Orlando Virginia Woolf
Eine Biographie
«Mein Gott, wie schreibt man eine Biographie?», schrieb Virginia Woolf an ihre Geliebte Vita Sackville-West. Virginia Woolf war gelangweilt von «stumpfsinnigen Büchern über Erzählprosa». Sie war auf der Suche nach neuen Formen von Erzählkunst; da kam ihr die Idee von «Memoiren unserer eigenen Zeit... während die Menschen noch am Leben sind; eine neuartige Verbindung von Historie und Biographie, wahrheitsgetreu und gleichzeitig fantastisch», so schrieb sie 1927 in ihr Tagebuch. Und kurz darauf nahm ihr Einfall Gestalt an; Virginia Woolf machte aus Vita Sackville-West Orlando, einen jungen Adligen: «Eine Biographie, beginnend im Jahre 1500 & fortlaufend bis auf den heutigen Tag, genannt Orlando; Vita; nur mit dem Wechsel von einem Geschlecht zum anderen.» Virginia Woolf begann «Orlando» mit dem Gefühl, etwas «Unerlaubtes» zu schreiben, schliesslich liess sie für diesen Roman bereits verabredete Buchprojekte warten; doch ihr Wunsch nach einer «Eskapade» trieb sie an, «satirisch & wild» sollte es werden, «Sapphismus soll angedeutet werden». Wenngleich Virginia Woolf «Orlando» als persönliche Huldigung an ihre Geliebte verstand, so ist es gleichermassen eine mehr oder minder grausame Parodie auf Vita. Virginia Woolf gestaltete ihre Freundin wie ein Bild und modellierte charakterliche und biographische Elemente nach eigenem Ermessen um. Im März 1928 schliesslich schrieb sie an Vita Sackville-West:
«Orlando ist fertig! Hast Du am letzten Samstag um 5 vor eins eine Art Ruck gespürt, als ob Dir das Genick gebrochen würde? Da ist er gestorben – oder besser gesagt, hat aufgehört zu reden, mit drei Pünktchen... Jetzt muss jedes Wort neu geschrieben werden... Es ist vollkommen durcheinander, unzusammenhängend, unerträglich, unmöglich – Und ich bin es leid. Die Frage lautet nun, haben sich meine Gefühle für Dich geändert? Ich habe alle diese Monate in Dir gelebt – wie bist Du wirklich, wenn ich herauskomme? Existierst Du? Habe ich Dich mir zurechtgemacht?»
Aber «Orlando – eine Biographie» ist weit mehr als nur eine persönliche Auseinandersetzung. Virginia Woolf hat mit ihrem Buch die Literatur ihrer Zeit auf den Kopf gestellt. Nicht nur, dass sie sich das genuin männliche Gewerbe des Biographie-Schreibens zu Eigen machte und es humorvoll persiflierte. Sie schilderte auch eindrücklich die Erwartungen und Unterschiede, die die Gesellschaft über Jahrhunderte den Geschlechtern auferlegte und liess ihre Hauptfigur Orlando diese gesellschaftliche Ordnung immer wieder überschreiten und kritisch hinterfragen. Mit diesen Themen gilt «Orlando» zurecht als einer der wichtigsten feministischen Romane des 20. Jahrhunderts und hat auch im 21. Jahrhundert nichts an Aktualität und Brisanz verloren. Der Roman ist das fiktionale Pendant zu Virginia Woolfs feministischem Manifest «Ein Zimmer für sich allein», welches ein Jahr später erschien.
«Virginia», so schrieb Vita Sackville-West in ihr Tagebuch, «ist eigentümlich feministisch. Ihr missfällt das Besitzergreifende und Beherrschenwollende an Männern. Eigentlich missfällt ihr die Eigenschaft der Männlichkeit. Behauptet, dass Frauen ihre Phantasie anregen, durch ihre Anmut & ihre Lebenskunst.» Aber Virginia Woolf war nicht nur Feministin und damit eindeutig auf der Seite des weiblichen Subjekts zu verorten. Die Binarität der Geschlechter war für sie nicht so klar, vielmehr kannte sie sehr gut das Gefühl, «weder Mann noch Frau» zu sein und auf ihrer Suche nach den «Möglichkeiten von Lebensbeschreibungen», so schildert es Woolfs Biographin Hermione Lee, «lösen sich zuletzt alle Begriffe von einem «stabilen» Ich in nichts auf. «Orlando» ist eine Kritik der sexuellen Zensur und der festgelegten Begriffe von Geschlechtsunterschieden.» Das Widersetzen gegen Zuschreibungen nennt Virginia Woolf in «Orlando» die «Schichten von Ich». Dieses SchichtPrinzip begleitet Orlando auch über den Geschlechterwechsel hinaus: Orlandos ganzes fast 400-jähriges Leben (heute müssten wir von fast 500 Jahren sprechen) ist bestimmt von Lebensschichten, Identitätsschichten und Erinnerungsschichten. Sie alle finden Eingang in die fantastische und wirkliche Biographie über eine Person namens Orlando. Orlando selbst ist und bleibt ein suchender Mensch. Nie ist er ganz «er», nie ist sie ganz «sie», zu deutlich spürt Orlando ein Unwohlsein gegenüber den heteronormativen Erwartungen, gegen die sich die Person Orlando nicht immer verwehren kann, doch stets hinterfragt sie gängige Gepflogenheiten und gesellschaftliche Vereinbarungen.
Für das Regieteam um die Regisseurin Corinna von Rad ist der Zugang über die «Schichten von Ich» eine Einladung, verspielt und lustvoll mit dem «Orlando»-Stoff umzugehen. Ganz im Sinne Virginia Woolfs wird dekonstruiert und neu gestaltet, es entstehen unterschiedlichste Schichten, die von allen vier Darsteller*innen benutzt, angezogen, abgestreift und ausgetauscht werden. Dabei spielt jede*r Orlando, was nur konsequent ist, schliesslich ist der Geschlechterwechsel von Orlando vom Mann zur Frau ein Kernthema. Doch nicht nur auf der Geschlechterseite flirrt es. Auch die Zeit kommt durcheinander. Virginia Woolf lässt ihre*n Orlando durch vier Jahrhunderte gehen, Corinna von Rad nimmt ihre*n Orlando ganz aus der Zeit heraus, platziert die Figur Orlando immer wieder mal in vergangenen Jahrhunderten, und lässt sie doch stets Zeitgenoss*in sein. So entsteht ein vielfältiges Kaleisdoskop von (Geschlechts-)Identitäten, die aus heutiger Sicht alle gleichzeitig möglich und lebbar wären. Gesellschaft formt uns zwar auch heute noch, doch haben wir im Laufe der Jahrhunderte unseren Vorrat an Schichten immer mehr erweitert und tragen sie alle mit uns herum. Und selbst wenn wir uns in den Schichten von männlicher oder weiblicher Identität am wohlsten fühlen, so liegen darunter immer auch bereits gelebte, sehr diverse Schichten aus den vergangenen Jahrhunderten. Und die Zeit, das beweisen uns die Geschichte und Virginia Woolf, war nie ganz eindeutig.
von Eva Böhmer
Virginia Woolf
wurde am 25. Januar 1882 als Adeline Virginia Stephen in London geboren und wuchs in einer kinderreichen Patchwork-Familie auf: Neben ihren Geschwistern Vanessa, Thoby und Adrian gehörten die Halbgeschwister George, Stella und Gerald mütterlicherseits und die Halbschwester Laura väterlicherseits zur Familie. Ihre Eltern, der Biograph Leslie Stephen und seine zweite Frau Julia Stephen waren Teil der intellektuellen Elite Londons; in ihrem literarischen Salon traf sich die künstlerische Avantgarde ihrer Zeit, darunter unter anderem Thomas Hardy und Henry James. Nach dem Tod der Eltern gründeten die Stephen-Geschwister 1905 die berühmte Bloomsbury-Group. Zu diesem Zirkel gehörten neben Virginia Literat*innen wie Saxon Sydney-Turner, David Herbert Lawrence, Lytton Strachey, Leonard Woolf, Maler*innen wie Mark Gertler, Duncan Grant, Roger Fry und Virginias Schwester Vanessa, Kritiker*innen wie Clive Bell und Desmond MacCarthy sowie Wissenschaftler*innen wie John Maynard Keynes und Bertrand Russell. 1912 heiratete Virginia Leonard Woolf. In ihm fand sie einen lebenslangen Gefährten und Verbündeten, wenngleich sie sich nie körperlich zu ihm hingezogen fühlte, wie sie ihm bereits vor der Hochzeit in einem Brief mitteilte. Zusammen gründeten sie 1917 den Verlag The Hogarth Press für moderne Literatur aus Grossbritannien, den USA und Russland. 1922 lernte Virginia Woolf Vita Sackville-West kennen, es folgte eine dreijährige Liebesbeziehung, die in eine lebenslange Freundschaft mündete. Mit «Orlando» setzte Virginia Woolf ihrer Freundin ein literarisches Denkmal. Zeit ihres Lebens litt Virginia Woolf an depressiven Episoden, sie unternahm mehrere Suizidversuche. Am 28. März 1941 beendete sie ihr Leben durch Ertrinken.
«Die binäre Regulierung der Sexualität unterdrückt die subversive Mannigfaltigkeit einer Sexualität, die mit den Hegemonien der Heterosexualität, der Fortpflanzung und des medizinisch-juristischen Diskurses bricht.»
Judith Butler – Das Unbehagen der Geschlechter
6
Orlando Eine Biographie von Virginia Woolf
Aufführungsrechte:
Deutsch von Melanie Walz
Suhrkamp Theater Verlag
Premiere: 15. September 2023 | Box
Mit:
Stab Betrieb:
> Wiebke Kayser
Direktor Produktion:
> Jürg Kienberger
Julius Hahn
> Ziad Nehme
Direktor Bühnenbetrieb:
> Robert Rožić
Koen Deveux Direktorin Planung:
Dauer: ca. 85 Minuten ohne Pause
Birgit Gantenberg Schlosser:
2
Regie: Corinna von Rad
Piero Antonazzo
Bühne: Ralf Käselau
Leiter Schreinerei:
Kostüme: Sabine Blickenstorfer
David Koch
Licht: Ivo Schnider
Tapeziererin:
Musikalische Leitung: Jürg Kienberger
Fernanda von Segesser
Video: Rebecca Stofer
Leiterin Malsaal:
Dramaturgie: Eva Böhmer
Brigitte Schlunegger Chefmaskenbildnerin:
Regieassistenz und Abendspielleitung: Hannah Nagel
Lena Mandler
Kostümassistenz: Nadine Räber
Leiterin Kostümabteilung:
Bühnenbildassistenz: Jeannine Fischbacher
Ulrike Scheiderer
Regiehospitanz: Corsin Peyer
Gewandmeisterin Damen:
Produktionsleitung: Roland Glück
Hanni Rüttimann Gewandmeisterin Herren:
Textnachweis: «Ein Leben in Schichten»: Eva Böhmer,
Andrea Pillen
Originalbeitrag, alle Zitate aus: Hermione Lee: Virginia
Kostümmalerin:
Woolf. Ein Leben, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
Camilla Villforth
1999
Bühnenmeisterin: Riki Jerjen
Fotos: Andreas Etter (Titelbild), Ingo Höhn (Produktions-
Requisite:
fotos), Redaktion: Eva Böhmer, Gestaltung: Discodoener,
Oliver Villforth
Druck: Engelberger Druck AG, Stans,
Tontechnik:
Herausgeber: Luzerner Theater, luzernertheater.ch
Ryo Roesch
Herzlichen Dank an Carla Schwöbel-Braun. Vielen Dank für die Bereitstellung des Hohner Pianino an Andreas Knecht.