TELL
eine wahre Geschichte von Christian Winkler nach Motiven von Friedrich Schiller Online-Premiere: 12. März 2021 Uraufführung: 9. Mai 2021 Dauer: ca. 1 Stunde 45 Minuten ohne Pause Aufführungsrechte: schaefersphilippenTM, Theaer und Medien GbR, Köln GEFÖRDERT DURCH DIE DÄTWYLER STIFTUNG, DIE LANDIS & GYR STIFTUNG, DAS MIGROS-KULTURPROZENT UND DIE GEMEINDEN BRUNNEN-INGENBOHL, KÜSSNACHT UND STANS
INSZENIERUNG Franz von Strolchen
WILHELM TELL Fritz Fenne
BÜHNE Andrea Cozzi
WALTER Fynn Liam Dettwyler / Nicolai Perkmann
KOSTÜME Katrin Wolfermann MUSIK Timo Keller VIDEO Jonas Ruppen LICHT Clemens Gorzella DRAMATURGIE Gábor Thury INSPIZIENZ Yasmine Erni-Lardrot REGIEASSISTENZ UND ABENDSPIELLEITUNG Myriel Meissner BÜHNENBILDASSISTENZ Joan Jurt KOSTÜMASSISTENZ Zoé Brandenberg
Herzlichen Dank: Carla Schwöbel-Braun
ARNOLD VON MELCHTAL / JOHANNES PARRICIDA, HERZOG VON ÖSTERREICH Christian Baus GERTRUD STAUFFACHER / STÜSSI DER FLURSCHÜTZ Olivia Gräser KUONI DER HIRTE / BERTA VON BRUNECK Sophie Hottinger
« GESSLER » / RUODI DER FISCHER André Willmund STATISTERIE DES LUZERNER THEATER Finn Krummenacher (der ältere Walter), Anita Olijve, Claudio Conciatori, Vicky Papailiou, Susanna Burger, Marlise Giger, Rony Jeker
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TELL
eine wahre Geschichte
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TELL – eine wahre Geschichte
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Im Sommer 2020 reist der Regisseur Franz von Strolchen in einem alten weissen Postbus um den Vierwaldstättersee, um jene Orte zu besuchen, die in der Sage von Wilhelm Tell Erwähnung finden. Gemeinsam mit seinem Team spricht er mit den Bewohnern vor Ort über die «wahren» Helden und Heldinnen von heute. Als Basis für die Recherchearbeit dient Schillers Stück «Wilhelm Tell», dabei wird nach zeitgenössischen Menschen gesucht, heutigen Entspre chungen der Figuren in Schillers Klassiker. Die gesammelten Berichte und Interviews sind zur Grundlage einer «Tell»-Adaption geworden, die den Schweizer Gründungsmythos als eine moderne Vater-Sohn-Beziehung neu erzählt. Der Regisseur lässt die Geschichte in einer Welt spielen, die nicht von Heldinnen und Helden gerettet werden konnte und zugrunde gegangen ist. Auf ihren Trümmern sind Vater und Sohn stets unterwegs, immer in den Süden, um noch ein kleines Stück Hoffnung auf ein besseres Leben zu finden. Verfolgt werden sie von der Heldengeschichte ihrer Vergangenheit, in der Tell Gessler getötet hat. Doch wie rechtfertigt man seinem Kind gegenüber einen Mord und erklärt ihm eine Welt, die man selbst nicht mehr versteht? In der Neubearbeitung von Franz von Strolchen wird Walter zu einer Hauptfigur, die mit dem Erbe seines Vaters umgehen muss. Tell selbst wird zu einer Figur mit Fehlern, Widersprüchen und Zweifeln und eignet er sich vielleicht gerade deshalb so gut als Identifikationsfigur unserer Zeit.
Schau Walter, die Menschen mögen halt eine gute Heldengeschichte. Weil sie diese heterogene, extrem vieldeutige Wirklichkeit vereinfacht und verübersichtlicht. Aber in der Wirklichkeit gibt es keine Helden. Weil uns die Wirklichkeit vor andere Probleme stellt. In der Wirklichkeit gibt es Helden nur für einen ganz bestimmten Moment. Sie brechen eine Regel zugunsten von anderen. Und danach verhalten sie sich wieder wie zuvor.
→ Johannes Parricida, Herzog von Österreich in « TELL – eine wahre Geschichte»
Brief an den Autor
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Lieber Christian, ich mag es sehr, Bücher zu lesen, ohne den Klappentext zu beachten. Auch Deinen Text habe ich ohne viel Vorkenntnis gelesen, bin ohne Vorwissen unverstellt eingetaucht. Erst nach dem Lesen habe ich mich mit der Vorlage beschäftigt, denn mehr als eine eigene Erinnerung dazu und das ungefähre Wissen um dieses Werk von Schiller hatte ich nicht. Meine Erinnerung ist verschwommen bis trüb: eine Freiluft-Inszenierung irgendwo in der Schweiz, die ich als kleines Mädchen gesehen habe – und davon blieb nur der Moment des Anlegens der Armbrust und das Zielen auf den Kopf des Sohnes. Aber auch das Recherchieren über die Vorlage ist nicht relevant in Bezug auf Deinen Text, denn Deine «wahre Geschichte» steht für sich allein. Es bleiben nach dem Lesen so viele starke Bilder: dunkle, mächtige Bilder einer kaputten, toten Landschaft, Menschen mit Idealen in ihrer existenziellen Essenz und das unbedingte Verstehen-Wollen zwischen Vater und Sohn, zwischen denen eine unüberbrückbare Entfernung bleibt. In den Landschaften und in den Personen hast du es geschafft, eine Universalität aufzuzeigen, die durch die neutral-nüchterne Erzählhaltung viel Raum für eigene Interpretationen lässt – und doch sind es archaische Bilder, die evoziert werden. Und auch wenn der Raum um die Menschen hoffnungslos zerstört ist, geht es doch im Grunde um die innere Zerstörung – der Werte, der Ideale, der Beziehungen. Aber dennoch ist Dein «TELL» voller Hoffnung und voller Licht. Denn es gibt da eine immens grosse Poesie: in der Sprache, in den Bildern, in den Beziehungen. Die Verknüpfungen der unterschiedlichen Stimmen, Berichte, Personen und Zeiten sind aktuell und allgemein zugleich, durchwebt mit einer starken Melancholie und gleichzeitig einer inneren klaren Haltung zum Guten. Somit ist «Tell» für mich nicht mehr die furchteinflössende Kindheitserinnerung, sondern wurde überschrieben durch das unbedingte Streben zum Guten, die der Gemeinschaft innewohnende Kraft und die zärtliche Beziehung zwischen Menschen, die das Beste in uns freilegt. Dafür dankt Dir von Herzen, Mirjam Mirjam Knapp, Lektorin, schaefersphilippenTM Theater und Medien GbR
Wie erklärt man einem jungen Menschen die Welt? Dramaturg Gábor Thury im Gespräch mit dem Regisseur Franz von Strolchen Gábor Thury — Du machst in der
Regel Autorentheater, das heisst, du schreibst (als Christian Winkler) deine eigenen Stücke und inszenierst sie auch für die Bühne. Diesmal aber hast du einen Klassiker, Schillers «Tell», als Vorlage für dein neues Stück genommen. Was hat dich an der Geschichte von Wilhelm Tell interessiert? Franz von Strolchen — Ich beschäftige mich immer mit Themen, die mir zufliegen, Dinge, die mir auffallen, im Alltag, im Leben Anderer und in meinem. Ich war viel mit meinem kleinen Sohn am Vierwaldstättersee unterwegs und dabei kommt man um die Geschichte von Tell nicht herum. Mein Sohn hat mich einmal in Altdorf vor dem Telldenkmal stehend gefragt, wer denn der Mann mit der Armbrust sei – ich konnte es ihm nicht genau erklären. Wahrscheinlich, weil es grundsätzlich nicht einfach ist, einem kleinen Kind die Welt zu erklären: das Bild von einem Jungen, der zu seinem Vater aufschaut und von ihm Antworten erwartet. Wie erklärt man einem jungen Menschen eine Welt, die man selbst nicht wirklich versteht?
GT — Die Beziehung zwischen Vater
und Sohn steht im Fokus deiner Neubearbeitung des Mythos, und die Geschichte gewinnt dadurch eine sehr persönliche Ebene. In Schillers Text ist Walter eher eine Nebenfigur, auch wenn sie mit einem Schlüsselmoment verbunden ist. Wie wurde aus ihm eine Hauptfigur in deiner Adaption? FvS — Ich hatte hier in der Gegend um Luzern bisher schon den Eindruck, dass die Figur von Walter sehr wichtig ist. Jeder kennt das «Walterli». Mehr vielleicht als andere wichtige Figuren im Stück. Das hat natürlich mit der berühmten Apfelschuss-Szene zu tun, aber wahrscheinlich auch damit, dass die meisten von uns einen Vater haben. Das klingt jetzt vielleicht banal, aber jeder von uns war als Kind wahrscheinlich schon mal in der Situation, in der die Eltern vor unseren Augen in eine stressige, herausfordernde Lage geworfen wurden. Wir alle sind / waren deshalb Walter. Für mich ist er die stärkste Identifikationsfigur in diesem Mythos. Deswegen ist er auch die eigentliche Hauptfigur – emotional gesehen ist er das auf jeden Fall. GT — Welche Elemente der literari-
schen Vorlage haben deine «Tell»Adaption am stärksten geprägt?
11 FvS — Ich habe mir beim Schreiben eine Aufgabe gestellt: Ich wollte jeden der fünf Aufzüge aus Schillers Vorlage verarbeiten, ausschliesslich mit dem Personal aus dem Text umgehen und dabei gleichzeitig so frei wie nur möglich sein – nur das zu erzählen, was mich interessiert. Ich würde sagen, dass ich sehr viele Motive aus Schillers Vorlage umgesetzt habe: eine unterjochte Welt, eine grosse Ungerechtigkeit, die den Menschen widerfährt, ein Held, der eigentlich keiner sein will, das Ausüben von Gewalt im Austausch für ein Versprechen auf eine neue Ordnung. Nur dass es bei mir, im Gegensatz zu Schiller, keine einzelne Person gibt, die die Unterjochung symbolisiert (wie Schillers Gessler), sondern die Zusammenhänge viel komplexer und nicht auf eine Person oder auf eine einzelne Sache herunter zu brechen sind. Denn gesellschaftliche Ungleichheit ist, auch wenn wir das oft gerne so beschreiben möchten, nicht immer nur das eine oder das andere. Viele kleine Dinge führen zu Missständen – man muss schon an sehr vielen Schräubchen und Rädern drehen, um die Welt-Maschine neu zu kalibrieren. GT — Nach der dystopischen Welt deiner letzten Luzerner Inszenierung «Taylor AG », beschäftigst du dich in
« TELL » wieder mit einer zukünftigen Welt, die zugrunde geht. Dienen solche Szenarien besser als Modell, um etwas Bestimmtes auf der Bühne zu zeigen? FvS — Bei beiden Arbeiten ist es so, dass das Bild, das ich entwerfe, eigentlich nicht so weit von unserer Realität entfernt ist. War es bei der « TAYLOR AG » das Ende eines Arbeitsbegriffes – so wie wir ihn in den letzten 150 Jahren kennengelernt haben –, ist es bei « TELL » eine Welt, die aufgrund unterschiedlichster gesellschaftlicher Entwicklungen und Systeme erodiert ist. Alle Phänomene, die in meinem Text beschrieben werden (Umweltverschmutzung, Artensterben, Naturkatastrophen, die Missverständnisse zwischen Menschen und Klassen, bis hin zum Auflösen von gesellschaftlichen Normen wie Nähe und Geselligkeit) sind mittlerweile eine Realität, die wir vielleicht noch eine Zeit lang von uns wegschieben möchten, aber sie ist da. Und ich möchte hier nicht zynisch oder negativ klingen, im Gegenteil, in meinem Text werden neben der künstlerisch-überspitzten Analyse eines Ist-Zustands auch durchaus Änderungsvorschläge gemacht. Ich habe ja eigentlich immer noch die Hoffnung,
12 dass wir uns im letzten Moment noch gemeinsam zusammenraffen werden.
FvS — Bei Schiller wird das Wetter sehr genau beschrieben – ich glaube, auch aus einer Faszination für diese bedrohlichen Atmosphären, die es in alpinen Gebieten gibt. Ich weiss auch selbst nur zu gut, wie schnell aus einem sonnigen Tag ein schwarzer Höllentag werden kann. Gleichzeitig interessiert mich die Archaik der Natur überhaupt – und wie wir Menschen in ihr gezwungenermassen überleben müssen. Ich habe vor kurzem gelesen, dass die Menschheit mittlerweile mehr als 70 % der Erdoberfläche für sich beansprucht – für mich ist es irgendwie naheliegend, dass die Natur ihren Raum irgendwann zurückfordert. Im Bühnenbild von Andrea Cozzi verschluckt die Natur oft alles Menschliche, das ist durchaus so gewollt.
FvS — Ich habe gehofft, die Figuren, wie sie bei Schiller beschrieben sind, hier am Vierwaldstättersee zu treffen. Wir haben gezielt nach Menschen gesucht, die für das Schillersche Personal einstehen können – so ist bei uns Arnold von Melchtal ein Rechtsanwalt und Atommüllgegner geworden, Gertrud Stauffacher eine liberale Feministin, Ruodi der Fischer ein Profisegler usw. Ich habe versucht, Porträts von Menschen zu machen und ihre «Heldengeschichten» abzubilden. Und so sind sie als Interviews, gespielt von Schauspielerinnen und Schauspielern, in das Stück eingeflossen. Herausgekommen ist eine doku-fiktionale Form, etwas, was ich schon öfters gemacht habe, etwas, was wahrscheinlich jeder Autor und jede Autorin auf eine gewisse Art und Weise macht – Geschichten von Menschen zu dokumentieren, sie zu gestalten und sie so darzustellen, als ob sie genau so passiert wären. Was an diesen Geschichten am Ende wahr ist, was nicht, ist nebensächlich – im Kontext der Figuren eines Theaterstückes ist alles immer wahr.
GT — Du begibst dich häufig auf Re-
GT — « TELL » ist nach «Biedermann
GT — Die immer wechselnden Wetter-
phänomene und die Landschaft prägen die Bühnenwelt sehr stark …
cherchereisen, um Materialen, Inspirationen für deine Arbeiten zu sammeln. So war es in diesem Fall auch: Du bist mit dem Ensemble um den Vierwaldstättersee gereist. Worin lag der Fokus deiner Recherche?
und die Brandstifter» die zweite Inszenierung von dir am Luzerner Theater, bei der du dich mit einem klassischen Stoff auseinandersetzt. Wieso müssen bestimmte Mythen, Geschichten immer wieder (neu) erzählt werden?
13 FvS — Schiller hat den Tell nicht erfunden. Genauso wenig wie Shakespeare den Richard erfunden hat. Auch Stücke von Ibsen beruhen sehr oft auf realen Vorlagen, die er in seinem Umfeld beobachtet oder in der Zeitung gelesen hat. Die Tatsache, dass uns immer wieder dieselben Geschichten interessieren, hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass die Bandbreite von menschlichen Emotionen und Problemen im End effekt relativ beschränkt ist. Wir sind im Grunde recht einfach gestrickt, nur der mathematische Zufall bei einer so grossen Anzahl von Menschen ergibt immer wieder neue Zusammenhänge. Das ist ganz logisch. Ich mache eigentlich auch nichts Anderes, als Schiller gemacht hat. (lächelt) GT — Wie siehst du es als Regisseur:
Gewinnt das Theater in der aktuellen Ausnahmesituation einer Pandemie an Bedeutung oder im Gegenteil: Muss das Theater – da alle Streaming Plattformen entdeckt und sich an die Zeit ohne Theater gewöhnt haben – um seine Relevanz kämpfen? FvS — Das Problem ist, dass das Theater immer um seine Relevanz kämpft. Dabei müsste es das gar nicht. Selbst, wenn es vielleicht irgendwann nur mehr absolute Nische wäre und nur noch ein paar Verrückte sich damit
beschäftigten, bliebe es relevant. Weil es im besten Fall immer eine Kunstform ist, die sich schnell der Gegenwart anpassen kann. Filme und Serien sind, trotz allen Hypes, weiterhin einer gewissen Tradition verhaftet. Ich bin fest davon überzeugt, dass die vielleicht «nischigere» Kunstform Theater im Endeffekt die kommerziellere Kunst wie eben Serien, Kino und Popmusik beeinflusst. Deswegen ist das Theater so wichtig, weil man etwas ausprobieren kann, etwas wagen. Am Ende ist das, was wir machen, vielleicht nicht für eine breite Masse sichtbar (wie das ein x-beliebiger Podcast oder YouTuber vielleicht ist), aber ohne das, was wir machen, und das Bewusstsein, das wir schaffen, in einer Stadt, in einer Gesellschaft, gäbe es auch nicht das, was alle für so selbstverständlich nehmen. Die Ideen müssen ja schliesslich irgendwo herkommen und sichtbar werden. Kulturpolitisch wäre es fatal, an Kunstformen wie Theater zu sparen, weil eben dann auch der Kommerz nicht mehr funktionieren würde – weil alles mit allem zusammenhängt. Das war schon immer so und ist heute mehr denn je der Fall.
Der Grenzgänger 16 Franz von Strolchen Der Regisseur Franz von Strolchen lebt in Luzern und begleitet schon seit drei Jahren die Schauspielsparte des Luzerner Theater. In dieser Zeit waren seine Inszenierungen an unterschiedlichen Spielorten und in den abwechslungsreichsten Formen zu sehen; etwas verbindet aber die Vielfalt seiner Luzerner Arbeiten: Er spielt und experimentiert immer wieder mit den Grenzen, Sehgewohnheiten und Wahrnehmungen im Theater. Angefangen hat es in Luzerner Wohnungen: «Biedermann und die Brandstifter», der Klassiker von Max Frisch, wurde nicht – wie es an einem Stadttheater naheliegend wäre – auf der Bühne, sondern in privaten Wohnungen in und um Luzern für jeweils 20 – 40 Zuschauer (je nach Wohnungsgrösse) gespielt. Noch dazu mit einer immer wechselnden, aussergewöhn lichen Besetzung: Die Rollen von Gottfried und Babette Biedermann haben die jeweiligen Gastgeber und Gastgeberinnen gespielt, die erst am Abend selbst erfahren haben, dass sie Teil der Vorstellung sind. Niemand hat die spontane Rollenanfrage abgelehnt, sie hatten allerdings auch Unterstützung: Die Ensemblemitglieder haben die anderen Rolle des Stücks gespielt und auch während des Abends dafür gesorgt, dass die Gastgeber
immer wussten, welche Sätze sie als nächstes zu sprechen hatten. Das Team vom Theater hat die ganze Wohnung belebt und bespielt und hat sich dabei nicht zurückgehalten: Es hat sogar den Kühlschrank des Gastgebers ausgeräumt und seinen Lieblingskäse aufgegessen. Die Grenzen zwischen Schauspielern und Zuschauerinnen, zwischen Inszeniertem und NichtInszeniertem, Requisiten des Theaters und des «echten» Lebens verschwammen. Die Inszenierung wurde zum grossen Erfolg: Alle Vorstellungen waren ausgebucht, in zwei aufeinander folgenden Spielzeiten. Zudem gastierten die Brandstifter nicht nur in Luzerner Wohnungen, sondern auch an Theaterfestivals ausserhalb der Schweiz. Nachdem Franz von Strolchen mit den Brandstiftern zahlreiche Wohnungen besucht hatte, blieb er bei (Klein-) Kriminellen, und inszenierte in der «Box» sein nächstes Stück: «Die Unscheinbaren». Für die Vorarbeiten ist der Regisseur aus den Luzerner Wohnungen hinaus auf die Luzerner Strassen gegangen, um sich dort mit dem Luzerner Fotografen Mischa Christen auf eine Recherche zu begeben. Denn «Biedermann und die Brandstifter» war eher eine Ausnahme, die die Regel bestätigt im Œuvre des Regisseurs. Franz von Strolchen macht
17 Autorentheater: Er schreibt und inszeniert seine eigenen Stücke. Seinem Schreibprozess geht jeweils eine Langzeitrecherche voraus, die sich mit lokalen Themen und Phänomenen beschäftigt. So war es auch bei «Die Unscheinbaren». Franz von Strolchen und Mischa Christen haben weisse Lieferwagen und ihre Fahrer in und um Luzern genauer ins Visier genommen und sind einer damit verbunden, weltweit bekannten Betrugsmethode, dem «White-Van-Speaker-Scam», nach gegangen. Anhand der Fotos und Interviews mit diversen Lieferwagenfahrern hat Franz von Strolchen eine eigene fiktive Geschichte kreiert. Für die Produktion wurde die «Box» zur Gangsterhöhle umgebaut, in der das Publikum von Kleinkriminellen im Rahmen eines Workshops lernen konnte, wie der Betrug perfekt durchgeführt werden kann. Dabei ging es in der Inszenierung um Stereotype, Vorurteile und um die Frage, wem in unserer Gesellschaft Vertrauen geschenkt wird und wem nicht. Das Theatererlebnis war bei dieser Inszenierung ähnlich unmittelbar wie bei «Biedermann und die Brandstifter»: Das Publikum war eingeladen in eine Gangsterhöhle, die wie eine verlassene Lagerhalle aussah. Gleich beim Eintritt musste man die konventionelle Erwartungshaltung
ablegen: Es gab nicht einmal Stühle im Raum, die Zuschauer mussten sich auf Kisten der «Lagerhalle» setzen, und ihren Platz im Raum selbst aussuchen. Es gab auch keine gewöhnliche Aufteilung von Publikum und Bühne. Die Zuschauerinnen sassen überall verstreut in der «Lagerhalle», die Schauspieler und Schauspielerinnen haben mal zwischen ihnen, mal ganz nah an ihnen gespielt. Das Publikum wurde die ganze Zeit mitbespielt und öfters sogar angesprochen. Nicht nur die unmittelbare Schauspielweise ging frei mit den Gewohnheiten des Theaters um. Zwischen Innen und Aussen, zwischen inszeniertem Raum und nichtinszeniertem öffentlichem Raum wurden die Grenzen immer wieder auf gelöst: In einer Szene fuhr ein weisser Lieferwagen von der Strasse in die «Box», von der Realität rein in die Fiktion. In der letzten Szene konnte jeweils ein unternehmungslustiger Zuschauer die Betrugsmethode auf dem Theaterplatz ausprobieren, während der Versuch live auf eine Leinwand im Zuschauerraum übertragen wurde. Die Zuschauerin, der Theaterplatz, das Laufpublikum – alle wurden Teil der Inszenierung, tatsächliche Akteure des Theaterabends. Bei seiner dritten Inszenierung am LT, der «Taylor AG», hat der
18 Regisseur eine Serie für Luzern über die Zukunft der Arbeit erfunden. 30 Tage lang in 30 Folgen wurde in der «Box» die Geschichte einer Arbeitsgemeinschaft von drei Menschen erzählt, die in einer vollautomatisierten Arbeitswelt jeden Tag eine kreative Idee produzieren musste, denn (so die These der Inszenierung) die künstliche Intelligenz braucht menschliche Kre ativität, um funktionieren zu können. Jede Folge der Serie wurde am Vormittag geprobt und schon am selben Abend gezeigt. Genauer gesagt, nur die erste Hälfte der jeweiligen Folge wurde geprobt. In der zweiten Hälfte trat ein Experte oder eine Expertin aus Luzern der Arbeitsgemeinschaft bei, um neue Impulse und Ideen aus unterschiedlichen Fachbereichen einzubringen. Die Gespräche, in denen die fiktiven Figuren der Serie mit der Unterstützung der «echten» Experten eine neue Idee erfinden mussten, sind spontan an dem jeweiligen Abend entstanden. Somit bekam der Theaterabend immer einen unberechenbaren, ungewissen Charakter: Das «reale» Fachwissen der Expertinnen und Experten beeinflusste die fiktive, «un reale» Geschichte der Serie. Dabei hat auch diese Inszenierung von Franz von Strolchen einen Spagat zwischen Inszeniertem und Nicht-Inszeniertem geschaffen und sich zwischen Rea litätsebenen bewegt. Dieses Prinzip
wurde auch aufrecht erhalten, als die Serie nach der Hälfte pandemiebedingt in den digitalen Raum gewandert ist. Die Serie hat sogar neue Bedeutungsschichten gewonnen. Isolation und die Veränderung des Arbeitsbegriffs wurden zu tagtäglicher Realität in der Welt. «It’s the end of the work as we know it» lautete der Slogan der Serie, der aber auch der Slogan für die Arbeit am Theater (und an vielen anderen Institutionen) hätte sein können. Die Geschichte wurde als Live stream zu Ende erzählt. Die fiktive Situation der Hauptfiguren reimte sich auf die reale Situation in der Welt mehr denn je: Menschen mussten in Isolation kreativ werden, während sie nicht begreifen konnten, was in der Aussenwelt passiert. « TELL – eine wahre Geschichte» ist die erste Arbeit von Franz von Strolchen auf der Bühne des LT. Schon der Titel lässt vermuten: Auch hier wird das Spannungsfeld zwischen der Fiktion und dem Realen wieder zent rales Thema. Wahre Begebenheiten waren eine wichtige Inspiration für den Regisseur: Im Sommer 2020 ist er mit seinem Team um den Vierwaldstättersee gereist, um jene Orte zu besuchen, die in der Sage von Wilhelm Tell Erwähnung finden. Sie sprachen mit den Bewohnern und Bewohnerinnen vor Ort über die «wahren» Helden und Heldinnen von heute. Diese
19 Gespräche flossen als Monologe in die Inszenierung ein, und wuchsen mit der Geschichte von Tell und Walter zusammen. In den Monologen sind teils lokale Geschichten wiederzuerkennen, die sogar in der breiteren Öffentlichkeit bekannt sind, teils sind sie persönliche Geschichten, die zum ersten Mal vor Publikum zu hören sind. Eines verbindet sie aber: Sie stammen von realen Menschen, die für den Theaterabend zu Monologen fiktiver Figuren werden, die von Schauspielern und Schauspielerinnen erzählt werden. So befinden sich diese Geschichten auf der Bühne weder in der Realität noch gänzlich in der Fiktion. Sie sind irgendwo dazwischen. Wie bei allen seinen Luzerner Inszenierungen untersucht Franz von Strolchen auch in «TELL», was im «Dazwischen» liegt. Mit dieser Arbeit lädt er das Publikum ein, Grenzen zu überschreiten. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Mythos und wahren Geschichten. Seit drei Jahren erzählt er seine Geschichten am Luzerner Theater. Neue Geschichten, die er für Luzern erfunden hat, bekannte Geschichten, die er neu erzählen kann, und Mythen, die bei ihm zu neuen Geschichten werden. Wahre Geschichten, fiktive Geschichten, und alles dazwischen. Gehen Sie mit dem Grenzgänger mit und verweilen Sie in diesem «Dazwischen»!
Impressum TEXTNACHWEISE
BILDNACHWEISE
HERAUSGEBER
Alle Texte sind Originalbeiträge für dieses Heft. Bis auf den Beitrag auf Seite 7, den Mirjam Knapp verfasst hat, stammen alle Texte von Gábor Thury. Das Interview mit Franz von Strolchen führte ebenfalls Gábor Thury.
S. 4 – 5: André Willmund, Olivia Gräser, Christian Baus, Sophie Hottinger S. 9: Fynn Liam Dettwyler, Fritz Fenne S. 14 – 15: Nicolai Perkmann mit dem Ensemble und der Statisterie S. 20 – 21: Fritz Fenne Umschlag hinten: Fynn Liam Dettwyler und Fritz Fenne
Luzerner Theater Theaterstrasse 2, 6003 Luzerner Theater www.luzernertheater.ch
Fotografiert von Ingo Höhn an der Hauptprobe am 24. Februar 2021 und an der Generalprobe am 25. Februar 2021.
Spielzeit 20/21 Intendant: Benedikt von Peter Verwaltungsdirektor: Adrian Balmer Künstlerische Leitung Schauspiel: Sandra Küpper Redaktion: Gábor Thury Gestaltung: Studio Feixen
Die Fotos auf S. 4 – 5 sind Einzelbilder aus dem Film « TELL – eine wahre Geschichte», Kamera: Jonas Ruppen
TECHNISCHER STAB
Technischer Direktor: Peter Klemm, Technischer Leiter: Julius Hahn, Produktionsassistentin: Marielle Studer, Produktionsleiter: Roland Glück, Bühnenmeister: Dominic Pfäffli, Chefrequisiteurin: Simone Fröbel, Requisite: Oliver Villforth, Irina Biadici, Clara Gil Fernandez, Noemi Hunkeler, Carmen Weirich, Leiter der Beleuchtungsabteilung: David Hedinger-Wohnlich, Beleuchtungsmeister: Clemens Gorzella, Leiterin der Ton- und Videoabteilung: Rebecca Stofer, Tontechniker: Gérard Gisler, Vesselin Mitev, Videotechniker/in: Rebecca Stofer, Franz Schaden, Leiter Probenbühnen: Thomas Künzel, Transporte: Ido van Oostveen, Hamzi Gashi, Chefmaskenbildnerin: Lena Mandler, Leiterin der Kostümabteilung: Ulrike Scheiderer, Gewandmeisterin Damen: Hanni Rütimann, Gewandmeisterin Herren: Andrea Pillen, Kostümmalerin: Camilla Villforth, Leiterin Ankleidedienst: Monika Malagoli, Fundusverwalterin: Rhea Willimann, Werkstättenleiter: Marco Brehme, Leiterin Malersaal: Brigitte Schlunegger, Schlosser: Nicola Mazza, Leiter Schreinerei: David Koch, Tapeziererin: Fernanda von Segesser, Leiter Statisterie: Delphine Queval
Danke unserem Hauptsponsor