MIT
IMPRESSUM
Max Frisch, Gustav Mahler
HERR GEISER Adrian Furrer
Premiere: 30. April 2017 Dauer: ca. 1 Stunde, keine Pause
LUZERNER SINFONIEORCHESTER
Aufführungsrechte: Suhrkamp Verlag, Berlin
KONZEPT Yoel Gamzou, Felix Rothenhäusler, Julia Reichert
Herausgeber: Luzerner Theater Intendant: Benedikt von Peter Verwaltungsdirektor: Adrian Balmer Künstlerische Leitung Schauspiel: Regula Schröter Redaktion: Julia Reichert Gestaltung: Studio Feixen Druck: Engelberger Druck AG
DER MENSCH ERSCHEINT IM HOLOZÄN
Herzlichen Dank an unseren Impulsgeber Thomas Strässle von der Max Frisch-Stiftung für das anregende Gespräch. Medienpartner: Zentralschweizer Fernsehen Tele 1 AG
MUSIKALISCHE LEITUNG Yoel Gamzou / Winston Dan Vogel INSZENIERUNG Felix Rothenhäusler RAUM- UND LICHTDESIGN Matthias Singer KOSTÜM Moana Lehmann LICHT Clemens Gorzella DRAMATURGIE Julia Reichert REGIEASSISTENZ Josef Zschornak INSPIZIENZ Yasmine Erni-Landrot BÜHNENBILDASSISTENZ Nadine Moroni
Die Drucksache ist nachhaltig und klimaneutral produziert nach den Richtlinien von FSC und Climate-Partner. TEXTNACHWEISE Max Frisch, Notiz vom 16. August 1973 © Max Frisch-Archiv, Zürich Alle anderen Texte sind Originalbeiträge von Julia Reichert für dieses Heft. BILDNACHWEISE Probenfotos: Ingo Höhn, S.4. A. Furrer, S. 8: W. D. Vogel, Umschlag aussen: A. Furrer Leseempfehlung – vor wenigen Wochen erschienen: Max Frisch, «Wie Sie mir auf den Leib rücken!» – Interviews und Gespräche, Hrsg. Thomas Strässle, Suhrkamp, 2017
TECHNISCHER STAB Technischer Direktor: Peter Klemm, Produktionsassistent: Julius Hahn, Assistent der techn. Direktion: Michael Minder, Produktionsleiter: Roland Glück, Bühnenmeister: Riki Jerjen, Chefrequisiteurin: Melanie Dahmer, Requisite: Oliver Villforth, Nicole Küttel, Leiter der Beleuchtungsabteilung: David Hedinger-Wohnlich, Beleuchtungsmeister: Clemens Gorzella, Leiter der Tonabteilung: Jürgen Kindermann, Leiter Probenbühnen: Thomas Künzel, Transporte: Ido van Oostveen, Hamzi Gashi, Chefmaskenbildnerin: Lena Mandler, Leiterin der Kostümabteilung: Angelika Laubmeier, Gewandmeisterin Damen: Ulrike Scheiderer, Gewandmeisterin Herren: Andrea Pillen, Kostümmalerin: Camilla Villforth, Leiterin Ankleidedienst: Monika Malagoli, Fundusverwalterin: Rhea Willimann, Werkstättenleiter: Ingo Höhn, Leiterin Malersaal: Brigitte Schlunegger, Schlosser: Nicola Mazza, Leiter Schreinerei: Tobias Pabst, Tapezierer: Alfred Thoma, Leiter Statisterie: Sergio Arfini
L Der Mensch erscheint im Holozän
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T
Attacke aufs Gehirn
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Zur Inszenierung Sprechen als letzter Kampf eines um sich selbst ringenden Verstandes. Musik als das transzendentale «Andere», grösser als Mensch, Wort oder Welt. Das Konzept, das Regisseur Felix Rothenhäusler und Dirigent Yoel Gamzou eigens für das Luzerner Theater entwickelt haben, ist eine unwahrscheinliche Konstellation aus zwei ungleichen, wenn auch ebenbürtigen Stoffen: Wenn «Herr Geiser» der Welt abhanden kommt, trifft der nüchtern-lakonische Max Frisch mit seiner formalen Eleganz auf die überwältigende Existentialität des spätromantischen Gustav Mahler. Regisseur Felix Rothenhäusler liest Frischs Erzählung als Attacke aufs Gehirn. Er lässt den Schauspieler Adrian Furrer, allein inmitten des Orchesters, in Matthias Singers neuronaler Landschaft aus Licht, um sein Leben sprechen. Für Herrn Geiser ist das Vergessen eine persönliche Katastrophe paläontologischen Ausmasses. Das Ende seiner Welt erahnend, muss er seine Existenz unter Beweis stellen: Ich weiss, also bin ich. Eine sportliche Sprach- und Gedächtnisperformance ohne Chance auf Sieg. Der Übertitel gibt der lakonischen (nur vermeintlich ungerührten) Erzählperspektive Frischs Raum, als blickte die Natur leicht amüsiert auf dieses kleine Exemplar der Gattung und sein Ringen, das denkende Zentrum seiner Welt zu bleiben: «Wissen beruhigt.» «Herr Geiser ist kein Lurch.» Nach und nach ermüdet der Geist, das Wissen verblasst, das Orchester betritt die Bühne. Erst nur fragmentarisch, als leise Ahnung dessen, was Sprache nicht fassen kann, bricht sich im Verlauf die Musik, die Transzendenz, Bahn. Mahlers Zehnte Sinfonie erzählt von einem Ende, das grösser ist als der Einzelne, von einem Abschied von der Existenz, unbegreiflich, erschütternd, nicht ohne Hoffnung, aber sicher ohne Herrn Geiser. Denn: «Die Natur braucht keine Namen. Das weiss Herr Geiser. Die Gesteine brauchen sein Gedächtnis nicht.»
Max Frisch 6 Der Mensch erscheint im Holozän … man kann ja unsere Lage auch erdgeschichtlich sehen. (Frisch) Vielleicht die leiseste Apokalypse der Literatur. Tessin, spätsommerlicher Dauerregen. Ein Hang ist gerutscht. Herr Geiser, ein Witwer aus Basel, sitzt in seinem Alterswohnsitz fest. Stumm schlägt er die Zeit tot, baut Pagoden aus Knäckebrot. Die Risse im Berg beunruhigen ihn. Dabei ist es nicht der Hang, der ins Rutschen kommt: Sein Weltbezug verliert den Boden. Mit Notizblock und Brockhaus begegnet er dem Vergessen, hängt an die Wand, was wichtig scheint: «Der Goldene Schnitt», «Das Zeitalter der Dinosaurier». Ein letztes Mal bricht er auf, bergaufwärts, Regen, Nacht und Wurzelstock zwingen zur Umkehr. «Geologische Formationen», «Gedächtnisverlust», Erosion ist ein langsamer Vorgang. «Schlaganfall». Herr Geiser ahnt die Katastrophe draussen, im rutschenden Hang (ein Riss!), in der Erdgeschichte. Dabei endet seine Welt mit dem Platzen eines Blutgefässes in seinem Hirn. Max Frisch komponierte seine späte Erzählung konsequent und radikal lakonisch (durch die Sekundärliteratur spukt das Wort «Greisenavantgarde») aus kargen Aussagesätzen und Lexikoneinträgen. Er collagierte Halb- und Schulwissen, so, dass «im Weiss zwischen den Worten» Erdgeschichte und persönliche Katastrophe, der Lurch und die Saurier, Berg und Vergessen zu flirren beginnen. Die Emotionalität von Herrn Geisers Auflehnen gegen die Natur erleben wir dabei nur zwischen den Zeilen. Auch Frisch trieb die Angst vor der Demenz um, biographische Parallelen zwischen Figur und Autor wies er aber vehement als «Schwachsinn!» zurück. (Herrn Geiser ist auch eindeutig von einem anderen Künstler, dem Tessiner Armand Schulthess nämlich, inspiriert). Und doch wünschte Max Frisch, dieses, sein vorletztes, hätte sein letztes Buch sein können.
Gustav Mahler Die Zehnte Sinfonie Es sieht aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könnte, was wir noch nicht wissen sollen, wofür wir noch nicht reif sind. (Schönberg) Diese Apokalypse kommt laut, sehr laut. Im Finale läuten 12 Schläge auf einer gedämpften grossen Trommel die letzte Stunde des Universums ein, apokalyptisch, auch physisch überwältigend – ein letztes Lebewohl. Gustav Mahler war hin- und hergerissen zwischen irdischer Existenz und einer anderen Welt, Konkretem und Transzendentalem. Seine Zehnte Sinfonie blieb mit dem Tod ihres Schöpfers 1911 unvollendet, mit hochpersönlichen – und hochemotionalen – Notizen durchsetzt, bruchstückhaft. Ein Enigma, das die Nachwelt zur Mythenbildung einlud. Dirigent Yoel Gamzou kennt ihr unleserliches Faksimile seit seiner Kindheit und hat sie 2010 zu einer eigenen Konzertfassung vervollständigt. Mahlers Arbeitsweise beschreibt er als nicht chronologisch, als schichtweise verdichtend. Der Spätromantiker arbeitete mit Particell: «Das ist wie ein Skelett, die DNA des Stücks … Zu jedem Takt liegt unterschiedlich viel Material vor, aber es gibt ein Konzept für das Ganze. Kein Teil der Erzählung ist offen geblieben. Das war für mich die Voraussetzung, um sie zu vollenden», so Gamzou. Für das LT wählten er und Regisseur Felix Rothenhäusler Auszüge aus seiner Konzertfassung aus, er bearbeitete sie für das LSO und die Begegnung mit der Erzählung von Max Frisch: In kleinerer Besetzung als üblich sind auf der Bühne erst lose Fragmente und später ganze Teile des ersten und letzten Satzes zu hören, auch der berühmte neuntönige, apokalyptische Akkord, ein Bruch mit der Musikgeschichte und Inbegriff von Mahlers haltloser Suche an der Grenze der Tonalität.
Der Mensch als Episode 9 Dirigent Yoel Gamzou und Regisseur Felix Rothenhäusler im Gespräch mit Dramaturgin Julia Reichert Julia Reichert – Also: Worum geht’s? Felix Rothenhäusler – Hui! Gleich so eine Frage aus der Kalten! Es geht um die Attacke aufs Gehirn. Um den Angriff auf Wissen und Sinn. Es ist ein Angriff aufs Sprachzentrum. JR – Auf den ersten Blick geht es ja ums Älterwerden … FR – Das stimmt, ja. Auch um das Herausfallen aus dem, was man zivilisiert nennt. Damit geht es an das Ende der Sprache. Bei Frisch bleibt es beim Beschreib- und Benennbaren, bei dieser Form von Wissen, das man festhalten kann, im Gehirn. Was, wenn dieser Mechanismus nicht mehr funktioniert? Eigentlich geht es ja um einen Schlaganfall. Da ist unsere Existenzform, der Mensch als Massstab der Dinge, bedroht. Das ist bei Frisch ja toll, weil er die Perspektive verschiebt. Wir sind vergänglich. Er verschiebt den Mittelpunkt brachial auf die Natur und das Nicht-Menschliche. Der Mensch ist nur eine Episode, ein Piepton im Kosmischen. Das ist berührend. JR – Wie inszeniert man das?
FR – Mit viel Musik. (Lacht.) Naja, so simpel ist das am Ende: Der Akt des Sprechens, dass man in der Lage ist, sich mitzuteilen, sich zu erinnern, ist verbunden mit einer Person, dem Herrn Geiser. Es ist naheliegend, aber treffend: Eine Person, ein Bewusstsein, ein Gehirn, wird ausgeblendet, hört auf, stattzufinden. Das Setting, das Orchester auf der Bühne und auch die Texte, die über Herrn Geiser projiziert werden, hat damit zu tun, dass Herr Geiser, in der Welt, in der theatralen oder der wirklichen, klein wird und verschwindet. Das ist die Entsprechung, von einem Schauspieler zur Musik, aber auch zum Orchester mit 40 Leuten. JR – Die Kombination ist erstmal unwahrscheinlich: Frisch, der Architekt, und Mahler, der Spätromantiker. FR – Das kam aus dem Entgrenzungsgedanken, weg vom Leib, weg von den Hirnzellen. Was bei Frisch literarisch stattfindet ist ja sehr im Kopf und im Denken. Was passiert danach, wenn die Sprache und das Denken aufhört? Anfangs war nur klar, dass es etwas braucht, was am Ende der Rationalität beginnt, und nichts, was bebildert, wie Frisch Herrn Geiser da hinführt. Bei Mahlers Zehnter ist bei mir etwas angesprungen. Diese fast metaphysische
Dimension. Das ist auch lustig, oder schien mir wie ein guter Scherz, den Frisch auf so etwas loszulassen. Mahler ist ja in allem erstmal sehr weit weg von Frisch. JR – Wie ging Dir das, Yoel? Von der anderen Seite, von Mahler aus, auf Frisch geguckt? YG – Ich brauchte lange, um mit dem Text warmzuwerden. Ich fand den erstmal befremdlich, habe aber sofort eingesehen, dass es inhaltlich extreme Parallelen gibt. Aber ästhetisch ist das das absolute Gegenteil. Erst durch eure Interpretation und durch die Probenarbeit, wo der Text zu einer Form von Realität wurde, hat es für mich Sinnlichkeit bekommen, im Kampf gegen das Älterwerden, gegen den Kontrollverlust, nicht mehr Herr seiner Wünsche und Gedanken zu sein. Der Text bietet dir die Möglichkeit, dich einzulassen oder eben nicht. Der ist nicht übergriffig. Die Musik dagegen lässt dir keine Wahl. Den Kontrast empfand ich als Herausforderung. Und wenn der Text gesprochen wird, einen anderen Rhythmus und auch eine andere Kraft bekommt, trifft es sich doch wieder mit der Musik. Wenn man sich den Menschen in diesem Zustand vorstellt: das kommt der Musik nahe. JR – Ich habe den Eindruck, die Sprache gräbt sich eher lakonisch an die Grenzen des Sagbaren heran, das Sinnliche liegt eigentlich hinter
den Worten, oder eben «im Weiss dazwischen», wie Frisch sagt. FR – Das ist ja die Befremdlichkeit. Ich habe das Gefühl, dass wir da gleich empfinden. YG – Wir beide? Ja, weil wir seelenverwandt sind! (Lacht.) FR – Ja! Tatsächlich, weil das bei Frisch befremdlich ist, aber auf eine gute Weise. Das löst ja eine Faszination aus. Auch weil Frisch, auch aus der eigenen Angst heraus, eine grosse Verdrängung leistet. YG – Mahler ist ja das Gegenteil … JR – Inwiefern? YG – Da gibt es keine Kontrolle, keine Filter. Ausdruck ist in vielerlei Hinsicht das Gegenteil von Verdrängung. Mahler konfrontiert dich mit deinen Abgründen, dagegen kannst du dich nicht wehren. Deswegen macht die Musik auch viele Leute sehr aggressiv. Das ist sehr übergriffig – sie reisst dir den Bauch auf und rammt ein Messer rein, oder sie umkränzt dich mit Rosen. Man kann das nicht aus der Distanz fasziniert beobachten, wie ein Insekt im Labor … FR – Verdrängung hat konkret damit zu tun: Das ist ein bewusster Vorgang, bei Frisch. Wenn man an Herrn Geisers Verluste, an Elsbeth, seine Frau, denkt: Würde er sich perma-
nent damit konfrontieren, würde das einen Raum öffnen, in dem das Funktionieren angegriffen ist. Das ist, auch positiv gemeint, eine bürgerliche Leistung: die Verdrängung. Sonst würde man sich ja permanent ausliefern. An dieser Stelle spielt das Wissen und der Sinn eine Rolle, damit kann man das auf Abstand halten, mit diesem Ansammeln von Schnipseln und Wissensfragmenten.
ein Album, und das wird theatral installiert über eine Person. Versicherungen der Welt sind das ja, diese einfachen Aussagesätze. Das kennt man von Frisch, bei «Holozän» ist die Sachlichkeit im Konstatieren noch mal krasser. Gibt es die Dose Tomaten noch? Ist das Wissen über die Erdzeitalter, noch da, wo ich es einmal «hingelernt» habe? Das ist ein theatraler Vorgang.
YG – Ich glaube, Stück und Musik haben gemeinsam, dass darin die Not eines Menschen spürbar wird. Deshalb funktioniert auch der Schlaganfall als Verschmelzungspunkt zwischen Musik und Text so, weil da die Not am grössten ist, man nicht mehr souverän ist.
JR – Wie kommt die Musik ins Spiel?
JR – Es ist ja eine Erzählung ohne einen einzigen Dialog … FR – Wenn man sich das Buch anschaut, die Art der Montage, die Abbildungen, die verschiedenen Qualitäten, ist es alles andere als ein theatraler Text. Aber gerade das, dieses innere Bewusstsein im Delirium, die Frage «Wie funktioniert ein Gehirn?», das «Synapsenfeuerwerk», macht den Text zu einer ziemlich theatralen Denk-Partitur. Da läuft der Zugang nicht über eine bekannte Form (Dialog, innerer Monolog, etc.), sondern über die Frage: Was findet da im Gehirn statt? Was wird da gesammelt? Was sind die letzten lichten Momente? Der Text ist wie
FR – Konkret, meinst du? Ganz einfach: Die treten schön der Reihe nach auf und fangen an immer mehr Musik zu spielen. (Lacht.) Nein; das sind zwei Welten, die konkurrieren, und sich gegenseitig an den Punkt bringen, an dem die Musik übernimmt. Die Musik entert den Raum. Man kann das im übertragenen Sinne verstehen, das Sprechen, das Gehirn, von Herrn Geiser wird übernommen und an einen Punkt extremer Sinnlichkeit geführt. JR – Ist das die Katastrophe oder die Erlösung? FR – Das ist so ambivalent... YG – Das ist doch dasselbe. FR – Genau. Das, wovor Frisch am meisten Angst hatte, markiert ja nichts als eine Form von Übergang. Krankheit und Tod sind das auch. Das ist natürlich schwer im prakti-
schen Leben, wenn es einen wirklich betrifft. Aber letztendlich macht das Frisch die ganze Zeit im Text: Die Veränderungen in den Erdzeitaltern, die Evolution der Menschheit als Gattung, das sind alles Transformationsvorgänge. Ein Übergang vom Denken in etwas Anderes ... Es kann natürlich keine Glorifizierung des Schlaganfalls oder der Krankheit sein. Aber es öffnet einen Bereich, den wir nicht mehr ganz fassen können. Das ist auch der Unterschied zwischen Verstand, Rationalität, Wahnsinn und Delirium. Ich würde schon sagen, dass jede Form von Verwandlung auch etwas Positives ist, und die extremste Form ist der Tod. YG – Die Zehnte ist ein Abschied, von allem was existiert, eine Apokalypse. Der berühmte neuntönige Akkord ist eine Art Erlösung, ein Loslassen aller Wertung. Das ist nur meine, unbelegte, Interpretation: Es gibt in der Zehnten, im Gegensatz zu früheren Stücken, kein Individuum, keinen Erzähler. Die ersten siebzig Minuten sind der Kampf gegen das Ende. Im ersten Satz ist die fast kosmologische Dimension dieses Kampfes noch unklar. Der Akkord im ersten Satz ist die Warnung, dass es um mehr geht. Im mittleren Satz, im Purgatorio, liegt der Wendepunkt, der Kampf wird hoffnungslos. Und dann, am Anfang des fünften Satzes, konfrontieren dich 12 Schläge der grossen Trommel damit, dass es zu Ende ist. Dass es da nichts mehr gibt.
Von da an ist die Musik der Prozess, sich mit dem Schicksal abzufinden. In dem Moment, wo man die Endlichkeit akzeptiert, gibt es eine Perspektive. JR – Was ist das für eine Perspektive? YG – Im nichtgläubigen Sinne eine Form von Auferstehung. Weil du nicht auf der selben Schiene weitermachst. Du erscheinst dann … – Warum lachst du jetzt? JR – Na, wegen des Titels, natürlich: «Der Mensch erscheint im Holozän.» YG – Ja. (Lacht.) Der Mensch erscheint dann wieder – aber verändert, durch eine Evolution gegangen … Du lachst wieder? JR – Wegen der Parallelen! Die Evolution spielt ja bei Frisch auch so eine grosse Rolle. Jetzt sind wir bei Interpretation und Rezeption gelandet. Sowohl bei Frisch als auch bei Mahler ist die ja arg biographisch geprägt. FR – Wobei bei Frisch ist die Parallele ja auch interessant. YG – Bei Mahler nicht. Jeder Mensch ist von seinem Leben beeinflusst, aber das heisst noch lange nicht, dass er eine illustrative Autobiographie in Musik schreibt. Dass er in der Zehnten seine Ehekrise mit Alma «vertont» hätte, diese Lesart lehne ich ab.
FR – Ich finde, bei Frisch fühlt man schon, in diesen architektonischen Verhältnissen des Textes, die Angst vor dem Kontrollverlust … JR – Ja, aber auch Frisch ist nicht Geiser. Die biographische Anbindung geht auch bei Frisch mehr in die Form, da ist sowohl der Architekt, als auch die Angst vor dem Vergessen zu spüren …
der Ordnung, da wo der Berg oder die Angst kommt, da ist das Chaos. Ob Wahnsinn oder Weltuntergang: gefühlt gibt es keinen Unterschied. In jedem Fall führt das zu einen Klang, die Sprache wird physisch, hat einen Effekt auf den Körper. Das ist vielleicht auch das einzige Mittel, mit dem ich versuche, offensiv umzugehen. Das ist auch eine Art von Musikalität.
FR – Ja, stimmt.
JR – Sprechsport?
JR – Welche Rolle spielt die Stille?
FR – Ja.
(Schweigen.)
JR – Habt ihr eine Lieblingsstelle?
JR – Spielt sie eine Rolle?
FR – Ja. Es war mal: «Tomaten gibt es auch in Dosen». Aber meine neue ist: «Das bleibt im Gedächtnis.»
FR – Doch, doch! Aber darauf kann man fast nicht anworten. JR – Ok, ich notiere: Schweigen. Und was ist der Riss? FR – Der Riss ist, in dem apokalyptischen Setting, in dem sich Herr Geiser befindet, das Zeichen, dass die Welt untergeht. YG – Die Welt geht auch in der Wahrnehmung unter. Es geht auch bei Mahler um die Frage: Existieren die Dinge nur so lange wir sie wahrnehmen können? FR – Der Riss ist der Riss durchs Denken. Aber auch in der Landschaft, der Hang, der rutscht. Der Bruch mit
Das Hirn
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Max Frisch, Notiz vom 16. August 1973 Es ist noch so weit imstand; es reicht noch zur Wahrnehmung seines Zerfalls. Es beobachtet seine Fehlleistungen im Alltag, die es allerdings nicht immer im Augenblick wahrnimmt, oft erst mit Verspätung. Dann erschrickt es insgeheim. Mag sein, dass man es der Miene ansieht; vielleicht auch nicht. Oft handelt es sich ja um Lappalien, oder um sogenannte Vergesslichkeiten. Es gibt Tabletten, die das Hirn ernähren. Natürlich fragt sich das Hirn, wie das weitergeht. Nur unter Alkohol (es genügt ziemlich wenig) tritt der frühere Zustand ein, dass das Hirn sich nicht mit sich selbst befasst, sondern mit der Welt u. zwar als Instanz, wenn auch ohnmächtig, sodass es dabei in Wut geraten kann. Das Hirn als Instanz, eine andere hat es nie gegeben. Das Hirn im Zerfall, aber es ist immer noch das Hirn, das den Zerfall des Hirns feststellt. Es fragt sich, wann der Zerfall so weit fortgeschritten ist, dass das Hirn sich selber nicht mehr prüfen kann. Insofern ergibt sich eine gewisse Beruhigung, in den Augenblicken, da man sich wieder einer Fehlleistung bewusst wird; so viel Hirn ist noch da. Zur offnen Angst, dass das Hirn zerstört ist, kommt es beim Erwachen aus Träumen. Eine grosse Zahl von Verrichtungen erledigen sich ohne Störung, Treppensteigen … Ballspiel … Autofahren (?). Anfälle von Scheu, etwas mit Worten auszudrücken; noch meint das Hirn zu wissen, was es im Augenblick meint, nur kommt es vor, dass sich im Augenblick eine falsche Vokabel einstellt, oder der Name fällt aus, obschon das Hirn weiss, wen es meint, oder es vergisst nicht bloss einen Namen, ein Datum, es vergisst, was es mit diesem Namen oder Datum hat sagen wollen; es drückt nur noch seinen Zerfall aus. Das trifft öfter ein, als die andern es bemerken.
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luzernertheater.ch 041 228 14 14
24.05.— 18.06.17
In 80 Tagen um die Welt
Ein Brass-Musical nach Jules Verne BĂźhne <-
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