PROMETEO Eine Tragödie des Hörens von Luigi Nono Für Vokal- und Instrumentalsolisten, Chor, Instrumentalgruppen und Live-Elektronik Libretto zusammen gestellt von Massimo Cacciari Koproduktion mit LUCERNE FESTIVAL Premiere: 9. September 2016 Dauer: 2 Stunden 30 Keine Pause
MUSIKALISCHE LEITUNG Clemens Heil DIRIGENT/IN II Matilda Hofman/ Joachim Enders
SZENISCHE EINRICHTUNG Benedikt von Peter
BÜHNE Natascha von Steiger KOSTÜME Andrea Pillen und Ulrike Scheiderer LICHT David Hedinger VIDEO Bert Zander
RAUMKLANG KONZEPT Detlef Heusinger
EINSTUDIERUNG CHOR Mark Daver DRAMATURGIE Brigitte Heusinger
STUDIENLEITUNG UND KORREPETITION Joachim Enders REGIEASSISTENZ UND ABENDSPIELLEITUNG Lennart Hantke BÜHNENBILD ASSISTENZ Debbie Sledsens
REGIEHOSPITANZ Caterina Hoeck DRAMATURGIEHOSPITANZ Rebekka Meyer
INSPIZIENZ Yasmine Erni-Lardrot
SOPRAN I Aki Hashimoto
SOPRAN II Diana Schnürpel ALT I Susanne Otto
ALT II Karin Torbjörnsdóttir TENOR Denzil Delaere
SPRECHERIN Caroline Vitale SPRECHER Robert Maszl
FLÖTE, PICCOLOFLÖTE, BASSFLÖTE Roberto Fabbriciani/ Maruta Staravoitava
KLARINETTE IN B UND ES/KONTRABASSKLARINETTE Andrea Nagy TUBA/ EUPHON IUM Jozsef Bazsinka
ALTPOSAUNE (LSO) Jean-Philippe Duay STREICHERSOLISTEN (LSO) VIOLA Alexander Besa
VIOLONCELLO Heiner Reich KONTRABASS Andreas Müller
VETRI (LSO) Erwin Bucher, Michael Erni LIVE-ELEKTRO NISCHE REALI SATION Experimentalstudio des SWR: Reinhold Braig, Joachim Haas, Detlef Heusinger, Sven Kestel STATISTERIE DES LUZERNER THEATER Ruth Bättig, Mary Busch, Gabi Faye-Achermann, Silvia Furrer, Moni Haenni, Julie Kronenberg, Yvonne Lilienthal, Rita Maeder, Melina Spieler, Theres Steger, Christa Aschwanden CHOR DES LUZERNER THEATER
LUZERNER SINFONIEORCHESTER EXPERIMENTA L STUDIO DES SWR
L
Prometeo Luigi Nono
Bühne ←
T
Der Luxus, einfach zu sein «Prometeo» ist ein Lieblingsstück renommierter, grosser Festivals. Es füllt Hallen, in Japan wurde mit der Akiyoshudai International Art Village Hall extra ein Gebäude für die Aufführung von «Prometeo» gebaut, Menschen stehen Schlange vor den Konzerthäusern mit Pappschildern vor sich: «Suche Karte». 80 Musiker auf 2000 Besucher bei höchstens zwei Aufführungen, das ist die Regel. Das Luzerner Theater ist der kleinste Raum, in dem «Prometeo» jemals stattgefunden hat: 80 Musiker auf 250 Besucher. Und das 11 mal. So viel Wiederholung war nie. Bei der Uraufführung – 1984 in der Kirche San Lorenzo in Nonos Heimatstadt Venedig – baute der berühmte Architekt Renzo Piano eine mehrstöckige Arche in das Innere der Kirche. Hieran orientiert sich die Raumlösung im Luzerner Theater: ein shakespearesches Globe, aber auch ein Schiffsbauch, in dem sich die Zuschauer zu einem Hörerlebnis versammeln. «Prometeo» zu realisieren ist aufwändig. Jede Aufführung ist ein exklusives Ereignis. Vier Orchestergruppen, Chor, Sprecher, zwei Dirigenten, fünf Gesangs- und verschiedene Instrumentalsolisten und die Live-Elektronik als ein weiteres bestimmendes Element sind gefragt. Partitur wie Libretto verwenden Texte und Zitate aus der Antike bis zur Moderne und sind äusserst komplex, werfen bewusst mehr Fragen auf, als sie beantworten und konfrontieren denjenigen, der sich damit beschäftigt, mit sich selbst. Man wird in die eigene Verantwortung, ins eigene Denken und noch mehr ins eigene Fühlen gestossen und das durchaus auf eine unnachgiebig leise, zarte und doch fordernde Weise. Mit der Zurücknahme der Geschwindigkeit, der Ereignisdichte, der Lautstärke bis hin zur Hörgrenze formuliert Nono musikalisch eine Hoffnung, die angesichts eines lauten, aufschreienden, verheerenden 20. Jahrhunderts in einer veränderten Wahrnehmung, in einer Sensibilisierung liegen kann. «In der Wüste sind wir unüberwindbar» heisst es (nach Schönberg) im abschliessenden «Stasimo secondo». Das Wenige, das Pure ist reich. Ihm müssen wir lauschen, seine angefüllte Leere geniessen. Das ist schwer, das ist einfach. Brigitte Heusinger
Die Inseln Ein Gang durch die Komposition «Prometeo» ist in neun Teile gegliedert. Es ist jedoch keine einfache Aneinanderreihung einzelner Sätze, sondern ein beständiges Changieren zwischen ihnen. Die Nummern werden Inseln genannt: Inseln, die nebeneinander existieren, ohne Chronologie, ohne Kausalität. Ursprünglich verfolgte Nono die Idee, sich an der antiken Tragödie zu orientieren. Hier stand «Der gefes selte Prometheus» von Aischylos im Zentrum. Im «Gefesselten Prometheus» geht es um die Diskrepanz zwischen der Macht der Götter und der der Menschen. Prometheus, der Feuerbringer und Lehrmeister der Menschen, wird von Hephaistos an den Felsen gekettet. Und doch ist er nicht machtlos, denn er weiss, dass Göttervater Zeus fehlbar ist und gibt somit den Menschen die Hoffnung, sich von diesem grausamen Gott befreien zu können. Ist Prometheus’ Figur und Geschichte zu Beginn noch greifbar, so verwandelte sich der Blickwinkel immer mehr in Richtung einer Geschichte der menschlichen Kultur. Walter Benjamins «Geschichts philosophische Thesen» werden zitiert, vor allem eine in ihnen formulierte leise Hoffnung auf Weltver besserung, die sogenannte «schwache messianische Kraft».
Nonos Werk ist durch die Überzeugung geprägt, dass alle totalisierenden politischen Systeme ausgedient haben. An Stelle von Theorien und Wahrheitsanspruch tritt das Gegenteil, ein radikales Infragestellen, ein Weg durch Krisen hindurch, das Bejahen von Brüchen, Mehrdeutigkeiten. Und hier wird Inhalt zu Stil, denn die Komposition ist ein beständiges Gehen, sich Öffnen, ein Offen bleiben. Bei dem Libretto handelt es sich über weite Strecken um Textkompi lationen. Texte aus unterschiedlichen Quellen und in unterschiedlichen Sprachen (Griechisch, Italienisch, Deutsch) werden durch den Librettisten Massimo Cacciari und Nono zusammengestellt, neukomponiert, fragmentiert und umgeschrieben. Dadurch entsteht ein ganz eigener Textkosmos. Es ist nicht beabsichtigt und auch unmöglich, den Text nachzuverfolgen. Über weite Strecke hat er sich aufgelöst in Musik, ist ganz und gar Komposition geworden. Was hier im Folgenden ausschnittweise zitiert ist, erscheint nie vollständig, sondern immer fragmentiert, manchmal überhaupt nicht in Töne gesetzt. Das Folgende kann also nicht Erklärung sein, sondern nur ein Versuch einer Orientierung durch den Verlauf des Werkes.
I. PROLOGO – 20 Min Gesangssolisten, Chor, Sprecher, Solobläser, Solostreicher, Gläser, Orchestergruppen I–IV Texte aus Hesiods «Theogonie», Fragmente aus Hesychios, Aischylos und Sophokles sowie Cacciaris «Meister des Spiels» Hesoid beschreibt die Genesis, die Geburt des Himmels, des Meeres, der Götter, unter ihnen Prometheus.
«Gaia gebar zuerst an Grösse gleich wie sie selber, Uranos sternenbedeckt, damit er sie völlig umhülle und den seligen Göttern ein sicherer Sitz sei für ewig. Dann gebar sie die grossen Berge» … Dem wird Cacciaris Gedicht «Der Meister des Spiels» entgegengesetzt als eine Aufforderung der Geschichte zu lauschen. «Höre, schwingt nicht hier noch ein Hauch der Luft, der Vergangenheit atmete?» … II. ISOLA PRIMA – 23 Min Orchestergruppen I–IV, Solostreicher, Chor Text aus Aischylos’ «Der gefesselte Prometheus» kombiniert mit «Mitologia» (Cacciari, Nono) Bericht des Prometheus über seine Taten.
Prometheus: … «die Menschen, vergängliche Traumgespinste, unter der Erde wohnten sie wie Ameisen, BIS ICH ihnen zeigte Morgenröte und Abenddämmerung» … Hephaistos’ Bericht über die von Jupiter auferlegten Qualen wird Prometheus’ Monolog entgegengesetzt.
Hephaistos: «DICH … werde ich fesseln, …, an diesen unbeweglichen Fels, … DICH wird verzehren die allgegenwärtige Strafe» … Der Text ist nicht vertont. Nono schreibt ihn in die Partitur mit der Bemerkung:
«Der beigefügte Text darf nie gelesen werden! Aber gehört (er soll gefühlt werden) in den 4 Orchestergruppen, den Solostreichern: Natur – Steine – Behauptungen – Fragen – innere Probleme – entäussert, mit möglichen Antworten der vier Orchestergruppen, der Pausen, der Stille.» Cacciari und Nono kommentieren mit vom Chor gesungenen Passagen Prometheus’ Hybris:
«Diese Hoffnung willst du den Sterblichen geben, sich von Gott zu befreien?» … III. ISOLA SECONDA A. IO – PROMETEO – 17 Min
Gesangssolisten, Chor, Bassflöte, Kontrabassklarinette, Solostreicher, Orchestergruppen I–IV Text aus Aischylos’ «Der gefesselte Prometheus» Io, die von einer Bremse verfolgt wird, erscheint. Sie ist dem Wahnsinn nahe. Prometheus prophezeit ihr weitere Leiden.
Io: «VERBRENNE MICH im Feuer, STÜRZE MICH auf die Erde, GIB MICH als Speise den Ungeheuern des Meeres, ABER BESÄNFTIGE diesen göttlichen Sturm» … Prometheus: … «die GOTTHEIT immerzu gewalttätig, neidisch und unberechenbar, von hier bis zum Morgenrot, jagt sie dich» … «Ios Unruhe offenbart sich als Un ruhe des Prometheus. Und dies ist, wenn man so will, die Unruhe der Sanftheit, der Zartheit. Im Leben gibt es Momente des ungläubigen Staunens, die es uns ermöglichen, die Schönheit der Ekstase, der Meditation wiederzuentdecken. (…) Warum sollten wir uns unserer Zerbrechlichkeit schämen? Vor allem macht sie uns zu Menschen, macht uns lebenswert.» Luigi Nono B. HÖLDERLIN – 8 Min 2 Sopran-Soli, 2 Sprecher, Bassflöte, Kontrabassklarinette Text aus Friedrich Hölderlins
«Schicksalslied», Anspielungen auf Pindars «Sechste Nemeische Ode» Die tragische Existenz der Menschen wird beschrieben, nachdem die Trennung zwischen Menschen und Göttern vollzogen ist.
«Doch ist uns gegeben. Auf keiner Stätte zu ruhen … Es schwinden, es fallen. Die leidenden Menschen. Blindlings wie Wasser. Von Klippe zu Klippe. Ins Ungewisse hinab» … C. STASIMO PRIMO – 8 Min Gesangssolisten, Chor, Orchestergruppen I–IV Text aus «Alcestis» von Euripides Orchester, Chor und Solisten verschmelzen in grösstmöglichen dynamischen Kontrasten, um die Situation der Menschheit zu beschreiben, die nun allein auf sich gestellt ist und Ananke – die Göttin des unausweichlichen Schicksals – nicht besänftigen kann.
… «Weder thrakische Verzauberung. Noch die Stimme des Orpheus, noch die Heilmittel des Phoebus besänftigen sie» … IV. INTERLUDIO PRIMO – 7 Min Altsolistin, Solobläser (Flöte, Klarinette, Tuba) Texte aus Euripides’ «Alcestis» und Cacciaris «Meister des Spiels»
Innerhalb des «Prometeo» bildet dieser Satz einen Wendepunkt. Singstimme und Bläser bewegen sich in einer sehr engen Lage, in der alle vier Interpreten einen fast obertonlosen Klang so leise wie möglich erzeugen. Es entsteht eine Verschmelzung bis hin zur Konfusion, in der sich Singstimme und Bläser nicht mehr voneinander unterscheiden lassen.
«Verlieren wir sie nicht, (…) diese schwache messianische Kraft» …
der gleich Benjamins Engel in die Vergangenheit schaut, in das Heute, in das Offene, in das Freie zu wenden.
«Ergreife diesen Augenblick … sprich nicht vom Gestern … Engel dringen manchmal ein ins Kristall des Morgens. Es schlagen Purpurflügel. Hier erfüllt sich das Mass der Zeit. Höre» … VI. TERZA/QUARTA/
Hier werden Walter Benjamins «Geschichtsphilosophischen Thesen» zitiert. Die «schwache messianische Kraft» wird von ihm – stark verkürzt dargestellt – mit einem der Vergangenheit zugewandten Engel beschrieben, der, unaufhaltsam der Zukunft zutreibend, die Trümmer der Kata strophen sich unablässig häuten sieht. Dem wird ein Rest von Hoffnung abgewonnen. Es ist ein Hoffen, das aus endlos suchendem Wandern besteht, aus einem Überwinden von Klippen.
QUINTA ISOLA – 20 Min
V. TRE VOCI A – 13 Min
Isola 5: Solobläser (Piccolo, es-Klarinette, Tuba); Texte (nicht gesungen oder rezitiert) aus Schönbergs «Das Gesetz», Aischylos’ «Der gefesselte Prometheus», Nietzsches «Menschliches, Allzumenschliches» und Hölderlins «In lieblicher Bläue»
Gesangssolisten, Solobläser (Bassflöte, Kontrabassklarinette, Euphonium), Gläser, Orchestergruppen I–IV (nur Geigen) Text aus Cacciaris «Meister des Spiels» Nur Momente von absoluter Klarheit, so Cacciari, vermögen unseren Blick,
Isola 3: Gesangssolisten, Solobläser, Solostreicher, Orchestergruppen I–IV; Text aus Sophokles’ «Ödipus auf Kolonos» Isola 4: Gesangssolisten, Solobläser (Flöte, Klarinette, Alt-Posaune), Solostreicher; Texte aus Sophokles’ «Ödipus auf Kolonos», Hölderlins «Kolomb», «Achill», Schönbergs «Moses und Aron», Hesiods «Werke und Tage»
Eco lontano (aus dem Prolog): Chor, Orchestergruppen I–IV (nur tiefe Instrumente)
Die Inseln 3,4 und 5 sind extrem fragmentiert, aber eng miteinander verwoben, um drei unterschiedliche Perspektiven der langen Reise zu beleuchten, die Prometheus als Wanderer im Sinne Nietzsches bevorsteht.
«Höre in der Wüste. Lobe die Erde, die schwache Kraft ist uns gegeben, aber sie genügt, um eine Epoche herauszusprengen aus dem Lauf der Geschichte» …
Die dritte Insel handelt von Prometheus’ Seefahrt zum Versöhnungsfest nach Athen. Die vierte Insel betrachtet die Einsamkeit von Prometheus, und wie die «Wüste des Meeres» zu einem fruchtbaren Boden für reflektive Betrachtungen wird. Die fünfte und am stärksten philosophisch geprägte Insel enthüllt das «ewige Wandern als Gesetz».
5 Min
«Als Wanderer … wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was alles in der Welt eigentlich vorgeht; deshalb darf er sein Herz nicht allzu fest an alles Einzelne anhängen; es muss in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe.» (Nietzsche)
Nono zitiert den letzten Satz aus Arnold Schönbergs Opernfragment «Moses und Aron» am Schluss von Prometeo und schreibt dazu:
VII. TRE VOCI B – 6 Min Chor Text aus Cacciaris «Meister des Spiels» Tre voci b weist auf das «Interludio Primo» zurück. Es wird Benjamins These von der «schwachen messianischen Kraft» zitiert.
VIII. INTERLUDIO SECONDO
Orchestergruppen I–IV, Gläser Dieser Teil ist rein instrumental. IX. STASIMO SECONDO – 9 Min Gesangssolisten, Solobläser, Solostreicher Text als Fragment von Aischylos, Cacciari und Schönberg
«Wenn das Werk auf einer reinen Quinte in den Singstimmen verklingt, hat sich unser Blick tatsächlich von der Vergangenheit ab- und dem Offenen zugewandt – jenem Raum, in dem Prometeo wahrhaft ‹unüberwindbar in der Wüste› wird.»
Die vollständigen Texte finden Sie unter www.luzernertheater.ch/ prometeo
Ruinen von Schönheit Dirigent Clemens Heil, Intendant Benedikt von Peter und der Leiter des Experimentalstudios, Detlef Heusinger, zu «Prometeo» Benedikt von Peter – Wir haben «Prometeo» bewusst an den Beginn gesetzt. Das Stück will zum Hören bewegen und verhilft durch das Hören zu einer Daseinsgewissheit, zu einer körperlichen Verortung in einem «Jetzt». Das passt doch für einen Beginn! «Prometeo» ist auch eines der grössten Raumtheaterwerke des 20. Jahrhunderts. Räume, neue Räume sind unser Thema für die erste Spielzeit. Für «Prometeo» haben wir nun einen Raum ins Theater gebaut: das Globe. Der Bühnenaufbau dafür ist gewaltig. Jeden Tag mussten wir alle uns diesen Raum Stück für Stück erobern, sowohl die Gewerke als auch die Musiker haben da Unglaubliches geleistet. Das allein ist für mich schon ein kleiner, utopischer Vorgang: Gemeinsam an einem Raum für dieses besondere Stück zu arbeiten, damit er dann für die Zuschauer lebt und klingt. Clemens Heil – Die grösste Herausforderung ist für uns gerade, diesem verhältnismässig kleinen Raum den Klang einzuschreiben. Für die Sänger ist die Intonation überaus anspruchs-
voll und das extrem leise Singen. Man darf sich nur mit einem halben Stimmband durch die Komposition bewegen. Oft singt man ins Nichts hinein. Es ist ein Stück, bei dem man sofort hört, wenn etwas nicht stimmt. Das Luzerner Sinfonieorchester ist in den Rängen rundum über den Zuhörern platziert und gestaltet über grosse Distanzen hinweg eine höchst subtile Klanglandschaft. Die einzelnen Nummern sind extrem unterschiedlich, haben ganz ver schiedene Besetzungen. Das letzte Stück «Stasimo secondo» ist beispielsweise Kammermusik, die grossen Orchester sind nicht mehr dabei. Ein transzendenter Moment: Die Entwicklung, die man durch das Stück erlebt hat, wird zurückgelassen für ein Heute. Es wirkt wie eine Art «Neues Testament». Das «Alte Testament» wäre dann der «Prologo», die Beschreibung der Genesis, der Erschaffung der Naturgewalten, der Menschheitsgeschichte. Der Beginn des Werkes spielt auf Mahlers 1. Sinfonie an, «wie ein Naturlaut». Es geht um einen Rückgriff, eine Musik der Erinnerung, Reste von Klang, Ruinen von Schönheit. Man fühlt sich wie ein Archäologe nach einer grossen Katastrophe. Nichts scheint es mehr zu geben, und auf einmal findet man einen Takt Belcanto, oder ein Funke der Vokalmusik der Renaissance blitzt
auf. Irgendwo sitzen noch fünf Sängerinnen und Sänger, die traumatisiert überlebt haben. Sie haben noch einzelne Phrasen im Körper, die drängen heraus und verlöschen sofort, zerbrechen. Musik als Erinnerung an einen verlorenen Ursprung. Sie beschwört unaufhörlich einen göttlichen Funken, der in jedem von uns lodert und glaubt an die Erneuerung des Menschen. BvP – «Prometeo» gehört zu Nonos Spätwerk. Ende der 70er Jahre gibt es bei ihm einen biographischen Bruch. Antithetische Systeme, die ihm Halt gegeben haben, lösen sich auf. Aus schwarz und weiss wird grau. Eben diese «Grauwerdung» gilt als Merkmal für die Zeit nach 1989, als Merkmal für das «posthistorische Zeitalter», einer Zeit «am Ende der Geschichte». Die Fronten des kalten Krieges haben sich aufgelöst, die grossen Weltentwürfe und Erlösungsversprechen sind mit einem Schlag verschwunden und mit ihnen der selbstgewisse und oft zu einfache Glaube an eine bessere Welt. Aus einer bipolaren Welt der klaren Orientierungen wird eine Welt der Desorientierung, der Grautöne, der ungewissen Wanderschaft und des Suchens. Der Fortschritts-Mensch Prometheus wird damit zu einem Wandernden, Tastenden, Suchenden. Genau diesen historischen Umbruch hört man in dem Stück und Luigi Nonos Erfahrungen damit, und man hört, dass sie schmerzvoll für ihn
waren. Da tastet sich ein gereifter Komponist radikal subjektiv und doch vorsichtig in eine ungewisse Zukunft – fragt sich: Quo vadis, wo geht es hin für die Menschen? Das finde ich ungeheuer berührend und nachvollziehbar: diesen vorsichtigen Versuch, sich in einem Jetzt, im eigenen Körper zu verankern und im Innen Daseinsgewissheit zu finden, wo sie im Aussen nicht mehr existiert. Und Nono setzt an Stelle des grossen gesellschaftlichen Weltentwurfs ein Zuhören in der Gemeinschaft. Die Zuhörer sitzen wie in einer Arche. Sie und ihr Hören sind die Hauptfiguren des Stückes, das gemeinsame Zuhören wird zu einem politischen Vorgang. Das macht für mich ziemlich genau erfahrbar, was Kunst bewirken und leisten kann. CH – Nono nennt «Prometeo» eine «Tragedia dell´ascolto» – eine Hör tragödie. Protagonist ist dabei allein der Klang. Nono hat an den emotionalen Ausdruck in der Musik geglaubt und daran, dass Schönheit in der Musik wieder möglich ist. «Prometeo» ist vor allem eine Hommage an den Klang und den Glauben daran, dass ein Ton ein Leben verändern kann. Es geht darum, Klänge so lebendig werden zu lassen, dass ein Tremolo die Luft zum Zittern bringt oder die Vierteltöne zu schweben beginnen oder die Dynamik so leise ist, dass man sich fragt, ob da überhaupt jemand spielt. Man wird zum Zeugen, wie Klang entsteht. Und wie
Klang vergeht. Man erlebt die Stille als den Moment der grössten Kraft. Es gibt Klänge, die klingen für mich, als seien sie nach der Stille übrig geblieben. Es gibt in der Geschichte ein Ereignis – etwas Schönes, etwas Furchtbares – und irgendwann wird es verstummen. Aber etwas ist davon übrig geblieben auf der «anderen Seite der Stille», und das kommt dann wieder dahergeschwebt und klingt jenseitig, futuristisch. Klänge wie das Licht eines längst verloschenen Sternes, das uns jetzt erst erreicht. Das entsteht für mich durch die live-elektronisch erzeugten Klänge, sie sind das Gedächtnis der Töne. Detlef Heusinger – Leider hat Luigi Nono zur Ästhetik seines Spätwerkes nur wenig publiziert. Bei einem Seminar für junge Komponisten berichtete er im Freiburger Experimentalstudio im Jahre 1983 aber von einer Spektralanalyse, welche er zusammen mit dem damaligen Leiter Hans Peter Haller und dem Flötisten Roberto Fabbriciani – der nicht nur die Uraufführung von «Prometeo» gespielt hat, sondern auch hier in Luzern als Solist dabei ist – durchgeführt hat. Er stellte fest, dass ein mikrophonierter Einzelton der Flöte bei entsprechender Spielweise entweder sinustonartig oder, bei ausdifferenziertem Spiel mit Blasgeräuschen wie unterschiedlich betonten Obertönen, inwendig «vielfältig wie eine Beethoven-Symphonie» (Nono) sein könnte. Diese Einzigartigkeit be-
schrieb er mit der Leibniz’schen Blattmetapher. Ein Blatt von Ferne betrachtet, gleicht allen anderen Blättern eines Baumes. Unter dem Mikroskop, dem Pendant zum Mikrophon, wird der Ton dann allerdings so unverwechselbar und individuell wie ein Fingerabdruck. BvP – «Prometeo» versetzt uns in einen anderen körperlichen Zustand. Der erste Teil des Stückes ist hart, da quält und kämpft man sich mit Nono durch eine verheerende Menschheits- und Zeitgeschichte. Aber dann passiert etwas, das nicht über den Kopf gesteuert wird, und die anfängliche Anstrengung wird belohnt. Ganz auf sich selbst geworfen kommt man plötzlich zu sich. Das ist ein einfacher, körperlicher Vorgang. Denn Nono als Komponist hat den Mut, die Töne und Klänge einfach stehen zu lassen, ganz primitiv. Dieses Rohe, das Einfache, die Archaik ist immer da, auch wenn das Stück hochkulturell durchsetzt ist. Jeder kann das intuitiv begreifen: zuerst dieses Zurückschauen, die Qual und irgendwann diesen Hauch von einer erlösungsvollen Perspektive, jene «schwache messianische Kraft», die sich in das Stück schleicht. Das Stück hat zwar keine Handlung, ist aber genau diese starke Situation: Es stellt den hörenden Menschen auf Anfang, auf Null.
TEXTNACHWEISE Der Beitrag «Die Inseln» von Brigitte Heusinger benutzt und zitiert verschiedene Quellen: Jürg Stenzl: «Leitfaden zu Prometeo», Programmheft der 38. Berliner Festwochen 1988, Lydia Jeschke: «Anspruch und Bescheidenheit», Booklet zu CD: Luigi Nono, Prometeo, col logno 2007, Carola Nielinger Vakil: «Leitfaden zu Inhalt und Musik», Programmheft Staatstheater Darmstadt 2015. Das Interview wurde für dieses Heft von Brigitte Heusinger geführt. BILDNACHWEIS Kevin Graber und David Röthlisberger fotografierten bei der Öffentlichen Probe am 3. September und der Bühnenorchesterprobe am 7. September 2016. IMPRESSUM Herausgeber: Luzerner Theater Theaterstrasse 2, 6003 Luzern www.luzernertheater.ch Spielzeit 16/17 Intendant: Benedikt von Peter Verwaltungsdirektor: Adrian Balmer Redaktion: Brigitte Heusinger Gestaltung: Studio Feixen Druck: Engelberger Druck AG
TECHNISCHER STAB Technischer Direktor: Peter Klemm, Produktionsassistenz: Julius Hahn, Assistent der techn. Direktion: Michael Minder, Produktionsleiter: Roland Glück, Bühnenmeister: Markus Bisang, Clint James Harris, Chefrequisiteurin: Melanie Dahmer, Requisite: Nicole Küttel, Simone Fröbel, Leiter der Beleuchtungs anlage und Beleuchtungsmeister: David Hedinger, Leiter der Tonabteilung: Jürgen Kindermann, Leiter Probebühnen: Thomas Künzel, Transporte: Ido van Oostveen, Chefmaskenbildnerin: Lena Mandler, Leiterin der Kostümabteilung: Angelika Laubmeier, Gewandmeisterin Damen: Ulrike Scheiderer, Gewandmeisterin Herren: Andrea Pillen, Kostümmalerin: Camilla Villforth, Leiterin Ankleidedienst: Monika Malagoli, Fundusverwalterin: Rhea Willimann, Werkstättenleiter: Ingo Höhn, Leiterin Malersaal: Brigitte Schlunegger, Schlosser: Nicola Mazza, Leiter Schreinerei: Tobias Pabst, Tapezierer: Alfred Thoma, Leiter Statisterie: Sergio Arfini
Foto: Georg Anderhub/LUCERNE FESTIVAL
Piano-Festival 19. – 27. November 2016
Nareh Arghamanyan | Kit Armstrong | Rudolf Buchbinder | Cameron Carpenter | Alexej Gorlatch | Igor Levit | Louis Schwizgebel | Grigory Sokolov | Georgy Tchaidze | Andrew Tyson | Lars Vogt & Freunde Murray Perahia | Academy of St Martin in the Fields | Maria João Pires | Kammerorchester Basel | Trevor Pinnock
Piano Off-Stage
22. – 27. November 2016
Lange Jazznächte in Luzerns schönsten Bars
Karten und Informationen +41 (0)41 226 44 80
www.lucernefestival.ch