Programmblock Sühne

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Sühne

Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Johannes 11, 25 – 26 Liebe Freunde, Kollegen, Nachbarn und Angehörige, Zum Gedenken an Semjon Sacharytsch Marmeladow, Titularrat, findet im Anschluss an die Beisetzung bei uns Zuhause ein Totenmahl statt. Wir würden uns freuen, Sie bei uns empfangen zu dürfen, zum gemeinsamen Andenken des Verstorbenen, der ein guter und edler Mensch war, und der seine Familie bis zum letzten Moment liebte und achtete.

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Ein gesellschaftliches Poem von Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo nach F. M. Dostojewski in der Übersetzung von Swetlana Geier, die den Titel «Verbrechen und Strafe» trägt

KATERINA IWANOWNA MARMELADOWA Annamária Láng RASKOLNIKOW Lukas Darnstädt SONJA Sofia Elena Borsani

Premiere: 30.  Januar 2019

MIKOLKA Julian-Nico Tzschentke

Dauer: 1 Stunde ohne Pause

WIRTIN Wiebke Kayser

Rechte an der Übersetzung von Swetlana Geier: Fjodor Dostojewskij, «Verbrechen und Strafe». S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1994.

POLIZIST André Willmund

GEFÖRDERT DURCH PRO HELVETIA, SCHWEIZER KULTURSTIFTUNG UND DIE LANDIS &  GYR STIFTUNG

MARMELADOW (im Video) Yves Wüthrich INSZENIERUNG Ene-Liis Semper &  Tiit Ojasoo AUSSTATTUNG Ene-Liis Semper &  Tiit Ojasoo

DANKE AN CARLA SCHWÖBEL-BRAUN

MUSIK Jakob Juhkam

DANKE UNSEREM HAUPTSPONSOR BUCHERER AG

LICHT- UND VIDEODESIGN Petri Tuhkanen DRAMATURGIE Sandra Küpper, Gábor Thury TEXTARBEIT DEUTSCHESTNISCH Mihkel Seede REGIEASSISTENZ UND ABENDSPIELLEITUNG Lucia Wunsch

LICHT Ronnie Hermann. TON Stanley Hügi MITARBEITERIN VERANSTALTUNGSTECHNIK Irina Biadici BÜHNENBILD­ ASSISTENZ Vanessa Gerotto KOSTÜMASSISTENZ Medea Karnowski LEITER PROBEBÜHNEN Thomas Künzel

Die Ausstattung wurde in den Ateliers und Werkstätten des Luzerner Theaters angefertigt.

IMPRESSUM

Textnachweise: Alle Texte sind Originalbeiträge für diesen Programmzettel. Das Zitat stammt aus Dostojewskis Werk selbst. Herausgeber: Luzerner Theater Theaterstrasse 2 6003 Luzern www.luzernertheater.ch Spielzeit 18/19 Intendant: Benedikt von Peter Verwaltungsdirektor: Adrian Balmer Künstlerische Leitung Schauspiel: Sandra Küpper Redaktion: Gábor Thury Gestaltung: Studio Feixen Druck: Engelberger Druck AG Diese Drucksache ist nachhaltig und klimaneutral produziert nach den Richtlinien von FSC und ClimatePartner

Katerina Iwanowna Marmeladowa und ihre Familie «Es würde nicht einfach sein, ganz exakt alle Gründe anzugeben, die in Katerina Iwanownas verwirrtem Kopfe zu der Idee dieses unsinnigen Totenmahls geführt hatten. Tatsächlich, beinahe zehn Rubel von den mehr als zwanzig, die sie von Raskolnikow für die eigentliche Beerdigung Marmeladows erhalten hatte, waren dabei draufgegangen.»

ANNAMÁRIA LÁNG

Annamária Láng wurde 1975 in Mátészalka, einer Kleinstadt im Nord-Osten von Ungarn geboren. Mit 17 zog sie nach Budapest, um Schauspielerin zu werden. Während ihrer Schauspielausbildung wurde sie festes Mitglied des freien Theaterkollektivs «Krétakör» unter der Leitung von Árpád Schilling, einem der wichtigsten Theaterschaffenden in Ungarn nach der Wende. Bis zur Auflösung des Theaterkollektivs 2008 wirkte sie in insgesamt 25 Theaterprojekten mit, dabei spielte sie Haupt­ rollen in klassischen und zeitgenössischen Stücken, arbeitete mit dem Ensemble an politischen Stück­ entwicklungen und führte sogar das erste Mal Regie. In der 13-jährigen Geschichte des Kollektivs ar­beitete sie mit den innovativsten ungarischen Re­gisseuren zusammen und gastierte mit den Pro­duktionen von «Krétakör» weltweit auf den renommiertesten Theaterfestivals, wie dem Festival d’Avignon, dem Edinburgh International Festival, den Wiener Festwochen, dem Seoul Performing Arts Festival u. a.

Als freie Theaterkünstlerin warteten nach der Auflösung von «Krétakör» sehr abwechslungsreiche Jahre auf sie: Sie inszenierte Theaterprojekte mit ihrer Co-Regisseurin Fruzsina Nagy und spielte sowohl klassische Rollen an dem grössten Stadttheater Ungarns, als auch in experimentellen Theaterformen in der freien Szene. Seit 2010 arbeitet sie regel­ mässig mit «Proton Theater», der unabhängigen Theatergruppe des ungarischen Film- und Theaterregisseurs Kornél Mundruczó, zusammen, und tourt mit ihren Produktionen durch die ganze Welt. Zudem wird sie immer wieder als Gastschau­ spielerin an namhaften Theatern wie dem Schauspielhaus Köln, den Münchner Kammerspielen, dem Schauspielhaus Zürich und dem Finnisches Nationaltheater eingeladen, und arbeitet dort mit Regisseuren wie Viktor Bodó, Kornél Mundruczó und Kristian Smeds. «Sühne» ist Annamária Lángs erste Arbeit am LT und auch ihre erste Begegnung mit den Regisseuren Tiit-Ojasoo und Ene-Liis Semper.


Die Verzweiflung der menschlichen Seele Gábor Thury im Gespräch mit Ene-Liis Semper Gábor Thury — Um ganz am Anfang

zu beginnen: Ihr inszeniert «Schuld und Sühne» auf zwei Bühnen. Warum eignet sich das Material von Dosto­ jewski für gleich zwei Spielstätten? Ene-Liis Semper — Die Antwort ist sehr rational: Es ist wirklich ein grosses Werk. Es enthält unglaublich viele Informationen und Ebenen, Dostojewski gräbt wirklich tief in der menschlichen Seele und findet alle Gründe, warum wir uns so oder so verhalten. Er beschreibt eine unglaubliche Vielzahl kom­plexer Charaktere, dass es für mich sehr sinnvoll erscheint, in der «Box» auf einer sehr persön­ lichen Ebene zu arbeiten – und dann eine Stunde später auf der Bühne eine viel grössere Inszenierung um Raskolnikows Verbrechen zu zeigen. GT — Es ist offensichtlich, warum ihr

euch entschieden habt, die Geschichte von Raskolnikow auf der Hauptbühne zu erzählen, aber wie kam es zu der Idee, die Geschichte von Katerina Iwanowna in der «Box» zu erzählen?

ES — Die «Box» ist ein sehr intimer Raum und sie ermöglicht uns, der Hauptfigur sehr nahe zu kommen und sie in einer realen Situation zu be­ gleiten, in einem sehr besonderen Moment: bei einem Totenmahl. Das ermöglicht auch den Zuschauern eine andere Art von Erlebnis. Es ist, als ob die Performance in einer Galerie stattfinden würde: Die Künstlerin ist zwar anwesend, aber man weiss nicht gleich, was man davon erwarten soll, es entfaltet sich erst während des Ereignisses. Dostojewskis enorm emotionale Beschreibung von Katerina Iwanowna, die wirklich am Ende ist, weil sie krank ist, und die dabei ist, ihre letzten Kräfte zu verlieren, als sie ihrem verstorbenen Ehemann Marmeladow ein Totenmahl hält, sowie die Bestattungs­ situation als solche waren inspirierend für den Raum. Katerina Iwanowna ist eine Fremde unter den Armen. Früher gehörte sie zu einer höheren sozialen Schicht, und nun merkt sie plötzlich, dass sie zu lange Zeit in der miesen Umgebung verbracht hat und keine Chance mehr hat, her­ auszukommen, und sinkt immer tiefer und tiefer. Einen Charakter zu spielen, der so emotional erschöpft, gebrochen und verzweifelt ist, und immer noch für Gerechtigkeit kämpft, das ist eine wirkliche Herausforderung für eine Schauspielerin. Im Theater geht es ja eher um Emotionen und weniger um Beschreibungen, und in der «Box», die ein kleiner und intimer Ort ist, kann das Publikum emotionale Momente wirklich miterleben. GT — Du hast Katerina Iwanowna als

Fremde in ihrem sozialen Umfeld beschrieben. In unserer Inszenierung

wird sie von der ungarischen Schauspielerin Annamária Láng gespielt, die Deutsch nicht als Muttersprache spricht, daher macht ihr Akzent sie also auch zu einer «Fremden». ES — Ich mag diesen «Zufall», der eigentlich ganz gut zum Konzept passt. Im Roman fühlt sich Katerina Iwanowna sehr einsam und aus ihrer natürlichen Umgebung ausgeschlossen. In unserem Fall können wir wirklich mit der realen Situation spielen: Der verstor­ bene Ehemann Marmeladow wird vom Schweizer Schauspieler Yves Wüthrich gespielt, seine Frau von einer unga­ rischen Schauspielerin. Natürlich sind sie beide auf der fiktionalen Ebene Russen, aber auf der Sprachebene gibt sie nicht nur vor, fremd zu sein, sondern sie ist es auch tatsächlich. Ich bin sehr glücklich, mit Annamária zu­ sammenarbeiten zu können, sie ist eine grossartige Schauspielerin, wir haben uns vor sechs Jahren in München getroffen, seitdem war es immer unser Wunsch, zusammen zu arbeiten, und wir sind froh, dass es jetzt möglich ist.

Inhalt Katerina Iwanowna Marmeladowa lädt zum Totenmahl: Ihr Mann, Semjon Sacharytsch Marmeladow, ist verstorben und hinterlässt sie als Witwe mit drei kleinen Kindern und seiner leiblichen Tochter Sonja. Katerina Iwanowna ist zwar eine Nebenfigur in Dostojewskijs Meisterwerk «Schuld und Sühne», spielt aber – zumindest für den Moment des Totenmahls ihres Mannes – die Hauptrolle. Nach vielen Jahren des Leidens, der Not und der Bitterkeit kommt die Witwe zu Wort und erzählt ihre verzweifelte Geschichte. Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper inszenieren «Schuld und Sühne» auf zwei Bühnen des LT und setzen sich mit zwei unterschiedlichen Perspektiven auf die Fragen nach Moral, Gewissen und Gerechtigkeit in Dostojewskis Werk auseinander. «Schuld» folgt der Hauptfigur Raskolnikow und der Geschichte seines Mordes und dessen Folgen. «Sühne» setzt den Fokus auf die Nebenfigur Katerina Iwanowa und das Geschehen einer Nebenhandlung: das Totenmahl von Marmeladow, an dem die eigentliche Hauptfigur des Romans, Raskolnikow, zusammen mit den anderen Figuren und den Zuschauern des Theaterabends teilnimmt. Dostojewski ist ein Meister der Darstellung von Menschen in Extremzuständen. Davon ausgehend ist die Inszenierung in der «Box» mit Annamária Láng als Protagonistin eine aussergewöhnliche Nahaufnahme des tragischen Schicksals einer Witwe und ihrer ewigen Suche nach Gerechtigkeit.

GT — Für Raskolnikow ist es ein wich-

tiger Wendepunkt, vom Schicksal von Marmeladow und Marmeladowa zu erfahren. Was kann ihre Geschichte für uns bedeuten?

ES — Marmeladow ist eine Art Brücke zwischen Raskolnikow und der Re­ alität. Sein Schicksal zeigt ihm, wie schlimm die Dinge wirklich sein können. Raskolnikow beklagt sich darüber, nicht bemerkt zu werden und nicht aussergewöhnlich genug zu sein, und zu arm zu sein, um studieren zu können. Aber im Leben von Marmeladow ist alles viel schlimmer. Es gibt etwas viel Tieferes, eine Art Verzweiflung der menschlichen Seele, wenn man einen Punkt erreicht, ab dem man nicht mehr weiter Teil der Gesellschaft bleiben kann – das ist so unglaublich stark von Dostojewski beschrieben. Sogar schon vor 150 Jahren war es immer schwie­ riger, die Rolle eines ordentlichen Bürgers einzunehmen. Und ich denke, dass es heutzutage auch sehr interessant ist zu fragen, wie sehr die Menschen ihre Verzweiflung verstecken, oder wie sehr sie sie erkennbar werden lassen. Wir haben sehr viele raffi­ nierte Methoden, wie wir uns verbergen können und wie wir vortäuschen können, etwas zu fühlen. Man versteckt sich hinter den Bildern von Fröhlichkeit, Bildern von Reichtum, Bildern vom Ewig-jung-und-sexy-Sein. Die Kluft zwischen der Realität an der Ober­fläche und den inneren Gefühlen wird immer grösser. Ich denke, Dostojewski hat zwar sein Werk vor langer Zeit geschrieben, aber die beschriebenen Probleme könnten genauso Probleme der Gegenwart sein.

Foto: Ene-Liis Semper


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