDER UND ES MACHT KEINEN SINN, DAS EINE ÜBER DAS ANDERE ZU GEWICHTEN. ES BRAUCHT VIELMEHR BEIDES (VGL. MÜNKLER 2011, 194F).UND DAS WIEDERUM LÄSST SICH VEREINEN MIT DEM THEMA DER ÖFFENTLICHEN UND PRIVATEN SPHÄRE!“1 Nachbarschaft findet sich in den architektonischen Schwellenbereichen zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Das angepasste Nachbarschaftsverständnis beschreibt gute Nachbarschaft also aus dem richtigen Maß an Kontakt, auf freiwilliger Basis durch Sicht, und Raumbezüge hergestellt. „Nachbarschaft scheint das Paradigma schlechthin von einerseits und andererseits« (Schilling 1997, 11). Es handelt sich um ein Spannungsfeld, das zwischen Öffnung und Abgrenzung, Mein und Dein, Individuellem und Gemeinschaftlichem oszilliert, wobei es immer auch um das Austarieren zwischen Nähe und Distanz geht“2 Der Halböffentliche Schwellenraum fungiert als Mittel um der Anonymität entgegen zu wirken, Gemeinschaften entstehen zu lassen und Ortsbindung zu stärken. Diese stellt gerade im sozialen Wohnungsbau einen wichtigen Einflussfaktor dar um selektive Mobilität besser gestellter Haushalte einzuschränken und führt zudem zum Abbau Schichtenspezifischer Separierung. 3
Abb. Love in Bloom – G-d Bless America. Henry Street Settlement. Good Companions Senior Centre – 1978 @ Flashback 1. Althaus, Eveline : Sozialraum Hochhaus Nachbarschaft und Wohnalltag in Schweizer Großwohnbauten, Bielefeld, transcript, 2018, S.62f. 2. ebd. S.61 3. vgl. Gesellschaftliche ausprägung: Rosanvallon, Pierre: Die Gesellschaft der Gleichen. 2013
[EXKURS] STUDIE:
‚WOHNWERT IM SOZIALEN WOHNUNGSBAU‘ Mit hoher Wohnzufriedenheit steigt die individuelle Lebensqualität maßgeblich. In einer Studie zum Thema des ‚Wohnwertes‘ im sozialen Wohnungsbau‘ wurden alternative Lösungen mit herkömmlichen anhand umfassender Befragungen auf die Bewohnerzufriedenheit hin untersucht.
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„Mit steigendem Wohlstand, kristallisierte sich immer mehr eine Gesellschaft aus Individuen heraus, und damit gleichzeitig ein Defizit an Gemeinsinn. Durch höheren Zugangang zu Bildung, gestärkt durch den Machbarkeitsethos der Zeit, wuchs der Wunsch nach individueller Verwirklichung. Das ständiges Leistungsstreben, das sich in dieser Zeit ausdrückte, machte den Wiederaufbau der Kriegsschäden erst in dieser Fülle möglich. Die Reaktion der jungen Generation auf dieses Mantra drückte sich in den Studentenrevolten von 1968 aus. Doch auch dieser Protest endete in der Annahme 'Selbstverwirklichung und Bestimmung' der Fremdbestimmung vor zu ziehen. Das Defizit des 'Gemeinsinns' wurde dadurch nur weitergehend gestärkt und damit die Chance auf eine wirksame gesellschaftliche Entwicklung. Wahlfreiheit und Leistungsdruck führen bekanntlich nicht immer zu Glück, sondern häufig zu Frustration. Der Rückzug in die Kleinfamilie verhindert die Bildung von kollektiven Widerständen. Vor allem im Bereich der Architektur und des Baumanagements, in welchem beim Thema Wohnraum häufig vorrangig wirtschaftliche Ziele angestrebt werden.“1Die Einleitenden Thematik vom Soziologen Kurt Freisitzer im 1985 veröffentlichen Buch 'Stadt und Lebensqualität. Neue Konzepte im Wohnungsbau auf dem Prüfstand der Humanethologie und der Bewohnerurteile' lässt auf den ersten Blick deutliche Parallelen zur aktuellen Gesellschafts- und Wohnsituation ziehen. 2 Weiter Schlussfolgert er: "Nach fast vier Jahrzehnten Wohnbau seit dem Zweiten Weltkrieg muss [sic] man sich die Frage stellen, wie die Wohnbedürfnisse einer großen Zahl von Menschen besser als bisher zu befriedigen sind."3Auch diese Frage lässt sich ohne weiteres ins 21. Jahrhundert übertragen, mit dem einzigen Unterschied, dass es nun mehr fast sieben Jahrzehnte sind. Im folgenden soll es um die Frage gehen, was konkret die Wohnverhältnisse und Lebensqualitäten im sozialen Wohnungsbau der Nachkriegsjahre ausmacht. Spezifisch solche, welche scheinbar bis heute als positiv von der Bewohnerschaft beurteilt werden. Als Indiz für hohe Bewohnerzufriedenheit werden Faktoren wie langjährige Bewohnerschaft, steigender Eigentumsanteil, Bewohnerinterviews oder prinzipiell positive Rezeption in der Öffentlichkeit gesehen. Zudem werden ermittlungswerte der Studie von Freisitzer aus den Jahren 1975 und 1978 über Tendenzen zu steigender Lebensqualität herangezogen. In diesem Kapitel werden die Ergebnisse, wie auch soziologische und Architektonische Hintergründe kurz beleuchtet. „Vollwertiges Wohnen galt unter Architekten, Wohnbauträgern, Politikern und Soziologen weithin als Privileg der Reichen. Man konnte sich nicht vorstellen, dieses auch im sozialen Wohnbau zu realisieren. Beispiele aus der neueren Geschichte widerlegen diese Auffassung. Inzwischen gibt es Wohnbauten, die innerhalb des im sozialen Wohnbau zulässigen Kontenrahmen vollwertiges Wohnen vermitteln. „4Der Wunsch nach ‚vollwertigen Wohnen‘ im Sozialen Wohnungsbau, beschäftigte viele Architekten der Zeit. Besonders der Architekt Harry Glück, ist für seine, seinerzeit häufig stark kritisierte Arbeit, neue Wege im sozialen Wohnungsbau zu suchen bekannt. Die Studie, die Freisitz und Glück zum Thema Qualitäten im sozialen Wohnungsbau anlegten, verglich die Bewohnerurteile dieser ‚Demonstrativ- oder Alternativbauten mit nach Alter und Grundausstattung ähnlicher Bauten. Die Studie wurde von der GESIBA ( Gemeinnützige Siedlungs- und Baugesellschaft, Wien) selbst beauftragt um die eben gestellte Frage im Bezug auf zukünftige Verbesserung im sozialen Wohnungsbau zu beantworten. 1 . Hass, Hans & Freisitzer, Kurt & Gehmacher, Ernst & Glück, Harry: Stadt und Lebensqualität. Neue Konzepte im Wohnungsbau auf dem Prüfstand der Humanethologie und der Bewohnerurteile. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart, Österreichischer Bundesverlag, Wien, 1985 2. vgl. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Suhrkamp Verlag, 2017 3. ebd. S.11 4. Hass, Hans & Freisitzer, Kurt & Gehmacher, Ernst & Glück, Harry: Stadt und Lebensqualität. Neue Konzepte im Wohnungsbau auf dem Prüfstand der Humanethologie und der Bewohnerurteile. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart, Österreichischer Bundesverlag, Wien, 1985 S. 11
Forschungszeiel: ‚Alternativen des sozialen Wohnbaus‘ :‚gestapelte Einfamilienhäuser‘ aus Sicht der Bewohner zu beurteilen und herauszustellen, ob diese signifikant besser Wohnqualitäten liefern
Fallbeispiele: Kleiner Wohnanlagen mit 200-300 Wohneinheiten, Zielgruppe: Terrassenhäuser Kontrollgruppe1: Herkömmliche Wohnanlagen
Fragestellung: Welche Wohnform aus Sicht der Bewohner die höchste Qualität im sozialen Wohnungsbau aufweist
1
Die Zielgruppe wird in dieser Studie am Beispiel der Terrassenhäuser Inzersdorferstraße und Magdeburgerstraße gebildet. Die Kontrollgruppe durch die Wohnanlage Inzersdorfer/ Bernhardtstrasse und die Wohnanlage Arminstraße/Donaustrasse, Wien
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Die Zielgruppe der Terrassenhäuser Magdeburgstraße und Inzersdorfer Straße in Wien. die Alternativen des sozialen Wohnbaus besitzen zudem Freizeit- und Erholungseinrichtungen(Schwimmbad, Sauna, Grünanlagen, Kinderspielplätze...)und eine Mehrzahl der Wohnungen verfügen über eine Terrasse mit Pflanzentrögen
FORM UND ART DER ANLAGE:
Die Besonderheit der Anlage als Bezugskriterium Zielgruppe Kontrollgruppe Alt Erlaa
70% sehr wichtig 67% unwichtig 80% sehr wichtig
Die Sonnenterrasse Regelmäßig 39% manchmal 39% nie 22%
IDENTIFIKATION MIT DER ANLAGE:
Das Schwimmbad Regelmäßig manchmal nie
82% 16% 2%
Zielgruppe Kontrollgruppe Alt Erlaa
Die Sauna Regelmäßig manchmal nie
30% 16% 2%
Ist die Wohnanlage besonders im vergleich zu anderen?
95% Ja 52% Ja 91% Ja
BEURTEILUNG DER BESUCHER DER BEWOHNER
GRÜNDE FÜR DIE WOHNUNGSWAHL
Zielgruppe Kontrollgruppe Alt Erlaa
Schwimmbad Außenbereich der Wohnung finanziell verhältnismäßig günstig Architektur der Wohnanlage Aussicht gemeinsame Grünanlage Sauna relativ einfach zu bekommen die Art des Zusammenlebens
81% positiv 69% positiv 97% positiv
BEURTEILUNG DER EIGENEN UND DER GEGENSEITIGEN GRUPPE
Sowohl bei der Selbsteinschätzung, als auch bei der Gegenseitigen Einschätzung, haben die Terrassenhäuser eine bessere Bewertung.
UNTERSUCHUNGEN ZUM TATSÄCHLICHEN ‚GEBRAUCHS-/NUTZWERT DER PRIVATEN BEREICHE Privater Außenbereich Zielgruppe Kontrollgruppe
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UNTERSUCHUNGEN ZUM TATSÄCHLICHEN ‚GEBRAUCHS-/NUTZWERT ‚DER FREIZEIT- UND ERHOLUNGSEINRICHTUNGEN1
50%sehr wichtig 65% unwichtig
(Aufzählung nach absteigende Wichtigkeit)
WOHNWERT UND FREIZEITVERHALTEN Veränderung des Aufenthalts in der Wohnanlage im vergleich zum vorherigen Wohnort Zielgruppe
67% mehr 4% weniger 29% unverändert
Kontrollgruppe
46% mehr 21% weniger 33% unverändert
Zumindest in kleineren Wohnanlagen, konnte durch diese Studie bewiesen werden, dass das Konzept der ‚gestapelten Einfamilienhäuser‘ in form von Terrassenhäusern als bessere Lösung im Sozialen Wohnungsbau angesehen werden kann, als ‚Standartbauten‘. Vor allem durch die Qualität der privaten Außenräume und den Mehrwert der Freizeiteinrichtungen scheint das Konzept der ‚Alternativen im sozialen Wohnbau‘ aufzugehen. Um dies nun auf GrossStrukturen zu übertragen, werden im folgenden die Ergebnisse der Studie : „Wohnwertvergleich in einer Großanlage (Wohnpark Alt-Erlaa) „ aus dem Jahr 1978 (auch von Freisitzer und Glück durchgeführt) mit den bereits zuvor Beschriebenen Ergebnissen der ersten Studio verglichen. In dieser Studie wurde die Befragung aufgrund fehlender Vergleichsobjekt nur mit den Bewohnern des Wohnparks durchgeführt. Die Ergebnisse führten durch die Vergleichende Betrachtung der ersten Studio trotzdem zu aufschlussreichen Ergebnissen.
DIE IDEALE WOHNFORM Zielgruppe Das Terrassenhaus Das Einfamilienhaus
45% 41%
Kontrollgruppe Geschossbau Das Einfamiliehaus
13% 57%
Alt erlaa das Einfamilienhaus
28%
Aus der vergleichenden Betrachtung des Tätigkeitsfeld, wird deutlich dass die Kontrollgruppe eher pragmatische Tätigkeiten im privaten Außenbereich vollzieht, wie Hauswirtschaft, Spielen und Basteln. Dem entgehen steht für die Bewohner der Zielgruppe viel eher die Freizeitgestaltung im privaten Außenraum im Fokus. Dies lässt sich aber sicherlich auch maßgeblich mit der tatsächlichen Größe und Ausgestaltung (Begrünung, ein- und Ausblicke, etc.) begründen, da diese für Aktivitäten wie Sonnen, geselliges Beisammensein, Essen und Hobbygärtnern von zentraler Bedeutung sind. In diesem Sinne, wird von den Bewohnern der Terrassenhäuser die Größe des Außenbereichs günstiger beurteilt. Als Grund für einer Erhöhung der Zeit, welche im Bereich der Anlage Verbacht wird, werden von den Bewohnern der Terrassenhäuser an erster Stelleund das mit weitem Abstand- die Qualität der Freizeiteinrichtungen genannt. Weitere Faktoren sind das allgemeine Wohlbefinden in der neuen Wohnung und das Raumangebot. „Insgesamt kann also festgestellt werden, dass [sic] Art und Gestaltung der Terrassenhausanlagen bewirken, dass [sic] deren Bewohner mehr zu Hause bleiben. Da die Bewohner der Kontrollgruppen über diese Einrichtungen nicht verfügen, steht bei ihnen auch an erster Stelle der Gründe „weniger“ zu Hause sein: „ins Grüne fahren“, gefolgt von „spazierengehen“, „Besuche machen“ u.ä.“ 2
1. Die Befragung zu den ‚Zusatzeinrichtungen‘ und die Gründe für die Wohnungswal bezieht sich nur auf die Zielgruppe, da die Kontrollgruppe über diese Einrichtungen nicht verfügt 2.Hass, Hans & Freisitzer, Kurt & Gehmacher, Ernst & Glück, Harry: Stadt und Lebensqualität. Neue Konzepte im Wohnungsbau auf dem Prüfstand der Humanethologie und der Bewohnerurteile. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart, Österreichischer Bundesverlag, Wien, 1985 S. 25
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... AM BEISPIEL ALT ERLAA
„Sozialwissenschaftliche Untersuchungen zum Wohnbau und zur Architektur leiden meist unter einer unzureichenden Ausgangslage, nämlich unter verschwommenen Zielvorstellungen der Wohnbaupolitik. Deshalb sind ihre Ergebnisse ebensooft bloße Beschreibungen von Zuständen oder Entwicklungen, die wohl für sich einen wertvollen Überblick schaffen mögen, mangels relevanter Bezugsgrößen aber selten zielführende Auseinandersetzungen zulassen.“1 Der Private Bereich: Als Grund für einer Erhöhung der Zeit, welche im Bereich der Analoge Verbacht wird, werden von den Bewohnern von Alt Erlaa an erster Stelle der hohe Freizeitwert genannt. Hierzu gehören Schwimmbad, Sauna, Sonnenterrasse sowie Terrasse im eigenen Bereich. Das Freizeitverhalten: Für die Bewohner des Wohnparks hat der Außenbereich vor allem zur qualitativen Freizeitgestaltung einen hohen Wert. Dabei sind 89% der Befragten mit der Kubatur des Außenbereichs sehr zufrieden oder zufrieden. „Die besondere Infrastruktur des Wohnparks Alt Erlaa bewegt naheliegenderweise eher Familien mit Kindern, ihre Freizeit mehr als früher zu Hause zu verbringen. Dies trifft auch auf weibliche Respondenten, mittlere Jahrgänge und höhere Einkommensgruppen.[...] Hinsichtlich der Begründung für das „Mehr- zu-Hause-Bleiben“ gibt es kaum schichtspezifische Unterschiede.“2 Beurteilung von Nachbarschaftskontakten: Durch die hohe Anzahl an Zusatzeinrichtungen werden Gelegenheiten zu Nachbarschaftskontakten erhöht. Etwa 1 2 3 4
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die Hälfte der Bewohner pflegt dadurch mehr Kontakt zu den Nachbarn als zuvor und 87 Prozent ist mit dem Nachbarschaftskontakt sehr zufrieden, bzw. eher zufrieden. Untersuchungen zum Thema des verdichteten wohnens und das ‚Hochhausproblem‘: Die Großform im Wohnungsbau, spezifisch auch die der Nachkriegsjahre, wird häufig mit negativen Aspekten in Verbindung gestellt. Scheinbar, nach der Bewohnerzufriedenheit zu urteilen, ist dies im Wohnpark Alt- Erlaa nicht der Fall. Dies hängt, so die Annahme, mit der Ausgewogenheit zwischen Privatsphäre und Kontakt, sowie mit der Zusammenfassung jeweils sechs, oder sieben Wohnungen zu einer Erschließungseinheit.3 Auch die Anzahl der Stockwerke, scheint für die Bewohner ein positiver Aspekt zu sein. Dies liegt vor allem am Mehrwehrt des „schönen Ausblicks“. Die Mehrheit würde zudem das gleiche Geschoss noch einmal Wählen, wobei die Stockwerke zwischen dem siebten und dem 12. favorisiert wurden. Zusammenfassend lässt sich nun also durchaus gen, dass der Wohnwert in den Terrassenhäusern,deutlich höher als in klassischen Mehrgeschossigen sozialem Wohnungsbau ist. Hierfür, so nun ja auch die zu anfangs gestellte These, maßgeblich die Folge- und Freizeiteinrichtungen entscheidend. Entgegen der Annahme, dass Großwohnbauten hauptsächlich negative Effekte hervorbringen, kann diese Studio zeigen, dass Wohnbauten dieser Art gerade durch ihre Größe spezifische Qualitäten aufbringen: „Die in größeren Wohnanlagen (Wohnpark Alt- Erlaa) angebotene reichhaltige Freizeitinfrastruktur erhöht die allgemeine Wohnzufriedenheit. Insofern wirken sich die mit einer größeren Massierung von Wohneinheiten gegebenen ökonomischen Vorteile auch positiv auf die Wohnzufriedenheit aus.“4
Hass, Hans & Freisitzer, Kurt & Gehmacher, Ernst & Glück, Harry: Stadt und Lebensqualität. Neue Konzepte im Wohnungsbau auf dem Prüfstand der Humanethologie und der Bewohnerurteile. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart, Österreichischer Bundesverlag, Wien, 1985 S. 17 Hass, Hans & Freisitzer, Kurt & Gehmacher, Ernst & Glück, Harry: Stadt und Lebensqualität. Neue Konzepte im Wohnungsbau auf dem Prüfstand der Humanethologie und der Bewohnerurteile. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart, Österreichischer Bundesverlag, Wien, 1985 S. 30 Ausführliche Betrachtung im Kapitel Individuelle Wohlfahrt im Wohnpark Alt Erlaa Hass, Hans & Freisitzer, Kurt & Gehmacher, Ernst & Glück, Harry: Stadt und Lebensqualität. Neue Konzepte im Wohnungsbau auf dem Prüfstand der Humanethologie und der Bewohnerurteile. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart, Österreichischer Bundesverlag, Wien, 1985 S. 40
UNTERSUCHUNGEN ZUM TATSÄCHLICHEN ‚GEBRAUCHS-/NUTZWERT ‚DER FREIZEITUND ERHOLUNGSEINRICHTUNGEN Die Sonnenterrasse auf dem Dach Regelmäßig 43% manchmal 37% nie 20% Das Schwimmbad auf dem DacH Regelmäßig 79% manchmal 18% nie 2% Das Hallenbad Regelmäßig manchmal nie
69% 25% 6%
Die Sauna Regelmäßig manchmal nie
39% 28% 33%
UNTERSUCHUNG DER WOHNUNGEN Änderungswünsche Raumeinteilung sanitäre- und Elektroinstallationen Fußböden Fenster- und Türöffnungen Wohnungsvorteile optimale Raumeinteilung Loggia, Terrasse optimale Raumausstattung ruhge Lage & schöne Aussicht Gemeinschaftseinrichtung
gemeinsame Grünflächen Regelmäßig 17% manchmal 21% nie 56%
GEBRAUCHSWERT, WOHNWERT UND FREIZEITVERHALTEN Privater Außenbereich Alt-Erlaa Terrassenhäuser
Kinderspielplätze im Freien Spielmöglichkeiten für Kinder unter Dach Sporthalle (Mehrzweckhalle) Sauna, gemeinsame Sonnenterrasse Klubraum, Mehrzweckfreizeitraum, Gymnastikraum
100% sehr wichtig/ wichtig 50% sehr wichtig
VERÄNDERUNG DES AUFENTHALTS IN DER WOHNANLAGE IM VERGLEICH ZUM VORHERIGEN WOHNORT Alt- Erlaa
57% mehr 4% weniger 39% unverändert
Zielgruppe
67% mehr 4% weniger 29% unverändert
BEDEUTUNG BESTIMMTER EINRICHTUNGEN IN GROSSEN WOHNANLAGEN
60%
52% 35%
18%
52% 28% 28%
25% 23%
WOHNUNGSNACHTEILE (26% DER BEFRAGTEN SIND KEINE NACHTEILE EINGEFALLEN) zu kleine Räume durch die Höhe bedingte Nachteile ( Wind, Wetter) hausinterner Lärm Mängel an der baulichen Ausführung zu kleines Bad zu kleine Küche
13%
10% 6% 6% 3% 3%
ORTE DER MEISTEN NACHBARSCHAFTSKONTAKTE (Aufzählung nach absteigender Kontaktförderung) Schwimmbad, Sonnenterrasse, Sauna Gang, Flur, Lift Kinder Sport und Hobby gesellschaftliche Ereignisse ...
(Absteigende Wichtigkeit)
STÖRT DAS ZUSAMMENLEBEN VIELER MENSCHEN IN EINER GROSSEN WOHNANLAGE DIE BEWOHNER
Geschäfte für den täglichen Bedarf ärztliche Versorgung Grünflächen Freiluftschwimmbad, Hallenbad Kindergarten, Volksschule
ja, sehr ja, etwas nein, kaum überhaupt nicht finde es angenehm
1% 5% 10% 72% 12%
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DIE STÄRKSTE KONTAKTFÖRDERUNG WIRD VON DEN BEWOHNERN IN SCHWIMMBAD, SONNENTERASSE UND SAUNA, SOWIE IN DEN ERSCHLIESSUNGSZONEN BENANNT. DIESE KOMMUNIKATIONSZONEN SIND IM GEGENSATZ ZU SOZIALEN BEZIEHUNGEN (KINDER, GESELLSCHAFTLICHE EREIGNISSE) MASSGEBLICH DURCH IHRE ARCHITEKTONISCHE AUSGESTALLTUNG BESTIMMT UND WERDEN DURCH DIE ARCHITEKTUR ERST ERMÖGLICH.
Abb. oben: Gemeinschaftsräume Abb. unten: die Sonnenterrasse auf dem Dach aus: Seiss, 2017
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Abb. Wohnpark Alt Erlaa, aus: Seiss, 2017
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UMFASSENDER ‚WOHNWERT‘ VERGLEICH 1983 WOHNZUFRIEDENHEIT DER KONTROLLSTUDIE 1983 Allgemeine Wohnzufriedenheit Vollwertig 60% sehr zufrieden höherwertig 36% sehr zufrieden unvollständig 36% sehr zufrieden
Ist die Wohnanlage besonders im vergleich zu anderen? Vollwertig 90% Ja höherwertig 53% Ja unvollständig 38% Ja
Erhöhter Aufenthalt zu Hause, im Vergleich zum früherern Wohnort Vollwertig 59% Ja höherwertig 36% Ja unvollständig 29% Ja
Die Wohngegend wird bezüglich der 'Zusammengehörigkeit' wie eine kleine Gemeinde empfunden Vollwertig 66% Ja höherwertig 32% Ja unvollständig 16% Ja
In der 1983 veröffentlichten Studie, ging es nicht darum alternativen im sozialen Wohnungsbau in einer vergleichenden Betrachtung zu analysieren, sondern vielmehr um die Bewohnerurteile unterschiedlicher Bautypen. Hierzu zählten zum einen die Wohnform, vom Hochhaus zum Flachbau, sowie die Funktionstypen, welche bezüglich ihrer Ausstattung kategorisiert wurden. Die Soziologen entwickelten drei Kategorien: Vollwertige, höherwertige und unvollständige Wohnsituation, welche sich durch folgende Kriterien einordnen lassen: 1. „Naturnähe und ein Minimum an gärtnerischer Naturgestaltung (durch Hausgarten, größere Terrassen und Balkone mit Pflanzenwuchs) 2. Größere Freiräume zur Gemeinschaftsnutzung (Geselligkeitsfreiräume) mit Naturnähe 3. Gemeinschaftsräume für gesellige Aktivitäten und Entfaltungstätigkeiten 4. Gelegenheit zum regelmäßigen Körpererlebnis (Zugang zum Wasser, frei benutzbare Schwimmbäder, Saunaanlagen)“3 So wurden Bauten, welche alle Kriterien erfüllen als ‚vollwertig‘, das fehlen eines Merkmals als ‚hochwertig‘ und das fehlen zweier als ‚unvollständig‘ bezeichnet. 1. Vollwertig: individueller Freiraum min. 5qm, Gemeinsamer Freiraum, Gemeinschaftsraum im Innenbereich, Schwimmbad 2. Höherwertig, min. 2 Merkmale von: individueller Freiraum, gemeinsamer Freiraum, Gemeinschaftsraum im Innenbereich, Schwimmbad oder Saune 3. Unvollständig: alle Bauten, die keins der obigen Merkmale aufweisen
1. vgl.Hass, Hans & Freisitzer, Kurt & Gehmacher, Ernst & Glück, Harry: Stadt und Lebensqualität. Neue Konzepte im Wohnungsbau auf dem Prüfstand der Humanethologie und der Bewohnerurteile. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart, Österreichischer Bundesverlag, Wien, 1985 S. 40 2. Ebd. 3. Ebd. S.44 Abb. Dachschwimmbad aus: Seiss, 2017
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-03FALLBEISPIELE
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WOHNUNGSBAU
IM WOHLFAHRTSSTAAT AM BEISPIEL DER BUNDESREPUBLIK Die Objektförderung, die konkrete Subventionierungen zum Bau
neuer sozialer Wohnungen, machte 1970 einen 40 Prozentigen Bestandteil des kompletten Neubauvolumens aus. In den folgenden Jahren wurde vermehrt die Subjektförderung verwendet. Hierbei wurden Einkommensschwache Haushalte durch Wohngeld oder Eigenheimzuschüsse unterstützt. Die Regierung erhoffte sich so, die Investitionen im Wohnungsbau auf dauer reduzieren zu können.
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MIETRICHTSÄTZE VON OBERSTEN LANDESBEHÖRDE FESTGESETZT
MITTEL WERDEN NACH HÖHE DES WOHNBEDARFS IN DEN GEBIETEN VERTEILT
Aber: für steuerbegünstigte Wohnungen, kann der Vermieter eine selbst gebildete Miete vereinbaren. Der Mieter kann sich auf Kostenmiete berufen, diese wird pro qm berechnet
BETEILIGUNG DES BUNDES FÜR WOHNRAUMVERSORGUNG BESONDERER GRUPPEN Flüchtlinge, aus der sowjetischen Besatzungszone (auch Berlin), Personen, die ihre Liegschaften durch Freimachung für Verteidigungszwecke oder diese unverschuldet verloren haben, kinderreiche Familien, junge Ehepaare und ältere Personen
SENKUNG DER BAUKOSTEN DURCH RATIONALISIERUNG& BAUWIRTSCHAFTLICHE MASSNAHMEN
FAMILIEN MIT KINDERN SOLLEN IN ERSTER LINIE DURCH FÖRDERUNG VON FAMILIENHEIMEN UNTERSTÜTZT WERDEN
DIE GEMEINDEN MÜSSEN BAULAND ZUR VERFÜGUNG STELLEN UND DAS GELÄNDE ERSCHLIESSEN
WOHNUNGSBAUPROGRAMME MÜSSEN IM VORJAHR FÜR DEN SOZIALEN WOHNUNGSBAU AUFGESTELLT WERDEN
STÄDTEBAULICHE VORAUSSETZUNG : 'GEORDNETE BAULICHE ENTWICKLUNG DER GEMEINDE UND EINE DEN ZIELSETZUNGEN NEUZEITLICHEN STÄDTEBAUS ENTSPRECHENDE ERSCHLIESSUNG UND AUFLOCKERUNG
MAX. / MIN. VORGABEN FÜR AUSSTATTUNG & GRÖSSE
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Die Autobahnßberbauung in Berlin: ein Demonstrativbauvorhaben mit umfangreicher FÜrderung auf städtischer und Bundesebene
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GESETZLICHE GRUNDLAGE DER WOHNUNGSFÖRDERUNG1 I. WOHNUNGSBAUGESETZ APRIL 1950
Soziale Sicherheit schwacher haushalte durch Entkopplung von Arbeits-Gehalts- und Wohnungsmarkt2 1. Kostenmiete: Die Miete wurde durch den Staat festgesetzt oder die realen Kosten, nicht durch den Wert auf dem Markt 2. Belegungsbindung: Die Wohnungsbelegung wird anhand eines Katalogs sozialpolitisch anerkannten Kriterien entschieden. 3. Festlegung der Anzahl der Wohnungen: die Anzahl der zu errichtenden Wohnungen wird nicht durch die übliche Marktbedingte Nachfrage sondern durch politische Beschlüsse festgelegt. II. WOBAUGESETZ JUNI 1956
Arten des Wohnungsbaus:
I. Den mit öffentlichen Mitteln geförderten sozialen Wohnungsbau, dem allein und unmittelbar die stattlichen Subventionen zukommen und der besonders für die Bevölkerung mit begrenztem Einkommen die notwendigen Wohnungen sichern soll. II. Den steuerlich begünstigten Wohnungsbau mit Vergünstigungen bei der Grund- und Einkommensteuer. III. Den frei finanzierten Wohnungsbau, der nur Unterstützung in Bezug auf erhöhte Abschreibung erfährt, aber keinerlei Bindungen aufweist. III. EIGENTUMSFÖRDERUNG 1957
Die Eigentumsförderung zielte auf die individuelle Eigentumsbildung ab. Diese Förderung war Unabhängigkeit von der sozialen Einheit der Familie. IIII. SUBJEKTFÖRDERUNG DURCH WOHNGELD 1965
Zur Förderung der Marktfähigkeit einkommensschwacher haushalte. Die höher der Haushaltszuschüsse orientiert sich direkt am Einkommen und variiert.
1 2
Bauen+Wohnen: Probleme des Städtebaus: Probleme des Städtebaus unter besonderer Betrachtung der Förderung des Wohnungsbaus mit öffentlichen Mitteln, Heft 10, 1969 vgl. allgemein: Tesch, Joachim: Bauen und Wohnen. In: Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000. Gesellschaft - Staat- Politik. Ein Handbuch.Karl Dietz Verlag Berlin, 2006;
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WOHLFAHRTSSTAATLICHER EINFLUSS DIE BAUGESCHICHTE DER AUTOBAHNÃœBERBAUUNG BERLIN
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Die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße wurde zwischen 1970 und 1980 in Berlin errichtet. Im Auftrag der DEGEWO (Deutsche Gesellschaft zur Förderung des Wohnungsbaues) erfolgte die Planung durch die Architekten Georg Heinrichs, Gerhard Krebs und Klaus Krebs. Die ‚Schlange‘, der so zumeist umgangssprachliche verwendete Begriff, befindet sich im Stadtteil Wilmersdorf, am Rande des Rheingauviertels. Der Wohnkomplex besteht aus der linearen knapp 600 Meter langen Autobahnüberbauung, welche 1064 Wohneinheiten fasst und den seitlichen Randbebauungen mit zusätzlichen 694 Wohnungen. Der Komplex gehört mit seinen über 4000 Bewohnern zu den größten Wohnkomplexen Europas. Durch den konzeptionellen Ansatz des „Recycling von Verkehrsflächen“, bis heute ein städtebauliches Pilotprojekt, scheint eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Großprojekt lohnenswert. Die Grundidee der Überbauung legitimiert sich vorsätzlich durch ein wirtschaftlich geprägtes städtebauliches Denken,1zur Wiederbelebung der Innenstädte, zur Infrastrukturentlastung und zukünftigen -einsparung und durch die Schaffung von neuem Bauland. Die Randbebauung schafft zudem als Schallschutzbebauung ausgebildet eine reaktivierung vormals durch Lärmund Geruchsbelastung nicht nutzbarer Flächen. Der Wohnkomplex enthält alle für den täglichen und teilweise periodischen Bedarf notwendigen Einrichtungen der materiellen Versorgung sowie der geistig-kulturellen Kommunikation. So wurden Gewerbeflächen auf 7.210qm integriert und durch Hobbyräume, Gästewohnungen und gemeinschaftliche Dachgärten erweitert, welche für freizeitaktivitäten und zur Kommunikation zwischen den Bewohnern genutzt werden können.2 Zeitgleich mit Inbetriebnahme der Autobahn 1980 waren die Wohnungen in der ‚Schlange‘ bezugsfertig.3 Das gesamte Ensemble setzt sich aus der eigentlichen Überbauung, der schallabschirmdenen Bauten im Norden und Süden, der Bebauung an der Schlangenbader Straße und dem Zentrum an der Wiesbadener Straße zusammen. Die Überbauung bietet hierbei die Möglichkeit mittels öffentlicher Durchgänge, welche auch die Eingangshallen mit angegliederter Vertikalerschließung der Wohnbebauung darstellen, die für gewöhnlich durch Schnellverkehrswege erzeugte Gebietstrennung zu minimieren. Die Erschließungskerne führen geschossweise zu innen liegenden Erschließungszonen, womit jeweils zwischen drei und acht Wohnungen bedient werden. Im Zuge der Planung wurde eine Vielfalt unterschiedlicher Wohnungstypologien in einer Nachbarschaftseinheit 4 angestrebt, um die Voraussetzung eines nachbarschaftlichen Miteinanders unterschiedlichster Haushalte zu ermöglichen. 5 Die anfängliche Idee, gleichzeitig auch unterschiedliche soziale Schichten zu integrieren, scheiterte aufgrund geänderter Grundsätze in der Vergabe von öffentlich geförderten Wohnungen.6 Zuletzt wurden jedoch wiederholt Wohnungen an der Mittelschicht zugehörigen Familien mit Kindern vergeben, um den mit den Jahren stetig gestiegenen Altersdurchschnitt entgegenzuwirken.7 Im vierten Obergeschoss befindet sich die Innenstraße, welche als einzige über die komplette Länge von 600 Metern durch das Gebäude verläuft und folglich 1 2
3 4 5 6 7
vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Utopie und Machbarkeitswahn; zur Grundidee der Überbauung: Durchlöcherte Schlange, Der Spiegel, Nr.44, 1980, S.266 vgl. Bertelsmann, Wolf & Seidl, Ernst: Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße. Vom Abenteur das Unmögliche zu wagen. Konopka, 1990 Vorwort: Die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße-nachträglich zur Diskussion gestellt. Ernst Seidl vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Utopie und Machbarkeitswahn vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Öffentlich, Privat, Gemeinschaftlich vgl. DEGEWO (Hg.) Autobahnüberbauung Berlin Schlangenbader Straße. Ein Bauvorhaben der DEGEWO, S.16 vgl. Deutsche Wohnungspolitik, Skizzenwerk, Kapitel: Der Wohlfahrtsstaat aus: Die Schlange: einer der ungewöhnlichsten Wohnblocks Deutschlands,Dokumentation, 10. Februar 2019 (dieser liegt aktuell bei 64 Jahren)
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Abb.@onarchitecture Fotos:Bussenius & Reinicke 2012
alle Erschließungseinheiten verbindet.8 Vormals öffentlich begehbar, wurde diese vor einigen Jahren durch zusätzliche Schlösser, um Vandalismus und Kriminalität zu vermeiden, auf den Mieterkreis beschränkt.9 Der nördliche und südliche Abschluss wird durch begrünte Dachflächen gefasst. Entlang der Innenstraße sind zudem vier Gemeinschaftsräume mit großzügigen Terrassen und 80 mietbaren Hobbyräume angeordnet. Weitere Hobbyräume sind über die höheren Ebenen verteilt. Der südliche Bebauungsabschluss wird durch eine gemeinschaftliche südwest-orientierte Sonnen- und Aussichtsterrasse gebildet. Wie auch im Falle des Wohnparks Alt Erlaa10 werden mittels Schottenbauweise zugleich statische sowie funktionale Trennungen wirtschaftlich hergestellt und lassen somit mehr Mittel für zusätzliche Annehmlichkeiten übrig. Durch die enorme Tiefe der Bebauung mit Spannweiten von bis zu 20 Metern verfügen die Wohnungen fast ausschließlich einseitige Belichtungen, während die Zentraleinrichtungen des Hauses in den unbelichteten Mittelzonen untergebracht wurden. Die komplette Außenfläche der Wohnungen wurde als Fensterfläche ausgebildet, teilweise durch Schrägverglasung, Oberlichter oder abgewinkelten Außenflächen erweitert, um so bestmögliche Belichtung trotzt großer Raumtiefen zu ermöglichen. Alle Wohnungen verfügen über private Außenräume, größere Wohnungen, mit mehr als 2,5 Zimmer als Maisonette ausgebildet, besitzen zudem doppelgeschossige Balkone.11
ARCHITEKTURGESCHICHTLICHE GRUNDLAGE
Der Planungsbeginn der Autobahnüberbauung lässt sich mit der Entscheidung zum Bauvorhaben der Nord-Süd Stadtautobahn zwischen Schloßstraße und Fehrbelliner Platz im Jahr 1956 gleichsetzen. Die Autobahn sollte im Bezirk Wilmersdorf in Hochlage über den Breitenbachplatz und das große Kleingartengelände verlaufen. Da somit Teilflächen der Kleingartenbaugenossenschaft ‚Rheingau‘ der Stadtautobahn zum Opfer fielen, verlangten diese als Gegenleistung die Ausweisung der Restflächen als Bauland.12 Im September 1970 erwarb die Stadt Berlin dann schließlich die benötigten Bodenflächen von insgesamt 26.000 Quadratmeter, welche für den Bau der Stadtautobahn essenziell waren. Zeitgleich mit Beginn der Aufschüttungsarbeiten, stellte die Kleingartengenossenschaft die Baulandflächen öffentlich zum Verkauf. Begründet durch die innerstädtische Lage und die immer knapper werdenden Bodenressourcen, wurde der 8 9 10 11 12
Preis durch eine enorme Interessentenanzahl an privaten wie auch öffentlichen Bauträgern auf 16,5 Millionen DM, somit das Doppelte des amtlichen Verkaufswerts, erhöht. Letztendlich erwarb die Firma Mosch das Grundstück weit unter Marktwert.13 ENTWURFSGRUNDLAGE
Um eine architektonische Antwort auf die kommende Stadtautobahn zu bieten, beschäftigte sich der Architekt Georg Heinrichs mit der Planung einer Schallschutzbebauung entlang der Schnellstraße. Diese Vorplanung stieß auf positive Resonanz seitens des Bauträgers Heinz Mosch und sollte folglich für die bevorstehende Bauaufgabe übernommen werden. Heinrichs arbeitet damals mit dem Architekten Hans C. Müller in der Architektengemeinschaft Müller/Heinrichs zusammen. Diese Konstellation blieb auch weiterhin bestehen, derweil Müller zum Senatsbaudirektor ernannt wurde. Diese hochgradig ungewöhnliche, aber durchaus positive Verbindung, garantierte eine uneingeschränkte und direkte Kommunikation zwischen dem Planungsbüro und der obersten Stadtplanung. Dies sollte im Verlauf der späteren Planung eine durchaus wichtige Einflusskonstante zur Realisierung des Bauvorhabens werden. ARBEITSKREIS 6
Den gedanklichen Anreiz für das Projekt formulierte ursprünglich der Journalist Felix-Erik Laue in seiner Idee, die Flächen der nach dem Krieg verfallenen Bahnschienen wiederzubeleben. Diese bislang ungenutzten, sich Kilometer weit ausdehnenden Flächen in grandioser Innenstadtlage, zwischen Funkturm und den S-Bahnhöfen Westkreuz und Witzleben, sollten durch Wohnbebauung reaktiviert werden. Nachdem knapp 100 Jahre zuvor die Bahngleise der „New York Central Railroad Company“ von Cornelius Vanderbilt in den Untergrund verlegt wurden und somit darüber die prominentesten Wohn- und Geschäftsviertel der Welt entstehen konnten, die Park Avenue, die Lexington Avenue und die Madison Avenue, lagen die logischen Schlüsse für Berlins ungenutzte Bahngleise scheinbar nah. Folglich wurde die Idee der Überbauung geboren. Zahlreiche Gespräche mit der DDR-Reichsbahn und dem Verkehrsministerium führten schließlich zur Zusammenarbeit des Journalisten Laue mit dem Arbeitskreis 6. Dieser Arbeitskreis, kurz AKS 6, gegründet durch den Architekten Gerhard Krebs, setzte sich seinerzeit in Kooperation mit Ingenieuren des DDR Verkehrsministeriums mit dem Thema der Verkehrsflächenüberbauung auseinander. Allerdings stellte sich der gewählte Standort durch besatzungsrechtliche Fragen und Statusunklarheiten als schwer
vgl Grundriss 4.Og vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Die Autobahnüberbauung Rezensionen vgl. Schriftliche Arbeit, Kapitel: individuelle Wohlfahrt: Lebensqualität und Bewohnerzufriedenheit im Wohnpark Alt Erlaa vgl. Wohnungsgrundrisse vorherige Seite vgl. dies und folgende Bertelsmann, Wolf & Seidl, Ernst: Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße. Vom Abenteur das Unmögliche zu wagen. Konopka, 1990, S. 8f. 13 Ebd.
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bebeaubar heraus. Auf diese Weise wurde die Überbauung der Verkehrsflächen auf ein zugänglicheres Gebiete übertragen, die wachsende Berliner Stadtautobahn.14 PLANUNGSVERLAUF
Die Veröffentlichung der Ergebnisse des AKS 6 zum Thema Verkehrsüberbauung im April 1971 führte zu einem Umdenken der von Heinrichs anfangs erdachten Randbebauung entlang der Stadtautobahn. Zu den veröffentlichten Studien des Arbeitskreises und der Frage, ob denn ein solch utopisches Vorhaben überhaupt realisierbar wäre, bekannte sich der Bausenator Schwelder optimistisch: „Wenn mir ein Projekt auf den Tisch kommt, das Chancen auf eine Realisierung hat, werden wir das machen“.15Die positive und vielfältige Resonanz und Publikation der Idee einer Autobahnüberbauung veranlassten schließlich nicht nur Heinrichs, sondern auch die Firma Mosch, die Bauaufgabe entlang der Schlangenbader Straße aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten und die Thematik der Überbauung auf das erworbene Grundstück zu übertragen. Mosch beauftragten die Architekten Georg Heinrichs und Gerhard Krebs mit der Überprüfung der tatsächlichen Realisierungschancen. Die Schwierigkeiten mangelhafter Planungsmöglichkeiten der Randbebauung bezüglich Wohnungsausrichtung und Lärmbelästigung steigerten das Interesse neuer Konzepte wie das der Überbauung zusätzlich. Mit der Zusage der öffentlichen Hand, das Überbauungsrecht der Stadtautobahn als Gegenleistung für die Kosten des Tunnelbaus zu Verfügung zu stellen, schien die utopisch geglaubte Idee einer Überbauung realisierbar. „Eine hohe bauliche Ausnutzung des Geländes unter Einbeziehung der Fläche der Stadtautobahn sollte die wirtschaftliche Grundlage dafür schaffen die Investitionskosten der bautechnischen Schwierigkeiten Überbauung des lärmschluckenden Autobahntunnels aufzufangen.“16 So sollten anstatt der geplanten 400 Wohnungen in der Randbebauung zusätzlich 1000 Wohnungen in der Überbauung untergebracht werden. Nachdem alle wesentlichen Gutachten zusammen getragen waren, konnte das Genehmigungsverfahren beginnen. Da dies einen neuen Bebauungsplan voraussetzte, mussten schnelle politische Entscheidungen seitens des Bezirks in der Bezirksverordnetenversammlung sowie seitens des Senats im Abgeordnetenhaus getroffen werden. Dies benötigte schließlich jedoch mehrere Monate Überzeugungsarbeit. Während auf Bezirksebene die CDU das Projekt befürwortete und die SPD ablehnte, war die Stimmung im Abgeordnetenhaus genau gegenteilig, die SPD äußerte sich dafür, die CDU dagegen. Schlussendlich wurde das Projekt nahezu einstimmig verabschiedet, der positive 14 15 16
Aspekt des zusätzlichen Wohnraums und des Lärmschutzes, vor allem für die umliegenden Stadtbezirke, überwog. FINANZIERUNG:
Durch steigende Zinsen und die damit verbundenem Rückgang privater Kapitalanleger erhöhten sich mit Beginn des Jahres 1974 die Finanzierungsprobleme für den Bauträger Mosch und die Fondsgesellschaft Wohnpark Wilmersdorf KG. Im August 1974 wurde die Autobahnüberbauung entlang der Schlangenbader Straße schlussendlich an die DEGEWO verkauft. Die gemeinnützige DEGEWO übernahm somit ein so gut wie planungsfertiges und baureifes Projekt und konnte sich gleichzeitig der Unterstützung der öffentlichen Hand, der Baubehörde, politischer Entscheidungsträger und dem Bundesbauministerium sicher sein. Die kommunale Wohnungsbaugesellschaft DEGEWO stellte durch ihren nicht-profitorientierten Hintergrund, ganz im Gegensatz zum privaten Bautäger Mosch, differenzierter Anforderungen an die Überbauung. So wurde die Planung zugunsten höherer Sicherheit der Baukonstruktion, aber vor allem höherer Qualität der Wohnungsausstattungen und Grundrisse noch einmal überarbeitet. Der Umfang der Bauaufgabe sowie hohe technischen Ansprüchen und die damit verbundenen Mehrkosten konnten unmöglich von der gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft alleine bewältigt werden. Auf der Suche nach alternative Finanzierungsmöglichkeiten wurde 1976 entschieden, dass das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau dem Land Berlin Bundesmittel aus dem Fond zur Förderung für Versuchsbauvorhaben für die teilweise Überbauung der Stadtautobahn zu Verfügung stellen sollte. Legitimiert wurde diese Förderung durch das Forschungsziel alternative Antworten zur Problematik der wachsenden Baulandverknappung aufzuzeigen um auch zukünftig in Großstädten bezahlbaren innerstädtischen Wohnraum sichern zu können. RECHTSGRUNDLAGE
Das technisch versierte Vorhaben, stellt auch auf seiten der Rechtsgrundlage einige neue Herausforderungen an die Planer. Grundvoraussetzung war die Schaffung einer grundstücksrechtlichen Neuordnung. So erhielt die DEGEWO als Bauherrschaft vom Land Berlin ein Erbbaurecht für die konkrete Überbauung, als Gegenleistung das wurde dem Land Berlin (von der DEGEWO) das Recht für den Bau und Betrieb der Bundesautobahn zugestanden. Eine weitere Rechtsgrundlage stellte die Anpassung des Bebauungsplans dar. Der Forderung der Bürgerinitiative nach ausreichenden Folgeeinrichtungen, auf die Fehler des Märkischen Viertels verweisend, wurde mit der Festsetzung
vgl. Bertelsmann, Wolf & Seidl, Ernst: Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße. Vom Abenteur das Unmögliche zu wagen. Konopka, 1990, Der Vordenker: Felix-Erik Laue. Die Stadtplanerische Anregung in Abwandlung, S.6f zu lesen in einer großen Berliner Zeitung, zit. n. Ebd. S.10 Ebd. S. 11
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Abb. vorherige Seite Oben: Luftbildaufnahme Mai 1980, Aufnahme von Süden aus: DEGEWO (Hg.) Autobahnüberbauung Berlin Schlangenbader Straße. Ein Bauvorhaben der DEGEWO, S.37; Abb. vorherige Seite Unten: Projekt 1980, Ebd. S. 35 Abb. diese Seite: .@onarchitecture Fotos:Bussenius & Reinicke 2012
DIE PRIVATE SPHÄRE
GRUNDRISSE 1:200
1
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1
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5
6
3 5
KLEINE WOHNUNG 1 ZIMMER MIT BALKON CA. 50QM
1
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3 1
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2 3
TERRASSEN WOHNUNG 2,5 ZIMMER CA. 90QM
MAISONETTE-WOHNUNG 3 ZIMMER CA. 120QM
1. EINGANG 2. KÜCHE 3. WOHN/ESSRAUM 4. BAD/WC 5. ZIMMER 6. ANKLEIDE/ ABSTELLKAMMER
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SYNTHESE AUS VERKEHR UND WOHNEN
SCHNITT 1:500
‚INNERE STRASSE‘
TUNNEL STADTAUTOBAHN
PARKHAUS
nahversorgung Dienstleistung und Einzelhandel gemeinschaft erschließung Büro Verkehr Gemeinschaftt 83
von Gemeinschaftseinrichtung wie Kindergärten, Schulen und ähnlichem im Bebauungsplan begegnet. Zudem erließ die Stadt die Auflage, dass der Mehrwert der Anlage für die umliegenden Quartiere, entstehend durch öffentliche Querungsmöglichkeiten, Zentrumsbildung und gemeinschaftliche Grünräume, aufrecht erhalten werden müsse. Um dies zu gewährleisten sollten die künftigen Mieter sicherstellen, dass der öffentliche Charakter der Durchgänge und Grünräume generiert werde. KOSTEN
Schlussendlich umfassten die Baukosten für den Komplex der Schlangenbader Straße insgesamt 410 Millionen Mark. Hiervon fielen rund 60 Millionen Mark für den Bau des Autobahntunnels an, welcher vom Land Berlin und dem Bund finanziert wurde und rund 50 Millionen für die Errichtung der Randbebauung und des Zentrums. Randbebauung und der mit Abstand teuerste Bauabschnitt der Überbauung mit insgesamt 300 Millionen Mark, wurden durch mehrere Geldgeber finanziert. Unter anderem die Wohnungsbaukreditanstalt Berlin, Eigenmitteln der DEGEWO, eine Beteiligung des Bundesministers für Städtebau und die Stellung des Erbpachtgrundstücks durch das Land Berlin.17 Die enorm hohen Kosten führten sowohl während der Bauphase, wie auch nach Fertigstellung zumeist zu starker Kritik am gesamten Bauvorhaben der Autobahnüberbauung. „Die Sozialwohnungen sind die mit Abstand teuersten der Stadt: Ihre Kostenmiete von mehr als 28 Mark pro Quadratmeter wird vom Berliner Senat auf eine Nettomiete von 5,24 Mark ‚heruntersubventioniert‘.18 ZUSAMMENFASSUNG
Ohne den besonderen Einsatz der Bezirks- und Bundesebene hätten die Rahmenbedingungen, wie die Bereitstellung des ‚Luftrechts‘ über der Autobahn, die Änderung bzw. Erstellung eines besonderen Bebauungsplans bis hin zur Genehmigung des Bauvorhabens nicht realisiert werden können. Vor allem aber der Einsatz der Bausenatoren war maßgeblich für den Erfolg der Überbauung verantwortlich. „Bausenator Rolf Schwedler schuf die Voraussetzungen für die Realisierung der ursprünglich utopischen Idee einer Stadtautobahn-Überbauung in einer Gesamtlänge von über einem halben Kilometer mitten in Berlin. [...] Sein Nachfolger, Dr. Klaus Riebschläger, sorgte dafür, dass [sic] das Objekt 1974 nicht in den Strudel der wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Bauträgers Mosch gerissen, sondern von der DEGEWO, deren Aufsichtsvorsitzender er war, übernommen wurde“.19 17 18 19 20 21 22
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Es lässt sich also festhalten, dass ohne politisches Engagement das soziale Bauvorhaben der Überbauung nicht entstanden wäre. Wie im vorangegangen Abschnitt über den geschichtlichen Verlauf gezeigt, ist der hohe Wohnwert durch Qualität und Vielfalt der Wohnungen den Planungseingriffen der DEGEWO zuzuschreiben. Trotz sozial gefördertem Wohnungsbau scheint es in dieser Zeit ein Anliegen des Wohlfahrtsstaates gewesen zu sein, die Lebensqualität seiner Bevölkerung in Sachen Wohnraum hoch zu halten. Demonstrativvorhaben dieser Größe und Medienaufmerksamkeit fokussieren natürlich nicht ausschließlich gesellschaftliches Wohl, sondern vorerst politische Anerkennung:20 „Die politisch Verantwortlichen hatten Anfang der 70er Jahre zu verzeichnen, dass [sic] eine weitere Bebauung der Stadtrandflächen mit Großsiedlungen keine Akzeptanz mehr fand, gleichzeitig der Bedarf an mietgünstigen und verkehrsgünstig gelegenen Wohnungen weiterhin vorhanden war und die deutliche Verknappung von bebaubaren Flächen dazu zwang, über Konzepte der Mehrfachnutzung von Grund und Boden nachzudenken. Dazu kam sicher die Empfänglichkeit jeder Politik dafür, mit bestimmten Konzepten Ausrufungszeichen zu setzten und im Rahmen der beispielgebenden Berliner Beiträge zu Wohnungsbaugeschichte unseres Landes mit einer solchen erstmals zu realisierenden Konzeption wegweisend zu wirken.“21 Nichtsdestotrotz gilt abschließend: „Städtebaulich und wohnungswirtschaftlich kann dieses Experiment auch und gerade nach den zahlreichen notwendigen Umplanungen durch die DEGEWO und die Schaffung der notwendigen Folgeeinrichtungen durch die Stadt als gelungen gelten“22 und somit als durchaus positives Beispiel erfolgreicher sozialer Wohnungsbauprojekte, durch den Wohlfahrtsstaat finanziert und gesellschaftliche Umbrüche formuliert, gelten.
vgl. DEGEWO (Hg.) Autobahnüberbauung Berlin Schlangenbader Straße. Ein Bauvorhaben der DEGEWO,S.36 Spielgel: Durchlöcherte Schlange, 1980, S.22 Bertelsmann, Wolf & Seidl, Ernst: Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße. Vom Abenteur das Unmögliche zu wagen. Konopka, 1990, Der Vordenker: Felix-Erik Laue. Die Stadtplanerische Anregung in Abwandlung, S.13 vgl. Medien im Laufe des Bauvorhabens in Skizzenwerk, Kapitel: die Autobahnüberbauung: Damals und heute Dr. Klaus Riebschläger: Das gelungene Experiment- Anmerkungen zur Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße. In: Bertelsmann,Wolf & Seidl, Ernst: Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße. Vom Abenteur das Unmögliche zu wagen. Konopka, 1990, S.16 ebd. S. 18
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SPIELRAUM HOBBYRAUM
DACHTERRASSE
(Halb-)รถffentliche Durchwegung Gemeinschaftliche Einrichtungen Verkehr
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DIE WOHNZUFRIEDENHEIT DER MIETER IST GROSS, WIE DIES IN DIVERSEN INTERVIEWS ZUM AUSDRUCK KOMMT. DIES DRÜCKEN AUCH DIE WARTEZEITEN FÜR EINE WOHNUNG VON MINDESTENS EINEM JAHR AUS, WAS IM GEGENSATZ ZU LEERSTÄNDEN IN ANDEREN GROSSPROJEKTEN STEHT, BZW. STAND. ALLEM ANSCHEIN NACH HABEN KONZEPT UND AUSFÜHRUNG BEI DEN MIETERN DIESES KOMPLEXES IHRE ANHÄNGER GEFUNDEN. [DER PLANER WOLF BERTELSMANN 9 JAHRE NACH FERTIGSTELLUNG] 87
REZENSIONEN BERLINS KÜNFTIGES BAULAND LIEGT AUF DER STADTAUTOBAHN SPANDAUER VOLKSBLATT, 08.04.1971
NOCH EIN PLAN: ‚LUFTSCHLÖSSER‘ ÜBER BERLINS STADTAUTOBAHN MORGENPOST, 08.04.1971
DER LETZTE SCHREI: STADTAUTOBAHN ‚IM KELLER‘ VON TERRASSENHÄUSERN. MOSCH MACHT‘S MÖGLICH- WILMERSDORFER BEZIRKSVERORDNETE SKEPTISCH MORGENPOST, 21.01.1972
EINMALIG IN DEUTSCHLAND 2.200 WOHNUNGEN ÜER DER AUTOBAHN RIESENPROJEKT IN WILMERSDORF. BAUBEGINN NOCH IN DIESEM JAHR? BILD, 21.01.1972
EIN WOHN-KOLOSS ÜBER DER AUTOBAHN
DEUTSCHLANDS GRÖSSSTES PRIVATES BAUVORHABEN SOLL IN BERLIN REALISIERT WERDEN. 300 MILLIONEN MARK WILL DIE MOSCH-GRUPPE INVESTIEREN UM EINES DER UNGEWÖHNLICHSTEN STÄDTEBAULICHEN PROJEKTE EUROPAS ZU ERRICHTEN: EIN TERRASSENHAUS ÜBER DER STADTAUTOBAHN BZ., 21.01.1972
SENATOR BREMST DIE AUTOBAHN-BAUPLÄNE BILD, 18.02.1972
IST DAS MOSCH PROJEKT GEFÄHRDET? IDEOLOGISCHE SCHEUKLAPPEN BEDROHEN DAS BAUGESCHEHEN BERLINER RUNDSCHAU, 9.03.1972
KONTROVERSE UM AUTOTUNNEL
WILMERSDORFER SPD ERHEBT EINSPRUCH GEGEN PROJEKT AM BREITENBACHPLATZ TELEGRAF, 19.02.1972
ZÜNGLEIN AN DER WAAGE
AUTOBAHN-ÜBERBAUUNG NOCH FRAGLICH BZ., 28.2.1972
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FDP SETZT SICH FÜR ‚LEX MOSCH‘ EIN MORGENPOST, 21.04, 1972
VERORDNETENSITZUNG FOLGT TAGESSPIEGEL, 22.10.1972
UMGEARBEITETS PROJEKT FÜR AUTOBAHNÜBERBUUNG VORGESTELLT
BEZIRKSAMT IGNORIERT ANWOHNER-EINWÄNDE
„KOMMUNALE RECHTE SOLLEN KEINESFALLS EINGESCHRÄNKT WERDEN“ WILMERSDORFER FRAKTIONEN WAREN SICH EINIG
OB‘S ÜBERHAUPT LANG
TAGESSPIEGEL, 28.04.1972
MORGENPOST, 05.05.1972
IST DAS MOSCH PROJEKT GEFÄHRDET? IDEOLOGISCHE SCHEUKLAPPEN BEDROHEN DAS BAUGESCHEHEN DR. DÖRTE DOERING, STELLV. VORSITZENDE DER FDP-FRAKTION IN: WILMERSDORFER ZEITUNG, 27.05.1972
SPD: SCHWERWIEGENDE BEDENKEN
JOHANNES AUST, FRAKTIONSVORSITZENDER DER SPD, WILMERSDORFER ZEITUNG, 27.05.1972
CDU: STELLUNGNAHME DER FRAKTION
NEITHARD DEUTELMOSER,BV, PRESSSPRECHER DER CDU-FRAKTION IN: WILMERSDORFER ZEITUNG 27.05.1972
BAUGENEHMIGUNG FÜR MILLIONEN-OBJEKT WIRD ERTEILT DIE WAHRHEIT, 07.06.1973 MOSCH MUSS KÜRZER TRETEN DER SPIEGEL, 25.6.1974
MOSCH UND DEGEWO: ES GEHT UM DIE ‚ABLÖSESUMME‘ DIE WELT, 23.08.1974
IM AUTO DURCH DIE GUTE STUBE
ÜBERBAUUNG DER WILMERSDORFER STADTAUTOBAHN WIRD JETZT IN ANGRIFF GENOMMEN DER ABEND, 03.02.1976
SCHLANGENBADER: JETZT SACKT DER AUTOBAHNTUNNEL AB MORGENPOST, 09.10.1980
ES LEBT SICH GUT IM LABYRINTH
TERRASSEN-HAUS ÜBER DER AUTOBAHN WIRD GEBAUT B.Z., 25.07.1972
DER WOHNKOLOSS SCHLANGENBADER STRASSE IST ZWEI JAHRE ALT- FACHLEUTE SAGEN: ‚NIE WIEDER!‘ ABER BEWOHNER MEINEN: „WOHNUNG MIT WEITBLICK“ „UNTERM TEPPICH ROLLEN AUTOS“ MORGENPOST, 12.09.1982
BERLINOPOLIS UND BÜRGERINITIATIVE
DURCHLÖCHERTE SCHLANGE
SANDWÜSTE VERSCHWINDET WIEDER
MENSCHLICHE TERMITEN ÜBER DER AUTOBAHN NORD-STUTTGARTER RUNDSCHAUE 20.09.1972
UMSTRITTENE ÜBERBAUUNG: JETZT FALLEN DIE WÜRFEL NÄCHTLICHE BÜRGERVERSAMMLUNG ZUM AUTOBAHN-PROJEKT DER ABEND, 19.10.1972
FÜR NAHEZU EINE HALBE MILLIARDE MARK WURDE ÜBER EINEM WEST-BERLINER AUTOBAHNSTÜCK WOHNUNGEN ERRICHTET. DAS ALS ZUKUNFTSWEISEND GERÜHMTE OBJEKT ERWEIST SICH ALS GIGANTISCHE FEHLPLANUNG DER SPIEGEL, NR. 44, 1980
EIN ‚JA‘ ZUR AUTOBAHN-ÜBERBAUUNG BESCHLUSS DER SPD-KREISDELEGIERTEN-BEZIRKS-
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DIE GESELLSCHAFT HAT LEERSTÄNDE NICHT ZU VERZEICHNEN, SONDERN EINE HÖCHST ZUFRIEDENE UND DURCH WENIG FLUKTATION GEKENNZEICHNETE MIETERSCHAFT, DIE MIT VIELEN SACHKUNDIGEN BESUCHERN UNSERER STADT DIESES BAUVORHABEN ALS EINE BESONDERE LEISTUNG EMPFINDEN, DER MAN ZWAR IN BERLIN SELBST NICHT DEN ENTSPRECHENDEN TROBUT ZOLLT, WOHL ABER DANN, WENN MAN BETROFFENER IST ODER EBEN DIE STADT IM LICHTE IHRER GELUNGEN EXPERIMENTE BETRACHTET
DER SENATSBAUMINISTER DR. KLAUS RIEBSCHLÄGER 1
‚BEI MORDOPFER GELD UND VIDEORECORDER GEKLAUT‘ ‚IN DER ‚SCHLANGE‘ IST KEIN PLATZ FÜR JUGENDLICHE‘2 ‚BRENNPUNKT WILMERSDORF‘ IN DEN 80ER UND 90ERN STARKE NEGATIVE PRESSE AUFGRUND VON KRIMINALITÄT DURCH DIE ‚FLANIERMEILE‘ IM 4TEN STOCK VERURSACHT
1. Bertelsmann, Wolf & Seidl, Ernst: Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße. Vom Abenteur das Unmögliche zu wagen. Konopka, 1990, s. 18 2.Die Schlange: einer der ungewöhnlichsten Wohnblocks Deutschlands, Reportage 10.02.2019 3. Der EIgentümer: Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße- Acht Jahre Erfahrung der DEGEWO bei der Verwaltung und Bewirtschaftung des Objekts in: Bertelsmann, Wolf & Seidl, Ernst: Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße. Vom Abenteur das Unmögliche zu wagen. Konopka, 1990 S.47
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MIT DIESEM KÜHNEN BAUVORHABEN HAT BERLIN AN DIE TRADITION SEINER BEISPIELHAFTEN BAULEISTUNGEN ANGEKNÜPFT. DIE FRAGE, INWIEWEIT EIN SOLCHES BAUVORHABEN ZU EINEM ECHTEN ANZIEHUNGSPUNKT WERDEN KANN, DER EINER ZERSCHNEIDUNG UND TRENNUNG VON STADTTEILEN DURCH SCHNELLVERKEHRSWEGE ENTGEGENWIRKT, WIRD ERST NACH EINIGEN JAHREN ZU BEANTWORTEN SEIN“ DAMALIGER WOHNUNGSBAUMINISTER HAACK
DIE WOHNUNGEN (...) WERDEN EINMAL
ZU DEN ‚BESTEN ADRESSEN‘ BERLINS GEHÖREN SENATOR FÜR BAU-UND WOHNUNGSWESEN
DIE WOHNZUFRIEDENHEIT DER MIETER IST GROSS, WIE DIES IN DIVERSEN INTERVIEWS ZUM AUSDR UCK KOMMT. DIES DRÜCKEN AUCH DIE WARTEZEITEN FÜR EINE WOHNUNG (BEI WOHNBERECHTIGUNGSSCHEIN MIT DRINGLICHKEITSSTUFE) VON MINDESTENS EINEM JAHR AUS, WAS IM GEGENSATZ ZU LEERSTÄNDEN IN ANDEREN GROSSPROJEKTEN STEHT, BZW. STAND. ALLEM ANSCHEIN NACH HABEN KONZEPT UND AUSFÜHRUNG BEI DEN MIETERN DIESES KOMPLEXES IHRE ANHÄNGER GEFUNDEN.3 DER PLANER WOLF BERTELSMANN 9 JAHRE NACH FERTIGSTELLUNG
SIE [DIE NACHFRAGE] WAR INSBESONDERE AUCH IN DEN JAHREN 1984/1985 ZU BEOBACHTEN, ALS IN ANDEREN BEREICHEN DER STADT VERMIETUNGSSCHWIERIGKEITEN ZU VERZEICHNEN WAREN. DAMIT HAT DAS OBJEKT UNTER BEWEIS GESTELLT, DASS ES AUCH BEI DEN BEDINGUNGEN EINES „MIETER-MARKTES“ MIT WEITGEHENDEN AUSWAHLMÖGLICHKEITEN DER MIETER DURCHAUS WETTBEWERBSFÄHIG IST UND SICH INSBESONDERE AUCH MIT ANDEREN GUTEN WOHNANLAGEN IN DER STADT MESSEN KANN.3
DIE DEGEWO
UNG UNTER SCHUTZ GESTELLT. NICHT NUR IHRE ARCHITEKTUR IST FUTURISTISCH. DIE WELT, 12.12.2017
DIE „SCHLANGE“ STEHT UNTER DENKMALSCHUTZ
1971 ZEICHNETE DER VISIONÄR DENKENDE ARCHITEKT GEORG HEINRICHS GEMEINSAM MIT GERHARD UND KLAUS KREBS DIE PLÄNE FÜR DIE „AUTOBAHNÜBERBAUUNG SCHLANGENBADER STRASSE“. 1064 WOHNUNGEN FANDEN IN DEM „LIEGENDEN HOCHHAUS“ PLATZ. EIN GEWAGTES BAUVORHABEN. DER TAGESSPIEGEL, 12.03.2018
KRITIK VON ALLEN SEITEN „AUTOBAHNEN ZU ÜBERDECKELN KOSTET EIN WAHNSINNSGELD“
DIE STADTAUTOBAHN AM DREIECK FUNKTURM. NOCH IST DIESER TEIL BERLINS EIN UNWIRTLICHER ORT. WIE SÄHE ER AUS, WENN DIE A100 IN EINEM TUNNEL VERSCHWINDEN WÜRDE? BERLINER ZEITUNG, 16.06.19
NEUE WOHNHÄUSER ÜBER DIE STADTAUTOBAHN A 100
WIE AN DER SCHLANGENBADER STRASSE KÖNNTEN DIE A 100 AM ICC ZISCHEN DER BRÜCKE NEUE KANTSTRASSE UND KNOBELSDORFFSTRASSE BEBAUT WERDEN. BERLINER MORGENPOST, 03.07.2018
DENKMALSCHUTZ FÜR DIE AUTOBAHNÜBERBAUUNG SCHLANGENBADER STRASSE 08.12.2017
WARUM DIE BERLINER „SCHLANGE“ JETZT DENKMALSCHUTZ GENIESST
IN BERLIN WURDE NUN EINE AUTOBAHNÜBERBAU-
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WOHNUNGSBAU FRANKREICH Unzul채ngliche Befriedigung der Wohnungsbed체rfnisse, bei gleichzeitigem demografischem Wachstum f체hrten zu verst채rktem staatlichen Eingriff auf Wohnungspolitischer Ebene durch ein umfangreiches Wohnungsbauprogramm.
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BIS 1963 RUND 3 MILLIONEN ERRICHTETE WOHNUNGEN, DAVON 80% MITTELS STAATLICHER SUBVENTIONIERUNG
380.000 IM RAHMEN DES STAATLICHEN WIEDERAUFBAU-PROGRAMMS
800.000 IM RAHMEN DES SOZIALEN WOHNUNGSBAUS (HLM)
1,6 MILLIONEN DURCH STAATLICHE EIGENHEIMFÖRDERUNG
450.000 PRIVAT
Nach dem Zweiten Weltkrieg lag der primäre Fokus auf der Wiederherstellung der industriellen Produktion und der Landwirtschaft .„Diese Zeit des Wachstums, der Prosperität und des abrupten sozialen Wandels wurde bekannt als ‚Les trente glorieuses‘ oder ‚die dreißig glorreichen Jahre‘, welche sich von der Befreiung Frankreichs im Jahr 1944 bis zu dem von der Ölkrise 1973 ausgelösten Wirtschaftsabschwung erstreckten.“1 Die rapide Modernisierung wurde auch im Wohnungsbau und steigenden Infrastrukturbedürfnissen, in form umfangreicher Stadtplanungsmaßnahmen sichtbar. Die wachsende Bevölkerungszahl aufgrund von demografischem Wachstum („le baby boom“) und Migration durch Landflucht verschärften den fehlenden Wohnungsbestand noch deutlicher. Der größte Wohnungsbestand stammten aus dem 19 Jahrhundert und boot weder fließendes Wasser, noch Bad oder Küche und litt zumeist unter Überbelegung. So beschreibt die „crise du logement“, den ständigen Wohnungsmangel der 30 Nachkriegsjahre. Die Architektur bildete im Modernisierungsprozess eine Schlüsselrolle. Die Wohnung wurde als Ort verstanden, welcher Technik und Modernisierung auf vielschichtiger Weise sichtbar machte und damit den neuen Wohlstand durch Haushaltsgeräte (Technik), Auto(Transport), Telefon(Kommunikation) und Massenmedien wie Fernseher demonstrierte. Diese Schlüsselrolle spiegelte sich auch in der Verbindung zwischen Politik und Architektur wieder. Die Politik wurde einerseits in die architektonische Debatte stark miteinbezogen, so zahlreiche Interviews bekannter Minister in Architektonischen Fachzeitschriften2 , wie auch Architekten direkt in politische Planung miteinbezogen wurden und häufig sogar direkten Einfluss auf Ministerielle Entscheidungen hatten. FRANZÖSISCHER PLANUNGSPROZESS NACH PRIORITÄTEN
1.Nationaler Plan (was passiert mit der Stadt oder dem Gebiet- welche Industrie wird angesiedelt) 2.Bestimmung des örtlichen Wachstums 3.Ministerium für Bau und Stadtplanung erstellt einen Masterplan 4. Vorschuss an staatlichen Geldern 5. Örtliche Behörde erwirbt land für kontrollierte Entwicklung 6. Architekten und Planer durch Ernennung/ Wettbewerb für Entwurf beauftragt 1 2
vgl. Labor der Modern. Nachkriegsarchitektur in Europa. Herausgegeben von der Sächsischen Akademie der Künste, 2014 S.136ff. Arch +203. Juli 2011: Planung und Realität. Strategien im Umgang mit den Großsiedlungen: Komplizen einer Modernen Gesellschaft: Architektur und Politik in Frankreich nach dem zweiten Weltkrieg. S.31
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Abb. Josette, 90 Jare alt, Vision 80, Esplanade de La DĂŠfense, 2013. (Foto: Laurent Kronental
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1953 ‚PLAN COURANT‘1
II. SOZIALER WOHNUNGSBAU
1950 ‚PLAN NATIONAL D‘AMÉNAGEMENT DU TERITOIRÉ
III. ‚GÜNSTIG HLM‘
Das erste umfassende Wohnungsbauprogramm einer globalen Wohnungsbaupolitik. 4 Jahre entstand dann ein Wohnungsbau Rahmengesetzt
1950ER ‚CAMPAGNES NATIONALE CONSTRUCTION-LOGEMENT Wettbewerbe des HLMs
1960ER ‚ZONES À URBANISER EN PRIORITÉ
Durch Ernennung neuer Städtebaulicher Prioritätsgebiete, wurden Gemeinden autorisiert Bauland zu enteignen und den öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften zur Bebauung zur Verfügung zu stellen
GRANDS CHANTIERS EXPÉRIMENTAUX: SUCHE NACH NEUEN VORFERTIGUNGSMETHODEN
Das Finanzministerium vergab hierbei Kredite an die örtlichen, öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften des sozialen Wohnungsbaus (organismes HLM) um Wohnraum für einkommensschwache Haushalte zu bauen. Die Belegungspolitik dieser Sozialwohnungen wurde von den HLM zumeist weit gedehnt um anstelle der Arbeiterschichten, besser Verdiener aufzunehmen. Gleichzeitig setzten sie so die Mieten nach oben. Bis 1963 zeichnete sich eine Eindeutige Tendenz ab: Ältere, Arbeiter und einkommensschwache wohnten in den Altbauten der Stadt, während die HLM Wohnungen zumeist von jungen Haushalten, Angestellten und der Mittelschicht belegt wurde. Um die von Obdachlosigkeit bedrohten Bevölkerungsschicht zu versorgen, wurden in den Jahren von 1951 bis 1955 in mehreren Etappen Wohnräume mit einfachstem Standard entwickelt (bsp. 1954 ‚Cités d‘urgence‘: Sofortprogramm für 12.000 Wohnungen im einfachsten Standard)
1. Opération Million Wettbewerbe zu neuen industriellen Baumethoden, welche die Baukosten für eine 2-Zimmer Wohnung um die Hälfte reduzieren sollten führte zum Bau von 50.000 Wohneinheiten 2. Opération 4.000 logements pour la Région parisienne Ein Programm zur Einführung und Test neuer Vorfertigungsmethoden im großen Maßstab
I. EIGENHEIMFÖRDERUNG
1. Kombination aus öffentliche Kreditsubventionen und Eigenkapital 2. ‚HLM-accession‘: Für einkommensschwächere Familien, ähnliche Standards wie im Sozialen Wohnungsbau Ziel: Verteilung des Eigentums in allen Schichten
1
vgl. allgemein: vgl .Neumann, Wolfgang; Uterwedde, Henrik: Soziale und Stadtstrukturelle Wirkungen der Wohnungs und Städtebaupolitik in Frankreich am Beispiel der Großsiedlungen, Wüstenrotstiftung, 1993 S. 34ff.;Arch +203. Juli 2011: Planung und Realität. Strategien im Umgang mit den Großsiedlungen: Komplizen einer Modernen Gesellschaft: Architektur und Politik in Frankreich nach dem zweiten Weltkrieg. S.32f.
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GEMEINSCHAFTLICHE WOHLFAHRT DIE POLARITÄT AUS ÖFFENTLICH UND PRIVAT IM STADTZENTRUM IVRY SUR SEINE, PARIS
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POLITISCHER HINTERGRUND
Durch einen politischen Kurswechsel im Nachkriegsfrankreich, dessen Ziel im wirtschaftlichen Aufschwung lag, in der unter anderem durch Mittel des US-Marshall-Plan ermöglicht wurde, rückte die Wohnraumförderung der Arbeiterklasse als wichtiges politisches Werkzeuge in den Fokus der Betrachtung1. Die Steigerung der Produktivitätsrate, Erhöhung der durchschnittlichen Löhne, damit einhergehend steigender Konsum und eine rasche Verstädterung, führten schließlich zum Stadterneuerungsplan von Ivry-sur-Seine 1958. Das Vorhaben kam als direkte Antwort auf die von Paris ausgehende Initiative in den nahen Vororten großflächige Arbeiterquartiere zu errichten.2 Der südöstliche Pariser Vorort sollte auf einer Fläche von knapp 14 Hektar ein neues Stadtzentrum mit überwiegend sozialem Wohnraum erhalten, um die Grundstücke entlang der nach Paris führenden Straßen Rue Danielle Casanova und Rue Lénine vor Bodenspekulationen zu schützen. Auf diesem Areal lag das Ziel bei einer Verdreifachung der vormaligen Dichte, somit sollten ungefähr 2.500 Wohnungen entstehen, davon rund 75% als sozial geförderter Wohnungsbau.3 Zusätzlich sah der Stadterneuerungsplan knapp 30.000 Quadratmeter Gewerbeflächen für den Einzelhandel, 15.000 Quadratmeter Industriefläche, 18.000 Quadratmeter Bürofläche und 3.500 Quadratmeter als Parkfläche vor, welche durch das Büro von Roland Dubrulle in einer Architektonischen Planung integriert werden sollten. Der damalige Bürgermeister, der bis heute kommunistisch verwalteten Gemeinde schuf durch die Verlagerung eines großflächigen Fabrikgeländes in vorgelagerte Zonen die wichtigsten Flächen zur Realisierung des Stadterneuerungsplans. Zudem wurde der Grundstücksbestand durch Ankäufe aktiv erweitert. Dank einer aufgeschlossenen gesellschaftspolitischen Haltung zeigte sich der Bürgermeister offen für neue Konzepte im Bereich der Wohn- und Stadtplanung. In zahlreichen Workshops und Diskussionen mit der Architektin Renée Gailhoustet versuchte diese den Bürgermeister von ihrem Konzept für das neue Stadtzentrum zu gewinnen. Die Idee der Nutzungsmischung aus Wohnen, Nahversorgung und öffentlichen Einrichtungen vereint in einem Gebäude, stieß beim hiesigen Bürgermeister auf großes Interesse. Mit dessen Zustimmung, da wie in Frankreich üblich das Gemeindeoberhaupt die ausschlaggebende Entscheidungshoheit darstellte, konnte die Planung beginnen. Gailhoustet, welche ursprünglich noch für das Büro von Ronald Dubrelle den Tour Raspail entwarf, wurde anschließend für weitere Bauten beauftragt. Im Jahr 1969 wurde Renée Gailhoustet mit einem Alter von nur 40 Jahren zur Chefarchitektin vom Pariser Vorort Ivry sur Seine ernannt und löste damit ihren vormaligen Chef, Ronald Dubrelle, ab. Während sie an ihrem nächsten Entwurf für das Gebäude Spinoza arbeitete, holte sie 1968 Jean Renaudie nach Ivry, welcher kurz zuvor aufgrund eines Zerwürfnises mit seiner Büropartnerin das Atelier de Montrouge verlassen hatte. Dieser begann unverzüglich mit der Planung für das Gebäude Casanova. Kurz zuvor, im Jahr 1965, war die Vizebürgermeisterin Raymond Laluque zur Direktorin des Office d‘HLM (Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft und Bauherr der Stadterneuerungsprojekte) ernannt worden. Sie war zudem die Verantwortliche für den Wohnungsbau und die Stadtentwicklung von Ivry. Laluque war ebenso überzeugt von der Idee, die Leitbilder der Vorjahre hinter sich zu lassen und die Nutzungsmischung innerhalb der Wohnbauten 1 2 3
vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Wohnungsbau Frankreich vgl dies und nächste ARCH+ 231: The Property Issue – Von der Bodenfrage und neuen Gemeingütern, April 2018, S. 110-128 vgl. AA files, 23, 1992, S44ff.
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Das Ensemble Marat: außen liegende, öffentlich Begehbare Wohnngserschließung und Terrassenstruktur Abb beide Seiten: @ Divisare, Foto: Lorenzo Zandri
zu initiieren. Gailhoustet, Renaudie und Laluque entwickelten in den folgenden Jahren einen integrativen Städtebau, dessen Hauptziel darin bestand, das Bodenrecht in öffentlicher Hand zu halten, um so die Planung aktiv steuern zu können. Im Kern bestanden diese aus einer Vielzahl unterschiedlicher Gebäudetypen, welche als städtebauliches Konglomerat in enger Verbindung und fließenden Übergängen in direktem Nebeneinander koexistieren sollten. Konzeptionell sollten sich die einzelnen Gebäude durch vielfältige unterschiedlichen Grundriss-Typologien, die Funktionsmischung innerhalb der Gebäude, mit zumeist öffentlichen Zonen im Erdgeschoss und verteilten Gemeinschaftsbereichen innerhalb der Bauten klassifizieren. Ein weiterer Anspruch des Office d‘HLM lag darin, alle Wohnungen ausschließlich als Mietobjekte zu vergeben, um niedrige Mietkosten langfristig zu garantieren. FINANZIERUNG
Die Mittel, welche vom Staat für die Realisierung sozialer Wohnungen zur Verfügung gestellt wurden, waren auch in Frankreich stets knapp bemessen. Für Renaudie jedoch waren der Mehrwert von großzügigen, begrünten Terrassen, gerade im Wohnungsbau der Arbeiterklasse, ein essenzieller konzeptioneller Bestandteil. Renaudie demonstrierte ein Modell seiner Planung für das Ensemble Danielle Casanovo beim gemeinsamen Workshop mit den Bewohnern von Ivry sur Seine. Das Konzept der grünen, privaten Freiräume stieß auf sehr positive Resonanz seitens der Einwohner. Bestrebt, den zukünftigen Nutzern hohe Wohnzufriedenheit und zusätzliche Annehmlichkeiten zu verschaffen, realisierte Renaudie, trotz mangelnder Gelder und ohne zusätzliche Mittel, die begrünten Terrassen. Die allgemeine Aufbruchstimmung der 68er Jahre und die damit verbundene Suche nach neuen Ideen im Wohnungsbau führten in den kommenden Jahren viele Junge Architekten zu Exkursion nach Ivry.4 Begeistert von den hohen Qualitäten der privaten Außenräume, wurde nach und nach die Idee der Terrasse in sozialen Wohnungsbauvorhaben im Pariser Umland aufgenommen, und schlussendlich erklärte sich das Ministerium bereit, derartige Zusatzleistungen zusätzlich zu honorieren. Ähnlich wie im Falle Alt Erlaa,5 war die Resonanz solcher Annehmlichkeiten im sozialen Wohnungsbau, gerade auf politischer Ebene, nicht nur positiv. Selbst unter den Kommunisten fanden sich einige Kritiker: „diese Wohnungen seien nicht für die Arbeiter gemacht“.6 DAS VERHÄLTNIS VON ÖFFENTLICHER UND PRIVATER SPHÄRE
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Die Leitidee des neuen Stadtzenrums von Ivry-sur-Seine fokussierte die Synthese aus Privaten und Gemeinschaftlichen Flächen. Private und Öffentliche Sphäre, sollten nicht wie meisthin üblich,7 an den Gebäudezugängen getrennt werden, sondern vielmehr ineinander fließen. Unabhängig von der motorisierten oder fußläufigen Fortbewegungsart sollten sowohl Bewohner als auch die breite Öffentlichkeit uneingeschränkten Zugang zu den Bauten haben. Im Unterschied zur Schlangenbader Straße in Berlin wurde hier auf Schlösser und Zugangskontrollen, mit Ausnahme der privaten Wohnung, verzichtet. Folglich wurde das Erdgeschoss eine Abfolge öffentlicher Räume konzipiert. Eine Sequenz aus Gärten, Passagen, Eingangshallen und Höfen, verbunden durch ein komplexes, vielschichtiges Erschließungssystem, ermöglicht Besucher und Bewohner8 eine Vielzahl unterschiedlicher Durchwegungen, mit stets neuen Ein- und Ausblicken und Verbindungen zu Nachbarbauten. Diese führen sowohl durch die öffentlichen Bereiche, als auch durch die für gewöhnlich den Nachbarschaftseinheiten vorbehaltenen halböffentlichen Zonen der Wohnungserschließung. KONZEPTIONELLER ANSATZ VON RENAUDIE UND GAILHOUSTET
Die grundlegende Motivation, in allen von Renaudie und Gailhoustet in Ivry sur Seine errichteten Bauten ablesbar, gründet in einer konsequenten Ablehnung der propagierten Grundsätze der Charta von Athen. Renaudies allgemeiner Unmut gegenüber der Nachkriegsarchitektur zeigte sich im Kontext der Städtebaukonferenz im Centre Pompidou 1978. „The process of increasing density and accumulation, witnessed in our city as a result of industrial development from the previous century to the present day, was a pretext for the creation of a system based on the void; this correspondons, in my view, to a regression in urban planning: panic induced by promiscuity and fear of contact have forced architecture into a state of docility which has ultimately led to the loss of autonomy in the production of space.“9 Als Gegenbild zur Funktionstrennung verstanden die Architekten vielmehr das Recht auf Individualität, Gemeinschaft und Naturbezug. Sozialer Kontakt, Kommunikation und somit ein gemeinschaftliches Miteinander konnten laut Renaudie nur entstehen, wenn das Wohnen durch die Angliederung unterschiedliche Zusatzfunktionen erweitert werden würde.10 Das Markanteste äußere Gestaltungsmerkmal, welches sich durch fast alle Bauten zieht, formt sich durch die in Dreiecksvariationen angeordneten Grundrisse. Diese schaffen nicht nur eine Vielzahl unterschiedlicher Wohntypen und generieren somit die gewünschte Individualität, sondern
vgl. Skizzenwerk, Kapitel: allgemeine Umbruchstimmung, Deutschland zwischen 1960 und 1973 vgl. Schriftliche Arbeit, Kapitel: Individuelle Wohlfahrt, Lebensqualität und Bewohnerzufriedenheit im Wohnpark Alt-Erlaa Le Parisien, 18. März, 2016: Comment Ivry a lancé làrchitecture vgl. die architektonischen Leitbilder der direkten Nachkriegszeit in Skizzenwerk, Kapitel: Leitbilder des Städtebaus Hinweis: Aus Gründen der Lesbarkeit wird in der gesamten Arbeit auf die besondere Kennzeichnung weiblicher Endungen, „-innen“, verzichtet. Renaudie, Jean, Konferenz im Centre Pompidou, 25. Oktober 1978 zit. n. AA files, 23, 1992, S45 vgl. a+t research group: 10 Stories of collective Housing. Graphical Analysis of inspiring Masterpieces, 2013
schaffen durch terrassenartige Staffelung in der Vertikalen großzügige Außenräume. Diese sind zumeist mit 30 Zentimeter Erde aufgeschüttet und bilden so tatsächliche Gärten aus. Die Architektin Gailhouste welche auch heute noch in einem von ihr entworfenen Apartment lebt, besitzt mittlerweile einen Kirschbaum auf ihrer Terrasse.11 GEMEINSCHAFTSEINRICHTUNGEN
Die zentrale Gemeinschaftseinrichtung stellt in Ivry das ‚Local Collectif Résidentiel‘, kurz LCC dar. Dieser multifunktionale Gemeinschaftsraum kann nach Rücksprache mit der Verwaltung von den Bewohnern sowie von Externen für Veranstaltungen jeglicher Art genutzt werden. Die direkte Integration in den Wohnkomplex, zumeist in Erdgeschosslage, ermöglicht spontane Zuschauer und Teilnehmer. Auf je 50 Wohneinheiten kommt in der Regel ein 150 Quadratmeter LCC Raum. Der Versuch die Funktionstrennung innerhalb der Bauten aufzulösen war nicht bei allen Bauten in gleichem Maße möglich. Prinzipiell sollten die öffentlichen Einrichtungen aufgrund besserer Zugänglichkeit in den Erdgeschosszonen angesiedelt werden. In den Wohnhochhäuser aufgrund ihrer punktuell geringen Grundfläche, musste die öffentliche Zone konsequenterweise in die vertikale erweitert werden. So entstand beispielsweise im Tour Raspail im obersten Geschoss ein Gemeinschaftsraum mit 300 Quadratmetern und mit direktem Dachterrassenzugang. In den stark linear ausgerichteten Bauten von Renaudie konnte die öffentliche Nutzung deutlich intensiver ausfallen. So laufen die baulich, zumeist witterungsgeschützten Erschließungsflächen12 frei unter und teilweise durch die Gebäude und schaffen somit reiche und differenziert Flächen für öffentliche Einrichtungen. Die fehlende klare Bezeichnung von ‚öffentlichem‘, ‚privatem‘ und konkreten Nutzergruppen definiert das ‚Gemeingut Stadt‘ auf neue Art und schafft so die Möglichkeit zur gemeinschaftlichen Aneignung dieser Schwellenräume. „Wenn gemeinsamer Raum von Bedingungen umschrieben wird, die exklusive Besitzer*innen oder Nutzer*innen definieren, dann wird er bestenfalls zu einem beschränkten öffentlichen Raum oder er wird innerhalb ausschließenden Gemeinschaften eingedämmt und privatisiert. [...] Schwellenräumlichkeit erhält die Eigenschaften des gemeinsamen Raumes als Gemeingut, als eine Form oder einen Zustand, durch den Menschen laufend ihre Beziehungen verhandeln und folglich Regeln, Nutzungen usw. entwickeln.“13
11 12 13 14 15 16 17 18 19
NACHBARSCHAFTLICHKEIT
Das in unterschiedlichen Ausprägungen wiederkehrende Thema der Gemeinschaft drückt sich im privaten Bereich durch die Möglichkeit nachbarschaftlicher Kommunikation über die der Wohnung zugehörigen Außenräume aus. Das Dach der einen Wohnungen bildet gleichzeitig die Terrasse des Nachbarn.14 Durch die gestaffelte Anordnung der Außenräume wird es den Bewohnern möglich, nachbarschaftliche Kontakte zu knüpfen, ohne den privaten Bereich zu verlassen. Diese Beziehung von Privatheit und Gemeinschaft akzentuiert sich bei Gailhoustet und Renaudie in unterschiedlicher Weise. Bei Gailhoust stehen die Außenräume der einzelnen Wohnungen zumeist in direktem Kontakt. Durch räumliche oder direkte Sichtachsen ausformuliert, soll nachbarschaftliche Kommunikation gefördert werden15. Die Außenräume in den Bauten von Renaudie sind zumeist von den benachbarten abgeschottet und weisen so ein hohes Maß an Privatsphäre auf. Gleichzeitig lassen Rücksprünge in der Vertikalen sowie in der Horizontalen gewollte Kommunikation durchaus zu.16 Bei Gailhoustet sowie auch bei Renaudie orientieren sich diese Außenräume im besten Falle zur öffentlichen Sphäre und gehen so eine direkte Beziehung mit dieser ein.17 Die Schule beispielsweise, welche von Renaudie in das Areal integriert wurde, ist nicht wie üblich autonom und abgegrenzt angelegt, sondern in das direkte Wohnumfeld integriert und zudem von den umliegenden Wohnungsterrassen einsichtig. PRIVATE SPHÄRE
Renaudies Vorstellung der geometrischen Grundrisse bot nicht nur einen Mehrwert in vielfältigen Grundrisstypen, sondern nach ihm vor allem ein Gefühl der Großzügigkeit im sozialen Wohnbau‘: „these forms, this geometric organisation, offer us many possibilities for innovation in the organisation of living space. To offer a simple example, the use of diagonal planes allows us to give the apartment, which is small due to being social housing, the impression of space, as there are apartments with spans of up to 15 metres. This is important for the inhabitants“18 In Renaudies Verständnis bildet räumliche Komplexität zugleich Diviersität der Bewohner aus und stellt zugleich die Grundlage für ein urbanes Miteinander dar.19 TOUR RASPAIL
Die Tour Raspail wurde 1968 fertiggestellt und gilt somit als erstes Resultat des Stadterneuerungsprogramms der Ge-
vgl. ARCH+ 231: The Property Issue – Von der Bodenfrage und neuen Gemeingütern, April 2018, S. 110-113 vgl. Fotos und Schnitt Marat vorherige Seite Stavrides, Stavros: Common Space: Die Stadt als Gemeingut. in: Arch+ 232: An Atlas of Commoning: Orte des Gemeinschaffens, Juli 2018, S.17 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Leitbilder des Städtebaus vgl hierbei bsp. Marat: geteilte Lichthöfe vgl. Fotos; tieferer Einstieg durch zusätzliches Planmaterial auf www.frac-centre.fr/collection-art-architecture/rub/rubauteurs-58.html?authID=74 vgl. Schnitt Komplex Marat Sichtbeziehungen der Wohnungen zur Passage Jean Renaudie in einem Interview für den Dokumentarfilm ‚Les Étoiles de Renaudie‘, 1979 zit. n.: The architectural review : AR ; a magazine of architecture and decoration , Mai 2019 Nr. 1461, S.46 vgl. Anton Zoetmulder: Jean Renaudie: to give voice to that which was silent, 2014, S. 88ff.
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TOUR RASPAIL
EINZELHANDEL IM ERDGESCHOSS UND KUNST AUF DEM DACH SCHNITT 1:500
GEMEINSCHAFTSATELIER
GEMEINSCHAFTSATELIER MIT ZUGANG ZUR DACHTERRASSE GRUNDRISS 1:500
DACHTERRASSE
KÜNSTLER ATELIERS
KÜNSTLERATELIER ÜBER SPLIT LEVEL ZUR DACHTERRASSE GRUNDRISS 1:500
Der Komplex Jean Hachette von Renaudie, im Hintergrund der Tour Raspail von Gailhoustet,@ Divisare, Foto: Lorenzo Zandri
Abb:@Archdaily Foto: Laurent Kronental
Vertikale Schichtung und freies EG
CITÉ SPINOZA
V Vertikale Schichtung und freies EG
KINDERGARTEN
SCHNITT 1:500
KINDERBIBLIOTHEK
ZENTRUM FÜR JUNGE ARBEITER
GRUNDRISS 1:500
LE LIÉGAT
IM ERDGESCHOSS FINDEN SICH IN DIREKTER RÄUMLICHER NACHBARSCHAFT BÜROFLÄCHEN, EINZELHANDEL, EINEN LCC, WOHNUNGEN UND PATIOS
PATIO
GRUNDRISS 1:1000
WOHNUNG
PASSAGE
UM DEN NACHBARSCHAFTLICHEN KONTAKT ZU FÖRDERN, GRENZEN DIE GROSSZÜGIGEN PRIVATEN AUSSENRÄUME IMMER UNMITTELBAR AN DIE BENACHBARTEN TERRASSEN AN.
7
5 BALKON
7 4 5
GRUNDRISS 1:250
5
PATIO 7
3 2
2 1
1. EINGANG 2. KÜCHE 3. WOHN/ESSRAUM 4. BAD/WC 5. ZIMMER 6. ANKLEIDE/ ABSTELLKAMMER 7. BALKON/ TERRASSE
1
4
4
INNENHOF
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meinde, welches 1960 eingeleitet wurde. Noch für das Büro von Dubrelle tätig, entwarf Gailhoustet vier der im Stadterneuerungsplan festgesetzten fünf Wohntürme. Diese sollten zur Verdichtung des Quartiers beitragen. Der Tour Raspail nimmt hierbei durch seine Funktionsdurchmischung eine Sonderstellung gegenüber den anderen, Tour Lénine, Tour Casanova und Tour Jeannne Hachette, ein und beherbergt zudem insgesamt 203 Wohnungen. Formal, aber auch funktional zeigt sich im Wohnhochhaus die enge Verbundenheit Gailhoustets mit ihrem Vorbild Le Corbusier.20 Die Beschaffenheit des ‚beton brute‘ und die räumliche Komplexität durch eine konsequente Weiterentwicklung der in der Unité d‘Habitation verwendeten Wohnungstypologie der Maisonette zur split-level Maisonetten.21 Der Bau besteht aus zwei zueinander verschobenen Volumen, welche durch den Erschließungskern miteinander verbunden werden. Der öffentliche Platz, welcher durch diese Anordnung aufgespannt wird, wurde mit einem Raumtragwerk, als Pavillon ausformuliert, ähnlich der Erdgeschossbespielung der Cité Spinoza22 gefüllt, welcher als Kiosk und später als Schaufenster der ansässigen Kunstgalerie genutzt wurde.23 Zusätzlich zu den im Erdgeschoss verorteten Einzelhandelund Dienstleistungsflächen befindet sich im 17. Geschoss ein Gemeinschaftsraum. Mit einer Fläche von 300 Quadratmetern wird dieser LCC als Atelier für die Bewohner und externe Besucher genutzt, in welchem ehrenamtliche Künstler wöchentliche Kurse für kreative Aktivitäten abhalten. Das darunter liegende Geschoss, welches über Splitlevel verbunden ist, beherbergt weitere Künstlerateliers. Beide Ebenen besitzen direkten Zugang zur Gemeinschaftsdachterrasse, welche als bepflanzter Dachgarten, teilweise durch Betonstrukturen geschützt, ausformuliert ist.24 Gerade aus wirtschaftlicher Sicht scheint dieses Gebäude ein Statement zu setzen: während im allgemeinen das höchste Stockwerk stets an den ‚Höchstbietenden‘ geht, wird es hier, als zusätzliche Annehmlichkeit, der Gemeinschaft zugeschrieben. „Im Gegensatz zu den umliegenden Projekten, demonstriert Gailhoustet mit der Tour Raspail, dass eine Verknüpfung der öffentlichen mit der privaten Sphäre und damit eine Gemeinschaftsbildung auch in einem vertikal gegliederten Gebäude möglich ist.“25 CITÉ SPINOZA
Der dreiflüglige Wohnbau, bestehend aus 79 Sozialwoh20 21 22 23 24 25 26 27 28
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nungen, wurde 1972 fertiggestellt. Die Architektin Renée Gailhoustet begann 1967 mit dem Entwurf, der noch im ursprünglichen Masterplan von Dubrulles festgesetzt war. Sie konzipierte ein im Erdgeschoss aufgeständertes Gebäude, das typologisch, wie die meisten ihrer früheren Werke, paralleln zu Le Corbusiers Unité d‘Habitation zeigt. Die rechtwinklig zueinander stehenden Flügel wurden durch einen gemeinsamen Erschließungskern miteinander verbunden. Das aufgeständerte Erdgeschoss ermöglicht es Gailhoustet, den Platz darunter mit durch unabhängigen Pavillons zu bespielen und zum umliegenden Platz zu erweitern. Formal nehmen diese eine vom Bau komplett losgelöste architektonische Sprache auf und verkörpern so den Duktus eines temporären, flexiblen Elements im öffentlichen Raum. In den Pavillons befinden sich neben einer Kinderbibliothek, ein Zentrum für psychologische und pädagogische Beratung und passen sich somit den Bedürfnissen der jungen Arbeiter an26 Zudem wurden in die als Rundbögen formulierten Stützen Sitzbänke integriert, um die Erdgeschosszone klar als Aufenthalts- und Kommunikationsbereich zu artikulieren. Die öffentliche Nutzung zieht sich auch hier bis in das oberste Geschoss des Westflügels, in welchem sich ein öffentlicher Kindergarten befindet. Der zentrale vertikale Erschließungskern verbindet öffentliche Nutzungen und Foyer im Erdgeschoss. Die als Maisonette ausformulierten Wohnungen werden von hier über Flure alle drei Geschosse (eins, vier, sechs und sieben) erschlossen.27 Die Nachbarschaftseinheit sind somit relativ groß, da die vertikale Erschließung nicht nur alle 79 Wohnungen bedient, sondern auch für die öffentliche Nutzung des Kindergartens zuständig ist. Dies schafft nicht nur die Möglichkeit nachbarschaftlicher Kontakte, sondern erweitert den kontextuellen Einzugsbereich in die öffentliche Sphäre.28 MARAT
Der Gebäudekomplex Marat von Gailhoustet wurde nach einer Planungs- und Bauphase von 15 Jahren 1985 fertiggestellt. Der Komplex befindet sich in direkter Nachbarschaft zum Ensemble Jeanne Hachette (von Renaudie) und liegt zwischen der Rue Robespierre und der Avenue Georges Gosna. Das Untergeschoss wird im westlichen Bereich durch die Endhaltestelle der Metrolinie U7, ‚Marie d‘Ivry`gebildet, welche die direkte Anbindung in die Pariser Innenstadt darstellt. Eine Rolltreppe verbindet die U-Bahn mit der darüber
vgl. ARCH+ 231: The Property Issue – Von der Bodenfrage und neuen Gemeingütern, April 2018, S. 110-113 vgl. Schnitt vgl folgendes Kapitel: Cité Spinoza vgl Grundriss vgl. Schnitt und Grundriss ARCH+ 231: The Property Issue – Von der Bodenfrage und neuen Gemeingütern, April 2018, S. 115 vgl. Grundriss vgl scnitt vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Studie: „Wohnwert“ im sozialen Wohnungsbau (zur Fragestellung der Nachbarschaftskontakte: am zweit häufigsten wurden hier Flur und Lift genannt)
liegenden, doppelgeschossige Einkaufspassage. Diese, über den zwei Tiefgaragen liegende Passage, überbrückt im westlichen Bereich die Rue Marat, verläuft durch den gesamten Komplex Marat und schlussendlich weiter im Ensembe Jeanne Hachette.29 Durch den enormen Höhensprung der Topografie von der Rue Marat zur Avenue Georges Gosnat, wurden auf Parkebenen zudem Geschäftsflächen,wie Ateliers untergebracht, welche kein direktes Tageslicht benötigen.30 Die größten Flächen beanspruchen der Supermarkt und eine öffentliche Sporthalle. Die Sporthalle erstreckt sich über drei Geschosse und greift auf räumlicher Ebene am deutlichsten in den Bereich der privaten Sphäre ein.31 Die Dachebene des Sockelbereichs, in welchem sich Supermarkt und Einkaufspassage befinden, ist wie auch die darüber liegenden Wohnungsgeschosse terrassiert und beherbergt Cafés und weitere Einzelhandelsflächen.32 Erschlossen werden die 136 Wohnungen der oberen Stockwerke über mehre Erschließungskerne, die von den öffentlichen Räumen uneingeschränkt zugänglich sind. Auf den unterschiedlichen Geschossniveaus führt die Durchwegung über eine Vielzahl diagonaler Treppen immer weiter hinauf in das Gebäude, wobei die meisten Wege im Außenraum verortet sind und immer wieder halböffentliche Plätze und Nischen ausbilden. Die Komplexität der Wegeführung bietet an einigen Stellen Sichtbezüge zu der darunter liegenden Einkaufspassage und stellt ein weiteres Mal eine direkte Beziehung zwischen öffentlicher und privater Sphäre her. Die stark vertikal orientierten, häufig als Maisonette ausgebildeten Wohnungstypen, in Idealform nach Gailhoustet als ‚Patiohäuser‘ angeordnet33, orientieren ihre Außenräume zum öffentlichen Bereich der Ladenpassage.34 Sie lassen somit zwar den direkten Blickkontakt zu, befinden sich jedoch gleichzeitig in geschützter und intimerer Atmosphäre, welche durch differenzierte Höhenniveaus und eine intensive Begrünung geschaffen wird. Die teilweise enorme Wohnungstiefe von bis zu 20 Metern werden über kleine Innenhöfe zusätzlich belichtet und belüftete. Diese von mindestens zwei Wohneinheiten geteilten Höfe schaffen direkten nachbarschaftlichen Kontakt und bilden einen prägenden Wohnungsbaustein in zahlreichen Planungen von Gailhoustet.35 In Marat zeigt sich auf diversen Ebene das omnipräsente Verständnis der Architektin, öffentliche Sphären in den privaten Bereich einzugliedern. Ein hohes Maß an räumlicher und funktionaler Komplexität, Verflechtung und Dichte, lässt vielschichtige räumliche und visuelle Bezüge zwischen 29 30 31 32 33 34 35 36 37
Bewohnern und Besuchern zu. Hierbei verteilen sich halböffentliche und öffentliche Bereiche über weite Teile des Marat Komplexes und bieten so, nicht nur für die eigentlichen Bewohner die Möglichkeit den Komplex auf individuelle Weise zu durschreiten oder auch zu verweilen, ein essenzieller Bestandteil urbanem, öffentlichem Leben.36 LE LIÉGAT
Der Komplex Le Liégat wurde 1978 fertiggestellt. Der Entwurf zeigt mit seinem hexagonalen Grundriss klar die stetige Abgrenzung Gailhoustets vo vormals noch deutlich sichtbaren Parallelen zu Le Corbusier. Vielmehr wird die, nicht nur funktional sondern vor allem auch ästhetische architektonische Nähe zu ihrem Partner Jean Renaudie ausgedrückt. Der Komplex steht auf einer Stützenkonstruktion, dessen Raster aus einer Vielzahl hexagonaler Zellen besteht und sich über neun Geschosse terrassiert in die Vertikale erstreckt. Durch die radial abgehenden Träger und Stützen wurde eine hohe Flexibilität der Grundrisse mit gleichzeitiger räumlicher Komplexität möglich. Das Erdgeschoss ist als öffentliche Passage ausgebildet, welche durch sieben Eingänge die Rue Gabriel Péri, die Rue Danielle Casanova und den Place Voltaire verbindet. Zudem verbindet sie den im nördlichen Außenbereich angelegten Gemeinschaftsgarten und das angrenzende Postamt. Die Passage selbst beherbergt neben Einzelhandel auch Architekturbüros, Ateliers, einen Gemeinschaftsraum den LCC und Wohnungen.37 Darüber befinden sich 146 Wohnungen, welche über fünf Treppenkerne erschlossen werden. Um den nachbarschaftlichen Kontakt zu fördern, grenzen die großzügigen privaten Außenräume immer unmittelbar an die benachbarten Terrassen an. Zusätzliche Innenhöfe sorgen ähnlich wie im Marat Komplex, für ausreichend Belichtung bis in das öffentliche Ergeschoss und fassen zeitgleich, zumindest auf visueller Ebene, mehrere Wohnungen zu einer Nachbarschaftseinheit zusammen. Die räumliche Sequenz aus Zugängen, Innenhöfen, Passage, Ladenflächen, Büros, Gemeinschaftsraum, Wohnraum und Vertikalerschließungen der höher gelegenen Wohnungen bietet im Erdgeschoss eine besondere Synthese funktionaler Durchmischung: ein direktes Nebeneinander aus privater, öffentlichen und halböffentlicher Sphäre. JEANNE HACHETTE:
Das in zwei Bauabschnitten errichtete, 1973 bzw. 1975 fertiggestellte Ensemble Jeanne Hachette , gilt als Vorreiter für die später in ähnlicher Form entstandenen Bauten von
siehe Grundriss EG siehe Schnitt vgl schnitt vgl. Fotos vgl Grundriss Patio vgl Grundrisse vgl. Konzeptioneller Ansatz von Renaudie und Gailhoustet und le Liégat vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Öffentlich, Privat, Gemeinschaftlich vgl. Grundriss EG
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Abb.: @ Divisare, Foto: Lorenzo Zandri
3
MARAT SCHNITTE 1:500
4
BANK
1
EINKAUFSPASSAGE ATELIER
gung tung und Einzelhandel, haft, erschliießung
SUPERMARKT
3
haftt
ATELIER
4
3
SPORTHALLE
Nahversorgung
Bürofläche
Dienstleistung/ Einzelhandel
Gemeinschaftliche Einrichtungen
(Halb-)öffentliche Durchwegung
Kulturelle Einrichtungen
Verkehr
Ivry-sur-Seine.38 Der Bau zeichnet sich durch ein komplexes Raumprogramm aus, in welchem neben 40 Wohnungen vor allem kommerzielle Flächen wie Shops, ein Kino (geplant, allerdings nicht realisiert) Restaurants, Büros, und ein Parkhaus untergebracht sind. Entlang der Avenue George Gosnat befinden sich im vorgelagerten überdachten Umlauf die Zugänge zu den Ladenflächen. Die zweistöckige Brücke, welche die Verbindung zum Komplex Marat ausbildet, beherberg einen Teil des Handelszentrums und die Büroflächen. An drei Seiten des Baus führen öffentlichen Treppen über eine Abfolge öffentlicher Terrassen bin in den fünften Stock hinauf und fungieren gleichzeitig als Haupterschließung der Wohnungen.39 Auch hier wird der konzeptionelle Ansatz fließender Übergänge unterschiedlicher Sphären und unterschiedlicher Nutzergruppen durch die Erschließung greifbar. „In Jeanne Hachette, the spatial richness which permits the walkable conitinous green exterior is a wolrd away from the narrow dark corridors of the grand ensembles.“40 DANIELLE CASANOVA
Das erste Projekt von Renaudie für die Stadterneuerung von Ivry sur Seine war der Komplex Danielle Casanova, welcher im Jahr 1972 fertiggestellt wurde.41 Das terrassierte Gebäude bestehend aus einem Träger-Stützen System, zur damaligen Zeit hoch innovativ für den sozialen Wohnungsbau, und kann somit völlig auf tragende Wände verzichten und erhielt so größtmögliche Freiheiten im Grundriss. Das Projekt besteht aus mehreren Läden neben der Avenue Danielle Casanova und 82 Apartments in den oberen Etagen JEAN BAPTIST CLEMENT
Dies Komplex ist einer der kleineren Terrassenstrukturen von Renaudie entworfen und wurde zeitgleich mit Jean Hachette geplant. So zeigen die für Reaudie typische polygonale Form , die begrünten Terrassen und der brutalistische Gebäudeausdruck des rohen Betons direkte parallelen zu Jean Hachette. Der Komplex sieht eine Mischung aus Ladenflächen im Erdgeschoss und elf Wohnungen in den oberen Geschossen vor. Diese verteilen sich auf fünf Geschossen, wobei nur 3 der Wohnungen eingeschossig ausgebildet sind, die übrigen als Maisonette. Die Geschäfte im Erdgeschoss werden von der Rue Jean Baptise Clement und der Rue Raspail erschlossen. Der Rückwärtige Zugang zu den Ladenflächen, wie auch die Wohnungen sind von Fußgängerstraße aus erschlossen. Der 38 39 40 41. 42. 43. 44 45 46 47
114
Fußgängerbereich wird vom Tour Raspail und dem Jeanne Hachette Komplex gefasst und endet direkt in dessen Einkaufszentrum. Das Foyer der Wohnungen befindet sich frei zugänglich zwischen den Ladenflächen. Von hier aus führt die interne Erschließung durch die gewendelte Haupttreppe mit angegliedertem Aufzug auf die Stockwerke eins, drei und fünf. Die Wohnungen sind, bedingt durch unterschiedliche Geometrien, unterschiedlich und variieren in ihrer Größe zwischen 70 und 140 Quadratmetern. 42Die Apartments haben alle Zugang zu mehreren, sich in ihrer Größe unterscheidenden Terrassen, wodurch im Schnitt 20 Prozent der Wohnfläche dem Außenraum zugeschrieben wird. 43 ZUSAMMENFASSUNG
Das Stadterneuerungsprojekt Ivry sur Seine zeigt wie sich das Verständnis des sozialen Wohnungsbaus in Großprojekten von den monofunktionalen, peripheren, durch Segregation, Vandalismus und Kriminalität geprägten,44 ‘menschenunwürdigen‘45 Siedlungen hin zu Urbanen, lebendigen und vielfältigen Quartieren in der zweiten Phase ab 1965 gewandelt hat.46 Der Funktionspluralismus der öffentlichen Einrichtungen bildet in Ivry vor allem die Grundlage für die Entstehung einer Gemeinschaft, die über reine Nachbarschaftlichkeit hinaus geht. Der Einzugsbereich der öffentlichen Sphäre fließt schwellenlos in die halböffentlichen Erschließungsbereiche der Wohnungen über und bietet aus diesen wiederum vielfältige Sichtbeziehungen, wie beispielsweise im Ensemble Marat47. So befinden sich alle Bereiche des für den täglichen Bedarf benötigter Einrichtungen in direkter Umgebung, direkte Beziehungen mit dem öffentlichen Bereich werden ermöglicht und findet doch durch unterschiedliche Höhenniveaus und starke Begrünung die nötige Distanz. Das städtische Bodengut wird in allen Bauten, in differenziertem Maße nicht nur den einzelnen Bewohnern zugänglich, sondern bildet vielmehr einen Mehrwert für die gesamte städtische Bevölkerung der Gemeinde Ivry-sur-Seine. „Wenn gemeinsamer Raum von Bedingungen umschrieben wird, die exklusive Besitzer*innen oder Nutzer*innen definieren, dann wird er bestenfalls zu einem beschränkten öffentlichen Raum oder er wird innerhalb ausschließenden Gemeinschaften eingedämmt und privatisiert. [...] Statt eines Ortes zur Bewahrung einer gemeinsamen Gruppenidentität handelt es sich um eine Ansammlung räumlicher
vgl. seine weiteren Bauten Jean Baptist Clement und Danielle Casanova in Skizzenwerk, Kapitel: Das Stadtzentrum Ivry sur Seine heute vgl. Grundriss a+t research group: 10 Stories of collective Housing. Graphical Analysis of inspiring Masterpieces, 2013, S.456 vgl. Anton Zoetmulder: Jean Renaudie: to give voice to that which was silent, 201 vgl. Grundriss vgl. Anton Zoetmulder: Jean Renaudie (1925-1982), Paris, 2018 vgl. Vorläufer in Skizzenwerk, Kapitel: Leitbilder des Städtebaus vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Utopie und Machbarkeitswahn (03 Kritik und Neudefinition) vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Leitbilder des Städtebaus vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Öffentlich, Privat, Gemeinschaftlich
Beziehungen, die das Teilen in verschiedenen Formen unterstützt.“48 Die strukturelle Komplexität bildet in Kombination mit der Mischnutzung, abseits konventioneller öffentlicher Erdgeschosszonen, sowohl formal (Terrassierung der Bauten) als auch funktional einen Gegenentwurf zur anonymen Großform. Durch öffentliche Zonen im Innen- und Außenraum, durch vielschichtige Erschließungssysteme verbunden, wird der soziale Wohnbau zum ‚Gemeingut Stadt‘.49„Wenn gemeinsamer Raum von Bedingungen umschrieben wird, die exklusive Besitzer*innen oder Nutzer*innen definieren, dann wird er bestenfalls zu einem beschränkten öffentlichen Raum oder er wird innerhalb ausschließenden Gemeinschaften eingedämmt und privatisiert. [...] Statt eines Ortes zur Bewahrung einer gemeinsamen Gruppenidentität handelt es sich um eine Ansammlung räumlicher Beziehungen, die das Teilen in verschiedenen Formen unterstützt.“50 Die Individualität der Bewohner, wird auch in diesem Falle,51 durch eine Vielzahl unterschiedlicher Wohnungstypen, darunter auch Maisonetten und großzügige, voll begrünte Terrassenflächen ausformuliert. Die nachbarschaftlichen Kontakte, von den beiden Architekten unterschiedlich ausformuliert, sind in den Bauten Gailhoustets sehr stark verflochten. „The pocket-gardens, each containing a depth of soil sufficient to grow what are now mature trees, are arranged to allow residents to socialise from one to the next, making the north African kasbah or the Italian hill town the relevant typological comparisons, though here the building itself forms the hill. This arrangement allows long-standing neighbours to sustain an ongoing exchange, with neither required to venture beyond their own private space; a form of public interaction that encourages participation in spite of the uncertainty that surrounds certain aspects of the Étoiles scheme.“52
tät fokussiert. Es sollte nicht teuer sein und viel einbringen. [...] Die Gemeinde dagegen war in kritischen Situationen entgegen kommender: „Uns geht langsam das Budget aus. Passt genau auf, was ihr damit noch machen könnt von euren Ideen“. Schließlich ist es nicht viel teurer 30 Zentimeter Erde auf die Terrassen zu legen, anstatt irgendeinen Bodenbelag. Aber dass die Terrassen so groß werden konnten, war auch die Motivation der öffentlichen Bauherren geschuldet.“54
Besonders die direkt miteinander Verknüpften, geteilten Außenbereiche der Lichthöfe bleiben der Frage der tatsächlichen Akzeptanz schuldig.53 Gesellschaftspolitisch gesehen lässt sich Ivry sur Seine, auf Grundlage der Analyse, durchaus als Sinnbild gemeinschaftlicher Wohlfahrt betrachten, die nur unter Voraussetzung staatlicher Interventionen, in diesem Falle öffentliche Mittel und einen ambitionierten Bürgermeister und so durch eine erweiterte Auffassung rein wirtschaftlicher Faktoren, generiert werden konnte: „ Für mich ist der öffentliche Sektor eine große Quelle an Freiheit. Private Bauherren mit denen ich gearbeitet habe, waren stets zu sehr auf Rentabili48 49 50 51 52 53
54
Stavrides, Stavros: Common Space: Die Stadt als Gemeingut. in: Arch+ 232: An Atlas of Commoning: Orte des Gemeinschaffens, Juli 2018, S.17 vgl. ARCH+ 232: An Atlas of Commoning: Orte des Gemeinschaffens, Juli 2018, S.14-19, 32-43,54-61,174-179 Stavrides, Stavros: Common Space: Die Stadt als Gemeingut. in: Arch+ 232: An Atlas of Commoning: Orte des Gemeinschaffens, Juli 2018, S.17 vgl schriftliche Arbeit, Kapitel: Wohlfahrtsstaatlicher Einfluss, die Baugeschichte der Autobahnüberbauung Berlin; individuelle Wohlfahrt, Lebensqualität und Bewohnerzufriedenheit im Wohnpark Alt Erlaa a+t research group: 10 Stories of collective Housing. Graphical Analysis of inspiring Masterpieces, 2013, S.456 »Nachbarschaft scheint das Paradigma schlechthin von einerseits und andererseits« (Schilling 1997, 11). Es handelt sich um ein Spannungsfeld, das zwischen Öffnung und Abgrenzung, Mein und Dein, Individuellem und Gemeinschaftlichem oszilliert, wobei es immer auch um das Austarieren zwischen Nähe und Distanz geht (vgl. Ebd.). ARCH+ 231: The Property Issue – Von der Bodenfrage und neuen Gemeingütern, April 2018, S. 114
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REZENSIONEN IN LEFT-OVER SPACES BELOW RAMPS AND SCULPTURAL FLIGHTS OF STAIRS, TEENAGERS PLAY TINNY HIP-HOP FROM THEIR PHONES AND HUDDLE AWAY FROM THE WIND AND DRIZZLE. THE BUILDING OFFERS THOSE IN NEED OF IT SHELTER FROM BOTH THE ELEMENTS AND UNWANTED ATTENTION, DUE TO ITS COMPLEXITY, ANGULAR CANTILEVERS AND DESIGNED-IN EMPTY SPACES, IN CONTRAST TO COUNTLESS EXAMPLES OF CONTEMPORARY URBAN ARCHITECTURE THAT, BY DESIGN, DISCOURAGE SUCH ‘LOITERING’1 „TODAY, HOWEVER, THE AMBITIOUS VISION FOR COMMUNITY LIVING AFFORDED BY A PUBLIC FORUM, SMALL ANGULAR SUN-TRAP PIAZZAS AND MEANDERING PATHS TO ENCOURAGE RANDOM ENCOUNTERS, DOES NOT SEEM TO HAVE FULLY TAKEN HOLD AND MANY OF THE TRANSITION SPACES NOW FEEL NEGLECTED, TO BE PASSED THROUGH QUICKLY.“2 „THE RADICAL EXPERIMENTATION OF GAILHOUSTET AND RENAUDIE’S SCHEME IS A BIG DRAW FOR ARCHITECTS AND OTHER CREATIVE TYPES WHO, IN APPRECIATION OF ITS ARCHITECTURE, HAVE MOVED INTO APARTMENTS AND STUDIO SPACE WITHIN THE BUILDINGS.“3 MIETER IN IVRY SUR SEINE, 18. APRIL 2019: „LORSQUE L’ON VOIT LE NOMBRE DE CHÔMEURS ET LES PASS DROITS DANS CETTE VILLE... ON REGRETTE DE PAYER CES IMPÔTS ICI . VRAIMENT DOMMAGE, CAR J’AIME RÉELLEMENT VIVRE ICI.. LA PROXIMITÉ DE PARIS, LES TRANSPORTS, LES COMMERCES VERS KB, LA MIXITÉ SOCIALE,...JE PENSE QUE JE FINIRAIS PAR LAISSER MA PLACE AUX POLLUEURS QUI GÉRENT CETTE VILLE.“ SI L‘INVENTIF DUO D‘ARCHITECTE -QUI A RENOUVELÉ L‘ARCHITECTURE MODERNE EN INTRODUISANT LA DIAGONALE ET LA TANGENTE POUR CASSER L‘ANGLE DROIT ET DYNAMISER L‘ESPACE - MILITAIT EN FAVEUR D‘UNE «ARCHITECTURE POUR TOUS», ROMPANT AVEC LES CAGES À LAPINS, IL APPARAÎT AUSSI COMME LE TANDEM PIONNIER DE L‘ARCHICTECTURE POPULAIRE ET ÉCOLOGIQUE. AVEC LEUR VÉGÉTATION FOISONNANTE, LES ÉTOILES, L‘IMMEUBLE CASANOVA, LES ENSEMBLES DU LIÉGAT OU DE MARAT, RENCONTRENT BIEN DES PRÉOCCUPATIONS ACTUELLES. AA. L‘ARCHITECTURE D‘AUJOUD‘HUI, JUNI 2015: „AMONG FRENCH RESPONSES TO THE POST-WAR HOUSING CRISIS WERE THE NOTORIOUS GRANDS ENSEMBLES: SOCIAL HOUSING DEVELOPMENTS OF TOWERS AND BARS WHICH WERE SOON CONDEMNED AS FACTORY-PRODUCED RABBIT HUTCHES. AS OF THE EARLY 1960S, ALTERNATIVE FORMS OF SOCIAL HOUSING WERE SOUGHT. ONE OF THE MOST EXTRAORDINARY DEVELOPMENTS REALIZED IN THIS PERIOD WAS THE REBUILDING OF THE CENTRE OF IVRY-SUR-SEINE, WHERE ARCHITECTS JEAN RENAUDIE AND RENÉE GAILHOUSTET INTRODUCED HIGHLY ORIGINAL TYPOLOGIES THAT STILL ASTONISH TODAY.“
1. The architectural review : AR ; a magazine of architecture and decoration , Mai 2019 Nr. 1461, S.44 2. The architectural review : AR ; a magazine of architecture and decoration , Mai 2019 Nr. 1461, S.41 3. Ebd. S. 50 Abb. vorherige Seite: @Divisare, Foto: Lorenzo Zandri
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ZUSTAND HEUTE Der erste Teil des Jeanne-Hachette-Einkaufszentrums, dessen Einrichtung von Jean Renaudie abseits der Hauptstraße erbaut wurde stehen heute zumeist leer nur die auf Straßenebene angesiedelten Geschäfte haben ihre Tätigkeit aufrechterhalten. 1 Besonders in Ivry ist es auch an der Zeit, dieses Gebäude zu sanieren, zu pflegen oder sogar teilweise neu zu vergeben. So sucht Jeanne Hachette Center, die eine der kommerziellen Parteien, die heute sehr degradiert und verlassen ist, einen neuen Atem. Heute ist der der bauliche Zustand des Gebäudes schlecht. An vielen Stellen wäre eine Renovierung dringend von Nöten, doch die Gelder fehlen der nach wie vor Kommunitisch verwalteten Gemeinde Ivry. Abseits der Haupteinkaufsstraße stehen viel der Geschäfte im Erdgeschoss leer. Die Kommunalverwaltung versuchte zwar durch ihr Vorkaufsrecht einiger der Flächen zu erwerben um so eine Wiederbelebung mittels der Integration einer Verwaltungszentrale zu erreichen, dies scheiterte bisher aber durch Differenz mit den Bewohnern. 2 „Wir sind entschlossen, es umzustrukturieren“, bestätigt der Kommunist Romain Marchand, stellvertretender Urbanist. Das Architekturfest in Ivry das im Oktober 2018 stattfand, sollte unteranderem helfen Initiativen für die Umstrukturierung zu finden: „ „In der Tat, fügt Frédéric Prat, Assistent des EELV, hinzu, bin ich sicher, dass dieser Ort mit Projekten rund um die Solidarwirtschaft wieder an Stärke gewinnen könnte. Eine Richtung, die Renaudie und Gailhoustet wahrscheinlich nicht verweigern würde. „3 So wurden anlässlich des einwöchigen Festes mehrere Installationen in der Stadt verteilt, unter anderem eine Dachterrasse die zur Outdoor Werkstatt umgestaltete wurde : „Letztendlich geht es darum, eine widerstandsfähige Gesellschaft zu schaffen“, sagt François vom Verband Marat des Bois.4 Das Ziel und die Grundeinstellung der Gemeinde Ivy ist aber bis heute klar zu erkenne: der Anteil an sozialen Wohnungen liegt mit 38 Prozent deutlich über dem durchschnittlichen anderer Pariser Vororte und Stadtteile. Aktuell wird von öffentlicher Seite ein Anteil von 20 Prozent in den Gemeinden vorgeschrieben. Tatsächlich halten dies nur sechs der 20 Arrondissement der Pariser Innenstadt ein. Teilweise ziehen die Gemeinden es sogar vor, Bußgelder zu bezahlen, als soziale Wohnungen auszuweisen.
Abb. nächste Seite oben:@the funambulist, Foto: Leopold Lambert Abb. nächste Seite unten:@ Architectural Review
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1. Le Renard Parisien, 17. August 2017: Balade architecturale à Ivry sur Seine 2 The architectural review : AR ; a magazine of architecture and decoration , Mai 2019 Nr. 1461, S.44 3. Le Parisien, 18. März, 2016: Comment Ivry a lancé làrchitecture 4. Ebd.
EHEMALIGE SCHAUFENSTER WERDEN HEUTE ZUM SCHLAFPLATZ FÃœR OBDACHLOSE
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WOHNUNGSBAU ÖSTERREICH
VOM ROTEN WIEN BIS ZUR ‚AUSTRIFICATION‘1 Der Prototyp des Wohlfahrtsstaats: Das Rote Wien der 1920er
Jahre. Die im Roten Wien aufkommende Neuinterpretation des Wohnblocks, klassifizierte sich durch den Schwellenabbau zwischen öffentlichen und privaten Bereichen, der Stadt und dem Haus und so in einem neuen Gemeinschaftsgedanke: die Integration des Öffentlichen Raums in die nachbarschaftliche Gemeinschaft.
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Das Rote Wien bezeichnet die Periode von 1919 bis 1934 in welcher Wiens Regierung dem Prinzip des kommunalen Sozialismus folgte. Diese politische Epoche sollte prägend für den österreichischen Wohlfahrtsstaat der Nachkriegsjahre werden. Der Wohlfahrtsstaat Österreich und somit auch die Beziehung zwischen Politik und Architektur, bilden in diesem Falle eine außergewöhnlich lange Geschichte. In den Jahren zwischen dem Krieg, wurde Wien nicht nur zur Hauptstadt Österreichs, sondern auch ein eigenes Bundesland der Republik. Durch die Möglichkeit autark Bundesmittel zu verwalten, Gesetze zu erlassen und Steuern zu erheben, gewann die Stadt an finanziellen Ressourcen, welche eine Neuaufnahme des Wohlfahrtsprogramms begünstigten. Der Rest der Republik befand sich allerdings unter einer antisozialistischen, konservativen und kirchlich-christlich-sozialpolitischen Mehrheit. Dies führte zu mehrfachen, teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Rechter und Linker Fraktion. Nach der Auflösung des Österreichisch- ungarischen Reichs wurde Wien vom Rest der Republik ausgeschlossen. Die hohen Zollschranken und die fehlende Möglichkeit Zugang zu Grundversorgung mit Nahrungsmitteln, Kohle und Rohstoffen zu erlangen, forderten eine politische Neuorientierung. Mit dem Ende der Besatzung der Alliierten im Mai 1955, wurde Österreich die Unabhängigkeit als freier, souveräner und demokratischer Staat anerkannt. Bis Ende der 1970er Jahre wurde die Hauptstadt hauptsächlich sozialdemokratisch durch die Koalition aus der Sozialdemokratischen Partei (SPÖ) und der Österreichischen Volksparte (ÖVP) regiert. 1 Die Verbindung von Sozialstaat, Architektur und Städtebau, welche während der Kriegsjahre verloren ging wurde erst in den 1970er Jahren durch eine neue Architektenschaft wiederbelebt. Der sozialistische Habitus des Roten Wiens wurden vor allem durch den Architekten Harry Glück baulich sichtbar.2
„ [...] the broad institutional network of Red Vienna had conferred new political, social and economic status on Vienna‘s working class. But it was the building programme that gave them political control over the space of the city.“ 1
DAS ROTE WIEN
„The Socialist reshaping of Vienna was achieved over the next fourteen years through a broad set of social, cultural and pedagogical institutions including health and welfare services and clinics, childcare facilities and kindergartens, schools, sports facilities including swimming pools and soccer stadia, organized competitions, libraries, theatres, cinemas,clubs, exhibitions, public lectures, etc. The theory underlying this project [...] known as ‚Austro- Marxism‘, was committed to finding a ‚third way‘ between Boslhevism (the USSR) and Reformism (Weimar Germany), realizing a genuinely democratic socialism
through radical cultural and social change.“ 3 Dieser österreichische ‚Marxismus‘ sollte alle Bereiche des täglichen Lebens
umfassen, so auch Wohnen und die Stadt als öffentlichen Raum.4 Diese neue Wohnkultur wurde in 400 Gebäuden von 190 verschiedenen Architekten umgesetzt. Finanziert wurde der Bau wie auch der Grundstückserwerb durch Steuern, speziell durch die Wohnbausteuer, welche gestaffelt vor allem den wohlhabenden Teil der Gesellschaft zu zahlen hatte. Diese Wohnungen konnten anschließend von Arbeitern für minimale Mietkosten ( 3,5 Prozent des Einkommens) bezogen werden. 1.
1.
Swenarton, Mark & Avermaete, Tom § Van den Heuvel, Dirk: Architecture and the welfare state. Routledge Taylor & Francis Group, 2015, S. 49
M. Seliger and K. Ucakar, Wien: Politische Geschichte Seliger, Maren: Sozialdemokratie und Kommunalpolitik in Wien: zu einigen Aspekten sozialdemokratischer Politik in der Vor- und Zwischenkriegszeit 2. vgl. Individuelle Wohlfahrt am Beispiel des Wohnparks Alt Erlaa 3. Swenarton, Mark & Avermaete, Tom § Van den Heuvel, Dirk: Architecture and the welfare state. Routledge Taylor & Francis Group, 2015, S. 47f. 4. für einen tieferen Einstieg vgl. Blau, Eva:The Architecture of Red Vienna, 1919-1934, MIT Press, 1999; Bottomore,T.; Goode, P.: austro-marxism, oxford, Oxford university press, 1978; Bramhas, Erich: Der Wiener Gemeindebau: vom Karl-Marx-Hof zum Hundertwasserhaus. Birkhäuser, 1987;Weihsmann, Helmut: Das rote Wien: sozialdemokrat. Architektur u. Kommunalpolitik 1919 1934. Promedia, 1985
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Die Gemeindebauten, als Mischung aus Wohnen und Institutionen verstanden, waren der ‚soziale Kondensator‘ des Roten Wiens. Bis zum Ende des Programms 1934 wurden 200.000 Menschen umgesiedelt und mit einer neuer Infrastruktur aus sozialen und kulturellen Einrichtungen versorgt.
eine Prioritätenwechsel vom Wohnungsbau hin zum Infrastrukturausbau verzeichnet werden. An Stelle des sozialen Wohnungsbaus für die breite Masse traten vor allem vornehme Wohnhäuser für privilegierter und einfach gehaltene Siedlungen für die Arbeiterklasse.
DIE ARCHITEKTUR DES ROTEN WIEN
Die Architektur des Roten Wiens grenzt sich deutlich von der in Deutschland praktizierten, zumeist in Zeilenbauweise errichtete, periphere Siedlungen ab. Die Gemeindebauten hingegen wurden als städtische Wohnblöcke in das bestehenden Stadtgefüge integriert. In der Dimension deutliche größer als die bestehende Bebauung wurden ganze Blöcke oder auch gleich mehrere mit grünen Innenhöfen, Spielplätzen und sozialen- und kulturellen Einrichtungen von der Stadt gestellt und ergänzt. Im Gegensatz zum traditionellen Block,welcher sich zur Straße hin klar verschloss zeichnete dieser Bautypus sich durch seine Durchlässigkeit aus. Großflächige Öffnungen entlang der Straßenfassade schafften Verbindungen ins grüne Blockinnere und so konsequenterweise hybride Plätze, teils privat, teils öffentlich. „The new buildings blur the distinction not only between building front and back, but also between socialist housing block and bourgeois city.“5 Die Wohnungen selbst boten durch ihre offenen Grundrissstrukturen ein hohes Maß an Entscheidungsfreiheit. Auch hier zeigt sich die klare Unterscheidung zu Deutschland. Hier wurden in der Weimarer Siedlungen alle Wohnungsinternen Abläufe größtmöglich durchplant und durch Einbaumöbel festgesetzt. TYPOLOGISCHES EXPERIMENTE IM ROTEN WIEN
Alternativ zu den „Superblöcken“ entstanden einige weiter versuche neue architektonische Antworten zu finden. So beispielsweise das Konzept von Adolf Loos und Oskar Strnad in den 1920ern. Dies sah eine Kombination eines „high-rise“ Apartmentblocks mit abgetreppten Terrassen vor und bildet die Grundlage für die Typologie des Terrassenhauses. Die Idee wurde im Zusammenhang mit einer nicht realisierten Idee für einen Generalarchitekturplan entwickelt. Da die städtischer Verwaltung diesen Entwurf allerdings als zu teuer einstufte wurde er nie umgesetzt. In den 60er und 70er wurde die Planung des Terrassenhauses allerdings wiederentdeckt und fungierte als Anregung zur Rückkehr zur Raumpolitik des Roten Wiens. Die Idee rührte auf einer Rückbesinnung Loos‘ auf die Kinder des Proletariats. Diese sollten anstatt eingesperrt in den Wohnungen die Aussicht auf der privaten Terrasse genießen oder auf den Gemeinschaftsterrassen Kontakte zu anderen Kindern knüpfen. Die Erdgeschosszonen waren mit Gemeinschaftsräumen, Workshopflächen oder Gemeinschaftseinrichtung bespielt. Im Zuge der Neuorganisation der Baupolitik, in folge des Regierungswechsels zur austrofaschistische 1934, konnte 5. Ebd. S.52
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Abb. nächste Seite:Swenarton, Mark & Avermaete, Tom § Van den Heuvel, Dirk: Architecture and the welfare state. Routledge Taylor & Francis Group, 2015, S. 42 Foto: Georg Mittenecker
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DIE ZEIT NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG
Bereits seit 1945 hatte die Wohnbautätigkeit der Gemeinde ihre Monopolstellung verloren, wenngleich die Kommune bis in die siebziger Jahre Wiens größter Bauherr blieb. Zwischen 1956 und 1965 betrug der Anteil der von gemeinnützigen Bauträgern errichteten Wohnungen an der Gesamtzahl der Wohnungsneubauten rund ein Viertel, bis 1970 stieg der Anteil auf ein Drittel der Wohnbauleistung an. Im Jahr 1973 übertraf die Zahl der von gemeinnützigen Wohnbauvereinigungen fertiggestellten Wohnungen erstmals die Anzahl neuer Gemeindewohnungen.
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PRIORITÄT IN DER DIREKTEN NACHKRIEGSZEIT AUF DEM QUALITATIVEN WOHNUNGSBAU
TEILWEISE UNTER VERNACHLÄSSIGUNG DER QUALITÄTSKRITERIEN
1951 "SOZIALES SCHNELLBAUPROGRAMM" MIT "DUPLEXWOHNUNGEN"
Durch hohen Bürokratischen Arbeitsaufwand der Planungs- und Wohnungsbaubehörde des Bundes und der Gemeinde wurden Abweichungen der Normen und neue Ideen grundlegend verweigert.
So wurden im Wohnbauprogramm von 1950 die Wohnungsgrößen gegenüber 1948 verkleinert, anstelle der Badezimmer traten Duschnischen.
Um dem immer noch bestehenden Wohnungsmangel von ungefähr 60.000 Wohnungen entgegenzuwirken, reagierte die Gemeinde mit einem „Sozialen Schnellbauprogramm“ mit Kleinwohnungen (den sog. „Duplex-Wohnungen") die später im Bedarfsfall zu Normalwohnungen zusammengefasst werden konnten. Beispielhaft dafür kann die zwischen 1951 und 1957 errichtete Wohnhausanlage Am Schöpfwerk genannt werden.
1954 GRUNDSTEINLEGUNG DER 100.000 WIENER GEMEINDEWOHNUNG
UNZUREICHENDE WOHNUNGSGRÖSSSE UND AUSSTATTUNG
1961„STÄDTEBAULICHES GRUNDKONZEPT VON WIEN"
Seit Beginn des sozialen Wohnbaus im Jahr 1919 gelegt, und es erfolgte die Fertigstellung der fünfundzwanzigtausendsten Gemeindewohnung nach dem Zweiten Weltkrieg.
In den 60ern herrschte weiterhin ein hoher qualitativer Wohnungsfehlbestand als Folge einer Überalterung der Wohnungen und unzureichender Wohnungsgrößen (Ungleichgewicht zwischen Kleinund Mittelwohnungen zugunsten ersterer).
Zielsetzung war die Auflockerung des zu dicht verbauten Stadtgebiets bzw. die Verdichtung der zu locker verbauten Stadtregionen.
VOM KOMMULANEN SOZIALEN WOHNUNGSBAU IN DER ANFANGSPHASE
1976: „LEITLINIEN FÜR DIE STADTENTWICKLUNG“ UND IN DIE„WIENER STADTENTWICKLUNGS-ENQUETE“
ZUM BAU DURCH GEMEINNÜTZIGE WOHNUNGSBAUGENOSSENSCHAFTEN
Damit war nicht allein die Anhebung der Wohnungsqualität in Bezug auf Ausstattung und Wohnungsgröße gemeint, sondern darüber hinaus schenkte man auch dem städtebaulichen Gefüge der Wohnbauten und ihrer architektonischen Qualität erhöhtes Augenmerk. Diese Vorstellungen und Überlegungen flossen 1972 in die „Leitlinien für die Stadtentwicklung“ und in die „Wiener Stadtentwicklungs-Enquete“ ein und gipfelten 1976 in der Arbeit an einem Stadtentwicklungsplan für Wien.
"ARBEITSTEILUNG" GEMEINDE DIE ZAHLUNGSSCHWÄCHSTEN GEMEINNÜTZIGE DIE MITTELSCHICHT Es entwickelte sich eine Art Arbeitsteilung zwischen kommunalem und gemeinnützigem Wohnbau heraus. Baugenossenschaften, gemeinnützige Baugesellschaften und Vereine zur Errichtung von Eigentumswohnungen, versorgten die eher kaufkräftigen Nachfrager mit Eigentums- und Mietwohnungen, die Gemeinde übernahm hingegen die Versorgung der Zahlungsschwächeren.
PRIORITÄT AUF STÄDTEBAU, ARCHITEKTONISCHER GESTALTUNG UND GESELLSCHAFTLICHEN ANSPRÜCHEN In den späteren Jahrzehnten mussten die Wohnbauträger veränderten städtebaulichen und -planerischen Grundkonzeptionen sowie gestiegenen Ansprüchen der Bewohner rechnung tragen. Einer Periode der Stadterweiterung, deren Schwerpunkt auf Großprojekten an der Peripherie der Stadt lag, folgte eine Periode der Stadterneuerung, in der sich die Bautätigkeit zunehmend auf dichter verbaute Stadtviertel verlagerte.
NEUES FINANZIERUNGSSYSTEM ERMÖGLICHT EXPERIMENTELLE BAUTEN Durch den Wirtschaftsaufschwung der 60er Jahre wurde ein neues Finanzierungssystem im Bauwesen verabschiedet. Durch die Vergabe langfristiger, zinsgünstiger Darlehn durch den Bund konnten bis zu 90 Prozent der Baukosten finanziert werden. Dies führte zu einem Aufschwung neuen Wohnungsbau durch Gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaften. Die Radikalisierung der Architekturströmung wurde durch eine Reihe liberaler Reformen unter dem Leiter der Sozialistischen Partei (SPö) Bruno Kreisky (und später von 1970-83 Kanzler) unterstützt. In dieser Periode wurden genug mittel für den Wohnungsbau bereitgestellt, um Stadtplanung und Wohnungspolitik für neue Ideen zu sensibilisieren.
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INDIVIDUELLE WOHLFAHRT LEBENSQUALITÄT UND BEWOHNERZUFRIEDENHEIT IM WOHNPARK ALT-ERLAA
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Noch immer scheint der Traum vom Einfamilienhaus der Inbegriff des Lebensziels, ein allgegenwärtiger Bestandteil unserer Gesellschaft zu sein.1 Wachsende Bodenpreise und gleichzeitige wachsende Bodenverknappung machen diesen Wunsch für einen Großteil der Bevölkerung, zumindest in städtischen Einzugsgebieten, unerreichbar. Die Wiener Wohnbauten von Harry Glück thematisieren genau diese Wohnproblematik. Trotz hoher baulicher Dichte und Berücksichtigung der Verordnungen des sozialen Wohnbaus, vermitteln seine Bauten ein Gefühl vom Leben im Einfamilienhaus. Aktuell entstehen nach wie vor, zumeist in städtischer Randlage, soziale Wohnbauten, welche sich völliger Kreativität entzogen haben und über den quantitativen und wirtschaftlichen Aspekt des sozialen Wohnbaus nicht hinauswagen. Im Folgenden soll zudem die anfänglich gestellte These der hohen Wohn- und Lebensqualität in sozialen Wohnbauten der 1960er und 1970er Jahre, beispielhaft am Wohnpark Alt Erlaa beantwortet werden, um somit Schlüsse für humane Konzepte im sozialen Wohnungsbau des 21. Jahrhunderts zu ziehen. Der Wohnpark Alt Erlaa2 befindet sich im 23. Wiener Stadtbezirk, ungefähr sieben Kilometer vom Zentrum Wiens entfernt und wurde zwischen 1973 und 1985 errichtet. Voraussetzung für das Bauvorhaben waren, neben dem nötigen Budget, getragen durch die Jahre des Wirtschaftswunders, vor allem auch ein risikobereiter Bauherr. Obwohl es zu dieser Zeit kein vergleichbares Bauvorhaben gab, um eine Einschätzung über Erfolg oder Misserfolg leisten zu können, befürwortete Anton Muchna, der damalige Direktor der gemeinnützigen Siedlungs- und Bauaktiengesellschaft GESIBA Glücks Konzept von Beginn an.3 So entstand ein Wohnkomplex bestehend aus insgesamt 3 jeweils 300 Meter langen und bis zu 94 Meter hohen Häuserzeilen. Städtebaulich parallel angeordnet, spannen die Zwischenräume großzügigen Grünräume auf, welche mittels verbindender Versorgungsachse durch Kultur-, Nahversorgungs-, und Freizeiteinrichtungen den Außenraum bespielen. Die in den Flachbauten untergebrachten Einrichtungen umfassen eine Kirche, einen Kindergarten, zwei öffentliche Volksschulen, eine Fachmittelschule, einen Jugendklub, eine Tennis- und Badmintonhalle, eine Multifunktionsporthalle sowie den Kaufpark, ein zweigeschossiges Einkaufszentrums mit insgesamt 45 verschiedenen Händlern und Dienstleistern. Im Obergeschoss des Einkaufszentrum finden sich zudem ein Ärztezentrum, Büros, eine Kanzlei, ein Lernstudio und eine städtische Bücherei. Die Großwohnbauten A, B und C des Wohnparks4 beherbergen 3.200 Wohnungen für bis zu 10.000 Bewohner. Zeitgleich mit dem Bezug der ersten fertiggestellte Baueinheiten A im Jahr 1976 und B zwei Jahre darauf, wurden zudem alle für den täglichen Gebrauch essenziellen Versorgungseinrichtungen realisiert. Somit konnte der Wohnpark, von Beginn an, als autarkes Quartier die Bedürfnisse der Bewohner erfüllen, konträr zu vielen zeitgleich errichteten Großstrukturen, in welchen geplante Folgeeinrichtungen erst viel zu spät oder überhaupt nicht realisiert wurden. Der letzte Bauabschnitt, die Errichtung des C Blocks, folgte schließlich im Jahr 1985. Typologisch sind die Großbauten bis zur 13. Etage als Terrassenhausstruktur ausgebildet. Die höheren Geschosse verlaufen vertikal übereinander gestaffelt, wobei spitz zulaufende Enden entlang der Schotten eine leichte Wellenbewegung erzeugen und so den Blick zusätzlich nach Norden und Süden öffnen. 1 2
3 4
vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Studie: ‚Wohnwert im sozialen Wohnungsbau‘ (Studien aus den Jahren 1973, 1978 und 1983 zur Bewohnerzufriedenheit in ‚Alternativen des sozialen Wohnbaus) vgl. allgmein: Achleitner, Friedrich : Friedrich Achleitners Blick auf Österreichs Architektur nach 1945, S.226ff.Bramhas, Erich: Der Wiener Gemeindebau: vom Karl-Marx-Hof zum Hundertwasserhaus. Birkhäuser, 1987 S.105ff. vgl. diese und folgende: Seiss, Reinhard:Harry Glück: Wohnbauten. Muery Salzmann Verlag, 2014, S. 3146; 65-72;131-144 siehe Lageplan
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Seiss, Reinhard:Harry GlĂźck: Wohnbauten. Muery Salzmann Verlag, 2014, S.78
Foto: Pfeifer, Zara: Du meine konkrete Utopie
BLOCK A BLOCK B
BLOCK C
TEN
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E
SCH
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KAU PAR FK
KAU PAR FK
„SOGAR DAS EINKAUFEN GEHT SCHNELL: FÜR EINE HALBE STUNDE IN DEN KAUFPARK RUNTER UND FERTIG“[BIRGITT SACK, BEWOHNERIN ALT ERLAA (SEISS,2014,S.126)]
DIE NACHBARSCHAFTSEINHEIT 1:500
Grundrisse Grundrisse Grundrisse AltAlt erlaa Alt erlaa erlaa 6
1 4
5
2
Grundrisse Alt erlaa 3
5
3 3
1
6
55
6
4 6
5
DIE PRIVATE SPHÄRE 1:500
2
4
4
4
5
5
MAISONETTE 5 ZIMMER 125QM, TERRASSE 40QM, LOGGIA 18QM
DREIZIMMERWOHNUNG 80-100QM, LOGGIA 14-24QM
EINZIMMERWOHNUNG 35-40QM, LOGGIA 10-20QM
1.
3.
EINGANG 2. KÜCHE WOHN/ESSRAUM 4. BAD/WC 5. ZIMMER 6. ANKLEIDE/ ABSTELLKAMMER
Die Rücksprünge der unteren Fassadenhälfte dienen der Ausformulierung großzügige Terrassen. Die Absturzsicherung wird hierbei durch fünf Meter lange und ein Meter tiefe Pflanzentröge gebildet. Die mit hoher Sorgfalt von fast allen Bewohnern gepflegten ‚grünen Oasen‘ verleihen der Fassade im Sommer wie Winter die Assoziation eines vertikalen Gartens. Die Wohnungen in den höher gelegenen Ebenen verfügen, anstelle der Terrassen, über eine dem Wohnraum angegliederte Loggia mit einer durchschnittlichen Größe von 13 Quadratmetern. Den Gebäudeabschluss bildet das für die ‚Glücklichen‘ Bauten typische Dachschwimmbad, dessen Dimensionen von 23 auf 10 Meter die der städtischen Freibäder aufnimmt. Ergänzt wird das Dachgeschoss durch 36 weitere Wohnungen, hiervon acht als Penthouse-Typus konzipiert, gekennzeichnet durch enorme Außenraumflächen von bis zu 93 Quadratmetern. Die für Terrassenhäuser5 üblichen dunklen Innenraumzonen wurden in den ersten beiden Etagen als Gemeinschaftsräume entworfen.6 Diese 60 Quadratmeter messenden, flexibel zusammenschaltbaren Räumlichkeiten, umfassen insgesamt sieben Hallenschwimmbäder, 14 Saunen, mehrere Solarien und Infrarotkabinen, eine Dampfkammer, ein Fitness-Center und Kinderspielräume.7 Die restlichen Gemeinschaftsräume wurden an unterschiedliche Vereine übergeben und konnten im Zuge des Innenausbaus frei mit- und umgestaltet werden.8 Die Konstruktionsform der Schottenbauweise bildet ein Fünfeinhalb-Meter-Raster. Die Wohnungen spannen, abhängig von der Wohnungsgröße, über ein, zwei oder auch zweieinhalb Module. Im Falle der ersten beiden sowie zwischen der 12. und 14. Etage greifen die Wohnungen in die Geschosse darüber oder darunter und bilden so Maisonette-Wohnungen aus. Unterschiedliche Raumtiefen, durch zurück springenden Terrassen erzeugt, führen konsequenterweise zu einer höheren Grundrissvielfalt. Die 26 unterschiedlichen Wohnungstypologien, verteilt auf ein bis fünf Zimmerwohnungen, besitzen eine Größe zwischen 35 und 129 Quadratmetern. ZUR WOHNUNGSPOLITIK UND DEM GESELLSCHAFTSPOLITISCHEN VERSTÄNDNIS VON HARRY GLÜCK
Der Wohnpark Alt Erlaa bildet nach mehreren sozialen Wohnbauten, allesamt als kontinuierliche Weiterentwicklung der Suche nach alternativer Wohnformen, das erste Projekt dieser Größenordnung im Repertoire des Architek-
ten Harry Glück. Voraussetzung für die Umsetzung dieser ‚sozialen Utopie‘ bildete seine gesellschaftspolitische Auffassung, welche sich maßgeblich auf die des Roten Wiens zurück führen lässt. Der Versuch der Wohnungspolitik der 1920er und 1930er Jahre, ganzheitliches Wohnen für die Arbeiterschicht zu entwerfen,9 lies ihn diesen Gedanken in der zweiten Nachkriegszeit erneut aufgreifen. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war geprägt durch hoch quantitative Bautätigkeiten im Bereich des sozialen Wohnbaus. Hierbei verloren die Bauten zumeist die vormals erreichte Qualität, wie sie beispielsweise im „Sinnbild“ des Roten Wien, dem Karl Marx Hof, erreicht wurde. Grundlage des Qualitätsverlustes waren die Neuerung im Verständnis der Zusammengehörigkeit aus Wohnungs- und Gesellschaftspolitik. Sozialer Wohnungsbau war nunmehr die reine Zahl die es zu bewältigen galt um den akuten Wohnraummangel zu stillen: „auch auf soziale Infrastruktur, sogenannte Wohlfahrtseinrichtung, wurde weitgehend verzichtet.[...] Anstelle eines progressiven Sozialismus trat nun eine konsensorientierte Politik zur Versöhnung der eins verfeindeten Lager“.10 Mit Befriedigung der dringendsten Wohnungsnot, steigender Kritik an monofunktionalen, peripheren Bauten11 und wirtschaftlichem Aufschwung, wurd die Suche nach alternativen Lösungen im Wohnungsbau12 auch in Österreich rege voran getrieben.13 Die gesellschaftsorientierte Architektursprache Glücks drückte funktional den sozialistischen Gedanken ‚Reichtum für alle‘ aus. Auf formaler Ebene entwickelte dieser die im Roten Wien begonnene Bewegung der Großform im Wohnungsbau weiter. „War für die politischen Verantwortlichen der Zwischenkriegszeit der Wohnbau ein zentrales Instrument, um den Lebens- und Kulturstrand eines großen, bis dahin unterprivilegierten Teils der Bevölkerung zu heben, so transformiert Harry Glück diesen Anspruch in die Wohlstandsgesellschaft des späten 20. Jahrhunderts.14 Die unterschiedliche Ausformulierung der Bauten der 1920er Jahre und der später von Glück errichteten lässt sich hierbei durch den gesellschaftlichen Wandel der vergangenen 50 Jahre erklären. Auch die gesellschaftliche Umbruchstimmung, welche sich in den Bauten des Roten Wiens manifestierte, wird bei Glück in eine sachlichen Auseinandersetzung gesellschaftlicher Normen und Realitäten übersetzt. Sein Anspruch gründet keineswegs im Versuch, den Nutzer in seinem alltäglichen Leben zu ‚erziehen‘, sondern den täglichen Bedürfnisse der ‚Nachkriegskonsumgesellschaft‘ entgegen zu kommen . „Es geht bei Glück nicht
5 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Leitbilder des Städtebaus 6 vgl. Schnitt 7 Seiss, Reinhard (Hg.): Harry Glück, Wohnbauten, müry Salzmann Verlag, 2014, S.68 8 vgl. Fotodokumentation von Zara Pfeifer: Du meine konkrete Utopie 2013-2019 9 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Wohnungsbau vom Roten Wien bis zur ‚austrification‘ 10 Seiss, Reinhard (Hg.): Harry Glück, Wohnbauten, müry Salzmann Verlag, 2014, S.131f. 11 Die soziologische und architektonische Kritik, welche Mitte der 60er Jahre international stetig lauter wurde, machte sich auch in Österreich bemerkbar. Vgl. zur Kritik Skizzenwerk, Kapitel: Utopie und Machbarkeitswahn Auf Kritik folgt die Neudefinition 12 vgl. zum Thema ‚vollwertiges Wohnen‘auch Birkhäuser,2015; Hoeppner, Dietrich: Wiener Wohnbau-Beispiele (neue Tendenzen im sozialen Wohnbau), Architektur- und Baufachverlag, 1985, S.126ff 13 bsp. die Ausstellung ‚Neue Städtische Wohnformen‘ 1966/67 14 vgl. Seiss, Reinhard (Hg.): Harry Glück, Wohnbauten, müry Salzmann Verlag, 2014, S.133
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mehr um den ‚Neuen Menschen‘, sondern ganz pragmatisch um zeitgemäße Wohnungen, verbunden mit der Möglichkeit zur persönlichen Entfaltung“.15 Das architektonische Verständnis von Glück, der Architekt sei weniger Künstler als mehr Sozialingenieur, fundiert aus r intensiven Beschäftigung mit der Lehre der Humanethologie. Grundbedürfnisse und spezifische Interessen sind in der Evolution verankert und steuern so menschliches Verhalten seit Tausenden von Jahren. Wasser- und Nahrungszufuhr forderten so, um menschliche Existenz überhaupt zu ermöglichen, ein Leben in direkter Natur- und Wassernähe. Auch soziale Kontakte gelten als essenzielle menschliche Grundbedürfnisse. Diese Faktoren finden in den Wohnarchitekturen der wirtschaftlich privilegierten Schicht ihre physische Form. Der von Glück aufgestellte Kriterienkatalog zum Wohnort des privilegierten Stadtbewohners umfasst neben Natur- und Wassernähe auch die Möglichkeit für physische Aktivitäten und Geselligkeiten und die Identifikation mit dem Wohnort.16 Auf architektonischer Ebene manifestieren sich diese Kriterien in den sozialen Wohnbauten von Glück zumeist in Form des ‚gestapelten Einfamilienhauses‘, dem Terrassenhaus17. Die nach oben zurückspringenden Außenbereiche erzeugen durch Terrassen, welche teilweise unter freiem Himmel liegen, bessere Belichtung und Ausblicke. Diese werden mittels großer Pflanzentröge intensiv begrünt und bilden somit die Grundlage für den unmittelbaren Naturbezug im ‚vertikalen Garten‘. Wassernähe und die Möglichkeiten zu physischen Aktivitäten werden durch Freizeiteinrichtungen wie Sportplätze und Schwimmbad generiert und fungieren zugleich als Ort der Begegnung und Geselligkeit. Dieser Mehrwert, welcher hiermit in seine Bauten Einzug erhält, wird stets durch effiziente Planung und ohne zusätzliche Fördermittel realisiert. Die Baukonstruktion in Schottenbauweise nimmt zugleich die tragende Funktion und die der Wohnungstrennwände auf. Konsequenterweise werden so teure Sturzkonstruktion über Fensterflächen überflüssig. Die eingesparten Mittel können so für die zuvor erläuterten Annehmlichkeiten eingesetzt werden. Die Thematik des ‚Wohnens wie die Reichen‘ schafft im sozialen Wohnbau durch die Minimierung schichtenspezifischer Klassifikationen ein neues gesellschaftliches Verständnis, das der Gesellschaft der Gleichen.18
Bewohnerzufriedenheit Die Wohnzufriedenheit in Alt Erlaa war von Beginn an überraschend positiv.19 Diese positive Resonanz äußert sich bis heute in geringen Fluktuationsraten, Vollbelegung und ‚Lobeshymnen‘ zahlreicher Zeitungsartikel.20 Der durchschnittliche Altersschnitt zwischen 60 und 70 Jahren, ein eigentlich negativer Aspekt für eine klare ‚Überalterung‘ der Wohnanlage, steht in diesem Falle als Beispiel der hohen Wertschätzung des Wohnortes. Die meisten Bewohner zogen vormals im Alter von 30 Jahren in den Wohnpark und blieben bis heute. Im Falle von Umzügen werden die leerstehenden Wohnungen entweder direkt innerhalb der Familie weitergegebenen oder an Bewerber einer langen Warteliste verteilt. „Nirgendwo anders in Wien ist die Wohnzufriedenheit so groß wie hier. Man hat alles, was man braucht. Und ein bisschen mehr.“21 Auf theoretischer Ebene gründet diese Zufriedenheit zum einen auf vielschichtiger konzeptioneller Berücksichtigung menschlicher Grundbedürfnisse, zum anderen in gesellschaftlich verankerten Vorstellungen sozialer Wohnbauten, welche im Wohnpark Alt Erlaa grundlegend neu definiert werden.22 PRIVATE SPHÄRE
Die Typologie des Terrassenhauses bietet bei hoher baulicher Dichte gleichzeitig ein hohes Maß an Privatsphäre im Bereich der Wohnungen. So auch die kaum einsichtigen Terrassen, welche durch die dichte Bepflanzung der vorgelagerten Tröge zusätzlich geschützt werden, jedoch gleichzeitig intensive Sonneneinstrahlung gewährleisten. In den höher gelegenen Geschossen durch die gegenueinander verschobenen Loggien ein ähnlicher Privatheitscharakter generiert. Individualität im eigenen Außenbereich wird von vielen Mietern als ein Gefühl des ‚Landlebens in der Stadt‘ empfunden und zusätzlich durch den Blick in den öffentlichen Grünraum und die gegenüberliegenden begrünten Terrassen verstärkt.23 Der hohe Stellenwert der privaten Außenbereiche zeigt sich auch in der Studie zum Wohnwert im sozialen Wohnungsbau in Alt Erlaa, gleichsam im Bezug auf die Typologie des Terrassenhaus im Vergleich zu anderen Wohntypologien.24 Schottenbauweise und einseitige Belichtung führen gerade in größeren Wohnungen, welche sich über eineinhalb oder zwei Module erstrecken, zu einer deutlich spürbaren Nutzungstrennung zwischen spezifischen Aufenthaltsräu-
15 Ebd. 16 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Öffentlich, Privat, Gemeinschaftlich 17 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Leitbilder des Städtebaus 18 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: der Wohlfahrtsstaat, die Gesellschaft der Gleichen 19 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Studie: ‚Wohnwert im sozialen Wohnungsbau‘ (Studien aus den Jahren 1973, 1978 und 1983 zur Bewohnerzufriedenheit in ‚Alternativen des sozialen Wohnbaus) 20 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Der Wohnpark Alt Erlaa Rezensionen 21 Süddeutsche Zeitung : Was gibt‘s denn da zu lachen? 03. Oktober 2011 22 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Studie: ‚Wohnwert im sozialen Wohnungsbau‘ (Zusammenfassung der Studie: ‚Umfassender Wohnwertvergleich 1983) 23 vgl. Seiss, Reinhard (Hg.): Harry Glück, Wohnbauten, müry Salzmann Verlag, 2014, S.65 24 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Studie: ‚Wohnwert im sozialen Wohnungsbau‘ (Zusammenfassung der Studie: ‚Umfassender Wohnwertvergleich 1983)
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„BEI UNS IST ES SO, DASS MAN ZUM BEISPIEL AM DACHBAD OBEN NICHT MERKT, OB JEMAND EINE REINIGUNGSKRAFT IST ODER EIN UNIVERSITÄTSPROFESSOR. DA SIND ALLE IN DER BADEHOSE, ALLE SIND NASS, LACHEN, ALLE SPIELEN MIT IHREN KINDERN, UND DIE HERKUNFT IST EGAL. MAN KOMMT INS GESPRÄCH, UND WENN MAN NACHHER DRAUFKOMMT, WEN MAN DA EIGENTLICH KENNENGELERNT HAT, WAS ER BERUFLICH MACHT ODER AUS WELCHER SOZIALEN SCHICHT ER KOMMT, DANN MACHT DAS AUCH NICHTS MEHR, DANN IST DER BANN SCHON GEBROCHEN.“ BIRGITT SACK, BEWOHNERIN ALT ERLAA (SEISS,2014,S.126)
Abb. Pfeifer, Zara: Du meine konkrete Utopie
men, dem Wohn- und Essbereich und den Individualräumen. Die folglich relativ unflexiblen Grundrisse25 werden durch die Möglichkeit des Umzugs innerhalb der Anlage und den darin befindlichen hoch differenzierten Wohntypologien aufgefangen. Mit einer Gesamtzahl von 3.200 Wohnungen findet sich zumeist ein, an die neuen Bedürfnisse oder Lebenslagen angepasster Grundriss. HALBÖFFENTLICHE ZUSATZEINRICHTUNGEN UND NACHBARSCHAFTLICHE BEZIEHUNG
Einen hohen Stellenwert für die Ausgestaltung nachbarschaftlicher Beziehungen bieten primär geteilte halböffentliche Räume und Zwischenräume wie gemeinsame Außenflächen, Hauseingänge, Flure, Gemeinschaftsräume, Spieleinrichtungen und Sitzgelegenheiten. Im Falle von Alt Erlaa stellt ein Wohnhochhaus eine eigene große nachbarschaftliche Einheit dar, welche erweitert durch öffentlichen Freiräume und Nahversorgungs- und Dienstleistungseinrichtungen ein offenes System ausbildet.26
»bandstiftende Situationen«. Wer ins Schwimmbad geht, tut dies ohne Krawatte und weißen Kragen, das Bad nivelliert die sozialen Unterschiede, die sich sonst in der Kleidung ausdrücken.“30 Die Unidentifizierbarkeit der sozialen Schicht fördert auch nach Bahrdt Kommunikation unbekannter Individuen und wird so zur ‚ehrlichste Form‘ zwischenmenschlicher Kontakte: „Eine Begegnung der Individuen als Individualitäten ist jedoch dort möglich, wo die Integration unvollständig ist, d.h. wo es kein durchgehendes, lückenloses Geflecht vermittelnder und mittelbar machender Bindungen gibt d.h. wo sich ständig Menschen begegnen, miteinander in Kommunikation treten und sich arrangieren, ohne dass der eine für den anderen in einer gemeinsamen Ordnung ausreichend verortet ist.“31 Dies zeigt sich auch von Bewohnerseite: das Bad, sowohl Dachschwimmbad als auch Hallenbad, bildet im Wohnkomplex nicht nur einen festen Bestandteil im täglichen Leben32, sondern vielmehr die Räumlichkeiten mit der höchsten nachbarschaftlichen Kommunikationsrate und -Förderung.33
DIE NACHBARSCHAFTSEINHEIT
DIE GEMEINSCHAFTSRÄUME
Die Wohnungen werden über insgesamt 12 Erschließungskerne erschlossen, welche die 1.100 Bewohner in Subeinheiten unterteilt. Von diesen führen die Innen liegenden Erschließungsflure in Nord- und Südrichtungen zu den Wohnungen. Somit ergeben sich pro Geschoss Nachbarschaftseinheiten aus sechs und sieben Wohnungen. Dieser relativ kleine Einzugsbereich erzeugt eine intimere zwischenmenschliche Atmosphäre und reduziert gleichzeitig die Anonymität unter den Bewohnern. Die vertikal Erschließung hingegen bedient über alle Geschosse insgesamt 260 Wohnungen. Glück verzichtete bewusst auf eine zusätzliche Gestaltung der Erschließungszonen, der Flure und der Bereiche um die Aufzüge. Gerade dies scheint jedoch auf freiwilliger Basis ungezwungene Nachbarschaftkontakte zu ermöglichen27. „Da wir unsere NachbarInnen kaum je frei aussuchen können, ist es meist eine zufällig-erzwungene Nähe, die uns verbindet. Ein Zuviel an Nähe kann deshalb auch Angst vor dem ‚Zuviel einer unentrinnbaren Wechselseitigkeit‘“28 auslösen.29 DAS BAD
„Im Bad kommt man sich schnell näher. Der Architekt Harry Glück sagt, die Schwimmbäder der Anlage förderten 25
Auch die Gemeinschaftsräume im Inneren der drei Wohnbauten dienen zur Kommunikationsförderung unter den Bewohnern.34 Die in der Mehrzahl durch Vereine bespielten und organisierten Räumlichkeiten bieten die Möglichkeit, innerhalb der Masse der insgesamt 1.100 Bewohner, kleinere Hobby- und Interessensgemeinschaften zu bilden. Die Nutzungsspezifische Vergabe beugt Mehrfachnutzung, wie zumeist in Großstrukturen üblich35,vor. Dies führe nach Angaben von Harry Glück zu einer intensiveren und erfolgreicheren Nutzungsrate, da ein Auf- und Abbau überflüssig werden. Neben den ‚Clubräumen‘ scheinen aber vor allem die witterungsgeschützten Kinderspielflächen, Saunen und das Sonnendeck besonders bei den Bewohnern beliebt.36 Die große Anzahl unterschiedlicher Nutzungen der gemeinschaftlichen Flächen bietet individuellen Vorlieben angepasste Freizeitgestaltung großer Massen. Diese Funktionsvielfalt konnte einzig durch die hohe Gesamtbewohneranzahl ermöglicht werden. Alle Zusatzeinrichtungen stehen lediglich den Bewohnern des Wohnparks zur Verfügung, einzig die Vereinsräume dürfen durch Besucher von außerhalb die internen Gruppe erweitern. KONTAKT ZWISCHEN ÖFFENTLICHER UND PRIVATER SPHÄRE
allerdings erachten rund 52% die Raumeinteilung für optimal, alleine die Raumausstattung wäre verbesserungswürdig. vgl: vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Der ‚Wohnwert im sozialen Wohnungsbau‘ 26 vgl hier die Definition der Großwohnbauten, Skizzenwerk, Kapitel: Zur Typologie des Großwohnbaus 27 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Studie: ‚Wohnwert im sozialen Wohnungsbau‘ (Befragung zum Thema der Nachbarschaftskontakte) 28 Schilling 1997 S. 11 zit. n. Althaus, Eveline : Sozialraum Hochhaus Nachbarschaft und Wohnalltag in Schweizer Großwohnbauten, Bielefeld, transcript, 2018 s. 62 29 vgl. Skizzenwerk, Kapitel:Studie:‚Wohnwert im sozialen Wohnungsbau‘ (Befragung zum Thema des ‚Störfaktors‘ hohe Bewohneranzahl) 30 Süddeutsche Zeitung : Was gibt‘s denn da zu lachen? 03. Oktober 2011 31 Bahrdt, Hans Paul: Die Moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Hg.: Ulfert Herlyn, 1998 S.88 32 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Studie: ‚Wohnwert im sozialen Wohnungsbau‘ (Untersuchung zum tatsächlichen Gebrauchswert) 33 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Studie: ‚Wohnwert im sozialen Wohnungsbau‘ (Befragung zum Thema der Nachbarschaftskontakte) 34 Ebd. 35 vgl. beispielhaft die multifunktionalen Gemeinschaftsräume der Schlangenbader 36 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Studie: ‚Wohnwert im sozialen Wohnungsbau‘ (Befragung zum Wert bestimmter Einrichtungen)
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„ Im Wohnkomplex Alt-Erlaa sind je sechs oder sieben Wohneinheiten vom übrigen Wohnkomplex abgetrennt. Dort herrschen Ruhe und Privatheit. Für den Fall aber, dass ein Bedürfnis nach sozialen Kontakten entsteht, gibt es die Möglichkeit, diesen Kontaktwunsch in aller Unverbindlichkeit zu realisieren. Wer Langeweile verspürt, sich einsam fühlt, kann in das Hallenbad gehen, zum Tischtennis, auf das Sonnendeck zum Freibad oder in die Sauna oder kann an Klubaktivitäten teilnehmen.“37 DER ÖFFENTLICHE AUSSENRAUM
Der Humanethologe Irenäus Eibl-Eibesfeld38, Mitverfasser der gemeinsamen Publikation „Stadt und Lebensqualität: Neue Konzepte im Wohnungsbau auf dem Prüfstand der Humanethologie und der Bewohnerurteile“, beschäftigte sich in zahlreichen Studien mit der Beziehung von Menschen zu Natur. Die Phytophilie bildet nicht nur im privaten Wohnraum ein zentrales Thema der Bauten von Glück. Vielmehr bildet die Synthese aus wohnungseigenem Außenraum und den gestalteten Parkflächen einen ausgewogenen Naturbezug, in welche sowohl privaten Sphäre als auch öffentliche miteinbezogen wird. Gerade die öffentlichen Flächen, nutzbar durch Kinderspielplätze, Bänke und Nischen, fördern die Kommunikation zwischen den Bewohnern und sind maßgeblich für die Identifikation mit dem Wohnumfeld.39 Der hohe Stellenwert der qualitativen Außenraumgestaltung zeigte sich schon in der ersten Befragungen 197840 und wurde durch die Studie der Wiener Stadtplanung 1998 wiederholt belegt. Der Freiraum die öffentlichen (Dienstleistungs-)Einrichtungen sowie das Einkaufszentrum des Wohnparks sind für die breite Öffentlichkeit zugänglich und bilden heute für das Quartierszentrum die angrenzende Bebauung. Intensive Begrünung der Parkflächen auf Zentrumsebene generieren durch ihre schallabsorbierende Wirkung, ungeachtet der räumlichen Nähe, keinerlei Lärmbelästigung der Wohnungen. Zeitgleich besteht die Möglichkeit fußläufig alle Geschäfte des täglichen Bedarfs zu erreichen was für viele Bewohner, darunter vor allem Familien und Senioren, einen der essenziellsten Ansprüche hohem Wohnkomfort bildet.41 „Studien zufolge ist die Zufriedenheit nirgends so groß wie in den Bauten von Harry Glück. Wohnungsgesellschaften schätzen an seinen Gebäuden ihre Dauerhaftigkeit und Wirtschaftlichkeit, ihre im Regelfall vollständige Auslastung oder auch die geringe Fluktuation der Mieter. Während andernorts Großsiedlungen aus den 1970er Jahren bereits wieder abgerissen worden sind, schneiden Glücks Wohnbauten aus dieser Zeit in so-
zialwissenschaftlichen Analysen, die selbst 25 Jahre jüngeren und architektonisch gefälligeren Projekten gegenüberstellen, mit Abstand am besten von allen ab.“42 IDENTIFIKATION MIT DER ANLAGE
Eine spezielle Eigentümerstruktur wird durch Mieter-Aktienanteile der eigens hierfür gegründeten ‚Gemeinnützigen Wohnbau- AG. Wohnpark Alt Erlaa‘ geschaffen. Beim Bezug einer Wohnung, wird jeder automatisch Aktieneigner und ist somit rechtlich und wirtschaftlich in die Entwicklungen des Wohnparks eingebunden. Vertreten werden Mieterinteressen alle drei Jahre durch einen gewählten Mieterbeirat. Dies stärkt zum einen die Identifikation mit dem Wohnort und schafft gleichzeitig ein Verantwortlichkeitsgefühl, das sich in der positiven Selbstorganisation und Einsatz der Bewohner für den Wohnpark Alt Erlaa ausdrückt. Die hohe Wohnzufriedenheit, der gemeinschaftliche Zusammenhalt sowie die besondere Verbindung, welche die Bewohner zu ihrem Wohnort aufgebaut haben, stellen bis heute ein besondere Kombination im sozialen Wohnbau dar. „Als die Zeitungen nach dem Bau der Anlage das Unpersönliche der Hochhaussiedlung kritisierten, hat sie [Susanna Röser, ehemalige Verwalterin], wie sie sagt, »die Reporter herkommen lassen«. Sie wurden von den Mietern dermaßen beschimpft, dass seitdem nie wieder etwas Schlechtes über den Wohnpark geschrieben wurde. Allerdings gibt es auch keinen Grund dafür.“43 ZUSAMMENFASSUNG
Am Beispiel Alt Erlaa zeigt sich, dass im sozialen Wohnungsbau durch intelligente Einsparung in der Bauplanung zusätzliche Annehmlichkeiten, auch im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel realisiert werden können. Darüber hinaus schaffen Wohnungsgrundrisse mit besonderen Qualitäten, in diesem Falle vorzugsweise durch großzügige Außenraumflächen, nachhaltig eine höhere Wohnzufriedenheit.44 Die sich logischerweise einstellende höhere Identifikation mit der Anlage und geringere Fluktuation resultiert zum einen in einer besseren Integration mobilitätseingeschränkter Gruppen45 und einer ausgeprägten Selbstorganisation und Fürsorge innerhalb und um die Gebäude. Die grundsätzliche negative Vorbelastung der Großwohnbauten kann hier beispielhaft widerlegt werden.46 Ganz im Gegenteil zu der Verallgemeinerung, führen Großstrukturen nicht konsequenterweise zu Kriminalität, Anonymität, Vandalismus und folglich ‚Problemvierteln‘ sondern zu lebendigen, urbanen Quartieren. „Für Glück ist eine Architektur,
37
Hass, Hans & Freisitzer, Kurt & Gehmacher, Ernst & Glück, Harry: Stadt und Lebensqualität. Neue Konzepte im Wohnungsbau auf dem Prüfstand der Humanethologie und der Bewohnerurteile. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart, Österreichischer Bundesverlag, Wien, 1985 S.12 38 vgl. Ebd. 39 vgl. Seiss, Reinhard (Hg.): Harry Glück, Wohnbauten, müry Salzmann Verlag, 2014, S.15 40 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Studie: ‚Wohnwert im sozialen Wohnungsbau‘ 41 Ebd. 42 Seiss, Reinhard (Hg.): Harry Glück, Wohnbauten, müry Salzmann Verlag, 2014, S.6 43 Ebd. 44 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Studie: ‚Wohnwert im sozialen Wohnungsbau‘ 45 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Öffentliche, Privat, Gemeinschaftlich 46 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Studie: ‚Wohnwert im sozialen Wohnungsbau‘ (Befragung zum Thema des ‚Störfaktors‘ hohe Bewohneranzahl)
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PRIVATE SPHÄRE, NACHBARSCHAFT UND GEMEINSCHAFT WERDEN IM WOHNPAKR ALT ERLAA VERTIKAL ORGANISIERT
Schnitt Alt erlaa
SCHNITT 1:500
Gemeinschaftliche Einrichtungen DACHSCHWIMMBAD
Verkehr
GEMEINSCHAFTSRÄUME
PARKHAUS
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die soziale Kontaktaufnahme und Gemeinsamkeit ermöglicht, ein Antidot zur vielfach beklagten Anonymität großer Wohnanlagen.“47 Viele der vorab beschriebenen positiven Aspekte wären zudem in einer kleineren Anlage nicht realisierbar gewesen. Ungeachtet der Gebäudegröße scheinen die städtische Lage, die Gestaltung der öffentlichen Freiflächen und die speziellen Vorzüge der Wohnungen eine gelungene Mischung aus städtischem und ländlichem Wohnen zu bieten. Der Ausblick ins Grüne, direkte Naturnähe, Möglichkeit für nachbarschaftliche Kontakte (wenn dies gewünscht wird) bei gleichzeitigen städtischen Vorzügen von direkter Innenstadtanbindung und fußläufiger Nahversorgung, Freizeiteinrichtungen und Erholungsangeboten.48 Die Polarität aus öffentlicher und privater Sphäre, welche in richtigem Maß zu einem urbanen Umfeld führt und die Grundlage für die Bildung nachbarschaftlicher Beziehungen stellt, erzeugen in Alt Erlaa eine optimale Synthese: ein qualitativer, individueller, geschützter privater Wohnbereich (Grundrissvielfalt und Aneignungsmöglichkeiten) und die Möglichkeit alle städtischen Funktionen und Kommunikation des täglichen Lebens, in einer heterogenen Gesellschaft, in direkter visueller und räumlicher Umgebung.49 „Beispielsweise fühlten sich die Bewohner dort [Wohnpark Alt Erlaa] am wenigsten durch Nachbarn in ihrer Privatsphäre beeinträchtigt“.50 In den siebzigern und achtziger Jahren, erhob sich in der Architekturszene einige Kritik gegen die ‚fremdartigen‘ Bauten von Glück.51 Gerade aus politischer Sicht erfuhren seine Bauten anfangs aufgrund der Verwendung hoher Anteile der zur Verfügung gestellten Mittel für Freizeit- und Gemeinschaftseinrichtungen reichlich Gegenwind. So wurde ihm vorgeworfen „mit öffentlichen Geldern Luxus für Proleten zu bauen“52 und die Linke Fraktion beklagte den Verlust revolutionären Anspruch der Arbeiterklasse auf Grund unangemessen hoher Annehmlichkeiten. Zusammenfassend kann zumindest politisch gesehen eine aktive Intervention seitens des Staates in diesem Beispiel nicht gesehen werden (mit Ausnahme der Handlungsfreiheit durch die GESIBA). Dies lässt sich sicherlich auch mit unterschiedlichen Regierungsperioden begründen. Wobei die Politik des Rote Wiens deutlichere wohlfahrtsstaatliche Züge annahm, als die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete Regierungskonstellation. Das gesellschaftspolitische Verständnis des Architekten Harry Glück, schichtspezifische Grenzen aufzulösen und gesellschaftliche Wohlfahrt der breiten Masse zu gewährleisten, wäre zumindest ganz im Sinne wohlfahrtsstaatlicher Ziele.53 Die Aufhebung der Wohnhierarchien ermöglicht den Bewohnern des Wohnparks Alt Erlaa Zugang zu zusätzlichen Einrichtungen, welche für gewöhnlich den Privilegierten vorbehalten sind und das, obwohl der Wohnpark das Dicht besiedelte Viertel in ganz Wien ist.
47 48 49 50 51 52 53
Seiss, Reinhard (Hg.): Harry Glück, Wohnbauten, müry Salzmann Verlag, 2014, S.15 vgl. Ebd. S.65 vgl. Lageplan Alt Erlaa Seiss, Reinhard (Hg.): Harry Glück, Wohnbauten, müry Salzmann Verlag, 2014, vgl. Ebd. S.143 Ebd. S.137 vgl. Skizzenwerk, Kapitel: der Wohlfahrtsstaat
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Abb. Pfeifer, Zara: Du meine konkrete Utopie
140
REZENSIONEN ALT ERLAA IST EIN IN EUROPA EINZIGARTIGER ENTWURF, DER DIE KLASSISCHEN WOHNHIERARCHIEN AUFHENT UND AUCH SCHLECHTER VERDIENENDEN ERMÖGLICHT, WAS SONST DEM WOHLHABENDEN VORBEHALTEN IST: FREIE SICHT, ZUGANG ZUM WASSER, EINGEBETTET IN DER NATUR. UND ZWISCHEN DEN HÄUSERN EIN GROSSFLÄCHIGER PARK, DESSEN BÄUME ALLE GERÄUSCHE DER ANWOHNER ZU SCHLUCKEN SCHEINEN. SÜDDEUTSCHE ZEITUNG 2011
DER WOHNPARK ALT-ERLAA IN WIEN SIEHT VON AUSSEN RECHT DEPRIMIEREND AUS. IN WAHRHEIT ABER LEBT ES SICH DORT GANZ WUNDERBAR – DANK DER 33 FENSTERLOSEN CLUBS VON ALT-ERLAA. ZEIT MAGAZIN NR. 24, 2017
DIE ZUFRIEDENHEIT DER BEWOHNER DER 3100 EINHEITEN IN DEN WOHNTÜRMEN VON ALT ERLAA IST AUCH DURCH SOZIALWISSENSCHAFTLICHE STUDIEN BELEGT. NICHT NUR DIE SCHWIMMBÄDER AM DACH, SONDERN AUCH VIELE KOMMUNIKATIONS- UND FREIZEITRÄUME SOWIE GRÜN, DAS NICHT NUR ALS ALIBI-BEHÜBSCHUNGSFLÄCHE ZWISCHEN BETONBLÖCKEN DIENT, SIND DAFÜR VERANTWORTLICH. WIENER ZEITUNG, 14.12.2016
WOHNWUNDER WIEN: SOZIALWOHNUNGEN MIT SCHWIMMBÄDERN AUF DEM DACH: DER WOHNPARK ALT-ERLAA IST EIN BEISPIEL FÜR WUNDERBARES WOHNEN IN WIEN. DAS LEBEN IM HOCHHAUS STÖRT DIE BEWOHNER DABEI NICHT. IM GEGENTEIL: VIEL GUTES WIRD SO ERST MÖGLICH. HINZ&KUNZ, DAS HAMBURGER STRASSENMAGAZIN, 17. AUGUST 2015
WIEN RÜHMT SICH MIT EINER KONTINUIERLICHEN SOZIALEN WOHNBAU-
POLITIK. AUS EINER STUDIE DER STADT ÜBER ZUFRIEDENHEIT IM GEFÖRDERTEN WOHNBAU GEHT EIN SIEGER HERVOR, DER AUF DEN ERSTEN BLICK EHER EINER BETONBURG ÄHNELT: DIE 1985 FERTIG GESTELLTE SATELLITENSTADT ALT ERLAA IM 23. BEZIRK. DIESE STELLT IN VIELERLEI HINSICHT IHRE ARTGLEICHEN ZEITGENOSSEN IN DEN SCHATTEN. UND DAS, OBWOHL DIE WOHNMASCHINEN DER SPÄTMODERNE SCHON IN DEN 1970ER JAHREN ALS UNMENSCHLICH GALTEN BAUMEISTER: ENTDECKE WIEN: DER WOHNPARK ALT ERLAA, 22. JANUAR 2019
SIE GALTEN LANG ALS IRRWEG DER MODERNE, ALS KEIMZELLE SOZIALER PROBLEME UND – JE NACH STANDORT – ALS AUSDRUCK VON KAPITALISTISCHER MASSENHALTUNG ODER SOZIALISTISCHER GLEICHMACHEREI“, SCHRIEB REINHARD SEISS IN SEINEM BERICHT IM BAUMEISTER 6/2011 ÜBER DIE GROSSS� SIEDLUNGEN DER 1970ER JAHRE (SEITE 72). ER NANNTE ABER EINE, DIE HEUTE ALS BEISPIELHAFT GILT: ALT ERLAA IM SÜDEN WIENS VON HARRY GLÜCK. BAUMEISTER: GLÜCKLICHE MIETER, 20. FEBRUAR 2015
DIE EINTRACHT IM GLÜCK-UNIVERSUM. IM WIENER WOHNPARK ALT ERLAA SPÜREN 11.000 MENSCHEN KEINE SOZIALEN KONFLIKTE: „IM JAHR 1985 FERTIGGESTELLT, GILT DIE WOHNHAUSANLAGE MIT DEN VIER MARKANTEN TÜRMEN HEUTE ALS VORZEIGEPROJEKT IN SACHEN FUNKTIONIERENDER GROSSSIEDLUNG. WÄHREND DIE STADTVERWALTUNG SEIT KURZEM EINE GANZE REIHE NEUER SICHERHEITSKRÄFTE - VOM ORDNUNGSBERATER BIS ZUM WOHNPARTNER - IN STADTEIGENE WOHNHÄUSER ENTSENDET, IST ALT ERLAA DURCHWEGS WICKELFREI.
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-03STRUKTURELLER AUFBAU
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KRITERIEN GROSSWOHNBAU Die im Anschluss analysierten Gebäudebeispiele wurden nach der Entsprechung nachfolgender Kriterien ausgewählt
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1. sie weisen eine Viezahl von Nutzungen auf (Wohnen, Gewerbe, Bildung, Freizeit, öffentliche Nutzung, Leichtindustrie, Religion usw.) 2. Die höchste Konzentration findent sich allerdings in Form der Wohnungen und Gemeinschaftseinrichtungen 3. sie erfüllen die meisten Hauptbedürfnisse der ständigen und vorübergehenden Bewohner, enthält also alle für den täglichen und teilweise periodischen Bedarf notwendigen Einrichtungen der materiellen Versorgung, der geistig-kulturellen Kommunikation 4. und können somit als 'autark' angesehen werden 5. sie sind eine Struktur für Kern- oder 'kernstädtische' Gebiete 6. zumeist auf Kommunalen Grundstücken gefördert (häufig als Demonstrativbauvorhaben) oder aus der öffentlichen Hand finanziert, initiert 7. ihnen liegt ein wirtschaftliches städtebaukonzept zugrunde: wiederbelegung der Innenstädte zur Infrastrukturentlastung und zukünftigen Infrastruktureinsparung 8. sie kann in zwei Grunlegende Typen unterteilt werden 8.1. eine bestimmte Anzahl an Wohnungen bildet mit den gesellschaftlichen Einrichtungen der Versorgung und Dienstleistung, Kinderbetreuung und kulturelle- und sportliche Einrichtungen eine geschlossene Einheit. (Le Corbusier, Marseille) 8.2. Der zweite Typ legt ein offenes System aus Wohnungen und Versorgung zugrunde: diese befinden sich in unmittelbarer Nähe zu den Wohnungen, aber bilden keine geschlossene bauliche Einheit. Sämtliche Zusatzeinrichtungen stehen dann auch der Benutzung der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung. (Marina-City, Chicago)
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BARBICAN ESTATE LONDON 1955-83
ARCHITEKT: CHAMBERLIN, POWELL AND BON; NUTZUNG: WOHNEN UND KULTURZENTRUM; FINANZIERUNG: PRIVAT, STÄDTISCHE INITIATIVE WIEDERBELEBUNG DES ZENTRUMS; GRUNDFLÄCHE: 150.000 (620X460M); GESCHOSSFLÄCHE: CA. 456.000; WOHNEINHEITEN: 2000; BEWOHNER: 4000, MAXIMALE HÖHE: 110; GESCHOSSE: 44 Das Barbican Estate in London wurde zwischen 1955 und 1983 von den Architekten Peter Chamberlin, Geoffrey Powell und Christoph Bon geplant und errichtet. Die Lage im Finanzzentrum der britischen Hauptstadt machte es für kommerzielle Entwickler attraktiv. In Folge dessen wurden mehrere Büroprogramme vorgeschlagen. Diese wurden von der Stadt allerdings abgelehnt, was zum Teil auf den Bevölkerungsrückgang in der Region zurückzuführen war. Ein von Chamberlin, Powell und Bon im Jahr 1955 vorgeschlagener Wohnungsbau bot die Gelegenheit die Innenstadt Londons als Wohnort wiederzubeleben. Um die Mieteinnahmen zu maximieren und das Projekt finanziell tragfähig zu machen, schlugen die Architekten eine hochverdichtete Struktur für die wohlhabenden Schichten vor. Der Komplex sollte zudem die auf dem Gelände ansässigen Institutionen wie die Kirche St. Giles, eine Mädchenschule und die ‚Guildhall School of Music and Drama‘ integrieren. Der Entwurf der drei Architekten sah ein Konglomerat aus 13 Wohnblöcken auf einem verbindenden Sockel vor. Auf Ebene des dritten Obergeschosses entwarfen sie ein Podium, welches als Fußgängerebene alle Gebäudekomplexe miteinander verband. Die unteren drei Stockwerke sind bis auf einige wenige Maisonettewohnungen der fließendenden und ruhenden Infrastruktur vorbehalten. Die 13 Gebäude umfassen, mit Ausnahme der drei 42 stöckigen Wohntürme, jeweils 10 Stockwerke. Ergänzend zur Wohnbebauung entstand ein Kulturzentrum, das ‚Barbican Centre‘, welches einen Konzertsaal, die Barbican Hall, das Barbican Theatre, die Barbican Art Gallery, das Barbican Cinema, Restaurants und zusätzliche Veranstaltungs- und Ausstellungsräumlichkeiten beinhaltete. 1976 wurde das Barbican durch das Museum of London und später die Barbican Public Liberary ergänzt.
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PODIUM (FUSSGÄNGEREBENE)
Fotos: Simon Phipps, @ simonphipps.co.uk
Fotos: Simon Phipps, @ simonphipps.co.uk
ALEXANDRA ROAD LONDON 1972-1978
ARCHITEKT: NEAVE BROWN; NUTZUNG: WOHNEN, BILDUNGS- , SOZIALEINRICHTUNG, TRA HALL; FINANZIERUNG: LONDON BOROUGH OF CAMDEN; GRUNDFLÄCHE: 18.000; GESCHOSSFLÄCHE: CA. 81.200; WOHNEINHEITEN: 520; BEWOHNER: -/MAXIMALE HÖHE: 20; GESCHOSSE: 6
Der Komplex Alexandra Road, entworfen von Neave Brown, wurd in den Jahren zwischen 1972 und 1978 errichtet. Auf dem 13,5 Hektar großen, vom London Council 1966 erworbene Grundstück im Londoner Stadtteil Camden sollten nach Rückbau der viktorianische Villen geförderter Wohnraum entstehen. Das Konzept des Architekten sah in Abgrenzung von der in England der 70er Jahre üblichen Hochhausbebauung eine Lineare Struktur vor. Brown war der Ansicht, dass selbst in zentralen städtischen Gebieten jeder Haushalt die Vorzüge eines Einfamilienhauses haben sollte. So entwarf er jede Wohneinheit mit eignem Eingang und einem eigenen privaten Außenbereich. Dieser sollte als Dachgarten oder Terrasse ausformuliert zum Himmel hin offen sein. Städtebaulich setzt sich der Komplex aus drei linearen Gebäudevolumen zusammen. Die Volumen schließen in ihrer Mitte auf der kompletten Länge von 350 Metern eine Fußgängerstraße ein, wobei die Parkflächen darunter angesiedelt sind. Die Wohnungseingänge sind dieser Fußgängerzone angelagert um so nachbarschaftliche Kommunikation und ‚Urbanität‘ zu fördern. Insgesamt wurden 520 Wohnungen mit ein, zwei, drei und vier Zimmern sowie Maisonettewohnungen errichtet. Den Bewohnern steht neben der gemeinschaftlichen Erschließungszonen (der Fußgängerstraße und der Galerie im siebten Stock) ein Gemeindezentrum, eine Schule und ein Foyer zur Verfügung, welche in Flachbauten im Südlichen Abschnitt untergebracht sind. Hier befinden sich zudem Spielplätze und ein öffentlicher Park.
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FUSSGÄNGEREBENE
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GEMEINSCHAFTSZENTRUM
Fotos: Simon Phipps, @ simonphipps.co.uk
BRUNSWICK CENTER LONDON 1966-71
ARCHITEKT: PATRICK HODGKINSON; NUTZUNG: WOHNEN, VERKAUFSFLÄCHEN; FINANZIERUNG: LONDON BOROUGH OF CAMDEN, PRIVAT; GRUNDFLÄCHE: 21.000; GESCHOSSFLÄCHE: CA. 60.000; WOHNEINHEITEN: 560; BEWOHNER: 1644 MAXIMALE HÖHE: 25; GESCHOSSE: 7 Das Brunswick Center wurde zwischen 1966 und 1971 in London errichtet. Der Komplex befindet sich zwischen dem Russell Square und dem Brunswick Square Gardens. Das Gelände wurde ungefähr Mitte der 1950er Jahre von einem privaten Bauträger gekauft um darauf zwei fünfstöckige Häuser für Londons Oberschicht zu errichten, welche im Erdgeschoss durch Einzelhandelsflächen erweitert werden sollte. Nach Ablehnung des Bebauungsvorschlags durch die Gemeinde Camden entwarf der Architekt Leslie Martin mittels verdichteter Flachbauten eine Bebauung mit gleichbleibender Gesamtfläche. Mitte 1960 wurde der Vorentwurf an den Architekten Patrick Hodgkinson weiter gegeben, welcher das Projekt bis zum ende betreute. Aufgrund ungenügend privater Käufer musste der Bauherr 1965 die Wohnbereiche an die Gemeinde Camden verkaufen. Die Gemeinde beschloss daraufhin die Wohnungen als Sozialwohnungen zu nutzen, wobei die Einzelhandelsflächen im Erdgeschoss weiterhin vom ursprünglichen Bauherr verwaltet wurden. Nach einer Überarbeitung und Reduzierungen der unterschiedlichen Wohnungstypen begannen die Bauarbeiten im Jahr 1968. In seiner endgültigen Form beherbergt das Brunswick Center über 560 Wohnungen für insgesamt 1644 Personen. Die Wohnungen verfügen alle über private Balkone. Zudem haben die Bewohner Zugang zu diversen Freiflächen, wie der Gemeinschaftsgarten am nördlichen Grundstücksende oder der der Ladenpassage zugewandten gemeinschaftlichen Terrasse im zweiten Stock. Zudem finden sich 80 Gewerbeeinheiten mit Läden, einem Kino und Büroeinheiten. Unter der erhöhten Fußgängerebene befinden sich auf zwei Ebenen Parplätze für 925 Autos und Flächen zur Anlieferung.
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Fotos: Simon Phipps, @ simonphipps.co.uk
Fotos: Simon Phipps, @ simonphipps.co.uk
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GEMEINSCHAFTSTERRASSE
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EINZELHANDEL
FORUM CITY MÜHLHEIM 1970-1976
ARCHITEKT: HANNS-HENNIG LAUTZ; NUTZUNG: WOHNEN, EINKAUFSZENTRUM, HOTEL, KINO, BÜRO, KINDERTAGESSTÄTTEN; FINANZIERUNG: (TEIL-)ÖFFENTLICH GRUNDFLÄCHE: 34.000; GESCHOSSFLÄCHE:136.00; WOHNEINHEITEN: 2000; BEWOHNER: -/MAXIMALE HÖHE: 110; GESCHOSSE: 4 Die Bebauung des 134.000 qm umfassenden Grundstücks in direkter Nachbarschaft zum Hauptbahnhof wurde 1966 von privaten Grundstückseignern und der Stadt Mülheim gemeinschaftlich beschlossen. Entstehen sollte eine hybride Nutzung aus Einkaufen, Verkehr und Wohnen um die monofunktionale Innenstadt von Müllheim wieder zu beleben. Die Parkflächen, welche vormals die Primärnutzung des Baufelds darstellten, sollten weiterhin im Erdgeschoss beibehalten werden wobei das erste Obergeschoss die neue Fußgängerebene formte. Diese führt in die überdachte zweigeschossige Ladenpassage mit angeschlossenem Kaufhaus, welches heute ein Kino und eine Hotel beinhaltet. Das Forum und die Wohnbauten sind auf Ebene des zweiten Obergeschosses durch ein begrüntes Wegesystem miteinander verbunden. Von hier aus werden die vier 20 geschossigen Hochhäuser erschlossen. Zudem findet sich hier ein Kindergartenbau. Die drei in Nord-Süd-Richtung ausgerichteten Wohntürme stehen parallel versetzt zueinander und sind mit einem Schwimmbad ausgestattet. Die zwei ineinander verschobenen Bauvolumen wurden kürzlich zu Büroflächen umgebaut und werden seither als Technisches Rathaus der Stadt Müllheim genutzt. „Die angestrebte Einbindung in die Kernstadt ist trotz der anfänglich positiven Resonanz auf das Einkaufszentrum wie das innerstädtische Wohnen mit Ausblick nicht geglückt. Dadurch dass die Großstruktur teilweise aufgeständert und von Straßen umringt ist, bleibt sie mit nach außen abschirmenden Parkhäusern isoliert.“1
1 https://www.baukunst-nrw.de/objekte/Einkaufszentrum-FORUM-CITY-Muelheim-mit-verdichteter-Wohnbebauung--1962.htm
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TECHNISCHES RATHAUS
Fotos Christian Huhn @ bigbeautifulbuildings.de
NECKARUFERBEBAUUNG, MANNHEIM 1975-82
ARCHITEKT: EINALD SANDREUTHER, WERNER SINGLE UND NORBERT SCHULTES; NUTZUNG: WOHNEN, BILDUNGSEINRICHTUNG; FINANZIERUNG: NEUE HEIMAT; GRUNDFLÄCHE: 54.000 GESCHOSSFLÄCHE: CA. 310.000; WOHNEINHEITEN: 1153; BEWOHNER: 3000; MAXIMALE HÖHE: 100; GESCHOSSE: 30 Das Collini Center und die Neckeruferbebauung, kurz NUB) wurden von den Mannheimer Architekten Einald Sandreuther, Werner Single und Norbert Schulters, beauftragt von der neuen Heimat Baden- Württemberg, zwischen 1975 und 1982 entworfen und gebaut. Die beiden Gebäudekomplexe südlich und nördlich des Neckars werden durch eine Fußgängerbrücke verbunden, welche südlich im Foyer des Collinicenters endet. Das NUB besteht aus einem Gebäudeensamble aus drei sternförmigen Wohnhochhäusern mit jeweils 266 Wohneinheiten und den vorgelagerten Terassenhäusern, welche zusätzliche 355 Wohnungen (als Eigentumswohnungen) fassen. Zusätzlich zum Außenbereich der Fußgängerzone und einem Kinderspielraum der Eingangshalle angegeliedert, steht den Bewohnern im ersten Obergeschoss des Südostflügels ein Wasch- und Bügelraum, eine ‚Freizeit-Terasse‘ im
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28. Obergeschoss zum Sonnenbaden, ein Kinderspielplatz (Hier finden sich Sandkasten, Plansch- und Duschbecken sowie ein Pflanzenbereich und sanitäre Einrichtungen) und eine Gemeinschaftsterasse mit angeschlossenem Party Raum im 26. Obergeschoss zur Verfügung. Der Party Raum soll für kleinere, private Feiern und Anlässe wie Familienfeste, Kindergeburtstage und ähnliches genutzt werden und ist mit einer kleinen Teeküche, Abstellraum und sanitären Einrichtungen ausgestattet. Auf öffentlicher Ebene integriert der Komplex die Carl-Benz-Schule und die Werner-von-Siemens-Schule.
Foto nächste seite: @https://www.onarchitecture.de/ mannheim-nub
COLLINI CENTER MANNHEIM 1975-82
ARCHITEK: KARL SCHMUCKER NUTZUNG: WOHNEN, SCHWIMMBAD, VERKAUFSFLÄCHEN, BÜRO; FINANZIERUNG: NEUE HEIMAT/ PRIVAT; GRUNDFLÄCHE: 11.500; GESCHOSSFLÄCHE: CA. 172.000 WOHNEINHEITEN: 515; BEWOHNER: 1300; MAXIMALE HÖHE: 95; GESCHOSSE: 30 Das 95 Meter hohe Gebäude mit seinen 32 Etagen besteht aus einem höheren Wohnturm und einem niedrigeren Büroturm. Ursprünglich sollte ein 150 Meter hoher Büroturm mit 50 Geschossen entstehen, umgeben von fünfgeschossigen Wohn- und Schulgebäuden. Hier sollten nach einer Idee des Architekten Wohnen, Arbeiten und Freizeit unter einem Dach vereint werden. Nach einer Baugrunduntersuchung musste die Höhe auf 95 Meter reduziert und die Nutzung umgeplant werden. Heute leben im Wohnturm rund 1300 Menschen in 515 Ein- bis Vierzimmerapartments. Der kleinere Büroturm wurde von der Neuen Heimat errichtet und von der Stadt Mannheim für die Unterbringung der technischen Ämter angemietet. 1984 kaufte die Stadt den Büroturm und den Verbindungstrakt mit Schwimmbad und Ladengalerie für 32 Millionen D-Mark. Das Schwimmbad steht seit 1990 leer.
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Strukturell heben sich beide Gebäudeteile, das Collini Center und das NUB, durch ihre erhöhte Fußgängerzone im ersten Obergeschoss, zugunsten Park- und Anlieferungsflächen im Erdgeschoss deutlich von der umgebenden Bebauung ab.
Foto nächste Seite: @flickr.de
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Foto oben: @ skyscrapercity.com Foto untern: @ ig-neckarpromenade.de
Foto oben: @ neckarstadtblog.de Foto unten: @ wikipedia.org
UNI CENTER KÖLN 1973
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ARCHITEK: WERNER INGENDAAY ; NUTZUNG: WOHNEN, VERKAUFSFLÄCHEN, FREIZEIT (FITNESSCENTER), HOTEL; FINANZIERUNG: (TEIL-)ÖFFENTLICH; GRUNDFLÄCHE: 6.800 (NUR TURM 3.000); GESCHOSSFLÄCHE: CA. 68.000; WOHNEINHEITEN: 954; BEWOHNER: 2.600; MAXIMALE HÖHE: 110; GESCHOSSE: 44
Das 1973 fertiggestellte Uni Center in Köln wurde im Autftrag des Baukonzerns Deba von dem Kölner Architekten Werner Ingendaay entworfen. Mit seiner Höhe von 131 Metern, bei 43 Stockwerken gilt es bis heute als eines der größten Wohnhochhäuser in Europa. Das Uni Center fasst 954 Wohnung bei ungefähr 2600 Bewohnern.Größter Eigentümer ist mit 378 Apartments das Kölner Studierendenwerk. Neben den Studentenapartments finden sich in der obersten Etage Penthäuser mit Grundflächen über 200qm und in der Etage darunter Maisonettewohnungen. „Viele Stadtviertel in Großstädten unterscheiden sich in ihren Miet- und Kaufpreisen so stark voneinander, dass sich die Gesellschaftsschichten gar nicht mehr nahe kommen. In der Eingangshalle des Unicenters aber treffen noch alle aufeinander. „Wir haben hier alles: vom Hartz-IV-Empfänger bis zum mehrfachen Millionär. Dazu fast 60 Nationen“, sagt ein Mann aus dem Beirat der Eigentümergemeinschaft. „Ein Hochhaus ist wie ein senkrechtes Dorf [...] Früher gab es in der dritten Etage auch mal ein Schwimmbad mit Sauna, aber das wurde zu selten genutzt, heute sind dort Lofts. Auch ein Kino gab es, heute ist darin eine Spielhalle. Der Kindergarten, der hier mal war, zog ebenfalls weg. “1
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Frankfurter Allgemeine: Ganz oben, ganz unten, Lisa Nienhaus, Mai 2016
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IHME ZENTRUM HANNOVER 1972-1975
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ARCHITEKT (U.A) KLOSS, KOLB U. PARTNER) ; NUTZUNG: WOHNEN, VERKAUFSFLÄCHEN, BÜRO; FINANZIERUNG: PRIVAT; GRUNDFLÄCHE: 49.000; GESCHOSSFLÄCHE: CA. 272.000 WOHNEINHEITEN: 860+CA. 250 STUDENTENWE; BEWOHNER: 2.850; MAXIMALE HÖHE: 81; GESCHOSSE: 23 Der Gebäudekomplex des Ihme Zentrums in Hannover wurde zwischen 1972 und 1975 erbaut. Im Süden und Norden von etwa 20-stöckigen Wohnhochhäusern eingerahmt, befinden sich dazwischen zwei fünf- bis sechsstöckige Wohnbauzeilen. Eine durchgängige Ladenpassage durchzieht das IhmeZentrum im ersten Obergeschoss, wobei im Erdgeschoss und ersten Untergeschoss Parkplätze untergebracht sind. An den äußeren Enden befinden sich größere, mehrstöckige Ladengeschäfte, während dazwischen kleinere Ladenlokale dominieren. Insgesamt fasst das Ihme Zentrum so verkaufsflächen von 60.000 m² sowie Wohnflächen von 58.300 m² für etwa 860 Wohnungen (etwa 2.400 Personen) und 8.000 m² für etwa 450 Studenten. Dabei variieren die Wohnungstypen von Ein- und Zweizimmerappartements, Maisonettewohnungen und Penthäusern. Die Höhenunterschiede zwischen umgebender Stadtstruktur und Fußgängerebene sowie unzureichende Auf- und Überwege seperieren das Ihme Zentrum räumlich von der bestehenden Stadtstruktur.
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Foto diese Seite Oben: Rogge @ Neue Presse Foto diese Seite unten: @ faz.net Foto nächste Seite oben: @hannover.de Foto nächste Seite unten: @ haz.de
THERESIENHÖHE MÜNCHEN 1969-71
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ARCHITEKT: ERNST MARIA LANG NUTZUNG (HEUTE): WOHNEN, VERKAUFSFLÄCHEN, HOTEL, SOZIALEINRICHTUNGEN, FRÜHER ZUDEM EIN BRÄUHAUS FINANZIERUNG:-/-; GRUNDFLÄCHE: 28.000; GESCHOSSFLÄCHE: CA. 115.000 WOHNEINHEITEN: -/- ; BEWOHNER: -/-; MAXIMALE HÖHE: 55; GESCHOSSE: 16 1972 begann man nach dem Entwurf des Münchner Architekten Ernst Maria Lang mit dem Bau eines Stadtquartiers mit Kaufhaus oberhalb der Theresienwiese. Auf dem ehemaligen Gelände der Hacker-Brauerei entstand ein breitgefächertes Ladenangebot mit zwei Wohnhochhäusern und einem Hotel. 1Zudem wurde die Hackerbrauerei und das dazugehörige Restaurant in das Ensamble intergriert. Seit dem Umbau 2018 findet sich in den Flachbauten das Einkaufszentrum Forum Schwanthalerhöhe, welches auf einer Verkaufsfläche von rund 40.000 m² etwa 90 Geschäfte fasst. Das Forum wird über die erhöhte Fußgängerebene erschlossen, darunter befindet sich das Parkhaus.
1Anmerkung; aufgrund fehlender Planunterlagen (auch Luftbild) wurde in der Darstellung das ehemalige Bräuhaus nicht dargestelllt.
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SOZIAL - UND BILDUNGSEINRICHTUNGEN GEMEINSCHAFTSFLÄCHEN WOHNEN VERKAUFSFLÄCHEN BÜRONUTZUNG PARKEN/ ANLIEFERN FUSSGÄNGEREBEN KULTUREINRICHTUNGEN HOTEL
-04TYPOLOGIE GROSSWOHNBAU 1970
ZENTRALITÄT In Abkehr von der funktionalen Stadt entstanden die Bauten in zentraler Innenstadtlage. So sollte sie aus wirtschaftlicher Sicht zur Wiederbelegung der Innenstädte, zur Infrastrukturentlastung und zukünftigen Infrastruktureinsparung beitragen. Die Großwohnbauten sind folglich als eine Struktur für Kern- oder ‚kernstädtische‘ Gebiete anzusehen und liegen selten mehr als drei Kilometer von der Altstadt entfernt. Heute definiert sich ihre zentrale Lage durch Stadtviertel mit hohem Mietniveau.
israel lopez balan, Bild @ https://www.designboom.com/architecture/israel-lopez-balan-visualizes-church-god-new-york-city-05-05-2014/
VIELFALT Die Hybride Nutzung der Großwohnbauten gilt als Ausdruck eines gesellschaftlichen Habitus ihrer Zeit. Die industrielle Moderne zeigte sich zum einen durch technischen Fortschritt, Rationalisierung, Standardisierung und zum anderen durch den Ausbau der Sozialleistungen und geregelte Arbeitsund Urlaubszeiten. Der Massenkonsum standardisierter Güter der ‚Konsumgesellschaft‘ der Nachkriegsjahre bildete sich architektonisch in der Integration großflächiger Verkaufszone ab. Auf öffentlicher Ebene wird dieses Angebot durch Hotellerie und Lichtspielhäuser, auf halböffentlicher Ebene durch Bäder, Sonnendecks und großzügige Außenbereiche erweitert und spiegelt somit das Bild der Freizeitgesellschaft wider. Der Aufstieg des PKWs zum Massengut, der damit einher gehende anstieg des Individualverkehrs und der verkehrsgerechte Straßenausbau manifestieren sich in den Großwohnbauten in der Bespielung des Erdgeschosses. Strukturell formen sich die Großwohnbauten aus einem verbindenden Sockel auf welchem eigenständige Gebäudevolumen aufbauen. Somit finden sich im Sockelbereich auf Straßenniveau ausschließlich Flächen für den ruhenden Individualverkehr, zur Anlieferung und zur Versorgung. Darüber, zumeist auf Ebene des ersten Obergeschosses, findet sich der Fußgängerbereich mit Zugang zu den Konsumeinrichtungen. Die aufbauenden Gebäude fassen neben Wohnraum teilweise zusätzlich Büroflächen. Die abschließende Ebene des Daches (wenn zugänglich) wird durch Freizeitfunktionen wie Sonnendecks bespielt.
LEVEL +1 KONSUM
LEVEL +-0 INFRASTRUKTUR
GEMEINSCHAFT Die integration halböffentlicher Zusatzflächen förderte in den Großwohnbauten der 1970er Jahre nachbarschaftlichen Kontakt, Gemeinschaftsbildung, gegenseitige Solidarität und eine erhöhte Identifikation mit dem Wohnort. So konnte zudem Segregation und selektive Mobilität vermieden werden. Auch diese halböffentlichen Flächen entsprachen den gesellschaftsstereotyp der ‚Freizeitgesellschaft‘ und sollten als Hobbyräume, Sonnendecks, Saunen oder Pools ausformuliert eine Erweiterung der privaten Sphären darstellen. Ähnlich der städtebaulichen Figur der Großwohnbauten separieren sich auch diese von der Umgebung. Zum einen beschränkt sich der Nutzerkreis ausschließlich (mit Ausnahme vom Stadtzentrum Ivry sur Seine in Paris) auf die Bewohner, zum anderen sind sie durch ihre Lage (auf dem Dach, Fensterlos im Gebäudeinneren der Terassenhäuser) zumeist auch visuell dem Quartier entzogen.
INDIVIDUALITÄT Die Großwohnbauten weisen eine Vielzahl unterschiedlicher Grundrissvarianten auf. Die Abkehr von den funktionalistischen Grundrissen hin zu Nutzungsneutralen, offenen und mannigfaltig ausgestalteten Grundrisstypen leitete sich aus der Emanzipation und steigenden Individualisierung der Gesellschaft ab. Die großzügige Ausformulierung und differenzierte Gestaltung der privaten Außenbereiche spiegelte die gestiegene Relevanz der Freizeit (Gärtnern, Sonnenbaden, etc.) wieder. Unterschiedliche bauliche Grundrisse waren den klassischen Lebensmodellen von Single, Paar und Familie angepasst und boten so die Möglichkeit bei geänderten Lebenssituationen innerhalb der Großwohnbauten umzuziehen.
Columbarium Habitabile, 1989/90, Brodsky & Utkin, by Alexander Brodsky and Ilya Utkin, Princeton Architectural Press (2015) @ https://www.forbes.com
FAZIT 1970
Zusammenfassend lassen sich sowohl hohe Qualitäten in den sozialen Wohnbauten der 1960er und 1970er Jahre auf privater, nachbarschaftlicher1 und öffentlicher Ebene2 als auch eine indirekte, im Falle der Autobahnüberbauung vielmehr direkte Intervention wohlfahrtsstaatlicher Organisationen belegen. Hohe Wohnzufriedenheit manifestierte sich in den Fallbeispielen3 in ähnlichen architektonischen Ausformulierungen. Das Prinzip der Terrassierung zeigt sich in klassischer Form im Wohnpark Alt Erlaa, reduziert in der Autobahnüberbauung und in abgewandelter, freier Form in den Flachbauten in Ivry sur Sein. Das Terrassenhaus schien in den 1960er und 1970er Jahren ein Ansatz zu sein, um zum einen räumliche Qualitäten des Einfamilienhauses4 hervorzubringen, zum anderen auf formaler Ebene ein Strukturelement der ‚Masse‘ der Großwohnbauten entgegen zu setzen. Die aufgezeigten Fallbeispiele bieten allesamt ein ‚Mehr‘ an Nutzungen, welche über das reine Wohnen hinausgehen und den täglichen Bedürfnissen der Bewohner entspricht. Die Autobahnüberbauung und der Wohnpark Alt Erlaa bieten innerhalb des Gebäudes Gemeinschaftseinrichtungen, welche ausschließlich den Bewohnern zur Verfügung stehen, werden aber durch öffentliche Einrichtungen in angrenzenden Zusatzbauten ergänzt und bilden folglich ein offenes System aus.5 Die Bauten in Ivry sur Sein hingegen bilden ein geschlossenes System aus Wohnungen, Gemeinschaftsräumen und öffentlichen Einrichtungen6 und schaffen so einen gemeinschaftlichen Kommunikationsraum auf städtischer Ebene: „Wenn gemeinsamer Raum von Bedingungen umschrieben wird, die exklusive Besitzer*innen oder Nutzer*innen definieren, dann wird er bestenfalls zu einem beschränkten öffentlichen Raum oder innerhalb einer ausschließenden Gemeinschaft eingedämmt und privatisiert.“7 Das Thema gemeinschaftlicher Wohlfahrt durch zusätzlicher Funktionen, sowohl auf nachbarschaftlicher als auch auf öffentlicher Ebene, scheinen im Bezug auf die Großform im Wohnungsbau essenzieller Bestandteil für hohe Zufriedenheit und städtische Integration zu sein. Wohlfahrtsstaatliche Ziele, Vollbeschäftigung, wirtschaftliches Wachstum8 und Chancengleichheit führen auf gesellschaftlicher Ebene zur nivellierten Mittelstandsgesellschaft mit steigenden Ansprüchen auch auf der Ebene
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Beispielhaft hierfür das Fallbeispiel Alt Erlaa Qualitäten auf öffentlicher Ebene zeugen von einem anderen Verständnis des städtischen Bodens. In Ivry wurde durch eine hohe Nutzungsmischung an öffentlichen Einrichtungen und öffentlichen Außenund Innenräumen durch das gesamte Gebäude ein Wohnungsbau der ‚Gemeingut Stadt‘ zugeschrieben. Exemplarisch am Beispiel des Wohnparks Alt Erlaa ermittelt kann davon ausgegangen werden, dass ähnliche Wohnzufriedenheiten bei ähnlichen Architektonischen Bedingungen zu erwarten sind (Ergebnissen der 3 Studien vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Der ‚Wohnwert im sozialen Wohnungsbau‘) Das Terrassenhauses zeichnet sich durch großflächige Außenräume (teilweise unter freiem Himmel) aus und wird in Kombination mit Maisonett Wohnungen als ‚Einfamilienhaus‘ im Geschosswohnungsbau betrachtet (vgl. Skizzenwerk, Kapitel: neue ‚Menschengerechte‘ Wohnformen) vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Typologie Großwohnbau vgl. Planmaterial Fallbeispiel Stavrides, Stavros: Common Space: Die Stadt als Gemeingut, eine Einführung, in: ARCH+232: An Atlas of Commoning: Orte des Gemeinschaffens, Juli, 2018 „Erst die florierende Wirtschaft mit wachsendem Steueraufkommen versetzte Unternehmen und öffentliche Hand in die Lage, entsprechend große Bauvorhaben anzugehen“ aus: Apfelbaum, Alexandra; Escher, Gudrun; Utku, Yasemin: Mit den Riesen auf Augenhöhe Ein neuer Blick auf Großstrukturen der 1960er und 1970er Jahre, 2017, S.12
des Wohnens.9 Dieser Wandel leitet in der Architektur zur Suche neuer Wohnformen über. Fließende Grundrisse und Themen der Individualität und des Naturbezugs führen zu Gebäudetypologien wie den Terrassenhäusern. Auf den ‚selbstbestimmten Gemeinschaftsmenschen‘10 bezogen werden nachbarschaftliche Zonen und Nutzungen, Schwellenräumlichkeiten und öffentliche Einrichtungen Bestandteil der Großwohnbauten. Die Realisierung der großen Zahl, häufig hoch utopischer Bauvorhaben, wäre ohne weitreichende Marktregulierung auf Staatsebene und durch Verlagerung der Bauaufgaben wie Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser und anderen sozialen Institutionen in die öffentliche Hand wahrscheinlich nicht möglich gewesen. Der Wohlfahrtsfokus hoher Lebensqualität sollte auch im Wohnungsbau für breite Bevölkerungsschichten zum Tragen kommen. Innerstädtische- oder stadtnahe Lage mit direkter Zentrumsanbindung, Funktionsmischung aus kulturellen-, Nahversorgungs-, Dienstleistungs- und Freizeiteinrichtungen, hohe Wohnqualitäten fundiert in Grundrissvielfalten , großzügige grüne Außenbereiche und gemeinschaftliche Räumlichkeiten für physische und kommunikative Aktivitäten stehen als Ausdruck des gesellschaftspolitischen Dogmas. Gerade im Falle Ivry sur Sein wäre der hohe Qualitätsanspruch der Bauten Renaudies und Gailhoustets ohne ‚Wohlfahrtsfokus‘ der öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften schwer realisierbar: „ Für mich ist der öffentliche Sektor eine große Quelle an Freiheit. Private Bauherren, mit denen ich gearbeitet habe, waren stets zu sehr auf Rentabilität fokussiert. Es sollte nicht teuer sein und viel einbringen. [...] Die Gemeinde dagegen war in kritischen Situationen entgegen kommender: „Uns geht langsam das Budget aus. Passt genau auf, was ihr damit noch machen könnt von euren Ideen“. Schließlich ist es nicht viel teurer 30 Zentimeter Erde auf die Terrassen zu legen, anstatt irgendeinen Bodenbelag. Aber dass die Terrassen so groß werden konnten, war auch die Motivation der öffentlichen Bauherren geschuldet.“11 Auch im Falle Alt Erlaa schien die Bereitschaft gemeinnütziger Wohnungsbaugesellschaften ausschlaggebend für ein Bauvorhaben das bis heute von unschlagbarer Wohnzufriedenheit zeugt. „Wir sind am Anfang oft nur deshalb beauftragt worden, weil wir wirtschaftlich bauten. Natürlich ist es nicht leicht, jemanden der vor allem Geld sparen möchte, davon zu überzeugen, das Ersparte erst recht wieder auszugeben. [...] Und was Bauträger nicht zahlen, kann man eben nicht planen.“12 In den analysierten Beispielen zeigt sich somit, dass Wohlfahrtsstaatlichkeit eine konkrete Entstehungsgrundlage dieser Großwohnbauten darstellte. Auch wenn politische
Regulierung selten in einem Umfang wie der Autobahnüberbauung vollzogen wurde, zeigt sich primär die durch den Wohlfahrtsstaat vermittelte gesellschaftspolitische Sichtweise in mannigfaltiger architektonischer Ausformulierung der Großwohnprojekten. Diese geben rückwirkend, bis heute sichtbar, dem Wohlfahrtsstaat eine ablesbare und physische Form. Die vorhergegangene Arbeit möchte die Frage aufwerfen, in wie weit das architekturgeschichtliche Erbe13 der 1960er und 1970er Jahre auf funktionaler Ebene einen Beitrag zur innerstädtischen Nachverdichtung im sozialen Wohnungsbau deutscher Großstädte bieten kann. Einige Konzeptionen, welche in den letzten Jahren des wohlfahrtsstaatlichen Systems entstanden, zeigen deutlich wie die Großform im Wohnungsbau zu hoher Wohnqualität führen kann und dabei gleichzeitig einen funktionalen Mehrwert der städtischen Öffentlichkeit entgegenbringt. Verdichtete Großbauten beherbergen nicht nur eine Vielzahl von Bewohnern, weit mehr als ein klassisches städtisches Haus, sondern liefern vielmehr die Möglichkeit, in hoch wirtschaftlicher Weise zu bauen. Neben städtebaulicher Wirtschaftlichkeit bietet eine hohe Nutzerzahl die Integration vielfältiger Funktionen und Zusatzeinrichtungen. „Die in größeren Wohnanlagen (Wohnpark Alt Erlaa) angebotene reichhaltige Freizeitinfrastruktur erhöht die allgemeine Wohnzufriedenheit. Insofern wirken sich die mit einer größeren Massierung von Wohneinheiten gegebenen ökonomischen Vorteile auch positiv auf die Wohnzufriedenheit aus.“14. Die aufgezeigte Synergie aus Qualität und Quantität der Großwohnbauten gilt es für künftige Wohnbauprojekte zu nutzen. Die Transformation der Typologie Großwohnbau in das 21. Jahrhundert bildet das Ziel der folgenden Ausarbeitung. Könnten so die in der Großform integrierten Zusatznutzungen die „gemeinschaftliche Nutzung an der Ressource“15 städtischer Boden fördern, um „einen ‚dritten Raum‘ zwischen dem potenziell frei verfügbaren, öffentlichen „Ressourcenraum“ und dem privatisierten Raum individueller zu bilden? Könnte der soziale Wohnungsbau auf diese Weise nicht nur für die Bewohner sondern im Sinne der Begriffsdefinition ‚sozial‘16 eine‚ dem Gemeinwohl, der Allgemeinheit dienend; die menschlichen Beziehungen in der Gemeinschaft regelnd und fördernd und den [wirtschaftlich] Schwächeren schützend“ Architektur hervorbringen? Die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen soll durch den analysierten Gesamtkontext von Gesellschaft, Politik und Architektur im folgenden Teil der Arbeit behandelt werden.
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vgl. Skizzenwerk, Kapitel: Wohnungspolitische Instrumente und Ziele (Grafik steigende Wohnungsgrößen) aus Michel Foucault aus: Kuchenbuch, David: Geordnete Gemeinschaft. Architekten als Sozialingenieure - Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert. Transcript Verlag, 2010s. 306 11 ARCH+ 231: The Property Issue – Von der Bodenfrage und neuen Gemeingütern, April 2018S. 114 12 Seiss, Reinhard (Hg.): Harry Glück, Wohnbauten, müry Salzmann Verlag, 2014, S.136 13 Hohe Wohnzufriedenheit, wenig Leerstand, teilweise unter Denkmalschutz 14. Make it Big. Großbauten in den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland und anderswo, Wolfgang Pehnt S.36 15 Kaspar, Anita; Pelger, Dagmar; Stollmann, Jörg (Hg.): SPATIAL COMMONS. STÄDTISCHE FREIRÄUME ALS RESSOURCE, Universitätsverlag der TU Berlin, 2016,S. 2 16 allgemeine Begriffsdefinition im Duden
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TEIL B 2020
„DIE „SOZIALE FRAGE“ STELLT SICH IN UNTERSCHIEDLICHER FORM ÜBERALL. DASS DIE GESTALTUNG VON GEBÄUDEN UND STÄDTEN HIERFÜR EINEN BEITRAG LEISTEN KANN, IST EINE ERKENNTNIS, DIE FEST ZUM ERBE DER FRÜHEN MODERNE GEHÖRT“[MEISE, THORSTEN: WELT WIRD STADT: URBANE STRATEGIEN IM 21. JAHRHUNDERT, BAUHAUS MAGAZIN]
„ALL UTOPIAS ARE DEPRESSING BECAUSE THEY LEAVE NO ROOM FOR CHANCE, FOR DIFFERENCE, FOR THE “MISCELLANEOUS.” EVERYTHING HAS BEEN SET IN ORDER AND ORDER REIGNS. BEHIND EVERY UTOPIA THERE IS ALWAYS SOME GREAT TAXONOMIC DESIGN: A PLACE FOR EACH THING AND EACH THING IN ITS PLACE.“[GEORGES PEREC ‚ THINK/ CLASSIFY“ 1985:191]
[EXKURS] DAS GROSSE IM GROSSWOHNBAU
Das Große in der Architektur hat eine lange Tradition. 1 Seit Jahrhunderten bildet die große Bauliche Geste eine Symbolik für das Mächtige. Historisch betrachtet stand dies zumeist für das Göttliche, welches seinen Architektonischen Ausdruck in Kirchen und Tempeln fand. Aber auch zur Demonstration politischer Macht und Propaganda, welche sich in Königshäusern und nationalsozialistischen Bauten zeigte. Große Architektur vermittelt Unnahbarkeit und Erhabenheit auf ihren Betrachter, welcher die Dimensionen kaum in einem Blick zu fassen vermag. In den Nachkriegsjahren stand das Große in der Architektur für den uneingeschränkten Glauben an Fortschritt und Machbarkeit und ein politisches System, den Wohlfahrtsstaat. Der Ausbau der staatlichen Sozial- und Transferleistungen manifestierte sich in Großmaßstäblichen Projekten für das Bildungs-, Gesundheitswesen sowie den Wohnungsbau. Dass Größe gerade im Wohnungsbau unzählige Probleme zur Folge hatte, zeigte sich in den peripheren Großsiedlungen und Bauten der direkten Nachkriegsjahre. Jedoch schafften die Großwohnbauten der zweiten Bauperiode um die 1970er Jahre gerade durch ihre Dimension neue Qualitäten für ihre Bewohner, welche in kleinen Projekten nicht wirtschaftlich realisierbar waren. Das Große bietet also die Möglichkeit von Programmen und Begegnungen, die in kleinen Bauten nicht realisierbar wären. Die theoretische Grundlage zum ‚Großen‘ in der Architektur soll im folgenden der Text „Bigness oder das Problem der Größe“ von Rem Kohlhaas bilden, um so einen Einstieg in die Thematik des Großwohnbaus im 21. Jahrhundert zu bilden. 1
näher hierzu: Hnilica, Sonja: Der Glaube an das Große in der Architektur der Moderne. Großstrukturen der 1960er und 1970er Jahre, Park Books, 2018
In den 1995 verfassten Aussagen über das Wesen einer großen Architektur finden sich unter anderem die folgenden Argumente: 1. Der Vorteil einer reichhaltigen Programmatik in einem Bauwerk und damit einhergehend die „Neuordnung des gesellschaftlichen Lebens“2 2. „In einem von Unordnung, Fragmentierung, Loslösung und Verzicht geprägten Milieu liegt die Anziehungskraft von Bigness in ihrer Fähigkeit, das Ganze wiederherzustellen, das Reale wiederzubeleben, das Kollektive neu zu erfinden und ein Maximum des Möglichen einzuklagen.“3 3. „Statt Koexistenz zu erzwingen, ist Bigness abhängig von Systemen, die größtmögliche Freiheit und maximale Differenz bieten.“4 Weiter führt Kohlhaas in den Grundannahmen von Bigness nach Delirious New York aus: 5. Die unterschiedlichen Funktionen, welche in der ‚Bigness‘ vereint sind können zum einen in einer Symbiose neue Funktionen hervorbringen, zum anderen können die Funktionen auch bewusst voneinander getrennt werden: „Wie Plutoniumbrennstäbe, die, abhängig davon, wie tief sie eingetaucht werden, die Atomreaktion verlangsamen oder beschleinigen, reguliert Bigness den Intensitätsgrad der programmatischen Koexistenz.“5 In Verbindung mit den herausgearbeiteten Qualitäten der Großwohnbauten kristallisieren sich somit folgende Themenschwerpunkte für eine Architekt der funktionalen Größe heraus: 1. „Eine reichhaltige funktionale Programmatik in einem Bauwerk kann dazu beitragen gesellschaftliches Leben neu zu Orden.“ Auf den geförderten Wohnungsbau übertragen wäre dies im ersten Schritt die Verschiebung sozialer Randgruppen zurück in die städtische Mitte, um Segregation zu vermeiden und gleichen Zugang zu städtischen Gütern zu ermöglichen. In Kombination aus Wohnraum und öffentlich zugänglichen Flächen könnte ein Kontakt zwischen den zumeist in sich homogenen Milieus gefördert werden und so Solidarität gestärkt werden. 2. „Das Kollektive neu zu erfinden und ein Maximum des Möglichen einzuklagen“. Um den in Punkt eins aufgeführten Gedankengang zu erweitern könnte dieser Bau eine Vielzahl unterschiedlicher Formate, Aktionen oder Produkte hervorbringen, welche in der Gemeinschaft, kollektiv entstanden sind und so eine neue Qualität erlangen. 3. Dabei sollte dieser Begegnungsraum durch eine hohe Pluralität der Nutzungen größtmögliche Wahlfreiheit der Individuen ermöglichen und Aneignungen durch diese fördern. 4. „Wie Plutoniumbrennstäbe, die, abhängig davon, wie tief sie eingetaucht werden, die Atomreaktion verlangsamen
oder beschleunigen, reguliert Bigness den Intensitätsgrad der programmatischen Koexistenz.“6In diesem Sinne können öffentlicher Begegnungsraum und die private Sphäre des Wohnens bewusst zueinander positioniert werden. Während Halböffentliche Bereiche wie Erschließung und Gemeinschaftsflächen durch punktuelle Verbindungen und Sichtbeziehungen in Synthese und Interaktion mit dem Öffentlichen treten, verschließen sich die privatesten Zonen des Wohnens, der Schlafbereich bewusst. So könnte Größe im Wohnungsbau eine neue, partizipative und integrative Kraft bilden und vielleicht ein erster Schritt für mehr soziale Gleichheit und Gerechtigkeit sein. „Es geht nie nur um das Wohnen. Die Projekte müssen groß genug sein, wollen sie die Stadt bzw. das Quartier verändern und eine innere Komplexität erreichen, die verschiedene Formen der Aneignung und der Weiterentwicklung ermöglichen (Gärten, Quartierinfrastruktur, Wohnen und Arbeiten. Besonders wichtig sind lebendige Erdgeschossnutzungen.“7 Im Folgenden sollen aktuelle thematische Schwerpunkte der Architektur, Gesellschaft und Politik beleuchtet werden um diese erste Vision in einen konkreten konzeptionellen architektonischen Rahmen der Typologie ‚Großwohnbau‘ zu fassen.
„Viel bringt viel“1, laut dem Architekten Rem Koolhaas, lässt sich mehr Nutzfläche besser vermarkten ZEITmagazin: Hat „ bigness“ eine Zukunft, oder werden sich die Giganten irgendwann erledigt haben? Koolhaas: Vielleicht gibt es ein Limit. Aber es liegt an uns, großen Bauweisen eine Zukunft zu geben, indem wir den Gebäuden Leben verleihen. Sie müssen Spaß machen und müssen auch öffentliches Leben beinhalten.2
2
Kohlhaas, Rem: Bigness oder das Problem der Größe, 1995 in: Quellentexte zur Architekturtheorie . Nachdenken über Architektur , München ; Berlin ; London, Prestel, 2002, S.575 3 ebd. S.578f. 4 ebd. S.579 5 ebd. S.580 6 ebd. 7 Kries, Mateo; Müller, Mathias; Niggli, Daniel; Ruby, Andreas; Ruby, Ilka (Hg.): Together! Die neue Architektur der Gemeinschaft, Vitra Design Museum, 2017, S. 62
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STATUS QUO 2020 WOHNUNGSFEHLBESTAND UND DER ‚GOLDENE‘ BODEN
01 FEHLBESTAND GEFÖRDERTER WOHNRAUM 02 ANSTIEG FÖRDERUNGSFÄHIGER HAUSHALTE 03 EINE STADT FÜR ALLEINITIATIVEN
01 „5.894 ehemalige Sozialwohnungen hat Berlin vom Immobilienkonzern Ado Properties zurück gekauft.[...]Gewobag zahlt 920 Millionen Euro für das Berlin-Portfolio: Ado hatte es für 375 Millionen Euro gekauft“ Im Jahr 2015 Haufe Online: Lompscher: „Größter Rekommunalisierungs-Ankauf in der Geschichte Berlins“, 27.09.2019
Seit 1990 ging der Bestand an sozialen Wohnungen um knapp 60 Prozent zurück und lag somit 2017 bei rund 1,2 Millionen Wohnungen. Zwischen 2013 und 2017 wurden ungefähr 88.000 Bauanträge für neue Sozialwohnungen genehmigt, zeitgleich lief allerdings die Sozialbindung bei 410.000 Wohnungen aus.1 Der Spalt welcher sich zwischen neuen Sozialwohnungen und alten, die ihren Status verlieren aufgetan hat, wird sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen. Beispielhaft lässt sich dies an der Landeshauptstadt München aufzeigen. Im Jahr 2014 wurden in Bayern 2.400 neue Sozialwohnungen gebaut, gleichzeitig verloren 4.320 Wohnungen ihren Status. Zusätzlich verschärft wurde dieser Fehlbestand durch den (nicht nur in Bayern) betriebenen Ausverkauf des Städtischen Wohnungsbestandes. So wurden beispielsweise im Zuge der Hypo Alpe Adria Krise von der Bayrischen Landesbank bayernweit 32.000 Sozialwohnungen verkauft. Folglich wird die Kritik an der Kommunalpolitik und die dringende Forderung, die Bestände aufzubessern anstatt sie zu veräußern immer präsenter. So auch der wohnungspolitische Sprecher der Freien Wähler, Thorsten Glauber in einem Interview der Dokumenation ‚Sozialwohnung-Fehlanzeige: Warum gibt es viel zu wenige?‘: „Seit 2004 fährt der Freistaat einen Rekordhaushalt nach dem anderen. Der Haushalt ist nach oben, die Baukosten sind nach oben und die soziale Wohnraumförderung ist linear geblieben. Das ist für mich der Skandal. Dass man erst durch die Zuwanderung sich dem Thema sozialer Wohnungsbau nähert.“2
02
Das Medianeinkommen für einen Einpersonenhaushalt liegt in Deutschland bei ca. 1.400 Euro pro Monat, beziehungsweise bei ungefähr 16.800 Euro jährlich. So betrachtet, könnte theoretisch jeder zweite Deutsch Wohnraumförderung beantragen. Die Prämisse zeigt sich allerdings nicht nur in fehlenden Sozialwohnungen für Geringverdiener, sondern vielmehr an fehlendem bezahlbarem Wohnraum für eine breite Masse von ‚Normalverdienern‘. Theoretisch sinnvoll, praktisch kaum realisierbar wie das Beispiel der Stadt Köln verdeutlicht. Zwischen 2011 und 2016 sind die Kaltmieten von 9,12 Euro pro Quadratmeter auf 12,39 Euro angestiegen, was zur Folge hatte, dass nunmehr jeder zweite Kölner einen Anspruch auf Wohnraumförderung hat. Allerdings ist der Bestand an öffentlich geförderten Wohnungen von 2005 bis 2017 um mehr als 15.000 Wohnungen gesunken. Steigende Mieten und Bodenpreise erhöhen den Einzugsbereich der förderfähigen Haushalte, gleichsam 1 2
vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Gesucht Gefunden: Alte und neue Wohnungsfrage, Bonn, 2019, S.28 DokThema: Sozialwohnung-Fehlanzeige: Warum gibt es viel zu wenige? August 2018, https://www. youtube.com/watch?v=BJ66gF0MmNA
213
Verteilung der Haushalte auf Einkommensstufen des BayWoFG, München Modell 100 % darüber
75 %
Stufe 1
Bevölkerungsverteilung nach Einkommenklassen (Einkommen pro Monat)
Stufe III Stufe II
25 %
München Modell
50 %
0%
20 %
2008
2010
2012
2014
2016
15 %
10 %
‚Oberschicht‘
‚Mittelschicht‘
‚Unterschicht‘
5%
0% unter 500
500-900
900-1.300
1.300-1.500
1.500-1.700
1.700-2.000
2.000-2.600
2.600-3.200
3.200-4.500
4.500 und mehr
Grundstückserlös /-erwerb der Stadt München T€ 390.000 360.000 330.000 300.000 270.000 240.000 210.000
1 Grundstückserlös
180.000 150.000 120.000
2 Grundstückserwerb
90.000 60.000 30.000 2011
2012
2013
2014
2015
2016
2017
Bestand an Sozialwohnungen pro Jahr
3 MIO 2,5 MIO 2 MIO 1,5 MIO 1 MIO 0,5 MIO
1990
2002
2004
2006
20108
2010
2012
2014
2016
2018
2020
01 Bericht zur Wohnungssituation in München 2016 – 2017, Referat für Stadtplanung und Bauordnung, München, S.59 02 Daten: Statistisches Bundesamt: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit: Haushalte und Familien Ergebnisse des Mikrozensus 2017, Juli 2018 03 Quelle: Bericht zur Wohnungssituation in München 2016 – 2017, Referat für Stadtplanung und Bauordnung, München, S.30 04 Quelle BAG Wohnungslosenhilfe, Statista
verlieren unzählige Wohnungen ihren Status als Sozialwohnungen, während der Bau von neuen geförderten Wohnungen durch hohe Boden- und Baupreise und lange Prozesse3 nur zäh voran kommt. Schlussfolgernd bedeutet all dies für die Stadt Köln einen Fehlbestand von 60.000 geförderten Wohnungen.4 Dies führte in den vergangen Jahren zu einem Pendleranstieg auf 44 Prozent, wobei jedes Jahr rund 1.000 weitere Familien ins Umland ziehen und somit die Zahl der Pendler konsequent weiter steigen wird. Die Vision einer nachhaltigen Stadt scheint bei dieser Ausgangslage in weite Ferne zu rücken.
„Eine Stadt für Alle [...] In einer solchen Stadt der Solidarität sollen alle Menschen das Recht haben zu leben, zu wohnen und zu arbeiten. Allen Menschen soll der Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung gewährt werden. Alle Menschen sollen teilhaben und das Stadtleben mitgestalten können – unabhängig von Aufenthaltsstatus, finanziellen Möglichkeiten, Hautfarbe, Geschlecht, Sexualität, Religion,…“ [solidarity-city.eu]
03
Unbebaute Bodenressourcen werden in urbanen Agglomerationsräumen immer rarer, foglich steigen die Grundstückspreise weiter an. Werden Grundstücke auf dem freien Markt veräußert, erhalten zumeist die Höchstbietenden den Zuschlag. Mit dem Ziel maximaler Profitsteigerung bleiben diese Bauflächen nicht selten unbebaut um sie zu einem späteren Zeitpunkt gewinnbringend weiter zu verkaufen. Werden diese allerdings doch bebaut sind hochpreisige Wohn- oder Büroflächen die lukrativsten und somit favorisierten Nutzungskonzepte. In beiden Fällen bleibt der soziale und kulturelle Mehrwert für einen Großteil der Städtischen Bevölkerung aus. 5 Dieser Gewinnbringende Handel einiger weniger mit städtischen Bodenressourcen weitete sich in den vergangen Jahren zunehmend auch in den öffentlichen Raum aus und ging mit einer grassierenden Privatisierung und Kommerzialisierung einher.6 Urbane Bewegungen äußern ihren Unmut gegen Wohnungsfehlbestände und die Spekulationen um Grund und Boden allerorts in mannigfaltigen Initiativen gegen Verdrängung und zu hohen Mietpreise. Diese Initiativen thematisieren auf unterschiedliche Art die Fragen, was eine Stadt ausmacht, wer über den urbanen Lebensraum bestimmt und vor allem wie und für wen dieser bespielt, gestaltet und zugänglich gemacht werden sollte. 7 Unter dem Namen ‚Stadt für Alle‘ haben sich in vielen deutschen und europäischen Städten Initiativen gebildet, welche für Integration und Weltoffenheit und besonders für Zugang zu Bildung und bezahlbarem Wohnraum einstehen und sich so klar gegen den zuvor beschriebenen Investorenbau aussprechen. Diese Bewegungen eint ihre nicht hierarchische Organisation. Eine Stadtgestaltung von unten kann zu neuen Qualitäten im urbanen Raum führen wie beispielsweise das frühe Projekt Park Fiction in Hamburg.
3 4 5 6 7
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Durch den Verkauf stadteigner Bauflächen müssen somit primär Ersatzflächen gefunden, zumeist deutlich hochpreisiger erworben und erschlossen werden. vgl. DokThema: Sozialwohnung-Fehlanzeige: Warum gibt es viel zu wenige? August 2018, https://www. youtube.com/watch?v=BJ66gF0MmNA er bringt hierbei das Beispiel von der Provinz Pailin in Kambodscha an in welcher rund 50 Prozent des Urwaldes in den letzten Jahren vernichtet wurden. vgl. Moore, Elke: Stadt als Ort der Gemeinschaft in: ARCH+232: An Atlas of Commoning, S.2 vgl. Lange, Bastian; Prasenec, Gottfried; Saiko, Harald: Ortsentwürfe. Urbanität im 21. Jahrhundert, Jovis Verlag 2013, S.90
DIE IM APRIL 2018 VERÖFFENTLICHTE STUDIE DER HANS BÖCKLER STIFTUNG ZEIGT, WIE VIELE WOHNUNGEN TATSÄCHLICH FÜR HAUSHALTE MIT GERINGEM EINKOMMEN VORHANDEN SIND UND DASS 60 BIS 80 PROZENT DES MEDIANEINKOMMENS IN 77 DEUTSCHEN STÄDTEN FEHLEN. [STUDIE: WIE VIELE UND WELCHE WOHNUNGEN FEHLEN IN DEUTSCHEN GROSSSTÄDTEN?] 40- 45% Bergisch-Gladbach Heidelberg 30-35% Darmstadt Hamburg Heilbronn Münster Wiesbaden
20-25% Augsburg Berlin Bottrop Düsseldorf Frankfurt a. M. Freiburg Göttingen Hannover Ingolstadt Kiel Leverkusen Offenbach Potsdam
25-30% Bielefeld Bonn Bremen Bremerhaven Köln München Nürnberg Osnabrück Ulm Wolfsburg Würzburg
-01DIE VORLÄUFER
RÜCKBLICK 1970-2020
ZEITmagazin: In den sechziger Jahren machte man sich gern Gedanken darüber, wie man guten Wohnraum für möglichst viele Menschen bereitstellen könnte. Warum geht es, wenn man heute von großer Architektur spricht, kaum mehr um Wohnquartiere, sondern vor allem um repräsentative Bauten? Koolhaas: In den achtziger Jahren sind die Aktienmärkte explodiert, was zur Folge hatte, dass nicht mehr der öffentliche Sektor, sondern der private Sektor der größte Auftraggeber wurde. Das erklärt für mich alles. Ein Plattenbau braucht einen Staat. Wenn der Staat keine Rolle mehr spielt, ist die Idee des sozialen Wohnungsbaus vorbei.1
1
Die Zeit: Geht’s ’ne Nummer kleiner?Der Architekt Rem Koolhaas hat Riesenbauten geplant. Ein Gespräch über die Grenzen der „bigness“, Von Tillmann Prüfer 20. Oktober 2011 Nr. 43/2011 https://www.zeit.de/2011/43/Architekt-Koolhaas/seite-3;
Der Wohlfahrtsstaat der Nachkriegsjahre kennzeichnete sich in Westeuropa durch drei zentrale Funktionen: die Schaffung einer breiten Mittelschicht durch eine Umverteilung des Reichtums mittels Steuern, die Emanzipation des Einzelnen durch individuelle Absicherung gegen Risiken mittels Versicherungs- und Transferleistungen sowie die Bereitstellung und der kostenlose oder zumindest günstige Zugang zu Gütern und Dienstleistungen. 1 Wuchsen Wirtschaft, Einkommen und Staatshaushalt von den 1950er bis zu den frühen 1970er Jahren stetig, kam es in Folge der Öl- und Wirtschaftskrise in den Jahren 1973 und 1974 zu konjunkturellen Schwächeperioden, hoher Arbeitslosigkeit und sinkenden öffentlichen Budgets. Dies führte zum Wendepunkt in der deutschen Sozialpolitik und zeichnete sich durch Einschnitte und Kürzungen ab.
01
Mit dem Ende des Wohlfahrtsstaates gewann das neoliberale Wirtschaftsmodell an Relevanz. Die staatliche Hauptaufgabe bestand fortan aus der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des Marktes. Die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen wurden dem freien Markt überschrieben, wodurch das allgemeine Preisniveau schrittweise anstieg. Wie es Rem Kohlhaas in einem Interview mit der Zeit formulierte war dieser Transfer aus dem öffentlichen in den Privaten Sektor gleichsam das Ende der Ära der großen geförderten Wohnungsbauprojekte: „Ein Plattenbau braucht einen Staat. Wenn der Staat keine Rolle mehr spielt, ist die Idee des sozialen Wohnungsbaus vorbei.“2 Zahlreiche Initiativen, wie beispielsweise die Stop-GATS Kampagne forderten staatliche Interventionen zum Erhalt öffentlicher Dienstleistungen und Gütern wie Wasserversorgung, öffentlicher Verkehr, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen. In der Güterdefinition der klassischen Ökonomie sind öffentliche Güter solche, die von Nicht-Rivalität und Nicht-Ausschließbarkeit gekennzeichnet sind. Der Wohlfahrtsstaat jedoch fasste sein Aufgabengebiet -den aktiven Eingriff in den Markt- hierbei deutlich weiter und stellte so die breite Versorgung mit Infrastruktur, Energieversorgung, dem öffentlichen Verkehr bis hin zum Wohnungsbau. In der Wohnungspolitik markierte vor allem die Regierung Kohl 1982 einen Umbruch. Der damalige Finanzminister Gerhard Stoltenberg trug maßgeblich dazu bei, dass der Staat den sozialen Wohnungsbau dem freien Markt übertrug. In den vergangen Jahren wurden unterschiedliche Gesetze bezüglich des geförderten Wohnungsbaus festgesetzt: 3
01 WOHNUNGSPOLITIK NACH 1970 02 LEITBILDER DES STÄDTEBAUS NACH 1970
1. Die Abschaffung der Gemeinnützigkeit 1988 (durch den skandalträchtigen Untergang der Neuen Heimat zusätzlich gefördert) markierte den Wendepunkt hin zu einer umfangreichen Privatisierung des Wohnungsbestandes. Dies führte teilweise zum Verkauf ganzer Siedlungen an private Investoren, um so den Staatshaushalt aufzubessern. 2. Das Wohnraumfördergesetz von 2001: Hierbei wird die Förderung primär in den Wohnungsneubau, die Modernisierung, den Erwerb von Belegungsrechten und von Wohnraum als selbst genutztes Eigentum investiert. „Diese 1 2
3
vgl. Hirsch, Joachim : Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen, Hamburg, 2002, S.110ff. Die Zeit: Geht’s ’ne Nummer kleiner?Der Architekt Rem Koolhaas hat Riesenbauten geplant. Ein Gespräch über die Grenzen der „bigness“, Von Tillmann Prüfer 20. Oktober 2011 Nr. 43/2011 https://www. zeit.de/2011/43/Architekt-Koolhaas/seite-3; DokThema: Sozialwohnung-Fehlanzeige: Warum gibt es viel zu wenige? August 2018, https://www. youtube.com/watch?v=BJ66gF0MmNA
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Förderschwerpunkte haben die Gentrifizierung und soziale Umschichtung der Städte infolge der Rückwanderungstendenz verstärkt [...]. Die Marktnische des billigen, nicht modernisierten Altbaus gibt es nicht mehr.“4 3. Die Föderalismusreform von 2006: Zu Gunsten der stärkeren Entscheidungshoheit von Ländern und Kommunen wurde 2006 durch die Föderalismusreform eine Neuverteilung der wohnungspolitischen Zuständigkeit angestrebt. Der Rückzug des Bundes aus der Wohnungspolitik und somit die Einschätzung, dass kein zentralstaatliches Engagement mehr benötigt würde, um für ausreichend sozialen Wohnraum zu sorgen, führte allerdings zu einem Bedeutungsverlust des sozialen Wohnungsbaus. 5 Folglich zeigt sich, dass der aktuelle Mangel an preiswertem Wohnraum auf dem sowieso schon engen Wohnungsmarkt nicht primär auf eine gestiegene Nachfrage zurückzuführen ist, sondern vielmehr aktiv durch die Umstrukturierung der Wohnungspolitik verursacht wurde. 6 So stellt sich die Frage, wie in der heutigen Zeit ein breites Interesse der Bevölkerung nach qualitativ hochwertigem und bezahlbarem Wohnraum durch einen auf maximalen Ertrag ausgelegten Wohnungsmarkt erfüllt werden kann?
02
Der Wandel der politischen Agenda brachte gleichsam einen gesellschaftlichen Wandel und ein Umdenken aus städtebaulicher Sicht mit sich. Städtische Leitbilder wie etwa die bürgerliche Stadt und die funktionale Stadt entstanden stets aus der Reaktion auf eine Krise der jeweils vorhergehenden Ordnung. So führte die Kritik an der funktionalen Stadt seit den 1960er Jahren zwangsläufig zu einer neuen Ordnung, der spätmodernen Kulturstadt.7 Jede städtische Erscheinungsform verkörpert gleichzeitig ein gesellschaftliches Bild idealer Urbanität. Das Leitbild der ‚Urbanität durch Dichte‘, welches sich in den Großwohnbauten der Nachkriegsjahre zeigte, verlor sich zeitgleich mit dem Niedergang wirtschaftlicher Prosperität und so dem Ende großer Bauvorhaben. Das postmoderne Städtebaukonzepte der 80er Jahre verfolgte anschließend vielmehr eine Rückbesinnung auf den alten städtischen Bestand. Die in den 70er Jahren begonnenen Alt- und Innenstadtsanierungen wurde weiter fortgesetzt, Neubauten entstanden vergleichsweise kaum. Die 90er Jahre waren vor dem Hintergrund der Aufhebung der Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau 19888 geprägt durch ‚Investorenplanung‘ und ‚public private partnerships‘. Das Wohnen im Grünen sowie Wohnen für einkommensstarke Haushalte- mit einem Trend zur Abschottung- wurde zur Hauptbauaufgabe. Der Prozess der Suburbanisierung dieser Jahre gründete in der Möglichkeit wachsender Mobilität, dem breiten Infrastrukturausbau der Nachkriegsjahre und in Abkehr der Stadt als Wohnort. Der Traum vom eigenen Haus mit Garten, wie es einer gewissen Ironie nicht entbehrend, der Schriftsteller G.K. 4 5 6
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Kleefisch-Jobst, Ursula; Köddermann, Peter; Jung, Karen (Hg.): Alle wollen wohnen: gerecht, sozial, bezahlbar, Berlin, Jovis, 2017, 17f. vgl. ebd. vgl. Schöning, Barbara: Sechs Thesen zur wieder mal ‚neuen‘ Wohnungsfrage - Plädoyer für ein interdisziplinäres Gespräch, in: Wohnraum für alle?! Perspektiven auf Planung, Politik und Architektur ,Bielefeld, transcript, 2017, S. 16 vgl. Reckwitz, Andreas: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Transcript Verlag, 2016, S. 167f. vgl. Lebenswerte Städte: Städtebaupolitische Strategien für das 21. Jahrhundert, Wirtschafts- und sozialpolitisches Forschungs- und Beratungszentrum der Friedrich Ebert Stiftung Abt. Wirtschaftspolitik (Hg.), Bonn, 2000, S. 41
Chesterton zur Geschichte der Menschheit ausdrückte „das Land utopia, den kommunistischen Zukunftsstaat, das Neue Jerusalem, selbst ferne Planeten. Er [der kleine Mann] wollte immer nur eins: Das Haus mit Garten.“, schien einen Ausweg zu den ‚krankmachenden‘ Innenstädten zu sein. Auch in den 90er Jahren wurde noch von vielen Wissenschaftlern der ‚Tot der Stadt‘ -zumindest auf die westliche Sphäre bezogen- prophezeit. Die Suburbanisierung schritt rasant voran, „die Einfamilienhausidylle mit Garten, die Ruhe der Rasenmäher und die unverbrauchte Umwelt der automobilen Natur-Paradiese hatten nach wie vor Hochkonjunktur“.9 Der Fortschritt digitaler Technologien schien die Stadt als Wohnort und damit ein soziales Netzwerk und Face-to-Face Kontakte überflüssig zu machen. Gearbeitet wurde von überall, nationale und globale Netzwerke konnten sogar vom heimischen Wohnzimmer aus auf- und ausgebaut werden. Mit dem Platzen der Internetblase im März 2000 wurde dem uneingeschränktem Vertrauen in die digitale Welt ein Dämpfer versetzt. Gleichzeitig schienen auch die Prophezeiungen zum Ende der Stadt zu verstummen.10Auch wenn Smartphones, Laptops und digitale Vernetzung auf theoretischer Ebene keine Ortsgebundenheit benötigen, gewinnt seit einigen Jahren gerade für die wissensbasierte Ökonomie, die ‚cultural industries‘, das urbane Milieu wieder an Relevanz, da das urbane Umfeld essenziell für ihre Entstehung scheint. Die ‚creative economy‘ selbst spielt eine wichtige Rolle in der wirtschaftlichen Entwicklung der Städte. Um die ‚creative class‘ anzuziehen und so im Wettbewerb der Städte mitzuhalten, versuchen diese Regionen ihrerseits ein attraktives Umfeld zu schaffen und durch Förderprogramme die zumeist sowieso in prekären Arbeitssituationen befindlichen ‚Kreativen‘ anzuziehen, um so ihr Image eines ‚bescheidenen‘, bunten Lebensstil auf die Stadt zu übertragen. 11 Der seit den 2000er Jahren weiter voranschreitende Rückzug in die Stadt förderte zeitgleich den Anstieg mannigfaltiger Gentrifizierungsprozesse. Gentrifizierung beschreibt hierbei die Veränderung eines Stadtteils, welcher mit dem Wechsel von einer einkommensschwachen Einwohnerschaft zu einer einkommensstarken einhergeht. Vereinfacht dargestellt verläuft dieser Prozess meist wie folgt: 1. Arbeiterviertel werden von Studenten und Künstlern als Wohnort entdeckt. Hier sind die Mieten geringer als in den umliegenden Stadtvierteln und somit ist hinreichend Raum für Kreativität und Experimente vorhanden. 2. Nach und nach entstehen Cafés, Galerien und Läden. Diese beleben das Quartier und schaffen so eine funktionale Aufwertung. 3. Die ersten Zuzüglicher, die ‚Pioniere‘, machen das Quartier durch die funktionale Aufwertung für Außenste9 10 11 12 13
hende interessant und attraktiv für Menschen mit höheren Einkommen. 4. Neue Bewohner, mit höheren Einkommen,können mehr Miete für ihre Wohnungen ausgeben oder kaufen sogar Wohnungsbestände, um diese anschließend zu renovieren. 5. Es stehen immer weniger Wohnungen leer, die Mieten und Grundstückspreise steigen allmählich. Investoren entdecken das Viertel, kaufen Wohnungen, renovieren diese und vermieten sie anschließend gewinnbringend. 6. Die ursprünglichen Bewohner können sich die gestiegenen Mieten- häufig in Folge von Sanierungen- nicht mehr leisten und sind gezwungen umzuziehen. 7. Mit einem Bewohnerwechsel ändert sich auch die öffentliche Nutzung „Wo früher die Urberliner Eckkneipe war, eröffnet kurz darauf vielleicht ein Technoclub und schließlich ein schickes Restaurant. Das stört häufig nicht nur die alte Bevölkerung, sondern auch die Pioniere.“12 Das zunehmende Interesse am Wohnort Stadt und gleichzeitige Probleme wie steigende Miet- und Bodenpreise sowie Gentrifizierung fasste der Deutsche Soziologe und Stadtforscher Hartmut Häußermann treffend zusammen: „Suburbanisierung, Dezentralisierung, Desurbanisierung, Funktionstrennung und sozialräumliche Differenzierung sind die herausragenden Kennzeichen der modernen Stadtentwicklung seit Beginn dieses Jahrhunderts. [...] Die zentrifugale Entwicklung ökonomischer Aktivitäten wird als Funktions- und als Kulturverlust der Großstädte wahrgenommen. Die Städte werden immer stärker auf Konsumund Freizeiterlebnisse reduziert.[...] Selbst wenn sich das soziale Spektrum der Stadtbewohner durch die Abwanderung der Mittelschichtsfamilien verengt, bleibt die Stadt[...] ein besonderer Erfahrungs- und Lernort für gesellschaftliches Zusammenleben, denn funktional und sozial bleibt die Großstadt heterogener als alle übrigen Siedlungsgebilde. “13
Lange, Bastian; Prasenec, Gottfried; Saiko, Harald: Ortsentwürfe. Urbanität im 21. Jahrhundert, Jovis Verlag 2013, S.88 vgl. ebd. vgl. ebd. S.174 Süddeutsche Zeitung: Was Gentrifizierung wirklich ist, Juni 2015, https://www.sueddeutsche.de/leben/mietpreise-und-verdraengung-was-gentrifizierung-wirklich-ist-1.2517648 Häußermann, Hartmut: Was bleibt von der europäischen Stadt? in: Frey, Oliver;Koch, Florian (Hg.): Die Zukunft der Europäischen StadtStadtpolitik, Stadtplanung und Stadtgesellschaft im Wandel, Wiesbaden, VS, Verl. für Sozialwiss., 2011, S.33
223
224
-02AKTUELLER KONTEXT
225
WOHNUNGSPOLITIK „Die Lösung der gegenwärtigen Probleme besteht nicht da-
rin, dass sich der Staat zurücknimmt, um dem Markt Platz zu
schaffen, sondern dass er vortritt, um den Gemeinschaften die Rechte an ihren Gemeingütern zu sichern.“1
01 DIE WOHNUNGSFRAGE (IM WAHLKAMPF) 02 EXPLODIERENDE BODENPREISE 1
Helfrich, Silke; Kuhlen,Rainer; Sachs, Wolfgang; Siefkes, Christian: GemeinGüter – Wohlstand durch teilen, Heinrich-Böll-Stiftung, S. 15
03 BEISPIEL BERLIN
01
Enteignung, Mietrecht, Bau von Bundesbedienstetenwohnungen, Mietenstopp, Rückkauf von Wohnungen, das Thema des Wohnraums ist in politschen Debatten wieder brandaktuelle. Bei der vergangenen Bundestagswahl 2017 stand die Wohnungsfrage weit oben auf dem Programm. Während die SPD auf Mietpreisbremse, moderate Mietsteigerungen nach Sanierungen und gestaffeltem ‚Familienbaugeld‘ setzte, versuchte die CDU den Wohnungsbau über günstigere Abschreibungsmöglichkeiten und steuerliche Förderungen zur energetischen Gebäudesanierung anzukurbeln und zur Nebenkostensenkung Freibeträge in der Grunderwerbssteuer einzuführen. Die Grünen plädierten für die Einschränkung von Immobilienspekulationen durch starke Besteuerungen, den Neubau von einer Millionen preisgebundener Sozialwohnungen sowie den Mietanstieg nach Sanierung und Verdrängung zu begrenzen. Die Linke forderte sogar „Enteignungen „zum Wohle der Allgemeinheit“ und ein „Moratorium für Mieterhöhungen“.1 Auch bei den kommenden Kommunalwahlen am 15. März 2020 in Bayern steht die Wohnungsfrage weit oben auf der Wahlkampf Agenda. Im folgenden sind die Ziele der jeweiligen Parteien aufgelistet:
DIE GRÜNE [ZUKUNFT BRAUCHT MUT]
DIE LINKE [WEM GEHÖRT DIE STADT?]
CSU [MIT DEN WERTEN UNSERER STADT DIE ZUKUNFT GESTALTEN WIEDER MÜNCHEN WERDEN]
SPD [ZUKUNFT BEGINNT VOR ORT!]
1. Bezahlbaren Wohnraum schaffen 2. Grün erhalten 3. Mehr Platz für Fuß- und Radverkehr 4. Bus und Bahn ausbauen 5. Klimaneutrale Stadt2 1. Direkt und lokal für Klimagerechtigkeit kämpfen 2. Gesundheitsversorgung neu denken! 3. Für bezahlbare Miete statt fetter Rendite! 4. Mobilität für Alle- wir wollen die sozialökologische Verkehrswende 5. Für eine Wirtschaft, die den Menschen dient3 1. Mobilität für alle 2. Wohnen in München 3. Umwelt-,Klima- und Tierschutz: Nachhaltigkeit für Alle 4. Schule, Studium und lebenslanges lernen: Bildung für Alle 5. Soziale Gemeinschaft: Familie, Jugend, Kinder und Alleinstehende4
1. Bayern mit Bus und Bahn – kostenlos und jederzeit 2. Weil jeder ein zu Hause braucht: Wir sorgen für bezahlbare Wohnungen und faire Mieten. 3. Alle reden über Klimaschutz – wir machen ihn. In Bayern. Vor Ort. 4. Gute Arbeitsplätze vor Deiner Haustür: Dafür nehmen wir Geld in die 1 Frankfurter Allgemeine: Der wohnende Wähler, 10.08.2017 2 https://www.gruene-muenchen.de/kw2020/#kwthema1, Abgerufen am 22.02.2020 3 https://die-linke-muc.de/#housing, Abgerufen am 22.02.2020 4 https://www.csu.de/common/csu/content/csu/hauptnavigation/verbaende/ortsverbaende/solln_thalkirchen/Sonstige_Dateien/2020-01-25_L-CSUM-Wahlprogramm_Gesamt_Einzelseiten_24.01.2020. pdf, Abgerufen am 22.02.2020
227
www.gruene-muenchen.de
www.dielinke-muc.de
FDP [ZUKUNFT FÜR MÜNCHENJETZT MITGESTALTEN.]
Hand! 5. Ob Kinder ihr Potential entfalten sollte nur von ihnen abhängen. 6. Wir machen die Wege für alle frei: Damit das Leben lebendig bleibt. 7. Breitband statt Brieftaube, Highspeed statt Funkloch 8. Ob Zamhoidn, Zamhaltn oder Zammahalda – Hauptsache Miteinander!5 1. München. Urban- Planung/ Wohnen 2. München. Mobil- Verkehr 3. München. Bürgernah- Recht/ Digitalisierung/ Verwaltung 4. München. Bunt- Integration/ Queer/ Religion 5. München. Grün- Umwelt/ Klima 6. München. Vital- Gesundheit/ Inklusion/ Sport 7. München. Menschlich- Politik für Jung und Alt 8. München. Florierend- Wirtschaft/ Finanzen 9. München. Sicher- Sicherheit/ Schutz 10. München. Visionär- Zukunft6
02
DAS MIETSHÄUSER SYNDIKAT [EIGENDARSTELLUNG]
Die Brisanz des Themas und die Notwendigkeit zu Handeln scheint offenbar erkannt und der erste Schritt (zumindest finanziell) wurde mit der Grundgesetzänderung vom 15. März 2019 eingeläutet. „Der Grundgesetzänderung, die für die künftigen Bundesfinanzhilfen im sozialen Wohnungsbau erforderlich ist, hat der Bundesrat am 15. März 2019 abschließend zugestimmt. Insgesamt stehen für die soziale Wohnraumförderung im Zeitraum 2018 bis 2021 mindestens 5 Mrd. Euro zur Verfügung. Gemeinsam mit den Mitteln von Ländern und Kommunen können damit über 100.000 zusätzliche Sozialwohnungen geschaffen werden.“7 Nichts desto trotz bleibt die primäre Hürde zum Bau neuer Sozialwohnungen die immer knapper und gleichzeitig immer teurer werdenden Bodenressourcen. Da eine große Zahl deutscher Großstädte durch den Ausverkauf ihrer Bauflächen kaum noch auf eigene Ressourcen zurückgreifen können, wird der Bau neuer preiswerter Wohnungen finanziell kaum tragbar, wenn der Bodenpreis, wie beispielsweise in München, einen Anteil von bis zu 80 Prozent an den gesamten Baukosten ausmacht. 8 Auf Bürgerebene regen sich gegen diese enormen Preissteigerung vermehrt Organisationen, welche als Genossenschaften oder Beteiligungsgesellschaften strukturiert auf eine langfristige Entziehung der Grundstücke vom freien Markt abzielen. Beispielhaft hierfür steht das Mietshäuser Syndikat, welches den Wiederverkauf von Grundstücken vertraglich von Beginn an verhindert, um so langfristig preiswerten Wohnraum zu gewährleisten und unabhängig von konjunkturellen Marktereignissen agieren zu können. 5 6
https://bayernspd.de/wahlen/, Abgerufen am 22.02.2020 https://assets.website-files.com/5dd11975c5a7ed5dc959fcc2/5e21b7a531a09772483bba0f_Wahlkampfprogramm-FDP-Muenchen.pdf, abgerufen am 22.02.2020 7 https://www.bmi.bund.de/DE/themen/bauen-wohnen/stadt-wohnen/wohnungswirtschaft/wohnungspolitik/wohnungspolitik-node.html;jsessionid=7F47D9FD4B1FC7C5C55D9882321C9FDC.2_ cid287#doc10656232bodyText2 8 vgl. Vogel, Hans Jochen: Mehr Gerechtigkeit! Wir brauchen eine neue Bodenordnung – nur dann wird auch Wohnen wieder bezahlbar, Herder Verlag, 2019, S.2
230
Preissteigerung in %
+ 888%
Anteil der Baulandpreise an den gesamten Baukosten in München
8,00 + 107 %
Preissteigerung in %
7,58
Grundstückspreis Deutschland in €/qm
15,72
15,72
156,63
174,94
1700,00
1876,00
2016
2017
+ 2234 %
Preissteigerung in % Grundstückspreis München in €/qm
79,00
3,00 1950
70,00 1962
1970
„Das bundesweit agierende Mietshäuser Syndikat (MHS), 1992 in Freiburg im Umfeld ehemaliger Hausbesetzer gegründet, ist eine nicht kommerziell organisierte Beteiligungsgesellschaft zum kapitalmarktunabhängigen Erwerb von Häusern. Diese werden in Gemeineigentum überführt, um bezahlbare Wohnungen und Raum für Initiativen zu schaffen. Das MHS versucht, Immobilien gemeinsam mit den Bewohnern zu kaufen und den Wiederverkauf vertraglich auszuschließen. Zurzeit ist das MHS an 63 Hausprojekten mit 1.800 Bewohnern beteiligt – davon 14 in Berlin und Potsdam. Der aktuelle Gesamtwert der Häuser beträgt etwa 75 Millionen Euro bei einer verhältnismäßig geringen Bankverschuldung von etwa 20 Millionen Euro. Das Syndikat will den Ausverkauf der Städte stoppen und bezahlbare Wohn- oder Kulturprojekte dauerhaft erhalten. „Stadt und Wohnraum sind ein Recht für alle“, so das Credo. Alle bestehenden Projekte zahlen in einen Solidarfonds ein, um neue Wohnprojekte zu initiieren.“9 Verdichten ohne soziale Brennpunkte zu schaffen!
1970
2018
Kasernenensemble mit über 200 Bewohnerinnen und Bewohnern.“10 Diese Häuser, gebaut und geplant einst für Generationen, um das Wohnen als Gemeingut festzuschreiben, werden häufig nach vielen Jahren reprivatisiert. Bewohner wandeln sich und der einstige Glaube an das ‚Gemeingut Wohnen‘ verliert sich in den nachrückenden Bewohnern. Mit Zustimmung einer Mehrheit der Mitglieder dieses Vereins oder der Genossenschaft kann das Gebäude gewinnbringend (steigender Marktwert und Bodenpreis) dem Kapitalmarkt zugeführt werden. Dies zu verhindern versucht das ‚Mietshäuser Syndikat‘. Da jeder jeweils eine Stimme und somit Vetorecht gegenüber dem nächsten hat, besteht eine gewisse ‚Gewaltenteilung‘ und kann so auch zukünftig einen Verkauf zur Gewinnmaximierung Einhalt gebieten.
„Das Mietshäuser Syndikat2 erscheint zunächst wie ein Sammelsurium von über 50 sehr verschiedenen Mietshausprojekten, die unregelmäßig über Städte und Dörfer Deutschlands verstreut liegen, von der Polit-WG im Einfamilienhaus zum Seniorinnenwohnprojekt, vom Gewerbebau zum Soziokulturzentrum, vom großen Mietshaus mit Alleinerziehenden, Familien, Wohngemeinschaften, Läden und Werkstätten bis hin zum ehemaligen, ausgebauten 9 Definition auf der Homepage des Berliner Mieterverins; https://www.berliner-mieterverein.de/magazin/online/mm1012/101221.htm 10 ebd. Grafik: Angaben aus Vogel, Hans Jochen: Mehr Gerechtigkeit! Wir brauchen eine neue Bodenordnung – nur dann wird auch Wohnen wieder bezahlbar, Herder Verlag, 2019, S.2, eigene Darstellung
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INITIATIVE MIETENDECKEL BERLINS BÜRGERMEISTER MICHAEL MÜLLER IM GESPRÄCH 1 MIT DER WELT 1.
Welt:„Was machen Sie, wenn der Mietendeckel vor Gericht keinen Bestand hat?“ 16. Dezember 2019 https://www.welt.de/politik/deutschland/article204337978/ Michael-Mueller-Was-machen-Sie-wenn-der-Mietendeckel-vor-Gericht-durchfaellt.html
03
WELT: Ihre Antwort auf die wachsende Wohnungsnot ist der Mietendeckel. Opposition und Wirtschaft laufen Sturm dagegen und wollen vor das Verfassungsgericht ziehen. Was macht Sie so sicher, dass Sie damit durchkommen? Müller: Wer kann schon vor Gericht sicher sein – niemand. Ich glaube, wir haben eine gute Chance. Die sollten wir nutzen. Politik muss auch mal mutig sein und sich etwas zutrauen. Ich ertrage es auch, dass ein Gericht sagt, dass es so nicht geht. Darauf werden wir dann reagieren und einen gangbaren Weg finden. Aber nur zuzugucken aus Angst, etwas falsch zu machen, ist keine verantwortungsvolle Politik. WELT: Bei Bauwirtschaft und Handwerk wirkt der Mietendeckel als Investitionsbremse. Ist Ihnen das egal? Müller: Natürlich ist mir das nicht egal. Und ich bin mit der Wirtschaft im intensiven Gespräch. Aber der Wohnungsbereich ist nur ein kleiner Teil unserer Investitionssumme. Der weitaus größere Teil geht in Schulbau, ÖPNV-Ausbau, Straßenbau, öffentliche Gebäude. Diese Milliarden werden weiter investiert, und das Berliner Handwerk wird davon profitieren. Im Übrigen: Neubauwohnungen sind vom Mietendeckel ohnehin ausgenommen. WELT: Steckt hinter der Reaktion der Wirtschaft also die Furcht vor Sozialismus? Müller: Na ja, das ist jetzt etwas steil formuliert. Aber ich kann bestehende Sorgen natürlich nachvollziehen. Es gibt ja auch das Volksbegehren zu Enteignungen. Das zeigt, dass manche auch bereit sind, weiterzugehen. Mein Weg ist das nicht! Aber vielleicht ist es auch einfach die Sorge, dass der Berliner Mietendeckel bundesweit Schule macht. Die Wirtschaft nimmt wahr, dass es im Bereich Wohnen und Mieten in Zukunft mehr staatliche Eingriffe geben wird – im Interesse der Mieterinnen und Mieter. 1 WELT: Und was, wenn der Mietendeckel vor Gericht keinen Bestand hat? Müller: Wie gesagt, ich glaube, wir haben eine gute Chance, bestätigt zu werden. Es ist ein richtiger und angemessener Weg, rechtzeitig auf die steigenden Mieten zu reagieren. Wenn Sie erst einmal bei 17 Euro pro Quadratmeter angelangt sind, ist es zu spät. Wenn ich mich mit meinen Kollegen in Paris und London unterhalte, sagen die genau das: in der Innenstadt Botschaften, Büros und Leerstand. Da kann sich kein Normalverdiener mehr eine Wohnung leisten. Das will ich für Berlin nicht. Weiter geht es im Interview um das Thema der zukunft Auto in Deutschen Innenstädten. „Die Innenstädte werden für das Auto unattraktiver. Dennoch wird das Auto immer seine Berechtigung behalten. Denken Sie zum Beispiel an den Wirtschaftsverkehr oder die riesigen Flotten der mobilen Pflegedienste. Es geht in der City um einen Mobilitätsmix und eine gute Alternative zum Auto. Dafür will ich den ÖPNV ausbauen: mehr Züge, kürzere Takte und günstige Preise wie das 365-Euro-Jahresticket.“
233
‚RENAISSANCE‘ DER GROSSSTADT „Die kurzen Wege in der Stadt ermöglichen eine effizientere Lebens-
strukturierung, eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie und eine deutliche Erhöhung von Mobilität und Flexibilität. Das Stadtleben bietet auch deutlich mehr Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung und wird der Pluralisierung der Lebensformen und der Diskontinuität der Biografien gerecht.“1
1
Gondring, Hanspeter: Zukunft der Immobilie. Megatrends des 21. Jahrhunderts-Auswirkungen auf die Immobilienwirtschaft. Handbuch für Studium und Praxis, Immobilien Manager Verlag, 2012, S.49
Wie im vorherigen Kapitel beschrieben zeichnet sich seit der Jahrtausendwende eine Renaissance der Großstädte als Wohnort ab. 1 Diese gründet zum einen in der Entstehung neuer Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor, welcher sich in höchster Dichte in urbanen Zentren findet. Gerade der IT Sektor, die Unternehmensberatung und unternehmensbezogene Dienstleistungen wachsen stark an und Fachkräfte ziehen somit aus beruflichen Gründen in die Stadt zurück. Hohe Mieten stellen für diese gut bezahlten Fachkräfte zumeist kein Hindernis dar. Zum anderen lassen der Anstieg der Mobilitätskosten durch erhöhte Benzinkosten, die Reduzierung der Pendlerpauschale aber auch die hohe Zeitverzögerung durch Straßenüberlastungen und Staus das Leben in der Stadt wieder attraktiv erscheinen. Ersparnisse durch stark reduzierte Mobilitätskosten und dem eventuellen Verzicht auf das eigene Auto tragen dem Nachhaltigkeitsmantra unserer Zeit Rechnung und können in sinnvolleres investiert werden. Auch der Zugang zu Bildung stärkt die Renaissance der Städte. Universitäten finden sich vorzugsweise in urbanen Agglomerationsräumen und formen einen Anziehungspunkt für die junge, gebildete Generation. Schließlich wird die Stadt mit ihrer Nähe zu Kultur-, Freizeit- und Gesundheitseinrichtungen vermehrt attraktiv für ältere Menschen. Die ‚noch jungen‘ Alten ziehen heute nicht selten nach Auszug der eigenen Kinder zurück in die Stadt um dort ihren ‚Lebensabend‘ zu genießen. Stadtwohnungen kann sich diese Gruppe häufig leisten, da sie im Schnitt mehr Geld zur Verfügung hat, als es die heute junge Generation künftig haben wird. Das stereotype Bild der Kleinfamilie im Einfamilienhaus mit Garten der 90er Jahre scheint heute überholt, vielmehr scheinen Doppelverdiener, aber auch Alleinerziehende ein funktionierendes soziales Umfeld und ein hochwertiges Angebot an sozialer Infrastruktur in der Stadt zu suchen. Wie es auch Andreas Reckwitz in seinem Buch ‚Kreativität und soziale Praxis, Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie‘ treffend beschreibt: „Die alltagsästhetischen Reize der Urbanität sind für diese Gruppen ebenso von Relevanz wie die erleichterte Organisation eines in starkem Maße auf haushaltsnahe Dienstleistungen angewiesenen Alltags, wie sie für Lebensformen jenseits der klassisch suburbanen Hausfrauenehe, das heißt für Doppelverdiener mit und ohne Familie sowie für Singles wichtig wird. Während Realität und Modell der funktionalen Stadt urbane Verdichtung im Zentrum als Risiko wahrnahmen- als Auslöser sozialer Anomie und metropolitaner Unberechenbarkeit- und entsprechend auf die räumliche Auslagerung von Wohnfunktionen setzte, verlagert sich die kulturorientiere Stadt umgekehrt auf die Verdichtung des räumlichen Zentrums“2. Mit steigendem Zuzug und wachsenden Einwohnerzahlen zeigen sich gleichsam die Grenzen der Suburbanisierung.3 1 2 3 4 5
Stetiges Auffüllen der ‚Restflächen‘ in weniger dicht besiedelten Arealen abseits von Industriegebieten führt zu einem immer stärkeren Übergriff urbaner Lebensformen auf das Land. Gentrifizierung und Mietanstieg fördern die Segregation nach kulturellen und ethnischen Zugehörigkeiten und Schichten stetig. Die steigenden Bodenpreise verstärken diesen Trend weiter und verursachen Funktionsentmischung oder Verlagerungen in (noch) günstigere Lagen. Langfristig könnten diese Entwicklungen zu einer Entleerung der Innenstädte führen. Dieser Trend tritt in einigen deutschen bereits merklich zu tage, wie es in der medialen Berichterstattung thematisiert wird: „Neues Leben in Alt-Berlin - Wiederbelebung der Altstadt am Beispiel Molkenmarkt und Klosterviertel“, Juni, 2017 „Neue Ideen zur Wiederbelebung der Altstadt: Initiative will den historischen Kern zu einem attraktiven Wohnquartier entwickeln – mit Boulevards und einem Steg über dem Nikolaifleet“ Hamburger Abendblatt, Oktober, 2017 „Duisburg: Zur Belebung der Altstadt: jetzt gibt es bald eine „Markthalle“, Der Westen, Februar, 2018 Funktionale Mischung findet sich folglich nicht mehr primär im historischen Stadtkern, sondern verlagert sich in diverse Viertel, um dort ein eigenes Zentrum, mit eigener Identität auszubilden. Dies Vielfalt macht die Stadt als Wohnstandort für viele Bevölkerungsgruppen zusätzlich interessant und wirkt sich folglich auch positiv auf das Image einer Stadt aus. Gleichzeitig werden diejenigen, die finanziell nicht ‚mithalten‘ können gezwungen, die Ränder der Stadt zu bewohnen und so rückt der Charakter städtischen Lebens in weite ferne und dies zumeist nicht nur räumlich. 4
„...Wenn also die Stadt von einem Ort der Integration zu einem Ort der Ausgrenzung wird, dann wird das die Zukunftsfähigkeit nicht nur der Städte, sondern der ganzen Gesellschaft infrage stellen.“5
vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Gesucht Gefunden: Alte und neue Wohnungsfrage, Bonn, 2019, S.89f. Reckwitz, Andreas: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Transcript Verlag, 2016, S. 172 vgl. Lange, Bastian; Prasenec, Gottfried; Saiko, Harald: Ortsentwürfe. Urbanität im 21. Jahrhundert, Jovis Verlag 2013, S.28 vgl Kapitel: Die Stadt 2020 Walter Siebel, in: Siebel, Walter: Die Zukunft der Städte. in: Konstruktiv 284, bAIK, 12/2011, Wien; in: Lange, Bastian; Prasenec, Gottfried; Saiko, Harald: Ortsentwürfe. Urbanität im 21. Jahrhundert, Jovis Verlag 2013, S. 180
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POLARITÄT ÖFFENTLICHER RAUM
01 DEFINITION ÖFFENTLICHER RAUM 02 DER WANDEL DES ÖFFENTLICHEN RAUMS 03 PRIVATISIERUNG UND KOMMERZIALISIERUNG 236
Nicht nur die Stadt als Ganzes gewann in den vergangen Jahren an Bedeutung, sondern mit ihr auch der öffentliche Raum. Als Ort der Kommunikation und Begegnung, aber auch als Schauplatz öffentlicher Aushandlungsprozesse, Protest und Widerstand gewinnt er zunehmend an Relevanz. 1 Dies spiegelt sich auf politischer Bundes- und Kommunalebene in Programmen zur Aufwertung öffentlicher Räume wieder. Das Bundesministerium für Bau und Heimat imitierte beispielsweise das Programm „Aktive Stadt- und Ortsteilzentren“, welches den Fokus im Rahmen der „Sozialen Stadt“ auf die qualitative Aufwertung von Quartiersplätzen legte. 2 In den vergangenen Jahren wurden in Braunschweig zwölf Plätze neu gestaltet, in Leipzig waren es 20 und in Hannover konnte die Revitalisierung von 35 öffentlichen Plätzen verzeichnet werden.
02
Wie aber kam es zu diesem Bedeutungswandel des öffentlichen Raumes? Auch nach dem zweiten Weltkrieg konnte ein Wandel des öffentlichen Raumes verzeichnet werden, wie es Hans-Paul Bahrdt 1974 in seiner Publikation „Die moderne Großstadt“ thematisierte: “Noch folgenschwerer ist aber der Funktionswandel der Straßen und Plätze. Diese bildeten früher den Raum der Öffentlichkeit, d.h. den Ort, an dem das Kollektiv der Bürger sich selbst begegnete. Diese Begegnung setzt aber bei aller Flüchtigkeit der öffentlichen Kontakte eine gewisse Gelassenheit des Gehens und die Möglichkeit des Verweilens voraus. Die Straßen von heute dagegen haben sich in ein Röhrensystem verwandelt, das lediglich den technischen Funktionen des Verkehrs dient.3 Weiter führte er aus, “sollen Straßen und Plätze öffentlicher Raum sein, d.h. soll sich auf ihnen die Gesellschaft selbst darstellen, so müssen sie eine Vielzahl von Funktionen aufnehmen. Man darf die Menschen, die sich in der Öffentlichkeit ergehen, nicht zu einem ihnen unangemessenen spezialistischen Gehabe zwingen. ”4 Vergleicht man den öffentlichen Raum unserer Zeit mit den Feststellungen, welche Bahrdt vor mehr als 30 Jahren niederschrieb, zeigen sich viele Parallelen. Der verkehrsgerechte Straßenausbau der Nachkriegsjahre und der damit einhergehende Anstieg des Individualverkehrs ist bis heute weiter angestiegen. Lärm- und Abgasbelastungen haben in vielen Städten zu einer gravierenden Minderung der Aufenthalts- und Luftqualität geführt.5 Mit Ausnahme von verkehrsberuhigten Wohnbereichen und der -zumeist stark überfüllten- Fußgängerzonen ist eine „Gelassenheit des Gehens und die Möglichkeit des Verweilens“6selten auffindbar. Hoch frequentierte Straßen und die hohe Raumbeanspruchung durch den ruhenden Individualverkehr lässt anderen Nutzungen im öffentlichen Raum kaum Platz. Die Nutzungsvielfalt, welche Bahrdt als maßgeblich für den öffentlichen Raum benennt, hat gerade in Städten wie München oder Berlin mit steigenden Bodenpreisen abgenommen. 7 Gleichzeitig stieg die Wohnfläche pro Kopf in den vergangen Jahren immer 1 2 3 4 5
6 7
vgl. Böttger, Matthias; Carsten, Stefan; Engel, Ludwig (Hg.):Spekulation Transformation. Überlegungen zur Zukunft von Deutschlands Städten und Regionen, Lars Müller Publishers, 2016, S.234 vgl. Hoff, Sebastian: Auf die Plätze: Öffentlicher Raum gewinnt zunehmend an Bedeutung, in: Reaktionsnetzwerk Deutschland, 10. September 2019 Bahrdt, Hans-Paul: Die moderne Großstadt”,3. Aufl. 1974, S. 125 ebd. S. 149 bsp. Feinstaubalarm Stuttgart: „Ziel ist es, die Lebensqualität in Stuttgart zu verbessern. Das heißt: weniger Lärm, weniger Staus, weniger Stress und vor allem weniger Schadstoffe in der Luft.“ https:// www.stuttgart.de/feinstaubalarm/ Bahrdt, Hans-Paul: Die moderne Großstadt”,3. Aufl. 1974, S. 125 Main Post: Ladensterben durch hohe Mieten, 11. November 2019 https://www.mainpost.de/ueberregional/wirtschaft/uebersicht/Ladensterben-durch-hohe-Mieten;art508804,10349066
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weiter an. Dies hatte zur Folge, dass die Zahl der Akteure im öffentlichen Raum sank. Dienstleistungen und Einzelhandel konzentrieren sich immer stärker an einzelnen Standorten, welche wie beispielsweise die Haupteinkaufsstraße durch ihren großen Einzugsbereich gesamtstädtischer, regionalen und touristischen Passanten profitieren. Anderenorts wandeln sich ehemals lebendige Stadtviertel zu monofunktionalen Wohnquartieren, in denen das Highlight auf dem Weg von der U-Bahn Haltestelle zur Wohnungstür das Postamt oder die ‚Kneipe‘ am Eck darstellt. 8 Der öffentliche Raum stellt aber auch einen Ort der politischen Repräsentation und Demonstration dar. Im Zeichen maximalen Profites werden immer häufiger öffentliche Flächen privatisiert und so der Möglichkeit politischer Demonstration entzogen, wie am Beispiel Berlin sichtbar. „Das neu entstandene Stadtzentrum Berlins, der Potsdamer Platz, ist ein privatwirtschaftlich betriebener Stadtraum, der den Namen der Investoren trägt: Quartier Daimler Chrysler und Sony City. Geprägt ist der neue Stadtmittelpunkt von Shopping und Entertainment – ein Verwertungsraum, der kaum Spielräume gesellschaftlichen Handelns wie politisches Demonstrieren zulässt.“9 Öffentliche Räume wandern somit von der öffentlichen Hand zu einem privaten Eigentümer, welcher fortan über Zugangs - und Nutzungsrecht verfügt. Folglich wird die Zugänglichkeit auf gewisse Gruppen beschränkt und der öffentliche Raum, „ein allgemein zugänglicher Bereich, in dem Menschen ohne Beschränkungen ein und aus gehen“10, verliert seinen Charakter. Auf ehemaligen öffentlichen oder unbebauten, frei zugänglichen Gebieten entstehen Luxuswohnungen, welche sich ähnlich der ‚Gated Communitys‘ im städtischen Gefüge artikulieren. Ganz ohne physische Begrenzung und Barriere vermitteln sie durch ihre Erscheinung Grenzen. Cordelia Polinna beschrieb diese Phänomen ihn ihrem Beitrag „Konstitution des öffentlichen Raums“ in der Publikation „Dempolis: Das Recht auf öffentlichen Raum“ wie folgt: „Was wir in vielen Teilen der Welt sehen ist eine groteske Privatisierung des öffentlichen Raums. Die Plätze werden verkauft, weil diese Grundstücke oft sehr beliebt sind, oder sie werden von kommerziellen Entwicklungen eingenommen. Es ist sehr einfach für eine Stadt, arme Menschen oder Migranten aus dem öffentlichen Raum auszuschließen.“11 Wenn allerdings Sondernutzungserlaubnisse Flächen für Straßencafés, Bars oder Biergärten ausschreiben bringt dies häufig eine positive Belebung des Stadtraums mit sich. Allerdings werden somit Flächen, welche vormals zur freien Verfügung und Aneignung genutzt werden konnten, auf einen deutlich kleineren Nutzerkreis, den der zahlenden 8
Kunden, reduziert. Zumeist werden spezielle Gruppen wie Obdachlose, Bettler, Straßenmusiker oder lautstarke Jugendliche damit durch Verweilverbote verdrängt. Diese Kommerzialisierung, Reduzierung und Einhegungen des öffentlichen Raumes scheinen das Bewusstsein der Stadtbürger über die Relevanz dieser städtischen Begegnungsräume zu stärken. Als Bühne des öffentlichen Lebens, der Meinungen und der Diversität wird er aktuell weltweit zu einem Schauplatz gemeinschaftlicher Interessen. Demonstrationen und Besetzungen wie beispielsweise in Hongkong oder Chile spiegeln kollektive Haltungen und Interessen gegenüber bestehenden Systemen wieder. Auf individueller Ebene wird er gerade im Sommer zum zweiten Zuhause. Die Zunahme der Singlehaushalte, flexible Arbeitszeiten und Orte führen zu einem veränderten Freizeitverhalten und so häufig zum Bedürfnis erhöhten Aufenthaltes im öffentlichen Raum. Auch der Anstieg kollektiver Aktionen, Initiativen und Subkulturen sucht seine Bühne zumeist im öffentlichen Raum. 12 Steigende Mobilität lässt den öffentlichen Stadtraum immer stärker auch zu einer Bühne für den Stadttourismus werden. 13 Der öffentliche Raum gestaltet sich also durch die Art der Nutzung, den Nutzerkreis und die je spezifische Aneignung dieser. Als ‚Bühne‘ des städtischen Lebens und Aktionsraum verändert er sich folglich periodisch. Dass diese Vielfalt essenziell für die Identität eines Raumes, aber auch der Stadt ist, war Anlass für die Podiumsdiskussion im März 2017 über die Zukunft der Alten Akademie in der Münchner Einkaufsmeile. Mit dem Titel : „Alte Akademie: Kommerzialisierung des öffentlichen Raums und Verlust städtischer Identität“ wurde über die Reduzierung des öffentlichen Raumes, der Kapellenstraße und der Neuhauserstraße zugewandten Arkadenflächen aufgrund des Umbaus diskutiert. Das Münchner Forum kritisierte wie folgt: „Am Beispiel der Alten Akademie spitzt sich ein Konflikt zu: Der immer dominantere Anspruch der Investoren auf Ausweitung von Handels- und Gewerbeflächen und maximale Immobilienverwertung beschädigt zunehmend die Qualität der Innenstadt als Identifikationsort, auf die nicht nur die Bewohner und Besucher der Innenstadt, sondern vor allem auch der Handel setze.“14 Das vermehrte Interesse am öffentlichen Raum lässt sich folglich durch die Divergenz aus steigender Privatisierung und Kommerzialisierung auf der einen Seite und dem wachsenden Wunsch nach Partizipation, Aneignung und Repräsentation der Stadtbewohner im öffentlichen Raum beschreiben.
vgl. Sperle, Tilman: Was kommt nach dem Handel? Umnutzung von Einzelhandelsflächen und deren Beitrag zur Stadtentwicklung, Städtebau-Institut der Universität Stuttgart, 2012, S. 8ff. 9 vgl. Brendgens, Guido: Vom Verlust des öffentlichen Raums: Simulierte Öffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus, in: Zeitschrift Utopie Kreativ, Heft 182, Dezember 2005, S. 1088 10 ebd. 11 Amin, Ash: Öffentlicher Raum: Guerillabewegungen können ein Funke sein, in: Die Presse, Katrin Nussmayr, 05.08.2014 12 vgl. Kapitel: Die Stadt 2020 13 Polinna, Cordelia: Konstitution des Öffentlichen Raums, in: dempolis: Das Recht auf öffentlichen Raum S. 22 14 https://muenchner-forum.de/veranstaltung/alte-akademie-kommerzialisierung-des-oeffentlichen-raums-und-verlust-staedtischer-identitaet/
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PRIVATISIERUNG IM ÖFFENTLICHEN RAUM BEZIEHT SICH IMMER GLEICHZEITIG AUF EINE GRENZ ZIEHUNG IM KLASSISCHEN SINN: VON OFFENER ODER GESCHLOSSENER ARCHITEKTUR. ABER VOR ALLEM UM SOZIALE GRENZEN.
DIE STADT 2020
NACHHALTIGKEIT UND ‚CREATIVE CITIES‘
/ gie olo lt Ök mwe U
Ök o W nom irts ch ie/ aft
Kultur/ Bildung
Soziales/ Gesellschaft
01
„Kultur und Bildung werden künftig bestimmen, wie behutsamer Umgang mit der Natur, sparsamer Umgang mit den Ressourcen, aber auch die Rücksicht auf Mitmenschen und Vorsorge für die Zukunft verstanden werden.“ [Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags, 1998]
01 DEFINITION NACHHALTIGE STADTENTWICKLUNG 02 LEITBILD DER ‚NACHHALTIGEN STADTENTWICKLUNG 03 DIE KULTURISIERUNG DER STADT ‚CREATIVE CITY‘
Der Begriff der Nachhaltigkeit fand zum ersten mal umfangreiche Beachtung durch den 1972 veröffentlichten Bericht des ‚Club of Rome‘ mit dem Titel ‚The Limits of Growth‘. Dieser prognostizierte bei anhaltendem Bevölkerungswachstum, Ressourcenausbeutung und Umweltverschmutzung einen Umwelt- und Wirtschaftskollaps binnen 100 Jahren. Das Verständnis der Nachhaltigkeit wurde 1987 durch die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen, die ‚Brundtland- Kommission‘, aus einer Verknüpfung dreier Dimensionen,der Ökonomie, der Ökologie und der Sozialen erweitert. Dieser Ansatz wurde erstmals von Elkington 1994 in einem Dreisäulenmodell veranschaulicht. 1 Diese stehen in gegenseitiger Abhängigkeit und sollten stets in einem ausgewogenen Gleichgewicht stehen. Ziel der ökologischen Dimension ist ein schonender Umgang mit den natürlichen Ressourcen, der Erhalt von Natur und Umwelt, für heutige und zukünftige Generationen. Die ökononomische Dimension zielt zum einen auf die Wohlfahrtsoptimierung des Individuums und der Gesellschaft ab und zum anderen auf eine Kontrolle der Produktion. Die letzte Säule definiert die soziale Komponente, wobei der Fokus auf der Bereitstellung sozialer Grundgüter wie Gesundheit, Grundlebensmittel und Wohnraum liegt. Dieses Dreieck wurde von der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages um eine vierte Komponente, die der Kultur und Bildung, erweitert. „Kultur und Bildung werden künftig bestimmen, wie behutsamer Umgang mit der Natur, sparsamer Umgang mit den Ressourcen, aber auch die Rücksicht auf Mitmenschen und Vorsorge für die Zukunft verstanden werden.“2 War die Debatte um die Nachhaltigkeit bis Mitte der 1990er Jahre primär von der Avantgarde geführt, hat sich gerade in den letzten Jahren die Nachhaltigkeitsthematik immer stärker in unserer gesamten Gesellschaft etabliert. Der 1972 von Dennis und Donella Meadows veröffentlichte Bericht ‚The Limits of Growth‘ zu der vom Massachusetts Institute of Technology durchgeführten Studie für den Club of Rome wurde so zum Gründungsdokument der Umweltbewegung. Seit den 1990er Jahren beschäftigten sich schließlich auch viele Studien im Bereich der Architektur und des Städtebaus mit der Frage nach eigenen Handlungsfeldern in der Nachhaltigkeitsdebatte. Unter anderem entstanden hierbei Studien wie das ‚Nationalprogramm für nachhaltigen Konsum. Gesellschaftlicher Wandel durch einen nachhaltigen Lebensstil‘ des Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit‚ ‚Nachhaltiges Bauen und Wohnen‘ des Umweltbundesamt und ‚der Umzug der Menschheit: Die Transformative Kraft der Städte‘ des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen. Das Leitbild der ‚Nachhaltigen Stadtentwicklung‘ avancierte zum Hauptthema internationaler Städtebautagungen und wurde sowohl in der Konferenz der Vereinten Nationen, Habitat III 2016, als auch in der Charta von Leipzig 2007 niedergeschrieben. Der Leitbegriff der nachhaltigen Stadtentwicklung sollte flexibel auf die negativen Folgen räumlicher Entwicklungstrends reagieren, die sich in den Kernpunkten zunehmende, Siedlungsdruck im Umland, anhaltende Entmi1 2
vgl. Gondring, Hanspeter: Zukunft der Immobilie. Megatrends des 21. Jahrhunderts-Auswirkungen auf die Immobilienwirtschaft. Handbuch für Studium und Praxis, Immobilien Manager Verlag, 2012, S.38 Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags, 1998, S.225, zit.n.: Gondring, Hanspeter: Zukunft der Immobilie. Megatrends des 21. Jahrhunderts-Auswirkungen auf die Immobilienwirtschaft. Handbuch für Studium und Praxis, Immobilien Manager Verlag, 2012,S. 39
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schungsprozessen in den Städten und steigendem Verkehrsaufkommenaufsummieren lassen. Sollten diese Tendenzen weiter voranschreiten hat dies schwerwiegende Folgen für die Umwelt: weitere Flächeninanspruchnahme und der Rückgang naturnaher Flächen würden fortschreiten, der Anteil an versiegelten Flächen sowie die Zersiedelung des Umlands würden mit ökologisch gravierenden Konsequenzen nicht ab, sondern zunehmen,verkehrsbedingte Emissionen und Lärmbelastungen künftig ansteigen und der Verbrauch nicht erneuerbarer Energiequellen weiter die primäre Quelle bilden. Leitbegriffe wie Dichte, Mischung und nachhaltiger Umgang mit Ressourcen sollten diesen ‚Negativtrends‘ entgegenwirken. Die Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung, kurz BfLR, fasste dies konkret mit der Forderung nach sparsamem Umgang mit Energie, die Reduzierung von Wasserverbrauch und Abwasser, die Vermeidung und Verminderung von Abfall, die Verbesserung des Stadtklimas, die Verwendung umweltfreundlicher und ressourcenschonender Baustoffe, die Wiedernutzung innerstädtischer Brach- und Konversionsflächen und der sparsame Umgang mit Grund und Boden durch Verdichtung und Nutzungsmischung zusammen.3 Dabei werden die drei Komponenten Soziales, Ökonomie und Ökologie in Abhängigkeit voneinander betrachtet und formen so gemeinsam das Bild der nachhaltigen Stadtentwicklung. Diese sollen nun anhand des Berichts „Nachhaltige Stadtentwicklung ein Gemeinschaftswerk“ der Bundesregierung von 2004 in aller Kürze durch Textauszüge erläutert werden. Im Leitbild der ‚nachhaltigen Stadtentwicklung‘ fordert die soziale Komponente dabei soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit sowie gleiche Zugangsmöglichkeiten, Stabilität und Heterogenität in den Stadtvierteln: „Es gilt, die städtischen Lebenswelten nachhaltig zu sichern und allen sozialen Gruppen, die ausgegrenzt oder von Ausgrenzung bedroht sind, Chancen für ökonomische, soziale und kulturelle Integration zu geben.“4 „Diese soziale Ungleichheit tritt räumlich differenziert in Erscheinung. Je nach Wohnwert und Lebensqualität, Mietniveau, Milieu und Image zerfallen die Städte zunehmend in Quartiere, in denen einkommensschwache und in schwieriger sozialer Situation lebende Haushalte konzentriert sind, und in privilegierte Stadtteile.[...]In sozialer Hinsicht, wenn durch soziale Isolation und das Leben in einem geschlossenen Milieu die Brücken zur normalen Gesellschaft verloren gegangen sind. Kinder und Jugendliche entwickeln eine ab3 4 5 6
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weichende Kultur, da sie in einem Umfeld mit nur wenigen positiven Vorbildern und Repräsentanten eines normalen Lebens den Sinn von Schule, Ausbildung und Beruf nicht mehr ausreichend vermittelt bekommen “5 Die ökologische Komponente definiert sich primär durch umweltfreundliche Mobilität und den nachhaltigen Umgang mit der Bodenressource: „Der Erhalt und zukunftsgerechte Ausbau der städtischen Infrastruktur ist ein zentraler Faktor, um Wirtschaft und Beschäftigung zu sichern. [...] Durch Steuerung der Siedlungstätigkeit und eine günstigere Zuordnung der verschiedenen Nutzungen sind Voraussetzungen zu schaffen, die den Verkehr prinzipiell vermeiden oder die Wege verkürzen. Darüber hinaus bedarf es einer Blickerweiterung, die über bestimmte Hauptverkehrsmittel hinausgeht. Alle Mobilitätsformen und Fortbewegungsarten und hierzu gehören vor allem Fahrradfahren und zu Fuß gehen sowie die Wechselwirkungen zwischen Verkehrsangebot und den Mobilitätsansprüchen aller Altersgruppen müssen einbezogen werden. [...] Fußgänger sind die wichtigsten Teilnehmer am Stadtverkehr. Ihre Anforderungen müssen Maßstab für die Gestaltung der Wege und Plätze einer Stadt sein. “6 Die Ökonomie setzt vor allem auf die Stärkung regionaler Wertschöpfungsketten, den Einzelhandel in seiner Vielfalt zu erhalten und zentrale Versorgungsbereiche zu stärken: Die Entwicklung der Städte und Gemeinden ist eng verknüpft mit der Situation des Handels. Städte ohne einen funktionierenden Handel sind ebenso undenkbar wie ein Handel ohne Städte mit einer entsprechenden Wohn- und Lebensqualität und der notwendigen Infrastruktur. Auch wenn Städte mehr sind als Handelszentren, sondern zugleich Dienstleistungs-, Kultur- und Freizeitstätten, so wächst die Anziehungskraft der Stadt mit der Attraktivität als Einkaufsstandort. Der Einzelhandel bildet den Anziehungspunkt der Innenstädte und Stadtteilzentren, die zu stärken sind.
02
Deutlicher werden die Forderungen einer ‚nachhaltigen Stadtentwicklung‘ in konkreten Handlungsvorschlägen bzw. Feldern wie sie von der Konrad Adenauer Stiftung, dem
vgl.: ZHU, Miaomiao : Kontinuität und Wandel städtebaulicher Leitbilder. Von der Moderne zur Nachhaltigkeit. Aufgezeigt am Beispiel Freiburg und Shanghai, Dissertation, TU Darmstadt, 2007, S. 83f Nachhaltige Stadtentwicklung ein Gemeinschaftswerk: Städtebaulicher Bericht der Bundesregierung 2004, S. 11 Nachhaltige Stadtentwicklung ein Gemeinschaftswerk: Städtebaulicher Bericht der Bundesregierung 2004, S. 18 ebd. S. IV
Netzwerk Innenstadt Nordrhein-Westfalen7 und der Konferenz der vereinten Nationen Habitat 3 verfasst wurden.
Die Konrad Adenauer Stiftung „Handlungsfelder nachhaltiger Stadtentwicklung“
1. Reduzierung des Zuwachses an bebauter Siedlungsfläche, Wiedernutzung von städtebaulichen Brachen und leerstehenden Gebäuden und Reduzierung der Bodenversiegelung 2. Energieeinsparung und Ausweitung des Anteils regenerativer Energien und Stärkung von Stoffkreisläufen 3. Anbindung von Wohngebieten und Arbeitsstätten an ÖPNV und Erhöhung der Aufenthaltsqualität für Fußgänger/-innen in der Stadt 4. Ressourcenschonender, kostenreduzierter Wohnungsbau und Förderung nachbarschaftlicher Selbsthilfe 5. Sicherung innerstädtischer Wirtschaftsstandorte, Schaffung wohngebietsverträglicher Arbeitsplätze und Stärkung und Entwicklung innerstädtischer Zentren8
Zehn Positionen des Netzwerk Innenstadt Nordrhein- Westfalen
1. Integrierte Stadtentwicklung und gezielte Innenstadtentwicklung - sind ohne strategische und nachhaltige Wohnraumentwicklungskonzepte nicht denkbar. 2. Innen- vor Außenentwicklung - bestandsorientierte Siedlungsentwicklung hat Vorrang, denn die Flächeninanspruchnahme muss reduziert und bestehende Infrastrukturen effizient genutzt werden. Eine wichtige Grundlage für die bestandsorientierte Siedlungsentwicklung ist die Sicherstellung der Nahversorgung in innerstädtischen Quartieren. 3. Neues innerstädtisches Wohnen - ist nicht nur ergänzend zu den anderen überwiegen- den Nutzungen der Innenstädte zu sehen, sondern weiterzuentwickeln. Die Auseinandersetzung mit den heutigen Lebensstilen ist Voraussetzung, um neue Ansätze und Wohnformen zu fördern und das Image der Stadt zu fördern. 4. Innerstädtische Heterogenität – heißt für das innerstädtische Wohnen soziale Mischung der Bewohnerschaft. Grundsätzlich sind verschiedene innerstädtische Wohnraumangebote und -typen für unterschiedliche Ziel- und Einkommensgruppen zu erhalten und zu schaffen, soweit wie möglich Monostrukturen aufzubrechen und einer Segregation entgegenzuwirken. 5. Flächensparend, energieeffizient und bewohnerorientiert – sind die Maßstäbe für die innerstädtische kompakte Bauweise und die Modernisierung von
7
8
„Das Netzwerk Innenstadt NRW ist als freiwillige Arbeitsgemeinschaft von nordrhein-westfälischen Städten und Gemeinden 2008 ins Leben gerufen worden. Es ist für alle Kommunen des Landes Nordrhein-Westfalen offen. Die Geschäftsstelle mit Sitz in Münster steht als Dienstleister für die Steuerung des Netzwerks an der Schnittstelle zwischen den Mitgliedern, dem Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen sowie allen Kommunen und institutionellen Innenstadtakteuren in Nordrhein-Westfalen.“https://www.innenstadt-nrw.de/netzwerk/kurzportraet Walcha, Henning: Materialien für die Arbeit vor Ort, Nr. 11, Nachhaltige Stadtentwicklung, Konrad Adenauer Stiftung, 2018, S. 8
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Habitat III
Wohngebäuden.9 11. Wir teilen eine Vision der „Städte für alle“, nach der alle Bewohnerinnen und Bewohner von Städten und menschlichen Siedlungen diese gleichberechtigt nutzen und genießen und die das Ziel verfolgt, Inklusivität zu fördern und sicherzustellen, dass alle Bewohnerinnen und Bewohner, heute und in der Zukunft, ohne jede Diskriminierung gerechte, sichere, gesunde, frei zugängliche, erschwingliche, resiliente und nachhaltige Städte und menschliche Siedlungen bewohnen und schaffen können, um Wohlstand und Lebensqualität für alle zu fördern.10 13. Die Städte und menschlichen Siedlungen, die unserer Vision entsprechen, (b) sind partizipativ, fördern bürgerschaftliches Engagement, erzeugen ein Gefühl der Zugehörigkeit und Eigenverantwortung unter allen ihren Bewohnern, priorisieren die Bereitstellung sicherer, inklusiver, frei zugänglicher, grüner und familienfreundlicher öffentlicher Räume von hoher Qualität, verstärken gesellschaftliche und generationenübergreifende Interaktionen, kulturelle Ausdrucksformen und politische Partizipation, soweit angemessen, und fördern sozialen Zusammenhalt, Inklusion und Sicherheit in friedlichen und pluralistischen Gesellschaften In den Kernaussagen dieser drei Beispiele gleichen sich die Forderungen einen nachhaltige Stadtentwicklung in vier Themenfelder an: 1. Soziale Gerechtigkeit und Zugangschancen durch heterogene Stadtquartiere und funktionale Durchmischung 2. Nachhaltiger Umgang mit dem Gut des Bodens durch Nachverdichtung anstelle weiterer Suburbanisierung durch Um-oder Mehrfachnutzung. 3. Um so tägliche Mobilität zu verringern. Die Stadt der kurzen Wege, der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und die Qualitätssteigerung der Radund Fußgängerwege sollen den motorisierten Individualverkehr zukünftig verringern. 4. Im Sinne einer ökonomischen Nachhaltigkeit sollen regionale Wertschöpfungsketten, innerstädtische Wirtschaftsstandorte und kreative Milieus (Creative City) gefördert werden.
03
Neben dem Entwicklungstrend europäischer Großstädte hin zur Nachhaltigkeit zeichnet sich seit den 1990er eine völlig andere Richtung ab, die der ‚Creative Cities‘. Städte wie Barcelona, Brüssel oder Amsterdam gewinnen durch ihre kreativen Stadtviertel zunehmend an Bekanntheit und Beliebtheit. Die Kulturindustrie, welche sich auch in einer neuen Ästhetisierung städtischer Architektur wie beispielsweise Bilbaos Museumsviertel oder Oslos Opernhaus äußert, rückt immer mehr ins Zentrum des Stadtmarketings.11 Kultur und Kreativität wer9
Netzwerk Innenstadt NRW (Hg.): Wohnstandort Innenstadt: Hintergründe, Anforderungen, Positionen des Netzwerk Innenstadt NRW, 2015, S.9 10 United Nations (Hg.): Habitat III, Neue Urbane Agenda, 2016, S. 8 11 vgl. Reckwitz, Andreas: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Transcript Verlag, 2016, S. 155
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den so zu Leitfunktionen der modernen Stadt. Die ‚Kreativierung‘ der Stadt führt aber gleichzeitig zu einer Verstärkung sozialer Ungleichheit in stadträumlicher Verteilung. Dies, so beschreibt Reckwitz es in seinem Buch „Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie“, gründet in einer Doppelstruktur, bestehend aus „postmoderner Urbanität von Oberfläche und Tiefenstruktur: An der sichtbaren Oberfläche findet sich die urbane Zelebrierung der ästhetischen Zeichen und Symbole, in der Tiefenstruktur hingegen jener Kapitalismus, der sich in der Postmoderne der Dimension symbolischer Waren bedient, der tatsächlich aber eine massive stadträumliche Segregation unterschiedlicher Klassen fördert.“12 Die Selbstkulturisierung der Städte 13wird durch ihre ‚dominanten‘ Bewohner (zumeist die postmaterialistische Mittel- und Oberschicht sowie ästhetisierende Subkulturen), politische Instanzen, ökonomische Organisationen und mediale Inszenatoren hervorgebracht und somit von einem relativ geringen Bevölkerungsanteil getragen. Das ‚Kreative‘ manifestiert sich allerdings nicht nur in einer Neudefinition des Stadtmarketings, sondern hält vielmehr Einzug in diverse Lebensbereiche. Von der Erziehung der jungen Generation zur Kreativität, zum kreativen Unternehmen (Organisationsberatung) hin zum Berufsbild, welches mit einem eigenen Lebensstil verknüpft ist, dem des kreativen Individuums.14 Hierbei wird die Problematik deutlich: Wer den Kreativitätszug verpasst, wird überholt, zurückgelassen und schließlich ausgeschlossen, denn sie bildet heutzutage den Ausgangspunkt eines normativen gesellschaftlichen Programms. Kreativisierung und Kulturisierung mannifestieren sich zudem in der Konsumkultur unserer Zeit. War die moderne Industriegesellschaft geprägt durch den Massenkonsum standardisierter Massenprodukte, welche zumeist in groß angelegten Shoppingmalls zu finden waren, zeichnet sich die spätmoderne durch die Vorliebe nach dem Singulären aus. Die ‚experience economy‘ verlangt nicht länger nach ‚Allzweck- Warenhäusern‘, sondern vielmehr nach Spezialitätengeschäften mit unterschiedlichem Warenangebot, welches wiederum auf unterschiedliche Publika zugeschnitten ist. 15 Die Konsumentenkultur, welche nach Reckwitz ein Merkmal der (städtischen) Selbstkulurisierung bildet16, mannifestiert sich in steigendem Individualismus, welcher wiederum zu einem neuen Bild des Konsums, dem ‚Nischenkonsum‘ überleitet. Räumlich findet sich dieser vorzugsweise in enger Verknüpfung mit erlebnisorientierten Dienstleistungen wie Gastronomie oder Kultureinrichtungen, welche expemplarisch für die allgegenwärtige Musealisierung und Eventifizierung der Hochkultur stehen.17 Essenziell jedoch für das Image der ‚Creative City‘ sind schlussendlich die Kreativen. Der US-amerikanische Ökonom Richard Florida formulierte mit seinem 2002 veröffentlichten Buch „The Rise of the Creative Class“ die Wirtschaftstheorie, dass eben diese ‚Creative Class‘ mit ihren Innovationen maßgeblich zum ökonomischen Wachstum einer Stadt beitragen. Diese Gruppe, so Florida, lasse sich nicht zwingend am Standort ihrer Jobs nieder, sondern bringe die Arbeit vielmehr in die von ihnen favorisierten Städte mit. Weiter hebt er bei der Standortwahl Faktoren wie individuelle Entfaltungsmöglich-
12 Reckwitz, Andreas: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Transcript Verlag, 2016, S. 156 13 vgl. ebd. S. 157ff. 14 vgl. ebd. S. 158 15 vgl.ebd. S. 176 16 vgl. ebd. S.157 17 vgl. ebd., S.177
„Die Normalisierung der Kreativität als ein allgemein erstrebenswertes Ziel für jeden und in jedem Bereich und schließlich auch für kollektive Instanzen wie ganze Städte, Betriebe, Schulen etc.“1
1
Reckwitz, Andreas: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Transcript Verlag, 2016, S. 159
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[...] DAS GOOGLEPLEX BEFINDET SICH IN DER STADT, GEHÖRT JEDOCH NICHT DAZU.1
keiten, Toleranz und ein attraktives Kultur- und Freizeitangebot hervor.18 Um im Wettbewerb der Städte mithalten zu können ist es also ausschlaggebend, ein attraktives Umfeld für diese ‚Creative Class‘ zu schaffen. Ihr Ansiedlung ist nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll, sondern schafft gleichsam eine weiter ‚Kulturisierung‘ des städtischen Images und lockt nicht nur weitere Kreative an, sonder vor allem auch Zahlungsfreudige Investoren. Ähnlich dem Gentrifizierungsprozess wandelt sich häufig mit wachsendem Interesse zahlungsfreudiger das Bild der jeweiligen Städte oder Viertel. „Private Leidenschaften, Workoholismus und Multimedialität verschwimmen in den Raumkonzepten unserer Cafés, Arbeitsplätze und Home Offices, die einst Wohnung hießen. Bürotürme bekommen Fitness- und Wellness-Etagen, Fitnessstudios richten in der Lobby helle Cafés mit drahtlosem Internet ein. Die Stadtwohnung ist Teil der Work-Life-Balance-Leidenschaft: Genau das ist das Versprechen, mit dem die Innenstädte der großen Metropolen die hochflexiblen Gutverdiener der Creative class anlocken. Aufgerüstet mit Überwachungskameras, befreit von Junkies, Obdachlosen, Trinkern und Prostituierten sollen die Szeneviertel allen Ansprüchen der `neuen Urbanisten`genügen: Sie sollen gleichermaßen Amüsierviertel, Familienquartier und Arbeitsort sein.“19 Auch die Architekturen der Googleplexe weltweit folgen diesem Trend der autarken, abgeschotteten Arbeitsumgebung für die ‚Creative class‘. Trotz Abschottung üben diese eine deutliche Auswirkung auf die umgebende Stadt aus. Laut Richard Sennett, welcher den Googleplex in seinem Buch ‚Die offene Stadt‘ thematisiert, treiben diese die Mieten des umgebenden Stadtviertels im Schnitt um 16 Prozent in die Höhe. Verstärkt wird dies durch die Ansiedlung hochpreisiger Boutiquen, Restaurants, Cafés und Läden, welche wiederum die Mietpreise für Gewerbe erhöhen und so vormals anstammige Läden und Betriebe weichen müssen. 20 Soziale Segregation und Ungleichheit wird so weiter gestärkt und Randgruppen zunehmend verdrängt, denn diese passen nicht zum Image der ‚Creative City‘. Die einst tolerante Atmosphäre wird zu einer Umgebung sozialer Ausgrenzung. „In New York stand das Googleplex aufgrund seines Standortes vor einigen Herausforderungen. Da es unmittelbar nördlich von Greenwich Village liegt, stößt man gleich auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf Erinnerungen an den Anderen in seiner typisch New Yorker Ausprägung: Eine Reihe von Bars, Bordellen und billigen Wohnungen entlang der Eighth Avenue. [...] Google möchte hier gerne mit der Zeit ein vollkommen neues, von den Stararchitekten Bjarke Ingels und Thomas Heatherwick entworfenes Gebäude errichten, dessen besonderes städtebauliches Merkmal in einem verglasten Dachgarten bestehen soll, ein ‚öffentlicher Raum‘, der die Google-Leute gänzlich von ihrer physischen Umgebung abschirmt. Aber für den Augenblick bildet die Straße noch eine Art schmutziger Hülle.“21 [...] Gebäude nach Art der Googleplexe sollen eigentlich das beste Umfeld für die Kreativbranche schaffen. Sie werfen jedoch die Frage auf, ob eine nach innen gewendete Umgebung tatsächlich Kreativität fördert.“22
1
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Sennette, Richard: Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens,Hanser Berlin, 2018 S.186
18 vgl. Andrej Holm: Das Recht auf die Stadt. Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2011, S. 93 19 Lange, Bastian; Prasenec, Gottfried; Saiko, Harald: Ortsentwürfe. Urbanität im 21. Jahrhundert, Jovis Verlag 2013, S. 86 20 vgl. Sennette, Richard: Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens,Hanser Berlin, 2018 S.185 21 ebd. S. 183 22 ebd. S.187
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DIE STADT 2020
BODENFRAGE UND DAS ‚RECHT AUF STADT‘ „Dämpfend wird auf die Mietpreisentwicklung nur der Bau neuer Wohnungen wirken. In vielen Städten kann der Wohnungsbau mit der Einwohnerentwicklung allerdings nicht Schritt halten. Dies liegt nicht an den fehlenden Investoren, sondern an der fehlenden Flächenverfügbarkeit.“1Mit sinkenden Bodenressourcen steigen die Preise exponentiell, in Berlin haben sich die Bodenpreise zwischen 2011 und 2016 mit 92 Prozent fast verdoppelt2.
1 2
Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Gesucht Gefunden: Alte und neue Wohnungsfrage, Bonn, 2019, S.91 vgl. Kleefisch-Jobst, Ursula; Köddermann, Peter; Jung, Karen (Hg.): Alle wollen wohnen, gerecht, sozial, bezahlbar, Berlin, Jovis, 2017 S.8
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„Das gegenwärtige Modell des Grund- und Wohneigentums ist eine wichtige Quelle für Ungerechtigkeit und Ausschluss. Spekulation verursacht Preissteigerungen, so dass ärmere Menschen keinen Zugang mehr zu bestimmten Gegenden haben. Zugleich werden Menschen, die zu arm sind, um Eigentum zu erwerben und daher Mieter bleiben müssen, weiter in die Armut getrieben.“1 Die Ressource Boden stellt im Gegensatz zu Wasser und Luft kein Gemeingut dar, sondern unterliegt der freien Marktwirtschaft. Der Handel mit Bauland, eine in wachsenden Regionen ständig an Wert gewinnende Kapitalanlage, ist nicht nur einer der Hauptgründe für stetig steigende Mieten, sondern häufig auch für Baulandspekulationen. So wird verkauftes Land, vorgesehen für den Bau neuer Wohnungen, aus Gründen maximaler Ertragssteigerung nicht selten einige Zeit unberührt behalten, um es dann gewinnbringend weiter zu verkaufen. Auf politischer Ebene könnte eine erhöhte Besteuerung durch eine Bodenwertzuwachssteuer zur Minimierung der Bodenspekulationen führen. Bisher wurde diese Möglichkeit allerdings nicht realisiert. Verschärft wird die Wohnungssituation durch den massiven Verkauf stadteigener Grundstücke in den vergangenen Jahren zur Aufbesserung städtischer Haushalte. Die mit steigenden Mietpreisen immer dringender benötigten städtischen Bestände fehlen folglich, da nicht nur Bauland, sondern auch viele Wohnungsbauten verkauft wurden. Die steigende Nachfrage macht den Bau neuer geförderter Wohnungen dringend notwendig. Es bleibt allerdings die Frage wie, wenn stadteigene Flächen verkauft und die Bodenpreise einen Kauf zur Errichtung von Sozialwohnungen finanziell unmöglich machen?
02
01 WOHNUNGSFRAGE = BODENFRAGE 02 URBANITÄT = HETEROGENITÄT 03 RECHT AUF STADT & REBELLISCHE STÄDTE
Es stellt sich allerdings nicht nur die Frage, wie der Bau neuer Wohnungen finanziell bewältigt werden kann, sondern auch wo diese bestmöglich im städtischen Gefüge verortet werden sollten. Die Innenstadt als Wohnort zeichnet sich aktuell durch eine divergente Entwicklung aus. Auf der einen Seite ist ein hohes Maß an Zuzug zu verzeichnen, auf der anderen Seite zieht eine große Zahl ‚Einheimischer‘ in Viertel an städtischer Randlage. Unterschiedliche Mietniveaus und Images der Stadtviertel prägen soziale Ungleichheiten zwischen den Quartiere2, die Stadt zerfällt somit in Viertel, welche ein hohes Maß an einkommensschwachen und in schwierigen sozialen Situationen lebenden Haushalten aufweist und in privilegierte Stadtteile. 3 Diese Homogenisierung einzelner Stadtviertel führt konsequenterweise zum Verlust sozialer Heterogenität, welche ein von der Chicago School (genauer Louis Wirth) in den 1920er und 30er Jahren definiertes Merkmale des Städtischen bildet und essenziell für das ‚Urbane‘ sei. 4 Wenn vormalige Arbeiterviertel durch Gentrifizierung für Investoren attraktiv werden und den Zuzug Wohlhabender, die am ‚hippen Stadtleben‘ teilneh1 2
3 4
Helfrich, Silke ; Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.):Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, Transcript Verlag 2012, S.291 vgl. Häußermann, Hartmut: Was bleibt von der europäischen Stadt? in: Frey, Oliver;Koch, Florian (Hg.): Die Zukunft der Europäischen StadtStadtpolitik, Stadtplanung und Stadtgesellschaft im Wandel, Wiesbaden, VS, Verl. für Sozialwiss., 2011, S.34f. vgl. Nachhaltige Stadtentwicklung ein Gemeinschaftswerk, Städtebaulicher Bericht der Bundesregierung 2004,S.3 vgl. Reckwitz, Andreas: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Transcript Verlag, 2016, S. 163
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men möchten um so das Lebensgefühl der ‚Creative Class‘ zu adaptieren, fördern, werden gleichzeitig einkommensschwache Gruppen vertrieben. Die diese Viertel prägende soziale Durchmischung und die gemeinsam aufgebauten alternativen, ‚hippen‘ und neuartigen Formen von Dienstleistungen, Einzelhandel oder hybriden Nutzungen gehen langfristig verloren. Das zuvor beschriebene Problem der Segregation bestimmter Bevölkerungsgruppen innerhalb der Stadt schreitet also nicht nur in Form der Bildung neuer ‚sozialer Brennpunkte‘ voran, sondern könnte zukünftig zu einer ‚Verödeung‘ der Innenstädte führen. Dieses Phänomen zeichnet sich in Berlin gerade seit einigen Jahren bereits ab, wie es Arno Brandlhuber, Florian Gertweck und Thomas Mayfried in ihrer Publikatin ‚The Dialogic City-Berlin wird Berlin‘ beschreiben: „In der Mitte Berlins, lag nach der Mauereröffnung das exzessive Zentrum der Stadt, die Welt der illegalen Clubs, der körperlichen Verausgabung, der Drogen, der Kellerbässe, der blassen, durchschwitzen Gestalten, dies es am Ende der Nacht an den Baustellen der Bürokomplexe vorbeispülte, der allgegenwärtigen Ohrenbetäubung des Techno, des Durchgefeierten und Durchgeschwitzen und Eingesauten und Zerrissenen- und ausgerechnet hier entsteht [...] eine Welt cremig matter Genüsse, in der das intensivste Erlebnis die ins Fleisch schneidende Henkel der Louis Vuitton-Tüte sind.“5 Da gerade in homogenen Stadtvierteln mit einer hohen Problemdichte die Chancen auf eine gute Bildung schlechter sind, fällt es der dort groß gewordenen Generation auf dem Arbeitsmarkt zumeist sehr schwer. Sie sind somit häufig von Beginn an sozial ausgeschlossen. Die Abneigung gegenüber anderen steigt und äußert sich nicht selten in gewalttätigen Auseinandersetzungen, während die Hoffnung auf eine positive Zukunft immer weiter sinkt und der Eigenantrieb zu gesellschaftlicher, politischer oder kultureller Partizipation immer geringer wird.6 Während die Mittel- und Oberschicht sich vorzugsweise in direkter Umgebung zu kulturellem Angebot und Bildungseinrichtungen niederlässt7, wird der jungen Generation sozial schwacher, weniger gebildeter Menschen der Zugang zu diesem nicht nur von Grund auf erschwert, sondern auch räumlich entzogen. Im Sinne einer lebendigen, urbanen Stadt sollte soziale Heterogenität der Bewohner vor allem innerhalb einzelner Stadtviertel künftig stärker gefördert werden. Neu errichtete soziale Wohnungen sollten demnach gleichmäßig über die Stadtviertel verteilt sein, um so nicht nur ebendiese lebendige Vielfalt zu fördern, sondern auch für mehr Solidarität innerhalb der Gesellschaft und gleiche Zugangschancen -auf räumlicher Ebene- zu städtischen Gütern, wie Kultur und Bildung zu schaffen.
Aus sozialer Distanz bei gleichzeitiger räumlicher Nähe ergibt sich der städtische Freiheitsraum, in dem sich differente Lebensstile, unterschiedliche Kulturen und Individualitäten entfalten können.“1
„Die negative Segregation äußert sich hingegen darin, dass Bevölkerungsgruppen gezwungen sind, in Viertel zu ziehen, von denen wir glauben, dass sie im Sinne der Stadtentwicklung nicht mehr brauchbar sind. Und gerde diese Gruppen werden die Verlierer der drei großen Themen der sozialen Unterscheidung für die Zukunft in Deutschland sein: Sicherheit, Bildung und Gesundheit“2
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Der Zugang zu städtischen Gütern wurde 1968 von dem französischen Soziologen Henri Lefebvre in seinem programmatischen Text ‚Le droit à la ville‘ mit dem Überbegriff des ‚Recht auf Stadt‘ thematisiert. Inhaltlich beklagt Lefebvre dabei die Folgen der kapitalistischen Stadt und die Vertreibung der unteren Bevölkerungsschicht in zentrumsferne ‚Ghettos‘, kon1
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ebd. S. 464 vgl.Häußermann, Hartmut: Was bleibt von der europäischen Stadt? in: Frey, Oliver;Koch, Florian (Hg.): Die Zukunft der Europäischen StadtStadtpolitik, Stadtplanung und Stadtgesellschaft im Wandel, Wiesbaden, VS, Verl. für Sozialwiss., 2011, S.34f. vgl.Böttger, Matthias; Carsten, Stefan; Engel, Ludwig (Hg.):Spekulation Transformation. Überlegungen zur Zukunft von Deutschlands Städten und Regionen, Lars Müller Publishers, 2016 S.22
Häußermann, Hartmut: Was bleibt von der europäischen Stadt? in: Frey, Oliver;Koch, Florian (Hg.): Die Zukunft der Europäischen Stadtpolitik, Stadtplanung und Stadtgesellschaft im Wandel, Wiesbaden, VS, Verl. für Sozialwiss., 2011, S.25 2 Böttger, Matthias; Carsten, Stefan; Engel, Ludwig (Hg.):Spekulation Transformation. Überlegungen zur Zukunft von Deutschlands Städten und Regionen, Lars Müller Publishers, 2016 S.24
kret bezieht er sich folglich auf die sozioökonomische Segregation. 8Als eine Antwort auf diese urbane Krise forderte Lefebvre ein „Recht auf die Stadt“ als kollektive Wiederaneignung des städtischen Raums durch eben jene Gruppen, welche aus ihr zuvor vertrieben wurden. 9 “Das Recht auf Stadt kann nicht als ein einfaches Recht auf Besuch oder Rückkehr in die traditionellen Städte verstanden werden. Es kann nur als recht auf das städtische Leben in verwandelter, erneuerter Form ausgedrückt werden.“10 Weiter konkretisiert Lefebvres in seinem Buch von 1981 „Critique of Everyday Life, Vol. 3 – From Modernity to Modernism (Towards a Metaphilosophy of Daily Life), dass das Recht auf Stadt immer in Verbindung mit dem Recht auf Beteiligung, auf Bewohnen, auf Aneignung von Raum und Politik, auf Freiheit, auf Individualisierung in Bezug auf die sozial Sozialisation und auf das Recht auf Differenz verstanden werden müsse. In seiner Ausführung werden das Recht auf Differenz und das Recht auf Zugang als zentrale Faktoren für den Zugang zu städtischen Gütern definiert.11 Zentralität beschreibt dabei den Zugang zu den Orten des gesellschaftlichen Reichtums, der Infrastruktur und des Wissens. Differenz hingegen bezeichnet vielmehr eine soziale Aktion aus Begegnung oder Versammlung und des Austauschs. Er kritisiert dabei vor allem die Projekte des Massenwohnungsbaus nach dem zweiten Weltkrieg, welche zwar den Zugang zum Gut des Wohnraums (Recht auf Wohnen) erfüllen, dabei aber gerade die Stadt als offenen Raum des kulturellen Austauschs und der Kommunikation ausschließt. Die Parole ‚Recht auf Stadt‘ ist in den vergangenen Jahren zum Kampfbegriff vieler städtischer Protestbewegungen weltweit avanciert. Dabei fungiert diese als Ausdruck unterschiedlicher Problematiken und dient so vielmehr als ‚Sammelbegriff‘ für mannigfaltige politische, soziale oder auch architektonische Forderungen den urbanen Raum betreffend. So reichen die Beispiele von der US-Amerikanischen Stadt New Orleans, in welcher die Bewohner für den Erhalt ihrer preisgünstigen Mieten in den Sozialwohnsiedlungen demonstrierten, bis in die spanische Hauptstadt Madrid, wobei die Parole ‚Recht auf Stadt‘ Ausdruck einer Initiative von Bewohnern und Sexarbeitern gegen Gentrifizierung in ihren Vierteln wurde. In Hamburg kämpft man gegen den Abriss des letzten historischen Gebäudes im Gängeviertel und in Istanbul für den Erhalt ganzer Siedlungen.12 Heute bildet das ‚Recht auf Stadt‘ in veränderter Form eine erneute Aktualität. Durch den Neoliberalismus werden Ausschlüsse produziert, welche in der Stadt räumlich in Erscheinung treten. Für Bevölkerungsschichten mit geringem Einkommen und schlechtem Zugang zu Bildung, für aus den Innenstädten verdrängte, aber auch für die steigende Zahl an Migranten stellt sich die Frage nach der Teilhabe an 8 9 10 11 12 13 14
den materiellen und immateriellen Ressourcen der Stadt.13 War die Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert der Antrieb einer ‚marxistischen Revolution‘, so wurden diese mit der Abschaffung einer großen Zahl an Industriearbeitsplätzen und dem konsequenten Rückgang der Industiearbeiterschafft dem neomarxistischen Soziologen David Harvey zufolge von den eben beschriebenen sozialen Randgruppen ersetzt. Dieses ‚neue Proletariat‘ lässt urbane Metropolen zur Bühne des ‚Klassenkampf‘ in der heutigen Zeit werden.14
vgl. Schmid, Christian: Henri Lefebvre und das Recht auf Stadt, in: Wohnen ist Tat-sache, Annäherungen an eine urbane Praxis, Berlin, Jovis, 2016, S.98 vgl. ebd. Lefebvres, Henri: Recht auf Stadt, Edition Nautilus, 2016, S. 166 vgl. Ebd. S.90 vgl Andrej Holm: Das Recht auf die Stadt. Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2011, S. 89 vgl. ebd. S. 90 vgl. https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/der-marxist-und-geograph-david-harvey-ueber-das-recht-auf-stadt-a-895290.html
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„DAS „RECHT AUF DIE STADT“ LÄSST SICH NICHT AUF EINEN INDIVIDUELLEN RECHTSANSPRUCH IM JURISTISCHEN SINNE VERKÜRZEN, SONDERN IST GESELLSCHAFTLICHE UTOPIE UND KOLLEKTIVE FORDERUNG ZUGLEICH“ (HOLM, 2011)
„Es besteht die Gefahr, dass die Stadt keine Einheit mehr bildet. Mit den räumlichen Distanzierungen rücken die sozialen Gruppen auseinander, und in diesem Prozess schwindet offensichtlich auch die Identifikation mit der Gesamtstadt.[...] Da gerade in den Stadtquartieren mit einer hohen Problemdichte die Perspektiven einer guten allgemeinen und beruflichen Bildung sehr schlecht sind, werden die heute im abseits stehenden Jugendlichen auf den Arbeitsmärkten der Zukunft auch keine guten Chancen haben. In den Städten bildet sich so eine Bevölkerung, die zunehmend von der gesellschaftlichen Entwicklung abgekoppelt wird: ausgesondert aus dem Arbeitsmarkt und aus gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen. Für diese Stadtbewohner bedeutet dies das Ende der Stadtkultur, denn sie sind von produktiven Erfahrungen ausgeschlossen. Großstädtische Vielfalt und die Begegnung mit dem Fremden können dann nur noch als Zumutung erfahren werden, auf die regressiv und mit zunehmender Gewalt reagiert wird. “1
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Häußermann, Hartmut: Was bleibt von der europäischen Stadt? in: Frey, Oliver;Koch, Florian (Hg.): Die Zukunft der Europäischen StadtStadtpolitik, Stadtplanung und Stadtgesellschaft im Wandel, Wiesbaden, VS, Verl. für Sozialwiss., 2011, S.34f.
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GESELLSCHAFT 2020
01 INDIVIDUALISIERUNG UND PLURALISIERUNG DER LEBENSSTILE 02 POSTMATERIALISMUS 03 DIE JUNGE GENERATION 04 WISSENSGESELLSCHAFT 05 NEW MIDDLE CLASS UND GENTRIFIZIERUNG 06 SINGULARITÄTSGÜTER
Der Begriff Kultur umfasst die Aspekte von Wissen, Artefakte, Ideen, Idealen, Werten, Normen, Einstellungen und Meinungen, die von einer Gesellschaft getragen werden. (=Vorstellungen und Wünschenswerte 1)
WERTE UND WERTEWANDEL
Kulturelle Werte bezeichnen in einer Gesellschaft geteilte Vorstellungen über richtiges und anständiges Handeln sowie Schönheit und Wahrheit und wirken, einmal verinnerlicht, wie eine unsichtbare Verpflichtung. In der modernen Industriegesellschaft war beispielsweise der Wert der Gleichheit, beziehungsweise die standardisierten Lebensabschnitte ein signifikantes gesellschaftliches Merkmal. Werte wandeln sich periodisch, so verschob sich durch die Liberalisierung der Denkweisen der Wert der Gleichheit hin zum Individualismus, welcher sich in mannigfaltigen Lebensstilen äußert. (Lebensstile beschreiben ein Muster der Lebensführung, „die von Ressourcen (materiell und kulturell), der Familien- und Hauhaltsform und den Werthaltungen abhängt.“2)Auch der Übergang von Pflichtwerten zu Selbstverwirklichkeitswerten und der von der materialistischen hin zur postmaterialistischen Lebensweise beschreibt in Überbegriffen die Werteveränderung der Nachkriegsgesellschaft zu denen der heutigen Zeit. 3 (=“Gruppierungen von Menschen mit ähnlichen Wertehaltungen, Mentalitäten und Lebensstilen und einer geteilten räumlich- sachlichen Umwelt (wie Stadtviertel, Region, Beruf,
SOZIALE MILIEUS
Bildung und Erziehung, Politik, Kultur“4) Dieser Definition folgend unterscheiden sich soziale Milieus also von den traditionellen Klassen- oder Schichtenbezeichnungen, auch wenn die Herausbildung sozialer Milieus häufig innerhalb einer Schicht entstehen.
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vgl. Müller, Hans-Peter: Werte, Milieus und Lebensstile. Zum Kulturwandel unserer Gesellschaft, in: Hradil, Stefan (Hg.): Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde. Campus verlag, 2013 S. 186 2 ebd. S. 188 3 vgl. ebd, S. 187 4 ebd.
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Das Bild einer Gesellschaft lässt sich durch zwei Ebenen beschreiben. Zum einen die der Sozialstruktur, das konkrete innere Gefüge einer Gesellschaft, bestehend aus soziodemografischen Merkmalen wie Bevölkerung, Wirtschaft, Bildung, Familie und Lebensformen, aber auch Klassen oder Schichten. Zum anderen die subjektive Ebene, welche sich durch die Kultur einer jeweiligen Gesellschaft manifestiert.1 Im Folgenden sollen spezifische Trends und Theorien der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts in aller Kürze auf kultureller- und sozialer Ebene analysiert werden.
alle“ gleiche Produkte bei gleicher Qualität suchte, manifestiert sich die individuelle Identität eines Individuums in der Singularität seines Konsums, beziehungsweise seiner Produkte. „Das Massenprodukt jedoch ist aus der Mode gekommen, gefragt ist hingegen das selbst konfigurierte Individualprodukt.“3
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Die Generation des zweiten Weltkrieges sah sich in den Jahren nach dem Krieg einem aktiven Mangel von Gütern entgegen. Der Mangelhypothese des amerikanischen Soziologen Ronald Inglehart aus den 70er Jahren folgend, dass das am wenigsten vorhandene am meisten begehrt würde, definierte sich diese Generation über materialistische Werte. In der Folgegeneration hingegen, geboren im Wohlstand durch das ‚Wirtschaftswunder‘ kann ein Wertewandel vom Materialismus hin zum Postmaterialismus verzeichnet werden. War die Nachkriegsgesellschaft geprägt durch das Streben nach Normbiografien und so einer standardisierten Lebensweise, differenzierten sich Lebensstile in den Folgegeneration immer mehr aus. Die postmaterialistische Lebensweise, welche sich seit den 1970er Jahren herauskristallisierte, fundiert somit auf gesellschaftlichen Selbstverwirklichungswerten. Der Wunsch nach Selbstverwirklichung scheint durch höhere Einkommen, Bildung, soziale Sicherheit, mehr Freizeit und Mobilität greifbar nah. Die Vielzahl an Ressourcen und Optionen eröffnet allerdings nicht nur die Möglichkeit einer eigenen Lebensgestaltung, sondern zwingt vielmehr dazu, Verantwortung für die eigenen Lebensentscheidungen zu übernehmen. Dieser Druck führt vermehrt zur Gruppierung und kollektiven Gemeinschaften verschiedener Individuen, um Halt und Richtung gemeinsam zu finden. Folglich lässt sich das Individualisierungsmantra nicht direkt in eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensstile übersetzen, sondern kann auch zu neuen gleichförmigen sozialen Milieus führen. Die Euphorie der Selbstverwirklichung wurde in den vergangen Jahren durch die Stagnation des Realeinkommens, unbezahlte Praktika und befristete Arbeitsverträge sowie der Rückbau sozialer Sicherheiten gerade für die nachfolgende, noch junge Generation gemindert. Vielmehr zeichnet sich eine Divergenz aus der Sorge um das eigene Wohlergehen, gerade im Alter und der wachsender Besorgnis um die Umwelt ab.4 Eine ‚Normalbiografie‘, wie sie in der Nachkriegszeit angestrebt wurde, scheint für die junge Generation immer mehr zur Illusion zu werden, da Lebensstationen und Taktung von Ausbildung, Berufseinstieg, Eheschließung
Der Individualisierungsprozess begann mit der Emanzipation des Individuums durch das wohlfahrtsstaatliche Sicherungssystem nach dem zweiten Weltkrieg. Steigender Wohlstand, Mobilität, Ressourcen und Produktivität ermöglichten einer breiten Masse neue Wahlmöglichkeiten der Lebensführung. Diese Individualisierung zeigt sich in einem ausgeprägten Anspruch auf Selbstverwirklichung, welcher nicht nur die Veränderung der Familienstrukturen, sondern auch des Arbeitsverhältnis bedingt. Erhöhte Mobilität sowie Verbesserung der Einkommensverhältnisse und der Einkommensverteilung führen nicht selten zu Zweit- oder Drittwohnungen und folglich zu veränderten Haushaltsformen. Familienkonstellationen gehen heute weit über die klassischen Bezeichnungen von Single, Familie oder Paar hinaus. So sind Familienmodelle wie Alleinerziehende, Patchwork- Familien, Multigenerations- und Living-apart-Familien, Wohngemeinschaften, Bilokale Paarbeziehungen und ähnliches schon lange keine Seltenheit mehr. 2 Die physischen Auswirkungen der Individualisierung zeigen sich im Anstieg der Einpersonenhaushalte bei gleichzeitigem Grundflächenzuwachs der Wohnungen. Der Wandel der ‚Normalbiografie‘, von der dreiphasigen zur fünfphasigen, wird durch die Individualisierung, aber auch den demografischen Wandel und steigende Lebenserwartungen getragen. Sie beginnt mit dem Kinds und Jugendalter, gefolgt von der Postadolesenz, einer ‚Experimentierphase‘, darauf folgt das ‚Erwachsen‘ sein, geprägt durch einen anhaltenden Konflikt aus Beruf und Familie, während in den Jahren zwischen 50 und 60 häufig eine Neuorientierung folgt. Diese zweite Phase des Aufbruchs endet in der ‚Zeit der Weisheit‘. Schlussendlich wirkt sich die stetig steigende Individualisierung auch auf den Markt aus. Während die Gesellschaft der industriellen Moderne unter dem Motto „Wohlstand für 1 2 3 4
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vgl. Müller, Hans-Peter: Werte, Milieus und Lebensstile. Zum Kulturwandel unserer Gesellschaft, in: Hradil, Stefan (Hg.): Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde. Campus verlag, 2013 S. 185 vgl. Gondring, Hanspeter: Zukunft der Immobilie. Megatrends des 21. Jahrhunderts-Auswirkungen auf die Immobilienwirtschaft. Handbuch für Studium und Praxis, Immobilien Manager Verlag, 2012,S.42 Gondring, Hanspeter: Zukunft der Immobilie. Megatrends des 21. Jahrhunderts-Auswirkungen auf die Immobilienwirtschaft. Handbuch für Studium und Praxis, Immobilien Manager Verlag, 2012,S.41 vgl. Müller, Hans-Peter: Werte, Milieus und Lebensstile. Zum Kulturwandel unserer Gesellschaft, in: Hradil, Stefan (Hg.): Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde. Campus verlag, 2013 S. 206
.„Fünf Jahre Finanzkrise,
Euro-Drama und Gier-Debatte haben in den Köpfen der Heranwachsenden einiges verschoben. Machtstreben lehnen sie ab, sagt Scholl. „Auch die entsprechenden Insignien - Sportwagen, Lederkoffer, Nadelstreifenanzug - sind verpönt.“1
„Die Generation Y will etwas „Sinnvolles“ tun, im Großen oder im Kleinen, für den Globus, das Klima, die Gesellschaft, ihre Stadt, ihre Freunde oder für sich. Haben sie die Wahl zwischen mehr Arbeit oder mehr Freizeit, wählen sie den freien Tag und nehmen dafür die Gehaltsabstriche in Kauf. Nach dem Motto: Ich komme auch mit weniger Geld klar, wenn dafür mehr „quality time“ übrigbleibt.“2
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Weiguny, Bettina: Generation Weichei, in: Frankfurter Allgemeine 22.12.2012 https:// www.google.com/search?client=safari&rls=en&q=F%C3%BCnf+Jahre+Finanzkrise,+Euro-Drama+und+Gier-Debatte+haben+in+den+K%C3%B6pfen+der+Heranwachsenden+einiges+verschoben.+Machtstreben+lehne n+sie+ab,+sagt+Scholl.+%E2%80%9EAuch+die +entsprechenden+Insignien+-+Sportwagen,+Lederkoffer,+Nadelstreifenanzug+-+sind+verp%C3%B6nt.&ie=UTF-8&oe=UTF-8 2 ebd.
und Familiengründungen immer kontingenter und unsicherer werden. 5Diese Unsicherheiten bilden sich gerade in der wachsenden sozialen Ungleichheit ab, die Minorität der Gewinner und die Majorität der Verlierer. Die Tendenz wachsender Unsicherheit und Ungleichheit beeinflusst auch scheinbar weniger betroffene Schichten, besonders die der Mittelschicht. Der Rückgang des uneingeschränkten Glaubens an bisherige Systeme zeigt sich in erstarkten kollektiven Angeboten in unserer individualisierten Gesellschaft. 6
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Diese zuvor beschriebene ‚junge Generation (heute zwischen 12 und 25 Jahren alt), geprägt durch strukturelle Ungewissheiten auf wirtschaftlicher, beruflicher und klimatischer Ebene blickt ihrer Zukunft gespalten entgegen. Dabei entscheidet häufig Bildungsschicht sowie finanzielle Möglichkeiten und Unterstützung der Eltern, wie optimistisch der künftige Lebensweg eingeschätzt wird. So sehen ungefähr 40 Prozent ihrer Zukunft positiv, weitere 40 Prozent folgen mit gewissen Einschränkungen, zurückbleiben allerdings die verbliebenen 20 Prozent, zumeist junge Menschen mit Migrationshintergrund und sozial benachteiligten Familien. Dies erhöht die soziale Spaltung der Ungleichheit schon in jungen Jahren, obwohl Kapital und Materialismus für diese Jungen, die ‚Generation Y‘ nicht die prägenden Leitbilder ihrer Zukunftsvisionen bilden.
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Wie der deutsche Soziologe Niklas Luhmann es 1992 in seiner Publikation „Beobachtungen der Moderne“ 7 beschrieb, bieten zu schnell gefasste Ad-hocBeschreibungen unserer aktuellen Gesellschaft keine Grundlage, allerdings möchte ich im folgenden nichts desto trotz auf die gerade im soziologischen Kontext diskutierten Begriffe der Informations- und Wissensgesellschaft mit Bezug auf die hohe Relevanz des individuellen Bildungsniveaus eingehen. Ob diese Tendenzen eine neue Gesellschaftsform einleiten werden sind aktuell wissenschaftlich noch ungeklärt. Per Definition unterscheidet sich Wissen von reiner Information. Informationen sind Daten ,welche durch einen Informationsträger übertragen werden. Werden diese Informationen verarbeitet -hierbei wird eine spezifische, aktive und individuelle Aneignung vorausgesetzt-entsteht explizites Wissen.8Dieses Wissen ist somit, im Gegensatz zur Information, an eine spezielle Person gebunden. Der Begriff der Informationsgesellschaft wurde erstmals in den USA und Japan in den 1960er Jahren als eine Schlüsselrolle in der Wirtschaft definiert. Die Informationsgesellschaft formt sich demnach nicht nur durch eine zunehmende Menge an Informationen, welche durch neue Informations- und Kommunikationstechniken, die Infrastruktur des digitalen Zeitalters bereitgestellt werden und somit die Grundlage zur Herausbildung der Informationsgesellschaft bilden, sondern vielmehr durch die Notwendigkeit Zugang zu solchen zu erlangen. Informationen werden also als „Produktionsfaktor und Konsumgut, als Kontroll-, Herrschafts-
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vgl. Müller, Hans-Peter: Werte, Milieus und Lebensstile. Zum Kulturwandel unserer Gesellschaft, in: Hradil, Stefan (Hg.): Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde. Campus verlag, 2013 S. 206 vgl. Müller, Hans-Peter: Werte, Milieus und Lebensstile. Zum Kulturwandel unserer Gesellschaft, in: Hradil, Stefan (Hg.): Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde. Campus verlag, 2013 S. 207 vgl. Luhmann, Niklas (1992): Beobachtungen der Moderne. Opladen, S.17 vgl. Zillen, Nicole: Digitale Ungleichheit. Neue Technologien und alte Ungleichheiten in der Informations- und Wissengesellschaft, Verlag für Sozialwissenschaften, 2009, S.6f
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und Steuerungsmittel“9 wichtiger. Der Begriff der Wissensgesellschaft erweitert, ähnlich der anfänglich erläuterten Differenz zwischen Wissen und Informationen, den Fokus auf soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Aspekte.10 Gleichermaßen wird vermehrt wissenschaftliche Wissensgrundlage zum individuellen Entscheidungsträger. So wird bei Fragen der Schwangerschaft, der Altersvorsorge oder der Bildung anstelle von Bibel, Astrologie oder Weisheiten der Eltern auf wissenschaftliche Artikel und Studien zurückgegriffen. Das Problem der unendlichen Informationsfluten besteht allerdings immer dabei sie zu filtern und zu verarbeiten, um sie tatsächlich anwendbar zu machen. So steht der Begriff der Informationsgesellschaft vielmehr im Sinne eines Massenkonsums und breitem Zugang zu eben dieser, während die Wissensgesellschaft hauptsächlich einen interessierten, gebildeten Teil der Bevölkerung inkludiert. Nach Kreckel wird durch die wachsende Bedeutung von Wissenschaft und Technologie das Maß an Wissen ein grundlegendes Merkmal sozialer Zugehörigkeit und damit auch sozialer Ungleichheit sein. Nach Strasser und Dedrichs11 hat sich somit ein Wandel in der Logik der Klassenbildung vollzogen, da das Einkommen nicht mehr die einzige Komponente zur Schichtenverteilung bildet. So scheint gerade das Wissen über die Zugangsmöglichkeit zu Informationskanälen und die Fähigkeit, die Fülle an Informationen zu filtern, eine eigenständige Dimension sozialer Ungleichheit zu sein. Der Wandel hin zur postindustriellen Ökonomie, welcher sich seit den 1970er Jahren immer stärker vollzog, kennzeichnete sich gerade im Erstarken des ‚Humankapitals‘ Wissen. Hierbei bildet der ‚kognitive Kapitalismus‘12die Grundlage eines erfolgreichen Werdegangs, wodurch eine höhere formale Qualifikation zur Notwendigkeit vieler Arbeiter wird.
„Die Informationstechnologie und die Fähigkeit, sie zu nutzen und anzupassen, sind in unserer Zeit die entscheidenden Faktoren, um Reichtum, Macht und Wissen hervorzubringen und Zugang dazu zu erhalten“ 1
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Die neue Mittelschicht, wie sie Susanne Frank in ihrem Beitrag „Gentrifizierung und neue Mittelschichten: Drei Phasen eines wechselhaften Verhältnisses“ in der Publikation „Wohnraum für alle“ 13beschreibt, bildete sich im Zuge der Transformation von der Industrie- hin zur Dienstleistungsgesellschaft aus. Diese ‚new middle class‘ definiert sich maßgeblich über ihren Wohnstandort, die Innenstädte metropolitaner Agglomeration, welche zugleich ihren Arbeitsstandort bildet. Dieser findet sich zumeist in den quartären oder kreativen Sektoren wie Wissenschaft, Forschung, Information, Kommunikation, Kultur, Beratung und Verwaltung. Wohnstandort sowie Lage der Unternehmen und Institutionen, in welchen diese neue Mittelschicht tätig ist stehen immer stärker „als Ausdruck und Ausweis der eigenen Identität [...] One‘s residence is a crucial, possibly the crucial identifyer who you are (Savage et al. 2005:207)14 Die Bildung dieser ‚neuen Schicht‘ kristallisiert zeitgleich einen soziokultureller Wandel, welcher sich (zuvor teilweise als Charakteristiken der heutigen Gesellschaft definiert), in Individualisierung, Pluralisierung der Lebensformen, Enttraditionalisierung der Geschlechterbeziehungen und Familienverhältnissen, veränderte Haushaltsformen und Entgrenzung von Freizeit und Arbeit zeigt. 9
Bühl, 1977, S.39, zit. n. Zillen, Nicole: Digitale Ungleichheit. Neue Technologien und alte Ungleichheiten in der Informations- und Wissengesellschaft, Verlag für Sozialwissenschaften, 2009, S.9 10 vgl. Das Konzept der Wissensgesellschaft gewinnt zunehmend an Popularität. Dies wird darauf zurückgeführt, dass mit der Fokussierung auf Wissen statt auf In- formation auch soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Aspekte der durch Informations- und Kommunikationstechnologien angestoßenen Entwick- lungen in den Blick gelangen S. 10f. 11 Strasser, Hermann/ Dederichs, Andrea Maria (2000): Die Restrukturierung der Klassengesellschaft: Elemente einer zeitgenössischen Ungleichheitstheorie. In: Berliner Journal für Soziologie 1, S. 79-98. 12 vgl. Reckwitz S. 117 13 Schönig, Barbara; Kadi, Justin; Schipper, Sebastian (Hg.): Wohnraum für alle?!Perspektiven auf Planung, Politik und Architektur ,Bielefeld, transcript, 2017 14 Schönig, Barbara; Kadi, Justin; Schipper, Sebastian (Hg.): Wohnraum für alle?!Perspektiven auf Planung, Politik und Architektur ,Bielefeld, transcript, 2017, S. 89,
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Castells, Manuel (2002): Das Informationszeitalter. Wirtschaft - Gesellschaft - Kultur. Teil 3: Jahrtausendwende. Opladen.S.95 zit. n.Zillen, Nicole: Digitale Ungleichheit. Neue Technologien und alte Ungleichheiten in der Informations- und Wissengesellschaft, Verlag für Sozialwissenschaften, 2009, S.62
Diese ‚new middle class‘ wird von Frank als das Sinnbild der Gentrifizierung beschrieben. Historisch betrachtet lässt sich die Gentrifizierung in drei Phasen unterteilen: das Aufkommen von Gentrifzierungsprozessen in den 1970er und 1980er Jahren (als Sinnbild hierfür lassen sich auch die 68er Revolutionen bezeichnen) manifestierte sich in mannigfaltigen Emanzipationsbewegungen (sowohl gegen die klassischen Geschlechterrollen, Familien- und Haushaltsstereotype und Sexualität), die Abkehr von den suburbanen Lebenswegen und so die Rückkehr zur Stadt, welche mit ihren Arbeiterbezirken als Inbegriff sozialer Offenheit, Multikulturismus und sozialer Mischung angesehen wurde.15 In der Hochphase der neoliberalen Stadtentwicklung zwischen 1980 und 2000 wurde Gentrifizierung nunmehr von der ‚upper middle class‘ rege vorangetrieben. Stadtum- und ausbau erfolgt zugunsten der ‚Yuppies‘ (Young urban professionals), welche in hoch qualifizierten Berufen tätig waren, über ein hohes Einkommen verfügten und dieses mit ihrem stark konsumorientierten Lebensstil zur Schau stellten. 16 Im städtischen Gefüge bildeten exklusive Wohnanlagen in zentraler Lage den Wohnort der ‚upper middle class‘ und der urbanen Familienwohnung ab. Diese Viertel befanden sich in der Regel in sozial homogenen, introvertierten und von der Umgebung abgeschnittenen Enklaven und somit in Abgrenzung zu den Gentrifzierungsprozessen der ersten Phase. Aktuell wird die Kritik an Gentrifizierungsprozessen als ein Symbol neoliberaler Stadt- und Gesellschaftsentwicklung immer präsenter. Der Begriff der Gentrifizierung hat sich in den vergangen Jahren aus dem akademischen Fachjargon zum Alltagsbegriff gewandelt. Stadtviertel sind heute einem stetigen Wandel unterzogen: Aufwertung, Sanierung, Preissteigerung und Verdrängung langjähriger Bewohnerschaften schreiten heute scheinbar schneller voran als je zuvor. 17 Die Ausmaße dieses Prozesses werden deutlich, wenn zentrales Wohnen zum Privileg der Wohlhabenden wird, ein Großteil der Stadtbevölkerung folglich aus den Innenstädten vertrieben und so von städtischen Ressourcen und Dienstleistungen ausgeschlossen wird. 18Gentrifizierung betrifft eine breite Masse der Bevölkerung, erlangt so wachsende Bekanntheit und ist mittlerweile international zu einem politischen Kampfbegriff avanciert. Gegen Aufwertungs- und Verdrängungsprozesse in Stadtvierteln stellen sich auch große Teile der ‚neuen Mittelschicht‘ (welche für gewöhnlich nicht direkt betroffen sind). Gentrifizierung, so Franke, sei vielmehr ein soziales und räumliches, materielles und symbolisches Zeichen für eine tiefe Unsicherheit und ansteigende Kritik einer „gnadenlos durchökonomisierten
Gesellschaft mit starken sozialen Spaltungstendenzen“19. Weiter formuliert sie, diese Initiativen gegen die Gentrifizierung sein Ausdruck einer erschöpften Gesellschaft „gehetzt von den Zwängen eines neoliberalen Welt- Burnout als Symptom einer von hypertrophen Wettbewerben und ökomischen Wachstumszwängen geprägten Gesellschaft: „Dem neoliberalismus sind offenkundig die Enthusiasten abhandengekommen.“20
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Der deutsche Soziologe und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz beschäftigte sich in seinem 2017 publizierten Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ mit dem Wandel der Güter von der Ökonomie des industriellen Allgemeinen (der Gesellschaft der Nachkriegsjahre) hin zur postindustriellen Ökonomie des Singulären21. Hierbei beschreibt dieser die Abkehr von Massengütern hin zu ‚Singularitätsgütern‘, welche sich primär durch ihren kulturellen Wert oder ihre kulturelle Qualität auszeichnen. Singularitätsgüter können, so Reckwitz, sowohl konkrete Objekte als auch Ereignisse, mediale Formate oder maßgeschneiderte Dienstleistungen sein „Es sind Affektgüter, die von ihren emotionalen Effekten und Identifikationsmöglichkeiten leben.“22Diese Singularitäts- oder Kulturgüter werden mittels ‚kreativer Arbeit‘ produziert. Anstelle von hierarchischen Matrixorganisationen treten Projektteams, welche als singuläre Arbeitssubjekte mit unterschiedlichen Sozialformen, Kompetenzen, Talenten u. ä eine außergewöhnliche Performanz ergeben. Diese Form der Produktion, die kulturelle Produktion setzt eine Ortsbindung voraus und findet sich so zumeist in urbanen Agglomerationsräumen. 23 Anstelle des Massenkonsums tritt- ganz im Duktus einer authentischen, singulären Lebensweise- eine Pluralisierung des Konsums. „Der Konsument ist ein Kokreativer, der die Güter nicht mehr so sehr vernutzt, sondern sie auf je eigene Weise zusammenstellt und sich ‚kuratierend‘ aneignet.“24 Folglich wird der Standartmarkt mit funktionalen Massengütern von Singularitätsmärkten abgelöst. „Diese Märkte sind weniger Preis- und Leistungsmärkte als hochgradig affektiv unterfütterte Aktivitätsmärkte, die von der Aufmerksamkeitslenkung und kulturellen Valorisierung lebens. Sie sind spekulativ und münden in radikale Asymmetrien nach dem Muster The winner takes it all.“25
15 vgl.Schönig, Barbara; Kadi, Justin; Schipper, Sebastian (Hg.): Wohnraum für alle?!Perspektiven auf Planung, Politik und Architektur ,Bielefeld, transcript, 2017, S. 90 16 vgl. ebd. S.92 17 vgl. Ebd. S. 94f. 18 vgl. ebd. S. 95 19 Ebd. 20 ebd. S. 96 21 vgl.Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Suhrkamp Verlag, 2017 S. 113ff. 22 ebd. S.113 23 vgl. ebd. 24 ebd. S. 114 25 ebd.
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[...] ONE‘S RESIDENCE IS A CRUCIAL, POSSIBLY THE CRUCIAL IDENTIFYER WHO YOU ARE (SAVAGE ET AL. 1 2005:207) 1 89 Bild:
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Schönig, Barbara; Kadi, Justin; Schipper, Sebastian (Hg.): Wohnraum für alle?!Perspektiven auf Planung, Politik und Architektur ,Bielefeld, transcript, 2017, S. https://www.zeitpunkt-kulturmagazin.de/leipzig/campus-stadtleben/kiez-check-connewitz.html
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... UND DAS WOHNEN
Unsere Gesellschaft befindet sich in einem stetigen Wandel. Veränderungen vollziehen sich Schritt für Schritt und betreffen Lebensmuster, Haushaltsformen, Arbeitsstrukturen und Mobilitätsverhalten. 1 Zusammenfassend lassen sich die aktuellen Gesellschaftstrends in folgende Gruppen charakterisieren: Vorgegebene Lebensabläufe verlieren an Wichtigkeit ebenso wie familiäre Bindungen im Sinne der Kern- oder Kleinfamilie. Auf der Ebene des Wohnens spiegelt sich dies in häufigem Wohnort- und Wohntypwechsel wieder. Niedrige Geburtenzahlen, steigende Scheidungsraten und steigende Lebenserwartungen (demografischer Wandel) verkleinern die Haushaltsgröße und die Zahl der Einpersonenhaushalte steigt stetig. Auch der Bedarf an Kurzzeitwohnungen und Wohnen auf Zeit erhöht sich mit steigender Mobilität. Individualisierung kann zum einen im Wunsch des Alleinlebens - auch bei Paaren im Trend des ‚living apart together‘ sichtbar- resultieren, aber auch zum steigenden Bedürfnis nach Gemeinschaft. Dieser Trend wird gerade in den aktuell immer stärker realisierten kollektiven Wohnformen sichtbar. Diese ermöglichen außerhalb der Kernfamilie das gemeinschaftliche Leben in der ‚Wahlfamilie‘ und vervielfältigen so die Formen des Zusammenlebens.
Die Pluralisierung der
Automatisierung und Digitalisierung führen zu neuen Arbeitszeitmodellen und erhöhter Flexibilität, welche die Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung steigern, gleichsam werden allerdings soziale Unterschiede verstärkt. Trendbegriffe wie Big Data, Industrialisierung 4.0 und künstliche Intelligenz haben für die Arbeitnehmer weitreichende Folgen. Befristete Arbeitsverträge, Arbeit auf Abruf, diverse Arbeitsorte und ‚Home Office‘ seien hier zu nenen. Flexibilität und Mobilitätsbereitschaft scheinen essenziell für beruflichen Erfolg geworden zu sein. „Darüber hinaus ist Arbeit wieder vermehrt nicht nur eine Notwendigkeit zur Existenzsicherung, sondern auch Sinnstiftung. Beruf soll wieder Berufung sein und Work-Life-Balance ist in aller Munde. Gleichzeitig soll also neben der Arbeit ein erfüllendes Sozialleben möglich sein.“2 Die Publikation der Wohnbaugenossenschaften Schweiz und der Hochschule Luzern fasst (vereinfacht) drei charakteristische Gesellschaftsgruppen zusammen: die ‚Millennials‘, sie sind mit der Digitalisierung aufgewachsen, fühlen sich nicht an traditionelle Lebensstile gebunden und bilden auf dem Arbeitsmarkt die flexible Gruppe, solange sie nur einer sinnstiftenden Arbeit mit hohem Selbstverwirklichungspotenzial nachgehen können; die ‚Familie 4.0‘, neue Familienverbände als Patchwork-, Regenbogen-, Alleinerziehende,-Mehrgenerationen- oder eben Wahlfamilien3 und schließlich die Generation der Babyboomer, heute die Älterwerdenden der geburtenstarken Jahre der Nachkriegszeit. Sie sind häufig noch bei guter Gesundheit und wünschen sich so lange wie möglich autonom und selbstständig Wohnen zu können.
Digitalisierung
Materielles Kapital verliert in weiten Teilen der Bevölkerung immer mehr an Relevanz, dabei steigt sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch in der individuellen Lebensführung der Wert des kulturellen Kapitals. Hohe Bildung, umfangreiches Wissen und ein ‚kreativer Lebensstil‘ bilden heute gerade für die ‚neue Mittelschicht‘ wesentliche Merkmale. Die soziale Ungleichheit definiert sich heute folglich nicht mehr primär über die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel sondern maßgeblich über den Zugang zu Bildung und Wissen.
Postmaterialismus, Wissen,
1
2 3
Lebensstile
Globalisierung und verändern die Arbeitswelt
kulturelles Kapital und Singularitätsgüter
vgl. Wohnbaugenossenschaften Schweiz- Regionalverband Zürich; Hochschule Luzern, Institut für Architektur, Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur (Hg.): Innovative Wohnformen: Kontext, Typologien und Konsequenzen, Oktober 2018, S. 4 ebd. S. 8 vgl. ebd. S.9
265
Banksy, The caveman, ca. 2008 Bild: https://www.artsy.net/artwork/banksy-the-caveman
„WIRD DER HOMO OECONOMICUS ZUM HOMO COLLABORANS 1 ?“ 1
Dönnebrink, Thomas: Shareeconomy, in: Das Magazin der Heinrich-Böll-Stiftung: Seitenwechsel. Die Ökonomie des Gemeinsamen, Ausgabe 1, 2014, S.12
ZWISCHEN MARKT UND STAAT
„[...] eine von Grund auf commonsbasierte produktive Infrastruktur [...]: ein Netzwerk Freier Produktionsstätten, dessen Ausstattung zu 100 Prozent aus Open Hardware und Freier Software besteht und in den zusammenarbeitenden Werkstätten selbst reproduziert werden kann. Auf diese Weise würde der kapitalistische Markt Schritt für Schritt überflüssiger, weil die Menschen immer mehr Dinge, die sie brauchen, auf der Grundlage von Commons in gemeinsamer Peer-Produktion herstellen können. “1
01 EIN URBANER UMSCHWUNG?! 02 DIE ALLMENDE 03 GEMEINGUT WISSEN 04 GEMEINGUT RAUM 05 GEMEINGUT INFRASTRUKTUR 1 Helfrich, Silke ; Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.):Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, Transcript Verlag 2012, S.352
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06 GEMEINGUT PRODUKTION
Die Nutzungsmischung der Großwohnbauten war maßgeblich für ihre hohe Bewohnerzufriedenheit , nicht nur für das tägliche Leben der Bewohner, sondern vielmehr für demokratisches Verhalten, Solidarität und Verantwortung untereinander. Das diese zudem einen Mehrwert für ein gesamtes Quartier schaffen kann, zeigte sich beispielsweise im neuen Stadtzentrum von Ivry Sur Sein. Zudem bietet die funktionale Mischung eine Chance für höhere Akzeptanz der Öffentlichkeit entgegen großen Wohnbauprojekten im sozialen Wohnungsbau, indem diese einen täglichen Mehrwert für die Nachbarschaft schaffen. Wie können Themen von Gemeinschaft und Solidarität auf das 21. Jahrhundert übertragen werden? Was einst der Hobbyraum leistete scheint keine zeitgemäße Antwort auf ein gemeinschaftliches Miteinander innerhalb der Nachbarschaft zu geben. Auf gesamtstädtischer Ebene scheinen die die Großwohnbauten der Nachkriegsjahre prägenden Konsumeinrichtungen heute mit ansteigendem Trend zum Postmaterialismus und stetigem Ladensterben eine Verfehlung des Zeitgeistes. Vielmehr sollte die Frage aufgeworfen werden, wie die räumliche Komponente ein ‚gemeinschaffen‘ unter den Bewohnern fördern und als offener Raum mit den Bewohnern des Quartiers oder der Stadt verstanden werden kann, um so eine Grundlage demokratischer Teilhabe zu bilden. Auf der Suche nach einer Antwort könnte die Allmendethematik („darunter wird die Schaffung und Bewirtschaftung materieller und immaterieller kollektiver Ressourcen und Räume als Grundlage demokratischer Teilhabe verstanden.“1) eine Idee liefern. Die regelrechte Fülle an aktuellen Debatten spiegelt einen neuen, kollektiven nicht monetären Gemeinschaftssinn wieder, welcher sich parallel, jedoch in divergenter Form, zum Trend des ‚Sharings‘, das Teilen für einen festgelegten Betrag, entwickelt. In der Ausgabe 232 der ARCH + mit dem Thema „An Atlas of Commoning: Orte des Gemeinschaffens‘ wird der Unterschied zwischen der gemeinsamen Nutzung der Allmende und des Sharings deutlich:„Die neuen Formationen von Vergemeinschaftung verbleiben aber stets innerhalb kapitalistischer Strukturprinzipien und gehen mit einer biopolitischen Kommerzialisierung immer weiterer Lebensbereiche einher.[...] Das Teilen, welches das neue Haben ist, schafft neue Formen der Anerkennung und Teilhabe, die jedoch monetär vermittelt bleiben und in höchsten Maße abhängig sind von kulturellem und habituellem Kapital, denn die realen Zugangsmöglichkeiten zur Community beschränken sich auf eine gut ausgebildete und besitzende Elite“2. So soll im Folgenden primär die Allmende auf der Suche nach zeitgemäßen Lösungsansätzen für Hobbyraum und Konsumeinrichtungen analysiert werden.
01
Der Tod der Stadt, welcher in den neunziger Jahren von vielen Wissenschaftlern vorher gesagt wurde und im Aufstieg der virtuellen Welt und des Internets begründet lag, scheint angesichts unzähliger urbaner Initiativen vergessen. Vielmehr erscheint der reale, öffentliche Raum als Gegenpol zur ungreifbaren virtuellen Sphäre. Gleichsam wären viele Initiativen, die im öffentlichen Raum stattfinden wie Beispielsweise die Occupy Bewegung in New York, Madrid, oder Frankfurt am Main ohne das Internet mit seinen Verständigungsmöglichkeiten wie Facebook, Twitter und Instagram nicht in dieser Geschwindigkeit und diesem Umfang entstanden.3 Die digitale Verknüpfung untereinander formt eine neue Bereitschaft zu gemeinschaftlichen Aktionen im öffentlichen Raum. Der Architekturkritiker Hanno Rauterberg formuliert in seiner Publikation „Wir sind die Stadt! Urbanes Leben in der Digitalmoderne“ die These, dass diese Initiativen maßgeblich zu einer ‚wachsende Vitalität‘ der Stadt beitragen: „Ihre Bereitschaft, sich einzumischen, sich mit anderen kurz zu schalten, etwas gemeinsam zu gestalten, ihre Erfahrung, dass sich hier etwas verändern und dort etwas überarbeiten lässt, Ihr verlangen, sich selbst als Handeln des Subjekt zu erfahren, all das bestimmt die Kultur des interaktiven Internet- und alldem verdankt die Stadt der Digitalmoderne viel von ihrer wachsenden Vitalität.“4 Diese Lust am öffentlichen äußert sich auf mannigfaltige Weise im Öffentlichen Raum. Beim ‚Chair Bombing‘ beispielsweise wird der öffentliche Raum mit selbst gebauten Bänken und Stühlen verschönert, beim ‚Guerilla Gardening‘ Gehwege in Blumenbeete verwandelt, oder beim ‚Outdoor Clubbing‘, wobei die Feier unter freiem Himmel aus Gründen des Lärmschutzes als ‚silent Party‘ praktiziert wird. All diese Projekte führen zur Aufwertung des vormals unbestimmten Stadtraums durch eine neue, andere Bedeutung und Nutzung. Sie stehen als Zeichen für einen urbanen Umschwung: Die Stadt wird hier nicht mehr von oben diktiert, sondern ‚Bottum up‘ von den Bürgern in partizipativen, kollektiven und selbstständigen Aushandlungen gestaltet. Das uneingeschränkte Vertrauen und der Wunsch nach Steuerung durch politische Institutionen, wie es zu Zeiten des Wohlfahrtsstaates üblich war, reduziert sich. „Denn während die Bedeutung der Nationalstaaten so rasch schwindet, wie sie im 19. Jahrhundert entstanden war, erblickt eine wachsende Zahl von Menschen in ihrem urbanen Umfeld einen Handlungsraum, der sich überschauen und gestalten lässt. Sie begegnen der eigenen Hilflosigkeit, den
1 Helfrich, Silke ; Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.):Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, Transcript Verlag 2012, S.352 2 Spitta, Juliane: Die Fiktion der Gemeinschaft. Ein politisches Leitbild zwischen identitärer und emanzipativer Aneigung, in: ARCH+ 232: An Atlas of Commoning: Orte des Gemeinschaffens, S.21 3 vgl. Rauterberg, Hanno: Wir sind die Stadt! Urbanes Leben in der Digitalmoderne, Suhrkamp Verlag, 2013, S.11 4 Rauterberg, Hanno: Wir sind die Stadt! Urbanes Leben in der Digitalmoderne, Suhrkamp Verlag, 2013, S.14
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Ohnmachtsgefühlen angesichts weltumspannenden Kapitalinteressen, indem sie sich mit Gleichgesinnten zusammen tun und im Lokalen eine Antwort auf globale Probleme suchen, zum Beispiel auf den Klimawandel.“5 Dieser ‚urbane Umschwung‘ findet seine Ursprünge in diversen Kernproblematiken, dem Vertrauensverlust in die Institution Staat, das Individuum, das nach Selbstverwirklichung strebt und hierfür den öffentlichen Raum als geeignete Ausdrucksform empfindet, ein ‚Wir‘, dass in Zeiten des Hyperindividualismus einen Ort für gemeinschaftliches und geteiltes sucht oder auch die ‚neue Mittelschicht‘, welche ihren Unmut gegenüber Vertreibung und Ausschluss niedrigeren Schichten zum Ausdruck bringen möchte. Eines aber eint all diese Beweggründe, sie verstehen den städtischen Raum als ein Gemeingut, in dem jedem Individuum das gleiche Recht zur Nutzung und Aneignung zusteht.
02
Der Begriff des Gemeingutes, auch als die Allmende bezeichnet, stammt ursprünglich aus dem mittelhochdeutschen und bedeutet soviel wie der Gemeindeflur. Dieser bezeichnete im Mittelalter unparzelliertes Land, welches von den Bauern gemeinschaftlich bewirtschaftet wurde. Im Feudalsystem des mittelalterlichen Europas wurden die als Gemeinschaftsgüter bewirtschafteten Ländereien zu Gunsten der Kapitalanlage den Bauern entzogen und führte so um Verlust der Allmende. Im neuzeitlichen Europa bezeichnete die Allmende gemeinschaftlich verwaltete Waldstücke, Weiden oder Almen. Als in den späten 1960er Jahren mit der Veröffentlichung des Berichts des ‚Club auf Rom‘ die Rohstoffendlichkeit ins öffentliche Bewusstsein rückte wurde der Begriff der Allmende zumeist mit Luft und Wasser übersetzt. Seit dem Beginn der 1990er Jahre gewann die immaterielle Ressource der Technologie und des Wissens an Relevanz, über die Informationstechnologie Computer und Internet zugänglich, wurde die gemeinsame Teilhabe an Wissen mit dem Begriff der Wissensallmende umschrieben. Gemeingüter werden im allgemeinen in rivale- und nich rivale Güter differenziert. Ein nicht rivales Gut charakterisiert sich hierbei dadurch, dass der Konsum des einen weder den Konsum des anderen behindert, noch der Bestand des Gutes durch den Konsum verringert wird. Rivale Güter zeichnen sich folglich durch ihre Endlichkeit im Verbrauch aus. Im frühen Mittelalter bewirtschafteten die Bauern den Boden, eine unparzellierte Gemeinschaftsfläche, um die zum Leben notwendigen Rohstoffe zu gewinnen. Diese Allmende setzte sich also konkret aus zwei Bausteinen zusammen, dem des Bodengutes und dem des Ertrags, welcher aus dem Anbau hervorging. Die erfolgreiche Bewirtschaftung des Bodens und so der Gewinn eines Ertrages hing mit dem ‚richtigen‘ Maß der Nutzung zusammen. Wie es Garrett Hardin in seinem berühmten Essay „The Tragedy of the Commons“ 1968 ausdrückte, führt eine Übernutzung rivaler Gemeinressourcen zum Verlust dieser. Beispielhaft lässt sich die „Tragik der Allmende“ am Beispiel der Viehweide veranschaulichen: Eine als Gemeingut verstandene Viehweide, folglich allen Dorfbewohnern zur Verfügung stehend, kann nur den nötigen Ertrag an Nahrung (Gras) liefern, wenn eine Maximalzahl an Kühen nicht überschritten und eine Mindestzeit an Ruheperioden zur Regeneration der Weide eingehalten werden. Sobald die Weide jedem Dorfbewohner frei zur Verfügung steht wird der eigene Nutzen, die maximale Unterbringung an Tieren zur Gewinnmaximierung, zwangsläufig im Vordergrund stehen. Mit der Übernutzung der Weide wird sie folglich 5
270
ebd. S.12
„Die freien, unbestimmten Räume in der Stadt gewinnen eine andere, gewichtige Bedeutung. Zum einen ist da das Ich der Digitalmoderne, das nach Selbstverwirklichung strebt und dafür das urbane Gefüge als besonders geeignet erfährt. Zum anderen gibt es ein kollektives Selbst, das Wir, das nach städtischen Räumen verlangt und sich erst auf Straßen und Plätzen formt und findet.“1
1 1 vgl. Rauterberg, Hanno: Wir sind die Stadt! Urbanes Leben in der Digitalmoderne, Suhrkamp Verlag, 2013, S.10
unnutzbar. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Elinor Ostrom beschäftigte sich mit eben dieser Problematik und zeigte in ihrem Buch 1990 „Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action“ wie Allmendegüter durch Selbstverwaltung einer Gemeinschaft erfolgreich reguliert und bewirtschaftet werden können. Ostrom unterstreicht hierbei die Wichtigkeit einer Abgrenzung in eine ausgewählte ‚Commoner Gemeinde‘, einer spezifischen Nutzergruppe, welche unter Verhandlung und Aufstellung gemeingültiger Regeln ein Gut bewirtschaftet. „Sie bestätigt damit die bekannte und oft falsch intepretierte These der sogenannten ‚Tragik der – unregulierten – Allmende‘.“6 Die erfolgreiche Bewirtschaftung eines Gemeingutes fordert folglich, wie es auch Peter Linebaugh mit seiner Aussage „There is no commons without commoning“ formuliert, einen reglementierten sozialen Prozess. 7 Ein rivales Gemeingut, welches im Sinne der Begriffsdefinition für jeden zugänglich ist, würde somit auf maximalen Ertrag des Einzelnen hin bewirtschaftet, bis das Gut erschöpft ist. Wie Hardin es formuliert „Freedom in the commons brings ruin to all“8.
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„Die Prämissen des »demokratischen Kapitalismus« betreffen auch Wissen, Kultur und Informationen. Sie verbreiten sich wie das Licht, schrankenund grenzenlos. Anders als bei endlichen Ressourcen geht es in der Logik des Marktes darum, Kultur, Wissen und Informationen gezielt zu verknappen, um maximalen Gewinn aus immateriellen Vemögenswerten (Worte, Musik, Bilder) zu ziehen. Das ist der Hauptzweck der permanenten Erweiterung von Urheber- und Patentrecht. „1
Rivale Gemeingüter sollten folglich durch die Festlegung einer ‚Commener Gemeinschaft‘ (einen beschränkten Nutzerkreis) und der Aufstellung eines Regelwerkes vor einer Übernutzung geschützt werden. Nicht rivale Gemeingüter hingegen bedürfen keiner Regulierung, da keine Gefahr der Übernutzung besteht und sollten somit für jeden frei zugänglich sein. Vielmehr können immaterielle Güter, wie beispielsweise Wissen, durch ihre Nutzung weiter wachsen. Durch Zugangsbeschränkungen und Kommerzialisierung wird der Zugang zu Wissen allerdings immer weiter beschränkt und so effektiv der kapitalschwachen Schicht entzogen.9 Dieser ‚Kulturkapitalismus‘ schlägt sich aktuell in den Debatten um Urheberrecht und Zugangsbeschränkungen im World Wide Web nieder. Das Internet und damit der umfangreiche Zugang zu Wissen wird mehr und mehr zensiert. Kulturelle Inhalte von Film, Musik, Verlag und Medien wurden in den letzten Jahren rückwirkend in ihrem Urheberrecht verlängert, wie beispielsweise die Verlängerung der Schutzrechte für Tonaufnahmen von 50 auf 70 Jahre im Jahr 2011, und somit Inhalte dem ‚Fair Use‘10 entzogen. Diese Einschränkung der nicht rivalen Ressource des Wissens, der ‚Wissensallmende‘, führte zu zahlreichem Aufbegehren durch Hacker und Aktivisten und schließlich zu neuen Wegen und Möglichkeiten, die kulturelle Allmende zugänglich zu machen und sogar zu erweitern. So entstand 2002 beispielsweise das Projekt der Creative Commons (CC), wodurch Inhalte durch freie Lizenzen einer breiten Masse zugänglich gemacht werden sollten. Dies führte beispielsweise in der Stadt Linz zur Idee einer Open-Commons-Region. Das Gemeinderatsmitglied und Mitinitiator Christian Forsterleitner benennt dabei den digitalen, frei zugänglichen Zugang zu öffentlichen Gütern wie freie, offene Software, offene (Geo-)Daten, freie Lern- und Lehrmaterialien und frei zugängliche Kreativwerke im Bereich
6 7 8 1
Helfrich, Silke ; Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.):Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, Transcript Verlag 2012, S.20
9 10
Helfrich, Silke ; Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.):Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, Transcript Verlag 2012, S.9 vgl. ebd. Garrett Hardin (Mikrobiologe, Ökologe): „The Tragedy of the Commons“, in: Science, 162, 1968, S. 1243–1248 vgl. Helfrich, Silke ; Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.):Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, Transcript Verlag 2012, S.20 Fair use‘ beschreibt die Erlaubnis geschütze Inhalte für Bildungszwecke zu nutzen,
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„Ob es Gemeinschaften gelingt, sich funktionierende Regelsysteme zur Bewirtschaftung und Nutzung von Allmendegütern zu geben, hängt allerdings von allerlei Umständen ab: die Gruppe der Betroffenen muss sich klar abgrenzen lassen; die Mitglieder der Gemeinschaft müssen die Regeln gemeinsam ändern und einander gegenseitig überwachen können; Verstöße werden nicht pauschal, sondern gemäß ihrer Schwere geahndet; es gibt institutionalisierte Verfahren zur Konfliktlösung. Zu diesen Erkenntnissen ist die amerikanische Wissenschaftlerin Elinor
04
Verantwortlichkeit, Respekt“1
Die Gemeingutdebatte gewann in den letzten Jahren zunehmend an Relevanz in Architektur und Städtebau.15 Hierbei stellt sich die Frage, welche räumlichen Voraussetzungen zur Bereitstellung der Ressourcen zur Produktion und Bewirtschaftung der Gemeingüter beitragen könnten, ob ein spezifischer Ort selbst als Gemeingut verstanden werden könnte (ein ‚Common space‘) und nach der konkreten architektonischen Organisation der Gemeinschaft, der ‚Commoner‘. In der Publikation „Spatial commons - städtische Freiräume als Ressource“ werden Gemeingüter einleitend als einen dritten Raum zwischen dem frei verfügbaren, öffentlichen Raum und dem privaten Raum definiert. Folglich muss ein ‚Common Space‘ von dem, was wir gemeinhin öffentlichen Raum nennen unterschieden werden, denn räumliche Gemeingüter werden als gemeinsame Basis, als Räume der Verhandlung oder durch kollektive, aus Notwendigkeit geschaffene Anstrengungen entwickelt. Zugleich wird der ‚Common Space‘ zu einem Schwellenraum, welcher „über die Grenzen jeglicher existierenden Gemeinschaft hinauswachsen [kann]: Außenstehende, Fremde und neu Hinzukommende sollten in ihnen willkommen sein, jederzeit.“16 Ein ‚common Space‘ definiert sich also wiederum durch einen konkrete soziale Praxis und differenziert sich somit klar vom öffentlichen Raum im
1 https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftswissen/allmende-wo-kuh-und-schaf-gemeinsamgrasen-1581179-p2.html
11 vgl. Gegenhuber, Thomas; Haque, Nauman; Pawel, Stefan: Linz: Von der Stahlstadt zur Open-Commons-Region: Wie eine Kommune von einem Bekenntnis zur Allmende profitieren kann in: Helfrich, Silke ; Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.):Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, Transcript Verlag 2012, S. 375f. 12 Ebd. 13 Pelger, Dagmar; Kaspar, Anita;Stollmann, Jörg: Spatial commons - städtische Freiräume als Ressource, Berlin, Universitätsverlag der TU Berlin, 2016. s. 3 14 Rauterberg, Hanno: Wir sind die Stadt!: Urbanes Leben in der Digitalmoderne, Suhrkamp, 2013, S.12 15 Publikationen wie: Stravrides,Stavros: Common SpaceThe City as Commons, Zed Books London, 2016; Heyden MathiasStravrides,Stavro: Gemeingut Stadt, Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt Nr.4,September 2017; Pelger, Dagmar; Kaspar, Anita;Stollmann, Jörg: Spatial commons - städtische Freiräume als Ressource, Berlin, Universitätsverlag der TU Berlin, 2016; ARCH+ 232: An Atlas of Commoning: Orte des Gemeinschaffens und die dazugehörige Wanderausstellung der ifa (Institut für Auslandsbeziehungen) in Zusammenarbeit mit ARCH+ 16 Heyden Mathias; Stravrides,Stavro: Gemeingut Stadt, Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt Nr.4,September 2017, S.58
Ostrom in vielen Feldstudien über „Common pool resources“ gekommen. Elinor Ostrom hat außerdem darauf hingewiesen, dass die gemeinschaftliche Hege und Pflege, Bewirtschaftung und Nutzung von wertvollen Gemeingütern ihrerseits immaterielle öffentliche Güter stiftet: Zusammenhalt, Gemeinsinn,
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Film, Musik und Foto als charakteristisch für eine Open-Commons-Region.11 Die Idee hinter der Bereitstellung von Wissen in einer Open-Commons-Region gründet dabei auf der Investition in „intellektuelles Kapital“12, welches in der heutigen Gesellschaft, die Wissensgesellschaft, einen hohen Stellenwert einnimmt. In der Publikation der Universität Berlin „Spatial commons - städtische Freiräume als Ressource“ wird die Einhegung der Wissensallmende und die zunehmende Privatisierung öffentlicher Güter mit der Entstehung weiterer urbaner Initiativen in Verbindung gebracht. Diese fordern “Teilhabe aller Bevölkerungsschichten an wirtschaftlichen Produktionsprozessen, politischen und planerischen Entscheidungen sowie an Erhalt und Erzeugung landschaftlicher wie urbaner Freiräume als zugängliche Gemeingüter für jedermann und -frau“ [...] „Occupy“, „Direkte Demokratie“ oder „Recht auf Stadt“ beschreiben ebenso wie „Open Source“ oder „Wiki“ Phänomene widerständischer kollektiver Aneignungspraktiken.“13 Der Zugang zu Gemeingütern, oder vielmehr der verwehrte Zugang zu diesen lässt sich folglich als eine Quelle der neuen urbanen Bewegungen bezeichnen. Die Stadt wird so zum Ausdruck einer Bevölkerung, die nicht länger „an große Utopien glaubt“ 14, die aber der ungewissen Zukunft mit der Hoffnung auf Besserung entgegen tritt und den Stadtraum dabei als offenes Labor nutzt.
[...] IN EVERY PLACE WHERE WE REALLY START TO SHARE THERE IS A MOMENT OF COMMONING. 1 [DE CAUTER] 1
Vgl. De Cauter, Lieven: Common Places. Theses on the commons, unter: https://depressionera.gr/lieven-de-cauter-i [gesehen: 07.10.19]
klassischen Sinn, welcher jedoch gleichzeitig eine mögliche Ressource zur Schaffung eines Gemeingutraums bildet. In urbanen Agglomerationsräumen stellen diese Ressourcenräume die öffentlichen Flächen, Parks, Plätze, Straßen und Restflächen dar. Beispielhaft für den Prozess vom öffentlichen Raum zum Gemeingut, welcher schließlich zur Produktion weiterer führte, stellt die Besetzung des Syntagma Platz in Athen gegen das Spardiktat der Troika von Mai bis September 2011 dar. Der Architekt und Professor an der Nationalen Technischen Universität Athen Stavro Stravrides beschreibt das Verhalten der Demonstrierenden in der gemeinsamen Publikation mit Mathias Heyden ‚Gemeingut Stadt‘ wie folgt: „Neu Hinzukommende wurden eingeladen, an den täglichen Generalversammlungen teilzunehmen, inkludierende Regeln der Nutzung ausgearbeitet und neu formuliert, wenn es kollektiv als notwendig erachtet wurde. Verschiedene Initiativen erhielten Raum, um aufzublühen – solange sie den demokratischen Rahmen der Besetzung akzeptierten. Mikrogemeinschaften fokussierten unterschiedliche Forderungen und einzelne Initiativen (ein alternativer Spielplatz, eine Medien- und Übersetzungszentrale, ein „Wir zahlen nicht“-Anti-Austeritäts-Kampagnen-Kiosk usw.) bildeten ein loses Netzwerk von Mikroplätzen innerhalb des besetzten Platzes.“17 Der öffentliche Raum einer Stadt kann so zu einer ‚Fabrik‘ zur Produktion neuer Gemeingüter werden, wie es beispielsweise die Philosophen Michael Hardt und Toni Negri in ihrer Publikation ‚Common Wealth Das Ende des Eigentums‘ beschreiben. 18 Abseits von unentgeldlichen sozialen Prozessen der Aneigung öffentlicher Räume stellt das entgeldliche Teilen von Räumen eine ältere gängige Praxis dar. Beispielhaft hierfür stehen geteilte Arbeitsräume, die sogenannten ‚Coworking Spaces‘. Neben dem funktionalen Aspekt des Teilens der Miet- und Nebenkosten sowie etwaigen Zubehörs, wie Drucker oder Plotter, steht häufig auch der soziale Aspekt im Vordergrund. Zumeist finden sich hierbei einzelne Selbstständige oder Freelancer, die entweder in einem ähnlichen Berufszweig tätig sind und durch gegenseitigen Austausch profitieren oder auf der Ebene individueller Lebensstile und Überzeugungen eine Verbindung pflegen. So entstehen beispielsweise ‚Coworking Offices‘, welche durch zusätzliche Nutzungen wie beispielsweise Meditationsräume nicht nur gemeinsames Arbeiten, sondern auch die Freizeit miteinander verbinden.
„Selbstorganisierte oder kommunal initiierte Gruppen betreiben hier kleine Commons-artige Gemeinschaftsprojekte, die gezielt eine materielle wie immaterielle Ertragsgewinnung verfolgen und gemeinsamen gärtnerischen, kulturellen oder dem Wissensaustausch dienenden Tätigkeiten nachgehen. Die als nachbarschaftlicher Allmende-Raum beziehungsweise Neighbouring Spatial Commons bezeichnete Raumkategorie, die meist an einen Teil der ortsgebundenen Allmende anschließt, ist regulierter und traditioneller und lässt sich leichter auch auf private Flächenreserven ausweiten.Beispiele sind die Gärten an der äußeren Ringbebauung und die überbauten öffentlichen Erdgeschossbereiche um den Mehringplatz oder die nachbarschaftlich angelegte und gepflegte Blumenwiese auf einem
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öffentlichen Verkehrsgrünstreifen westlich des Urbanhafens.“1
Städtische Infrastruktur gehört seit jeher fest zum Gefüge einer Stadt. Waren dies in der Historischen Stadt zumeist enge Gassen, die von Fußgängern, Pferden und Kutschen genutzt wurden, entwickelten sich die Straßen mit der Industrialisierung zu Gleissträngen des Güter- und später Personenverkehrs weiter. Im Zuge des ‚Fordismus‘, dem Ausbau der Automobilindustrie und dem Aufstieg des PKW zum Massengut, definierte sich die städtische Infrastruktur maßgeblich durch den Ausbau breiter Straßen, vorzugsweise von Schnellstraßen. Der verkehrsgerechte Straßenausbau der Nachkriegsjahrzehnte führte nicht nur zu immensem Rückbau historischer Stadtstrukturen, sondern transformierte diese Flächen vom vormaligen Begegnungs- zum reinen Bewegungsraum. Der für die Interaktion von Bürgern so wesentliche 17 ebd. S.32 18 vgl.https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/der-marxist-und-geograph-david-harvey-ueber-dasrecht-auf-stadt-a-895290.html
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1
Pelger, Dagmar; Kaspar, Anita;Stollmann, Jörg: Spatial commons - städtische Freiräume als Ressource, Berlin, Universitätsverlag der TU Berlin, 2016 S.22
Verkehrsband Spree: die dargestellten Entwurfe sind der Diplomarbeiten vom Sommer 1967, Berlin, 1968„Bearbeitung: Matthias Kreuz zum Gelände Berlin- Charlottenburg, ‚Knotenpunkt Fürstbrunn‘ Eine Untersuchung über eine Verlängerung der Bolivarallee durch ein Band an Einrichtungen der Öffentlichkeit, des Gewerbes, des Versorgung und des Verkehrs.“
öffentliche Raum, welcher die Grundlage gemeinsamer sozialer Werte bildet, wurde somit zum größten Teil dem Auto überschrieben. 19Auch im 21. Jahrhundert bleibt der Großteil der öffentlichen Infrastrukturflächen dem motorisierten Individualverkehr vorbehalten, mehr noch der Verkehr steigt weiter an 20, Begegnungen sowie Kommunikation werden somit immer weiter erschwert. Die im vorherigen Kapitel behandelte zunehmende Kommerzialisierung städtischer Räume verschärft die Situation zusätzlich, Raum für gemeinsame Initiativen und Projekte, ein ‚Common space‘ fehlt. Ein Rückbau automobiler Bewegungs- und Parkflächen, eine Verkehrsreduzierung im Allgemeinen oder die gleichberechtigte Nutzung aller Straßenteilnehmer, wie im Konzept des ‚Shared Space‘ für eine Steigerung der Aufenthaltsqualität für Fuß- und Radverkehr könnten eine Chance bieten, den öffentlichen Raum als Begegnungs- und Partizipationsraum zu reaktivieren.21 ‚Shared Space‘ versucht das soziale Miteinander, welches durch juristische Reglementierung im Straßenverkehr ersetzt wurde, durch den Verzicht auf Verkehrszeichen zu reaktivieren. Dabei werden alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt behandelt, um so die Straße wieder für viele Gebrauchsweisen zu öffnen. 22 Gerade auch die anhaltende Klimadebatte und steigendes Bewusstsein über den individuellen ökologischen Fußabdruck lassen die Notwendigkeit und die Bereitschaft eines Mobilitätswandel hin zu alternativen Verkehrskonzepten nicht nur wünschenswert, sondern auch realistisch werden. Öffentlicher Nahverkehr anstelle des eigenen Auto, im Idealfall zu Fuß oder mit dem Fahrrad wie es in den Niederlande oder Schweden durch die Umnutzung städtischer Verkehrsadern schon lange unterstützt wird. „Man muss dem Auto endlich Flächen wegnehmen“23 lautet einer von vielen Artikeln zum Thema der Umnutzung unserer Straßen zugunsten dem Fuß- und Radverkehr und der Vitalisierung städtischer Räume. Könnte eine Verkehrswende im Sinne einer Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs und ‚Shared Space‘ Verkehrskonzepte mit intilligenten Verknüpfungen für neuen Wohnraum und neuen öffentlichen Raum hervorbringen? Schon O.M. Ungers setzte sich in seiner Zeit als Professor am Lehrstuhl Entwerfen VI an der Technischen Universität Berlin mit der Verknüpfung von Infrastruktur und Wohnen auseinander. Vielmehr sah er Wohnen als Teil der Infrastruktur, eine unverzichtbares Gut, welches als Teil der individuellen Grundversorgung verstanden, von Gemeinde oder Staat für die Bürger zur Verfügung gestellt werden sollte. Die Mobilitätsinfrastruktur sollte folglich eine Symbiose mit den städtischen Gebäudestrukturen eingehen. Er schlug
einen Umbau in 3 Schritten vor: 24 1. Die Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs sollten in Gebäude verlegt werden, wobei die benachbarten Gebäude im selben Zuge miteinander verbunden werden sollten 2. Die hoch frequentierten Verkehrsstränge, vor allem die U-Bahn sollte zur Überbauung freigegeben werden 3. Der öffentliche Nahverkehr sollte zum einen über die gesamte Stadt ausgedehnt werden, zum anderen generell durch Gebäude verlaufen. Bis auf das Pionierprojekt der Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße blieb die Vision eines Hybrides aus Infrastruktur und Wohnraum bisher allerdings unrealisiert. Wenn Debatten und Themen wie ‚Sharing‘, Nachhaltigkeit, Wohnungsfehlbestand und die Umweltbelastung in unseren Städten einen immer alltäglicher Bestandteil städtischen Lebens geworden sind, sollte der Gedanke der Mehrfach- und Hybridnutzung aus Verkehr, Öffentlichem und Privatem neu überdacht werden?
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Der Neurobiologe Jacques Paysan verglich den gesellschaftlichen Prozess des Teilens mit der Funktionsweise von Kristallisationskeimen in einem gesellschaftlichen Kristallgitter. Hierbei werden neuankommende, sofern die Grundidee des Projektes ihr Interesse regt, in die Gemeinschaft integriert. Paysan beschrieb den weiteren Prozess wie folgt: „Dann beginnen sie, diese Strukturen mitzugestalten, so dass der Kristall wächst. Dabei gehen die innovativen Kristalli sationskeime im wachsenden Gefüge auf, ohne einen neuen »Zentralisationspunkt« zu bilden und ohne hierarchische Spuren zu hinterlassen. Das System wächst. “25 Diese nicht hierarchische partizipative Art des Teilens definiert maßgeblich die Peer-to-Peer Produktion. Peerto -Peer beschreibt dabei das Teilen auf privater, nicht kommerzieller Ebene zwischen Konsumenten, während jeder Teilnehmer auf seine, den individuellen Kompetenzen entsprechende Art zur Produktion beiträgt. Folglich wird die Expertise und Handlung diverser Individuuen gebündelt und ständig erweitert. Ein bekanntes Beispiel einer solchen Peer-to-Peer Produktion stellt Wikipedia dar. Das Online Lexikon, welches durch freiwillige, unbezahlte Arbeit unzähliger Autoren entstand, speichert nicht nur Wissen, sondern zeigt vielmehr, dass die Begrenztheit des Wissens
19 vgl.Helfrich, Silke ; Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.):Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und 20 vgl. https://www.umweltbundesamt.de/daten/verkehr/fahrleistungen-verkehrsaufwand-modal-split#textpart-1 21 vgl. Böttger, Matthias; Carsten, Stefan; Engel, Ludwig (Hg.):Spekulation Transformation. Überlegungen zur Zukunft von Deutschlands Städten und Regionen, Lars Müller Publishers, 2016, S.236 22 vgl. Sharing-Ansätze für Wohnen und Quartier: Nachhaltigkeitstransformation, kollaborative Konsummodelle und Wohnungswirtschaft, Stuttgart, Fraunhofer IRB Verlag, 2019, S. 295 23 Die Zeit:„Man muss dem Auto endlich Flächen wegnehmen“Deutschland streitet über die Verkehrswende. Wir haben Vertreter von Autofahrern, Radfahrern und Fußgängern diskutieren lassen: Wem gehört die Straße? Interview: Sören Götz und Zacharias Zacharakis, April 2019 24 vgl. Brandlhuber, Arno ; Hertweck, Florian ; Mayfried, Thomas : The dialogic city - Berlin wird Berlin, Köln, Verlag der Buchhandlung Walther König,2015, S.594 25 https://oya-online.de/article/read/972-commons_fallen_nicht_vom_himmel.html
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eines Individuums in kollektiven Prozessen überwunden werden kann. 26 Diese Art der gemeinschaftlichen Produktion, in welcher der Nutzer zum Produzenten wird, findet sowohl in der virtuellen als auch in der realen Sphäre statt. Der US-amerikanische Ökonom Yochai Benkler fasste für diese Art der Produktion den Begriff der ‚commons-based peer produktion‘, wobei diese Produktionsweise nicht auf den Verkauf sondern auf direkte Nutzung zielt.27 Exemplarisch kann es hier sowohl um Softwareherstellung, um Gartenpflege oder die Herstellung materieller Güter gehen. Die Produktion materieller Güter benötigt zumeist umfangreiches Werkzeug oder auch technische Maschinen, welche im Idealfall selbst in einer Peer-to-Peer Produktion über frei verfügbare Baupläne, zumeist als Open-Source-Hardware oder Open Hardware bezeichnet, gebaut werden können. Bisher sind beispielsweise Anleitung zum Bau von 3D Druckern als Open Hardware erhältlich, größere Maschinen wie CNC-Fräsen und ähnliches können bislang allerdings noch nicht mittels Anleitung im Selbstbau entstehen. In offenen Werkstätten, den sogenannten Fab Labs, seltener auch MakerSpace genannt, werden Maschinen wie 3D-Drucker, Laser-Cutter, CNC-Maschinen und Pressen zum Fräsen Einzelpersonen zur Verfügung gestellt. Der Anspruch steht dabei in der Möglichkeit, Einzelstücke mit unterschiedlichen Materialien, Techniken und Werkzeugen individuell fertigen („Make almost everything“) oder reparieren („Rapid Manufacturing“) zu können. So können materielle Güter wie Möbel, Kleidung und Computerzubehör als individuelle Einzelstücke entworfen und hergestellt werden. Die Objektbeschreibungen, Konstruktionspläne und Materiallisten werden anschließend für kommende Projekte zur freien Verfügung gestellt, wodurch das ‚Kristallisationsnetz‘ weiter wächst. Diese Art der gemeinschaftlichen, Nonprofit Produktion findet aktuell immer mannigfaltigere Ausgestaltungen und Konzepte. Die Open Design City in Berlin beispielsweise ist als offene Werkstatt konzipiert. Ähnlich eines Fab Labs werden 3D Drucker, Werkzeuge oder Lasercutter in Form von Dienstleistungen bereitgestellt. Offene Experimente entstehen in Zusammenarbeit, wobei Wissen geteilt und somit erweitert und verbessert wird. Die Repair Café Bewegung kann als ein weiterer Nebenstrang der ‚Maker Szene‘ gelesen werden. Hierbei werden alle nötigen Werkzeuge zur Reparatur von Kleidung, Möbeln, elektronischen Geräten und ähnlichem gestellt. Zudem befinden sich vor Ort Reparaturexperten aus den einzelnen Bereichen und helfen den Besuchern. Die zu reparierenden Gegenstände werden einfach von Zuhause mitgebracht und in den Repair Cafés repariert, wer nichts zu reparieren hat trinkt Café oder hilft anderen. Auch das Lendwirbel Festival in Graz kann als Ausdruck einer gemeinschaftlichen Produktion 26 27 28 29
von materiellem und immateriellem bezeichnet werden. In einem ehemaligen Arbeiterviertel in Graz findet mittlerweile jährlich das Lendwirbel Festival statt. Es entstand aus der gemeinsamen Lust, öffentlichen Raum temporär zu bespielen und umzugestalten. Begonnen hatte diese Bewegung eigentlich in der Eröffnung eines Frisörsalons, im Folgejahr bereichert durch ein Symposium des ansässigen Architekturbüros, dann weitete sich das Festival schließlich in eine achttägige Veranstaltung aus. Organisiert wird es von den Bewohnern selbst, wobei sich eine kleine Gruppe um die Genehmigung und Straßensperrung kümmert. Die Gastgeber sind also gleichsam auch Gäste des Festes. Dabei zielt das inoffizielle Quartierfest nicht auf Profit, sondern auf gemeinschaftliche Aktionen wie Basteln, Recyceln, Musizieren und den Selbstbau. 28 Wenn der öffentliche Raum also als Gemeingut verstanden wird und durch Kurzzeitengagement in einer Peer-to-Peer Produktion seiner Bürger umgestaltet wird, kann dies auf lange Sicht bleibende Erträge bringen. Ein Beispiel hierfür wäre die Initiative der „Essbaren Stadt“ wie sie in Kassel von Stadtbeamten und Bürgern gemeinsam ins Leben gerufen wurde. Hierbei wurde das Abstandsgrün vor Fassaden oder Fahrbahnen durch Himbeer- und Johannisbeersträucher oder den Anbau von Salat und anderem Gemüse ersetzt. 29 Der erste Schritt, in diesem Falle das Pflanzen der Setzlinge, lässt sich mit wenig Aufwand eines einzelnen oder einer Gruppe bewältigen, einmal gewachsen, vielleicht von anderen vervielfältigt, kann dieser erste Einsatz einen großen Mehrwert für viele bedeuten.
vgl. Rauterberg, Hanno: Wir sind die Stadt!: Urbanes Leben in der Digitalmoderne, Suhrkamp, 2013, S.37 vgl. Helfrich, Silke; Kuhlen,Rainer; Sachs, Wolfgang; Siefkes, Christian: GemeinGüter – Wohlstand durch teilen, Heinrich-Böll-Stiftung, S. 41 vgl. https://lendwirbel.com vgl. Rauterberg, Hanno: Wir sind die Stadt!: Urbanes Leben in der Digitalmoderne, Suhrkamp, 2013, S.36
277
INITIATIVEN GEMINGUT STADT Der Kotti Shop, Berlin
.„Der Kotti-Shop ist ein experimenteller, non-profit Kunst- und Projektraum, im Erdgeschoss des Neuen Kreuzberger Zentrums, direkt am Kottbusser Tor in Berlin. [...] Das Kottbusser Tor ist ein vielschichtiger, diverser Ort in Berlin, Kreuzberg: er hat den Ruf ein Raum der Möglichkeiten zu sein, ein Mythos, zugleich Wohnort, Arbeitsplatz, Verkehrsknotenpunkt, und Besuchermagnet, ein Mikrokosmos für sich. Tausende wohnen hier und noch viel mehr Menschen kommen tagtäglich hierher.Gentrifizierung hat am Kottbusser Tor viele Gesichter: Auf der einen Seite sind die Wohnungen und die Mieter betroffen, auf der anderen Seite wird das kulturelle und soziale Kapital, dass sich über die letzten Jahrzehnte hier gebildet hat abgegriffen und verwertet. Lasurartig verändern sich die Raumstrukturen. Aufgrund dieser Entwicklungen, haben sich in den letzten Jahren eine Vielzahl von Initiativen und Projekten gegründet. Der Kotti-Shop ist im Dialog mit den Akteuren Vorort, aber auch selbst einer der Orte des vielschichtigen Miteinanders. Der Kunst- und Projektraum agiert als Schnittstelle zwischen der Bewohnerschaft und verschiedener gesellschaftlichen Akteure mit der Kunst und Kulturszene. Er öffnet Dialogräume und versucht das örtliche, soziale Gefüge zu stärken, indem er u.a. den BewohnerInnen am „Kotti“ mit künstlerischen Formen ein gleichberechtigtes Forum schafft. Er ist Teil des sozialen Gefüges und als spielfreudiger Experimentierraum, ein Bezugs- und Aktivitätsraum für die Nachbarschaft.“1
Die Laube in den Prinzessinengärten, Berlin
„Am Moritzplatz errichten wir im Selbstbau mit der Laube einen begrünten, selbstorganisierten Lernort für die Nachbarschaftsakademie, für Umweltbildung und Umweltkommunikation. In den Prinzessinnengärten am Moritzplatz soll mit der Laube ein selbstorganisiertes Lern- und Nachbarschaftszentrum entstehen. Im Eigenbau errichten wir dazu zwischen April und Juli 2016 eine dreistöckige experimentelle Holzrahmenstruktur. Sie soll Raum bieten sowohl zum Gärtnern wie für selbstorganisiertes, gemeinschaftliches und zukunftsorientierten Lernen. Im Sinne eines Gemeingutes soll die Laube allen offen stehen. Hauptnutzerin ist die 2015 gegründete Nachbarschaftsakademie.“ 2
1 http://www.kotti-shop.net/about.html 2 https://nachbarschaftsakademie.org/architektur/ Bild: http://www.kotti-shop.net/kotti_l_amour.html
278
WOHNEN 2020 „Das Wohnen im Umland im Eigenheim war ein ‚Hausfrauenmodell‘, das heißt, dass die unbezahlte Arbeit der Ehefrau notwendig war, um ein von umfassender Mobilität der Familienmitglieder gekennzeichnetes Leben zu organisieren. Da heute die Qualifikation der jungen Frauen das gleiche Niveau erreicht hat wie das der jungen Männer, finden sich eben immer häufiger Paare, in denen beide auf eine qualifizierte Beschäftigung aus sind. Der Suburbanisierung geht also gleichsam das Personal aus“1
01 WOHNFLÄCHE UND HAUSHALTSHRÖSSEN 02 VALORISIERUNG DES WOHNORTES 03 COHOUSING 1
Häußermann, Hartmut: Was bleibt von der europäischen Stadt? in: Frey, Oliver;Koch, Florian (Hg.): Die Zukunft der Europäischen StadtStadtpolitik, Stadtplanung und Stadtgesellschaft im Wandel, Wiesbaden, VS, Verl. für Sozialwiss., 2011, S.30
04 SHARING IM WOHNEN
Seit den 1970er Jahren hat sich die Wohnfläche pro Kopf von durchschnittlich 25qm auf 45qm fast verdoppelt. Prognosen zufolge soll diese bis 2030 auf 55qm weiter ansteigen. 1 Die Zahl an Einpersonenhaushalten hat seit dem zweiten Weltkrieg stetig zugenommen und liegt heute bei rund 40 Prozent, in den Großstädten sogar bei 50 Prozent. Einem Einpersonenhaushalt stehen durchschnittlich 66,7 qm zur Verfügung, ein Drittel mehr als die durchschnittliche Pro-Kopf-Wohnfläche in einem Zweipersonenhaushalt mit 48qm. Die individuelle Fläche sinkt proportional zu jeder weiteren Person, die dem Haushalt beiwohnt (30,7qm bei 3 Personen). Folglich steigt der Flächenverbrauch proportional zur steigenden Zahl von Einpersonenhaushalten. Die Anzahl an drei und mehr Personenhaushalten beläuft sich nunmehr auf 25 Prozent, in größeren Städten noch deutlich weniger. Haushalte mit vier und mehr Personen nehmen sogar nur noch einen Anteil von 12,6 Prozent ein. Dies ist unter anderem auf den demografischen Wandel zurückzuführen, dem Anstieg des Alters bei gleichzeitigem Kinderrückgang. Um dem ansteigenden Flächenverbrauch bei sinkenden Bodenressourcen entgegen zu wirkensollten künftig mehr Wohnungen zusammengelegt werden, wie bei kollektiven Wohnformen. Einpersonenwohnungen sollten durchschnittlich kleiner dimensioniert sein um nachhaltig und wirtschaftlich mit der knappen Ressource des städtischen Bodens umzugehen. Das Positionspapier zum Thema bezahlbarer Wohnraum der bayrischen Architektenkammer schlussfolgert, dass Grundriss „[...] nicht zwangsläufig großzügig, jedoch variabel, teilweise ohne Raumhierarchien oder mit zuschaltbaren Flächen konzipiert werden, um dauerhafte und flexible Nutzungen zuzulassen.“2Zuschaltbare Flächen beschreiben in diesem Falle nicht nur die Möglichkeit, den eigenen Wohnraum bei geänderten Lebenssituation anzupassen, sondern vor allem die Möglichkeit, gemeinschaftlich genutzter Zusatzräume zur Reduzierung des individuellen Wohnraums. Auch demografische Entwicklungen beeinflussen die gegenwärtigen und zukünftigen Wohnformen nachhaltig. Der in den letzten Jahrzehnten gestiegene Pluralismus an Lebensformen führte zu mannigfaltigen Wohntypen, wobei das Familienmodell und der damit stereotyp verbundene Vierpersonenhaushalt zunehmend an Relevanz verliert.
„Wer die lebendige Stadt vor der Tür hat, kann anders wohnen vielleicht auf viel weniger Nutzfläche als bisher [...]“1
02
Das Wohnen heute ist im Gegensatz zum primär funktionalen Wert der Wohnung der Nachkriegsjahre durch zwei essenzielle Komponenten bestimmt, den Ort und die Gestaltung. 3Wohnorte sind zum Gegenstand einer gesellschaftlichen Valorisierungsdynamik geworden. Der Wohnstandort, also das je spezifische Stadtviertel zeichnet sich durch ein eigenes Image aus und repräsentiert einen spezifischen Lebensstil. Dieser wird kulturalisiert, singularisiert und favorisiert und vorzugsweise in lebendig erscheinenden ‚mixed use‘ Viertel mit heterogenen Bewohnerstrukturen ausgelebt. Der Wunsch nach individueller Gestaltung kann sich durch ‚singuläre‘ Einrichtungen, aber auch spezifischen Grundrisse auszudrücken. Die Wohnungen bilden dabei den ‚Spiegel des Individuums‘ und repräsentieren dieses vor sich selbst und anderen. So sollten diese Wohnungen diese größtmögliche Freiheit bieten, eine Bühne sein, die individuell kuratiert und bespielt werden kann. 4 1 2 3 4
vgl. Bayerische Architektenkammer | Positionspapier | 04.2018 Bezahlbarer Wohnungsbau für alle S.9 Bayerische Architektenkammer | Positionspapier | 04.2018 Bezahlbarer Wohnungsbau für alle S.9 vgl. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Suhrkamp Verlag, 2017 S. 315 vgl. ebd. S. 316
1
Lange, Bastian; Prasenec, Gottfried; Saiko, Harald: Ortsentwürfe. Urbanität im 21. Jahrhundert, Jovis Verlag 2013, S.112
281
Gerade Altbauwohnungen gewinnen durch ihre ästhetische Großzügigkeit an Beliebtheit. Gleichzeitig verliert das Einfamilienhaus seinen Status als Wohnideal. 5
03
Anstelle des Einfamilienhauses finden sich heute in gemeinschaftlichen Wohnprojekten (Cohousing) innerhalb der Stadt enge Nachbarschaftsbeziehungen. Für den anonymen Stadtmensch störend, für andere eine Möglichkeit in einer immer mehr auf Individualisierung ausgelegten Gesellschaft, Kontakte und nachbarschaftliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Förderlich zeichnen sich bei Cohousing Projekten prinzipiell stabile Nachbarschaften, demokratische Teilhabe, Verantwortung gegenüber dem Wohnort und eine geringe Fluktation aus.6 Tatsächlich scheinen heutige Cohousing Projekte eine ähnliche nachbarschaftliche Beziehung, welche auf Solidarität untereinander und Verantwortung zum Wohnort gründete, zu fördern, wie sie sich in den analysierten Großwohnbauten der 1970er Jahre zeigten. Kollektive Wohnformen finden sich bisher vorwiegend im Wohnumfeld der Mittelklasse, könnten aber auch eine Chance der sozialen Integration sein, wie es die Fallstudie im Rahmen des Forschungsprojektes KoSEWo (Nachhaltige Konsummodelle der Share Economy in der Wohnungswirtschaft - BMBF-Forschungsprojekt) in der Großwohnsiedlung Kiefernwald in Neustrelitz zeigte. Die Studie kam zu dem Schluss, dass Sharing Angebote der Wohnungswirtschaft zur Förderung einkommensschwacher Haushalte beitragen können. Im Bezug auf das inklusive Potenzial im Konzept des Cohousing lassen sich so unterschiedliche Generationen, Einkommen, Kulturen sowie körperliche und geistige Verfassung integrieren. 7
Der ansteigende Trend1 zum Kollektiven Wohnen/ Cohousing kann als Reaktion auf den gesellschaftlichen wandel, demographischer wandel, individualismus und die pluaralisierung von lebensstilen und den daraus resultierenden wunsch nach einbettung in eine nachbarschaftliche gemeinschaft verstanden werden.2
04
Die ‚Sharing Economy‘ hat sich in den vergangen Jahren vermehrt auch auf die Bereiche des Wohnens ausgeweitet. Von neuen Wohntypologien, dem ‚timesharing‘ der privaten Wohnung bis zum Teilen der Haushaltsgeräte gibt es mannigfaltige Anwendungen des Tauschens und Teilens. Zum einen liegt vielen Sharing Ansätzen (bsp. Haushaltsgeräte, Produktion oder Car- Sharing) ein Nachhaltigkeitsgedanke zu Grunde, zum anderen verringert Teilen die persönlichen Kosten. Die Ansätze können dabei vielfältig sein wie beispielsweise das gemeinsame Produzieren und Konsumieren (wobei das Teilen hier über die gemeinsame Nutzung hinaus geht), gemeinsame Freizeitgestaltung oder (politische) Partizipation, co-working spaces oder auch gemeinsame Lebensmittelproduktion- oder bereitstellung. 8 Gerade die neu heranwachsende Generation ist mit der internetbasierten Organisation des Zusammenlebens und Teilens vertraut und nutzt dieses Angebot rege. 1 5 6 7 8
282
vgl. ebd. S. 316 vgl. Sharing-Ansätze für Wohnen und Quartier: Nachhaltigkeitstransformation, kollaborative Konsummodelle und Wohnungswirtschaft, Stuttgart, Fraunhofer IRB Verlag, 2019, S.128 vgl. ebd. S. 129 vgl. Sharing-Ansätze für Wohnen und Quartier: Nachhaltigkeitstransformation, kollaborative Konsummodelle und Wohnungswirtschaft, Stuttgart, Fraunhofer IRB Verlag, 2019, S. 57
2
Waren es 2000 bis 2010 nur ca. 280 gelistete gemeinschaftliche Projekte, waren es 2011 schon 489 nach: Sharing-Ansätze für Wohnen und QuartierNachhaltigkeitstransformation, kollaborative Konsummodelle und Wohnungswirtschaft, Stuttgart, Fraunhofer IRB Verlag, 2019, S.124 vgl. ebd.
Das vermieten einzelner Zimmer oder der kompletten Wohnung über Internetplattformen wie beispielsweise Airbnb zeigt einen veränderten, offeneren Umgang mit unserer Privatsphäre. Was einst nur Freunde und Besucher offen stand, wird heute öffentlich im Internet zur Schau gestellt und an Fremde aus aller Welt gegen ein entsprechende Miete als Urlaubsdomizil vergeben. Ferne Länder, andere Städte und Kulturen zeigen sich nunmehr nicht nur in ihren nationalen Eigenheiten aus Natur, Stadtstruktur und Baukultur, sondern auch durch die Art des ‚Wohnens‘ der jeweiligen Gesellschaft. Für die Urlauber geht es zumeist weniger um eine besondere Ausstattung, wie es bei der Hotelwahl zumeist ein ausschlaggebendes Kriterium ist, sondern vielmehr um ein Gefühl, das autethische Lebensgefühl eines Einheimischen. ‚Living like a Local‘ beschreibt die Strategie hinter dem Erfolg von Wohnungsplattformen wie Airbnb, wordurch die sowieso schon mehr als angespannte Situation auf dem Wohnungsmarkt weiter belastet wird. Dies führte beispielsweise in deutschen Großstädten zu entsprechenden Regelungen. 9 Auf der anderen Seite ist das Kommerzialisieren des privaten Rückzugsortes für viele mittlerweile eine Notwendigkeit geworden, um sich bei stetig steigenden Mieten ein Leben am Puls der Stadt leisten zu können. Beim Sharing im Bereich des Wohnens ergeben sich auf der Ebene der Ökologischen Dimension somit klare Vorteile. Wenn Flächen und Räume auf Zeit oder dauerhaft geteilt werden hat dies einen positiven Effekt auf die Ressourceneffizienz und -schonung. Gerade im Bereich des ‚Cohousings‘ können geteilete Flächen für Gästewohnungen, sportliche Aktivitäten, Büroflächen oder Handwerkliches die eigentliche Wohnfläche reduzieren, da gewisse Funktionen ausgelagert werden können. Bisher scheint die Bereitschaft, in Deutschland auf kleinerem Raum zu wohnen, noch gering auszufallen10, allerdings gibt es durchaus bereits realisierte Ausnahmen. Beispielhaft hierfür stehen Gemeinschaftsprojekte wie Spreefeld Berlin oder das Hausprojekt M29. Gerade auch im Bereich des ‚bezahlbaren‘ und geförderten Wohnraums sind ‚Sharing‘ Ansätze ein zukunftsrelevantes Thema. So könnten Anforderungen an Digitalisierung, Klimaschutz, Nachhaltigkeit und Lebensqualität nicht mehr nur für einkommensstarke Haushalte gelten.11 Zudem stellt sich durch das Teilen eine gewisse Solidarität unter den Bewohnern heraus. Dies neue Form des ‚Sharing- Konsums‘ wird in Folge dessen als ‚pro-soziale‘ Handlung betrachtet, wie es in der Publikation ‚Sharing-Ansätze für Wohnen und Quartier: Nachhaltigkeitstransformation, kollaborative Konsummodelle und Wohnungswirtschaft‘ thematisiert wird: „Dabei besteht die Möglichkeit, dass durch die Veränderung des Zugangs zu Gütern, wie auch durch ein erweitertes Nutzerverständnis, die Bedeutung des individuellen Besitzens zurückgedrängt wird und sich ein stärkeres Wir-Gefühl entwicklen könnte.“12
9 10 11 12
BGH Urteil: Wer an Touristen vermietet, darf gekündigt werden; ab November 2014 in Berlin Mitte ‚Arbeitsgruppe Zeckentfremdungsverbotsverodrnung vgl. Sharing-Ansätze für Wohnen und Quartier: Nachhaltigkeitstransformation, kollaborative Konsummodelle und Wohnungswirtschaft, Stuttgart, Fraunhofer IRB Verlag, 2019, S. 23 vgl. Sharing-Ansätze für Wohnen und Quartier: Nachhaltigkeitstransformation, kollaborative Konsummodelle und Wohnungswirtschaft, Stuttgart, Fraunhofer IRB Verlag, 2019, S.25 Sharing-Ansätze für Wohnen und Quartier: Nachhaltigkeitstransformation, kollaborative Konsummodelle und Wohnungswirtschaft, Stuttgart, Fraunhofer IRB Verlag, 2019, S. 42
„Durch die Darstellung der Innenräume und ihere Charakteristika entsteht eine neue Stadt aus Interieurs, die in iherer Gesamtbetrachtung zu einer eigenen, neuen Erzählung wird.“1
1
Grelck, Jakob: Von der Kommune zur Community: Airbnb in Berlin, in: Brandlhuber, Arno ; Hertweck, Florian ; Mayfried, Thomas : The dialogic city - Berlin wird Berlin, Köln, Verlag der Buchhandlung Walther König,2015, S.425
283
DIE EINKOMMENSDIFFERENZ SPIEGELT SICH IN DER UNTERSCHIEDLICHEN MOTIVATION ZUM TEILEN WIEDER. FÃœR DIE EINEN IST ES SPASS UND EXPERIMENT, DIE ANDEREN SIND FINANZIELL DARAUF ANGEWIESEN.
80 %
60 %
40 %
20 %
Wissen
Ernährung
Tausch-/Leihbörse
Energie
Recycling
Mobilitätsangebote
Freizeitangebote
Gemeinschaftliche Wohnangebote
Gemeinschaftsräume
Gemeinschaftsgärten
0%
Die Zehn meistgenannten Sharing-Angebote der Wohnungswirtschaft [Anzahl der Nennung] Grünfläche im Wohnumfeld [195]; Sitzmöglichkeiten [160]; Wasch- und Trockenraum [116]; Veranstaltungs- /Gemeinschaftsraum [105]; Gästewohnung [104]; Stellplätze Für Fahrrad, Kinderwagen etc. [101]; Lagerraum für Fahrrad, Kinderwagen etc. [100]; Personelle Unterstützung für gemeinschaftliche Gärten [82]; Räume für soziale Träger oder Vereine [82]; Überdachte Stellplätze Fahrrad, Kinderwagen etc. [81]; Eigene Darstellung Daten Nach Sharing-Ansätze für Wohnen und Quartier Nachhaltigkeitstransformation, kollaborative Konsummodelle und Wohnungswirtschaft, Stuttgart, Fraunhofer IRB Verlag, 2019, S. 76f.
ÜBERBLICK ZU SHARING-SYSTEMATISIERUNGSANSÄTZEN, HANDLUNGSFELDER, PRAXISBEISPIELE
*Tabelle: Überblick zu Sharing-Systematisierungsansätzen, Handlungsfelder, Praxisbeispiele (Eigene Darstellung nach: Sharing-Ansätze für Wohnen und Quartier: Nachhaltigkeitstransformation, kollaborative Konsummodelle und Wohnungswirtschaft, Stuttgart, Fraunhofer IRB Verlag, 2019, S.62f.
286
HANDLUNGSFELDER
BEISPIELE AUS DER PRAXIS
Mobilitätsdienstleistungen und -Angebote
Car-/Bike-/LastenradSharing Mieterticket ÖPNV Hol-Bring-Dienste (Walking- Bus zur Schule/Kita, Arzt-Shuttel) Lieferdienst
Gemeinsame Ressourcennutzung
Gemeinsame Nutzung von Räumen/ Freiflächen/ Gegenständen/ Werkzeugen (Repair-Cafés)
Aktivitäten zur Förderung sozialer Kontakte und nachbarschaftlicher Beziehungen
Einkaufsunterstützung, Nachbarschaftstreffs/-Cafés, Veranstaltungen, Feste, Freizeitangebot für verschieden Zielgruppen (Jugendsport in der Wohnanlage, Yoga/Fitness im Gemeinschaftsraum, Second-Hand-Börse, Beratung)
Organisation und Management
Quartiersmanagement, Nachbarschafts- und Stadtteiltreffs, Events im Quartier (für Jugendliche, Senioren etc.)
HANDLUNGSFELDER DER WOHNUNGSWIRTSCHAFT
TRADITIONELLE ANGEBOTE
NEUERE ANGEBOTE
ÖFFENTLICHE ANGEBOTE
Gemeinschaftliches Wohnen
Wohnungen für Wohngemeinschaften (MehrGenerationen-Wohnen, Studenten-, Alten -WG)
Gästewohnung/-Haus, Trennungswohnung, Wintergarten, Gemeinschaftsküche/-Wohnzimmer
Temporäres Wohnen / Hotel/ Pension / city bnb
Gemeinschaftsräume außerhalb der Wohnung
Wasch- und Trockenraum, Veranstaltungsräume, Hobbyräume, Lagerraum
Co- Working Spaces, Werkstatt, Spielwohnung, Räume für Sport und Fitness, Sauna, Bad
Atelierräume, Café/ Restaurant, Kino, Nahversorgung,Läden, Produktionsstätten (Peer to Peer)
Tausch- und Leihbörse
Flohmarkt, Nachbarschaftshilfe (haushaltsnahe Dienstleistung, Werkzeugverleih) Schwarzes Brett
Spielzeugverleih, Umsonstläden-/ Schränke (Foodsharing), offener Bücherschrank
Tausch/ Leihbazar, Wissensbazar, Bibliothek
Gemeinschaftliche Freiflächen
Gemeinschaftsgärten, Hofflächen, Vorgärten, Laubengänge, Spielplatz
Grillplätze, Gewächshäuser, (Dach-)Terrassen, Beete oder Pflanzenkästen
Park, Diskussionsforum (Demonstration, Kundgebungen)
Freizeit
Seniorentreff, Sportgruppe, Chor
Plublic Viewing/ Kino, Kletteranalge, gemeinschaftliche Ausflüge
Ausstellungsflächen, Werkraum,
Mobilität
Stellplätze (Autos, Fahrräder, Kinderwagen, Rollatoren)
(Elektro-)Car- und Bike-Sharing, Lastenanhänger, Mitfahrbörse
ÖPNV Anschluss
Ernährung
Einkaufs-/Lieferservice, gemeinsames Kochen, Früstücks- und Mittagstisch, Anbau von Obstund Gemüse
Food-Sharing und Food-Kooperation (offene (Kühl-)schränke, urban Gardening/ Farming
=
Wissen
Arbeitsgruppen, Hausaufgabenhilfe, Computerraum und -Kurse
Internetplattformen, Miet Oma/ Opa, Lernräume, Bibliothek, Bücherschrank, Lehrpfade, Angebote zum Vorlesen
Vorlesungs- und Seminarräume, Computerräume, Zugang zu Universitätsbeständen
Recycling
Kompostierung von Bioabfällen
Repair- Café
Fab lab
287
-05TYPOLOGIE GROSSWOHNBAU 2020
Wie die analytische Arbeit des vergangenen
me koexistieren) bis heute eine Synergie aus
und aktuellen Semesters gezeigt hat, charak-
Qualität (Bewohnerzufriedenheit) und Quantität
terisieren sich die analysierten Wohnbauten
(große Zahl an (Sozial-)Wohnungen). Die ange-
der siebziger Jahre nicht nur durch eine hohe
spannte Situation auf den Wohnungsmärkten,
Zahl an gefördertem Wohnraum, welcher dem
der enorme Mangel an bezahlbarem und geför-
Fehlbestand infolge des Kriegs entgegen-
dertem Wohnraum, die konsequent steigende
wirken sollte, sondern auch durch eine hohe
soziale Spaltung, aber auch die starke Präsenz
Bewohnerzufriedenheit. Hierbei handelt es sich
der Politik zum Thema der Wohnungsfrage ver-
um Bauprojekte, welche in der zweiten Baupe-
deutlichen die Parallelen im Wohnraummangel
riode nach dem zweiten Weltkrieg (nach 1970)
der Nachkriegsjahre und aktuell.
nach dem Leitbild ‚Urbanität durch Dichte‘ in
Die Arbeit beschäftigt sich folglich mit der
zentraler Innenstadtlage und mit vielfältigen
Frage, ob und wie die Typologie des Großwohn-
Funktionen entstanden. Das Thema der Urbani-
baus aus den siebziger Jahren in das 21. Jahr-
tät manifestierte sich als Gegenbewegung zu
hundert transformiert werden kann, um so eine
den monotonen Siedlungen in Stadtrandlage
Antwort auf die Wohnungsfrage zu geben. In
der funktionalen Stadt, welche Segregation,
einem ersten Schritt wurde hierbei ein Thesen-
wirtschaftliche Einschränkung, anwachsenden
katalog aus den charakteristischen Merkmalen
Individualverkehr, hohe Fluktuationsraten und
dieser Bauten aufgestellt, um die Typologie des
Homogenität bestimmter (Alters-)Gruppen
Großwohnbaus der Nachkriegsjahre zu fassen.
hervorbrachten. In Abwendung von der funktio-
Die Begrifflichkeiten beschreiben dabei die
nalen Stadt und der Charta von Athen schufen
konkreten inhaltlichen und architektonischen
die Großwohnbauten durch Aspekte der Zentra-
Merkmale dieser Typologie, welche im nächs-
lität (die Nähe von Funktionen und Nutzungen),
ten Schritt auf das 21. Jahrhundert mit seinen
Funktionsvielfalt (Wohnen, Arbeiten, Erholen
spezifischen städtischen, gesellschaftlichen und
und Sport sind räumlich nah verfügbar), Nut-
politischen Gegebenheiten übertragen wird.
zungsmischung (ein städtischer Raum wird für unterschiedlichste Aktivitäten genutzt) und Funktionspluralismus (unterschiedlichste Räu289
ZENTRALITÄT
„Durch die Abwanderung einkommensschwacher Menschen in die Randgebiete verändern sich auch die Innenstädte, indem sie sich zum Zentrum für Wohlhabende verwandeln. Die Wohnungsnot in den attraktiven Städten betrifft nicht mehr nur Geringverdiener und Zuwanderer sie ist in die Mitte der Gesellschaft gerückt.“ [Wessely, 2017:8 ] In den Städten unserer Zeit stellt die historische Innenstadt schon lange nicht mehr das einzige Zentrum dar, vielmehr findet sich in jedem Stadtviertel ein eigenes Zentrum. Diese Polyzentralität führt folglich zu einer ‚Polylokalität‘. In der Körnung an die umgebende Stadtstruktur angepasst schafft der Großwohnbau, als ein Netzwerk in der Stadt verteilt, in seiner Summe das ‚Große‘.
monumental urbanism, new york, 1951 @ designboom.com/
290
1970 Enfernung Zentrum London 2,5km-5km
Enfernung Zentrum Köln 2,2km
Enfernung Zentrum Mannheim 1,3km
Enfernung Zentrum Mühlheim an der Ruhr 0,3km
Enfernung Zentrum Hannover 1km
Enfernung Zentrum München 2,5km
2020
Polyzentralität = „Polylokalität“
VIELFALT
Durch den Bedeutungszuwachs von Wissenschaft und Technologie in den vergangenen Jahren wird das Maß an Wissen ein grundlegendes Merkmal sozialer Zugehörigkeit und damit auch sozialer Ungleichheit. Somit hat sich ein Wandel in der Logik der Klassenbildung vollzogen, da das Einkommen nicht mehr die einzige Komponente zur Schichtenverteilung bildet. So ist das Wissen über die Zugangsmöglichkeit zu Informationskanälen und die Fähigkeit, die Fülle an Informationen zu filtern, eine eigenständige Dimension sozialer Ungleichheit geworden. Der Wandel hin zur postindustriellen Ökonomie, welcher sich seit den 1970er Jahren immer stärker vollzog, kennzeichnet sich gerade im Erstarken des ‚Humankapitals‘ Wissen. Hierbei bildet der ‚kognitive Kapitalismus‘1die Grundlage eines erfolgreichen Werdegangs, wodurch eine höhere formale Qualifikation zur Notwendigkeit vieler Arbeiter wird. Folglich sollte in Anlehnung an den gesellschaftlichen Habitus unserer Zeit Nutzungen des Wissens und der Kultur die des Konsums der 70er Jahre ersetzen. Gerade im geförderten Wohnungsbau, welcher häufig eine hohe Zahl weniger gebildeter Bewohner aufweist, könnte so die Schwelle zu Bildung und gesellschaftlicher sowie politischer Partizipation verringert werden.
Adam Simpson, Boundary Hotel Elevator (Vs. OMA, EXPO 89, France, Paris, 1989), Bild: http://socks-studio. com/2011/07/20/adam-simpson-boundary-hotel-elevator-vs-oma-expo-89-france-paris-1989/
294
LEVEL +-0 INFRASTRUKTUR
Im Sinne der Nachhaltigkeit, besonders der nachhaltigen Mobilität, und dem Wunsch nach Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs sollte die Erdgeschosszone des Sockels keine weitere Infrastruktur ausbauen. Vielmehr sollte bestehende Infrastruktur genutzt werden, um neue Bauflächen auszuweisen. So könnte die Stadt auch bei weiter steigenden Bodenpreisen den Bau von sozialem Wohnraum fördern, da die Kostengruppe 100 (welche in München aktuell einen Prozentualen Anteil an den Gesamtbaukosten von über 80% darstellt) entfallen würde.
IaN+, Carmelo Baglivo, Maddaloni 2013, Bild: https://relationalthought.wordpress.com/2014/04/17/1893/
296
1970
Infrastruktur
*Konzeptionelle Darstellung GroĂ&#x;wohnbau
2020
LEVEL +1 WISSEN(S)/ KULTUR Die Architektur der Kulturebene des ersten Obergeschosses sollte sich bewusst zurücknehmen. Ein baulicher ‚Rahmen‘ und die grundlegende Infrastruktur ermöglichen so Raum zum anfügen, weiterbauen und zur Improvisation. Eine Architektur des unvollständigen, deren Ausgang und Endbild von den Bewohnern, Nachbarn und Besuchen an jedem Ort neu collagiert und kuratiert wird und so an jedem Standort unterschiedlich erscheinen wird. Der Großwohnbau bildet somit nicht mehr ein staatliches System ab, sondern die Interessen, Kompetenzen und Wünsche der Stadtbewohner.
Adam Simpson, Boundary Hotel Elevator (Vs. OMA, EXPO 89, France, Paris, 1989), Bild: http://socks-studio.com/2011/07/20/ adam-simpson-boundary-hotel-elevator-vs-oma-expo-89-france-paris-1989/
300
1970
Wissen/ Kultur Konsum
2020
LEVEL +- TOP REGENERATION Um nachbarschaftliche Kontakte zu stärken und als Erweiterung der privaten Sphäre sollte der Großwohnbau zusätzliche, den Bewohnern vorbehaltene Flächen für Kinder, Bewegung und Regeneration integrieren.
Adam Simpson, Boundary Hotel Elevator (Vs. OMA, EXPO 89, France, Paris, 1989), Bild: http://socks-studio.com/2011/07/20/ adam-simpson-boundary-hotel-elevator-vs-oma-expo-89-france-paris-1989/
304
1970
Freizeit / Regeneration
2020
GEMEINSCHAFT Das 21. Jahrhundert, geprägt durch ‚Hyperindividualismus‘ und eine Vielzahl an Ressourcen und Optionen, welche allerdings nicht nur die Möglichkeit einer eigenen Lebensgestaltung ermöglicht, sondern vielmehr dazu zwingt, Verantwortung für die eigenen Lebensentscheidungen zu übernehmen, führen vermehrt zur Gruppierung und kollektiven Gemeinschaften verschiedener Individuen, um Halt und Richtung gemeinsam zu finden. Auch das verstärkte Aufkommen urbaner Initiativen gegen Gentrifizierung, Vertreibung, Kommerzialisierung und Privatisierung des öffentlichen Raums oder für das Verständnis einer Stadt als Gemeingut mit Recht auf Zugang und Differenz gründen auf einem erstarkendem Gemeinschaftsbild. In diesem Sinn, einer ‚Stadt für alle‘ und der Vision eines kollektiven, eigenverantwortlichen, partizipativen bürgerlichen Engagements sollte Gemeinschaft nicht nur unter den Bewohner angestrebt werden, sondern vielmehr im gesamtstädtischen Kontext gesucht werden. Folglich manifestiert sich die Funktionsvielfalt in nicht kommerziellen Flächen, welche kollektiv und in Eigenverantwortung der gesamten Quartiersbewohner bewirtschaftet und bespielt werden, um freien, ungezwungenen Zugang aller Schichten sowie mehr Solidarität zwischen den Schichten und eine heterogene Nutzerstruktur ermöglichen zu können. Visuell stehen diese Zusatznutzungen wie offene Werkstatt (Fab Lab), Verhandlungs- oder Veranstaltungsraum und Projekträume in direktem Bezug zur umgebenden Bebauung.
Archizoom Associati “Non stop city internal landscape” 1970, Bild @ https://architizer.com/blog/practice/details/archizoom-retrospective/
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RÄUMLICHE ALLMENDE LEVEL +1 WISSEN(S)/KULTUR
Das Architektonische Grundgerüst und die dazugehörige Infrastruktur bildet dabei die Basis für kollektive Projekte, Initiativen und Subkulturen. Diese sollen, genau wie das räumliche Grundgerüst als Gemeingüter verstanden werden. Dabei liegt der Fokus auf dem sozialen Prozess der Verhandlung über Raum und Projekt, der ‚Speicherung‘ neu gewonnener Ressourcen (Wissen) und der Bereitschaft neu Hinzukommende aufzunehmen. Um so Raum für Individualität auf der einen und Solidarität und Verständnis auf der anderen Seite zu schaffen. „Vielmehr gilt es, Verantwortung und Verständnis füreinander zu stärken und Stätten der Begegnung zu erhalten oder zu schaffen- die modernen großstädtischen Gegenstücke zu Marktplatz und Dorfkirche.“1
1
310
Böttger, Matthias; Carsten, Stefan; Engel, Ludwig (Hg.):Spekulation Transformation. Überlegungen zur Zukunft von Deutschlands Städten und Regionen, Lars Müller Publishers, 2016 S.23
BEWIRTSCHAFTUNG & BEREITSTELLUNG DES GUTES [D]
PEER- TO -PEER PRODUKTION DES GUTES
PROJEKTRÄUME [C]
COMMONER & ‚PEERS‘
BEWOHNER
NACHBARN/ INTERESSIERTE
ARENA [A]
CLOUD SPEICHER [B]
COMMONER
[A]
[B]
[C]
Verhandlungen und Aufstellung von Regeln über die Nutzung/ Bewirtschaftung/ Bereitstellung der Güter und den Kreis der Nutzer/ Commoner
Der Ressourcenspeicher der ‚Cloud‘ steht für bereits vorhandene immaterielle Information und Wissen. Gesammeltes Wissen aus den Projekten und Initiativen wird dem Speicher rückgeführt, wodurch dieser stetig wächst.
Kreativräume zur Nutzung für die Projekte. Vergabe wird gleichsam verhandelt. Dabei sollen diese für neu Hinzukommende, interessierte generell offen bleiben.
[D] In gemeinsamer Produktion (Peerto-Peer) entstandene materielle und immaterielle Güter werden online, in den Projekträumen selbst oder auf öffentlichen Freiflächen visuell sichtbar und für die städtische Bevölkerung nutzbar.
1970
Gemeinschaftseinrichtungen
2020
INDIVIDUALITÄT Familienkonstellationen gehen heute weit über die klassischen Bezeichnungen von Single, Paare oder Familie hinaus. So sind Familienmodelle wie Alleinerziehende, Patchwork- Familien, Multigenerationsund Living-apart-Familien, Wohngemeinschaften, Bilokale Paarbeziehungen und ähnliches schon lange keine Seltenheit mehr. So werden nutzungsneutrale Grundrissstrukturen, welche den Bewohnern die Möglichkeit zur Aneignung bieten, immer wichtiger. Ausgehend von einem Grundtypus in Serie sollten unterschiedliche Wohnungsgrößen maximale Flexibilität der Wohnmodelle bieten.
Archizoom Associati “Non stop city internal landscape” 1970, Bild @ https://architizer.com/blog/practice/details/archizoom-retrospective/
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1970
* Grundrissbeispiele aus dem Wohnpark Alt Erlaa Wien und der AutobahnĂźberbauung Schlangenbader StraĂ&#x;e berlin
2020
Tragstruktur Wohngrößen
TYPOLOGISCHE GEGENÜBERSTELLUNG
Entstehungskriterien
Initiator
Infolge von Kriegsschäden und weiträumiger ‚Stadtzerstörung‘ entstanden die Wohnbauten der siebziger Jahre auf großflächigen Grundstücken. In verdichteter Bebauung konnte so wirtschaftlich hocheffizient Wohnraum in großer Zahl entstehen. Um in bereits verdichteten urbanen Agglomerationsräumen Wohnraum in großer Zahl zu schaffen, müssen im Sinne einer Nachverdichtung neue Baugrundstücke mobilisiert und der individuelle Wohnraum kleiner werden. Nach dem zweiten Weltkrieg sollte der Wohnungsfehlbestand mittels aktiver Wohnungspolitik behoben werden und neuer Wohnraum in Großsiedlungen, Trabantenstädten und Großwohnbauten entstehen. Die ‚Boomjahre‘ brachten bei reger Bautätigkeit, gefördert durch den wirtschaftlichen Aufschwung, in Deutschland zwischen 1949 und 1975 10,1 Millionen neue Wohnungen zutage, davon 4,9 Millionen öffentlich geförderte. Ganz im Zeichen wohlfahrtsstaatlicher Dogmen, Wohlstand und hoher Lebensqualität für alle, führte eine weitreichende Wohnungspolitik im Massenmodell zu intensiver Objektförderung. Die Großprojekte, welche in direkte Verknüpfung mit gemeinnützigen Wohnbauinstitutionen entstanden sind heute als physische Form des Wohlfahrtsstaats anzusehen. Der Wohlfahrtsfokus zeigte sich vor allem in der hohen Qualität der privaten Sphäre, aber auch in der Einrichtung von gemeinschaftlichen, nachbarschaftlichen Räumlichkeiten. Auf Ebene des Quartiers schufen die Bauten durch zusätzliche Nahversorgungseinrichtungen einen Mehrwert. Der ‚Wohlfahrtsfokus‘ heute äußert sich beispielhaft in der Konferenz der Vereinten Nationen ‚Habitat III 2016 die neue urbane Agenda‘, bei welcher die Vision von ‚Städten für alle‘ in den Vordergrund rückt. Soziale Gerechtigkeit und gleiche Zugangschancen zu städtischen Gütern wie Bildung und Kultur sollen nicht nur hohe Lebensqualität für die Bewohner, sondern für die gesamtstädtische Bevölkerung erzeugen.
Typologie Großwohnbau: 1. Zentralität
In Abkehr von der funktionalen Stadt entstanden die Bauten in zentraler Innenstadtlage. So sollten sie aus wirtschaftlicher Sicht zur Wiederbelegung der Innenstädte, zur Infrastrukturentlastung und zukünftigen Infrastruktureinsparung beitragen. Die Großwohnbauten sind folglich als eine Struktur für Kern- oder ‚kernstädtische‘ Gebiete anzusehen und liegen selten mehr als drei Kilometer von der Altstadt entfernt. Heute definiert sich ihre zentrale Lage durch Stadtviertel mit hohem Mietniveau. In den Städten unserer Zeit stellt die historische Innenstadt schon lange nicht mehr das einzige Zentrum dar, vielmehr findet sich in jedem Stadtviertel ein eigenes Zentrum. Diese Polyzentralität führt folglich zu einer ‚Polylokalität‘. In der Körnung an die umgebende Stadtstruktur angepasst schafft der Großwohnbau, als ein Netzwerk in der Stadt verteilt, in seiner Summe das ‚Große‘.
2. Vielfalt
Die hybride Nutzung der Großwohnbauten gilt als Ausdruck eines gesellschaftlichen Habitus ihrer Zeit. Die industrielle Moderne zeigte sich zum einen durch technischen Fortschritt, Rationalisierung, Standardisierung und zum anderen durch den Ausbau der Sozialleistungen und geregelte Arbeits- und Urlaubszeiten. Der Massenkonsum standardisierter Güter der ‚Konsumgesellschaft‘ der Nachkriegsjahre bildete sich architektonisch in der Integration großflächiger Verkaufszonen ab. Auf öffentlicher Ebene wird dieses Angebot durch Hotellerie und Lichtspielhäuser, auf halböffentlicher Ebene durch Bäder, Sonnendecks und großzügige Außenbereiche erweitert
319
und spiegelt somit das Bild der Freizeitgesellschaft wieder. Der Aufstieg des PKWs zum Massengut, der damit einhergehende Anstieg des Individualverkehrs und der verkehrsgerechte Straßenausbau manifestieren sich in den Großwohnbauten in der Bespielung des Erdgeschosses. Strukturell formen sich die Großwohnbauten aus einem verbindenden Sockel, auf welchem eigenständige Gebäudevolumen aufbauen. Somit finden sich im Sockelbereich auf Straßenniveau ausschließlich Flächen für den ruhenden Individualverkehr, zur Anlieferung und zur Versorgung. Darüber, zumeist auf Ebene des ersten Obergeschosses, findet sich der Fußgängerbereich mit Zugang zu den Konsumeinrichtungen. Die aufbauenden Gebäude umfassen neben Wohnraum teilweise zusätzlich Büroflächen. Die abschließende Ebene des Daches (wenn zugänglich) wird durch Freizeitfunktionen wie Sonnendecks bespielt. Im Sinne der Nachhaltigkeit, besonders der nachhaltigen Mobilität, und dem Wunsch nach Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs sollte die Erdgeschosszone des Sockels keine weitere Infrastruktur ausbauen. Vielmehr sollte bestehende Infrastruktur genutzt werden, um neue Bauflächen auszuweisen. So könnte die Stadt auch bei weiter steigenden Bodenpreisen den Bau von sozialem Wohnraum fördern, da die Kostengruppe 100 (welche in München aktuell einen Prozentualen Anteil an den Gesamtbaukosten von über 80% darstellt) entfallen würde. Durch den Bedeutungszuwachs von Wissenschaft und Technologie in den vergangenen Jahren wird das Maß an Wissen ein grundlegendes Merkmal sozialer Zugehörigkeit und damit auch sozialer Ungleichheit. Somit hat sich ein Wandel in der Logik der Klassenbildung vollzogen, da das Einkommen nicht mehr die einzige Komponente zur Schichtenverteilung bildet. So ist das Wissen über die Zugangsmöglichkeit zu Informationskanälen und die Fähigkeit, die Fülle an Informationen zu filtern, eine eigenständige Dimension sozialer Ungleichheit geworden. Der Wandel hin zur postindustriellen Ökonomie, welcher sich seit den 1970er Jahren immer stärker vollzog, kennzeichnet sich gerade im Erstarken des ‚Humankapitals‘ Wissen. Hierbei bildet der ‚kognitive Kapitalismus‘1die Grundlage eines erfolgreichen Werdegangs, wodurch eine höhere formale Qualifikation zur Notwendigkeit vieler Arbeiter wird. Folglich sollte in Anlehnung an den gesellschaftlichen Habitus unserer Zeit Nutzungen des Wissens und der Kultur die des Konsums der 70er Jahre ersetzen. Gerade im geförderten Wohnungsbau, welcher häufig eine hohe Zahl weniger gebildeter Bewohner aufweist, könnte so die Schwelle zu Bildung und gesellschaftlicher sowie politischer Partizipation verringert werden.
Die Integration halböffentlicher Zusatzflächen förderte in den Großwohnbauten der 1970er Jahre nachbarschaftlichen Kontakt, Gemeinschaftsbildung, gegenseitige Solidarität und eine erhöhte Identifikation mit dem Wohnort. So konnte zudem Segregation und selektive Mobilität vermieden werden. Auch diese halböffentlichen Flächen entsprachen dem Gesellschaftsstereotyp der ‚Freizeitgesellschaft‘ und sollte als Hobbyräume, Sonnendecks, Saunen oder Pools ausformuliert eine Erweiterung der privaten Sphäre darstellen. Ähnlich der städtebaulichen Figur der Großwohnbauten separieren sich auch diese von der umgebenden Stadtstrukur. Zum einen beschränkt sich der Nutzerkreis ausschließlich (mit Ausnahme von Ivry sur Seine) auf die Bewohner, zum anderen sind sie durch ihre Lage (auf dem Dach, fensterlos im Gebäudeinneren der Terrassenhäuser)zumeist auch visuell dem Quartier entzogen. Das 21. Jahrhundert, geprägt durch ‚Hyperindividualismus‘ und eine Vielzahl an Ressourcen und Optionen, welche allerdings nicht nur die Möglichkeit einer eigenen Lebensgestaltung ermöglicht, sondern vielmehr dazu zwingt,
320
3. Gemeinschaft
„Wenn gemeinsamer Raum von Bedingungen umschrieben wird, die exclusive Besitzer*innen oder Nutzer*innen definieren, dann wird er bestenfalls zu einem beschränkten öffentlichen Raum oder innerhalb einer ausschließenden Gemeinschaft eingedämmt und privatisiert.“1
4. Individualität
1
Verantwortung für die eigenen Lebensentscheidungen zu übernehmen, führen vermehrt zur Gruppierung und kollektiven Gemeinschaften verschiedener Individuen, um Halt und Richtung gemeinsam zu finden. Auch das verstärkte Aufkommen urbaner Initiativen gegen Gentrifizierung, Vertreibung, Kommerzialisierung und Privatisierung des öffentlichen Raums oder für das Verständnis einer Stadt als Gemeingut mit Recht auf Zugang und Differenz gründen auf einem erstarkendem Gemeinschaftsbild. In diesem Sinn, einer ‚Stadt für alle‘ und der Vision eines kollektiven, eigenverantwortlichen, partizipativen bürgerlichen Engagements sollte Gemeinschaft nicht nur unter den Bewohner angestrebt werden, sondern vielmehr im gesamtstädtischen Kontext gesucht werden. Folglich manifestiert sich die Funktionsvielfalt in nicht kommerziellen Flächen, welche kollektiv und in Eigenverantwortung der gesamten Quartiersbewohner bewirtschaftet und bespielt werden, um freien, ungezwungenen Zugang aller Schichten sowie mehr Solidarität zwischen den Schichten und eine heterogene Nutzerstruktur ermöglichen zu können. Visuell stehen diese Zusatznutzungen wie offene Werkstatt (Fab Lab), Verhandlungs- oder Veranstaltungsraum und Projekträume in direktem Bezug zur umgebenden Bebauung. Um nachbarschaftliche Kontakte zu stärken und als Erweiterung der privaten Sphäre sollte der Großwohnbau zusätzlich Flächen für Kinder, Bewegung und Regeneration, den Bewohnern vorbehalten, integrieren. Die Gesellschaft der industriellen Moderne zeichnete sich durch steigende Individualisierung und Emanzipation des Individuums aus. Dies äußerte sich konkret in Abkehr von den funktionalistischen Grundrissen hin zu nutzungsneutralen, offenen Grundrisstrukturen. Die großzügige und differenzierte Gestaltung der privaten Außenbereiche spiegelte wiederum die gestiegene Relevanz der Freizeit wieder. Unterschiedliche bauliche Grundrisse waren den unterschiedlichen Lebensformen von Single, Paar und Familie angepasst und boten so die Möglichkeit, bei geänderten Lebenssituationen innerhalb der Großwohnbauten umzuziehen. Familienkonstellationen gehen heute weit über die klassischen Bezeichnungen von Single, Paare oder Familie hinaus. So sind Familienmodelle wie Alleinerziehende, Patchwork- Familien, Multigenerations- und Living-apart-Familien, Wohngemeinschaften, Bilokale Paarbeziehungen und ähnliches schon lange keine Seltenheit mehr. So werden nutzungsneutrale Grundrissstrukturen, welche den Bewohnern die Möglichkeit zur Aneignung bieten, immer wichtiger. Ausgehend von einem Grundtypus in Serie sollten unterschiedliche Wohnungsgrößen maximale Flexibilität der Wohnmodelle bieten.
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Van der Ley, Sabrina & Richter, Markus: Megastructure Reloaded. Visionäre Stadtentwürfe der sechziger Jahre reflektiert von zeitgenössischen Künstlern Vogel, Hans Jochen: Mehr Gerechtigkeit! Wir brauchen eine neue Bodenordnung – nur dann wird auch Wohnen wieder bezahlbar, Herder Verlag, 2019, S.2
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Walcha, Henning: Materialien für die Arbeit vor Ort, Nr. 11, Nachhaltige Stadtentwicklung, Konrad Adenauer Stiftung, 2018 Walter Siebel, in: Siebel, Walter: Die Zukunft der Städte. in: Konstruktiv 284, bAIK, 12/2011, Wien; in: Lange, Bastian; Prasenec, Gottfried; Saiko, Harald: Ortsentwürfe. Urbanität im 21. Jahrhundert, Jovis Verlag 2013 Weber, Stefan: Der Wohnpark Alt-Erlaa im Kontext von sozialem Wohnbau und utopischer Architektur, Masterarbeit, Universität Wien, 2014 Weihsmann, Helmut: Das rote Wien: sozialdemokratische Architektur und Kommunal-
Wüstenrot Stiftung (Hg.): Nachdenken über Städtebau: Bausteine für eine Interpretation im 21. Jahrhundert, DOM publishers, Berlin, 2013
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ZHU, Miaomiao : Kontinuität und Wandel städtebaulicher Leitbilder. Von der Moderne zur Nachhaltigkeit. Aufgezeigt am Beispiel Freiburg und Shanghai, Dissertation, TU Darmstadt, 2007 Zillen, Nicole: Digitale Ungleichheit. Neue Technologien und alte Ungleichheiten in der Informations- und Wissengesellschaft, Verlag für Sozialwissenschaften, 2009
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VERFASSERERKLÄRUNG
Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig verfasst und keine anderen als die angegeben Hilfsmittel benutzt habe. Die Stellen der Arbeit, die anderen Quellen im Wortlaut oder Sinn nach entnommen wurden, sind durch Angaben der Herkunft kenntlich gemacht. Dies gilt auch für das Bildmaterial, soweit die Fotografen bekannt waren. Lisa Häberle München, den 06 April 2020
THEORIE ZUR MASTERTHESIS VON LISA HÄBERLE, LEHRSTUHL FÜR STÄDTISCHE ARCHITEKTUR, PROF. DIETRICH FINK; LEHRSTUHL FÜR THEORIE UND GESCHICHTE VON ARCHITEKTUR, KUNST UND DESIGN, PROF. DR. PHIL. HABIL. DIETRICH ERBEN, FAKULTÄT FÜR ARCHITEKTUR, TECHNISCHE UNIVERSITÄT MÜNCHEN, WS 2019/ 2020