Programmheft «Die schwarze Null»

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DIE SCHWARZE NULL

IMPRESSUM

Zentralschweizer Reportagen von Erwin Koch

INSZENIERUNG Ivna Žic

Premiere: 6. Oktober 2017

RAUM UND VIDEO Martina Mahlknecht

Dauer: ca. 2 Stunden, keine Pause Herzlichen Dank an unseren Impulsgeber Alois Blättler, Sohn der letzten Winterwartin auf dem Pilatus für das anregende Gespräch und das Überlassen von Fotografien und Schriftzeugnissen. MIT Adrian Furrer Wiebke Kayser Maximilian Reichert

KOSTÜM UND OBJEKTE Sophie Reble REPORTAGEN Erwin Koch EINSTUDIERUNG CHÖRE Friederike Schubert LICHT Marc Hostettler DRAMATURGIE Julia Reichert, Angela Osthoff REGIEASSISTENZ UND ABENDSPIELLEITUNG Meret Feigenwinter BÜHNENBILDASSISTENZ Sophie Köhler KOSTÜMASSISTENZ Medea Karnowski INSPIZIENZ Lothar Ratzmer

TECHNISCHER STAB

Herausgeber: Luzerner Theater Theaterstrasse 2, 6003 Luzern www.luzernertheater.ch SPIELZEIT 17 / 18 Intendant: Benedikt von Peter Verwaltungsdirektor: Adrian Balmer Leitende Dramaturgin Schauspiel ad interim: Julia Reichert Redaktion für «Die schwarze Spinne»: Hannes Oppermann Redaktion für «Die schwarze Null»: Angela Osthoff Gestaltung: Studio Feixen Druck: Engelberger Druck AG Diese Drucksache ist nachhaltig und klimaneutral produziert nach den Richtlinien von FSC und Climate-Partner. TEXTNACHWEISE Originalbeiträge von Angela Osthoff und Hannes Oppermann, die Beschreibung der Personen auf S. 6 / 7 bestehen aus Zitaten der Reportagen von Erwin Koch. BILDNACHWEISE Probenfotos (21.9.2017) von Ingo Höhn: S. 4: Lercher, Darnstädt. S. 7: Strähler, Sieber, Darnstädt, Borsani, Wüthrich, Stark. S. 11: Stark, Darnstädt, Borsani. S. 12 / 13: Darnstädt, Stark, Lercher, Wüthrich, Strähler, Borsani. Figurinen von Sophie Reble: S. 4, 8, 15.

Technischer Direktor: Peter Klemm, Technischer Leiter: Julius Hahn, Produktionsleiter: Roland Glück, Bühnenmeister: Markus Bisang, Chefrequisiteurin: Melanie Dahmer, Stv. Chefrequisiteurin: Simone Fröbel, Requisite: Oliver Villforth, Leiter der Beleuchtungsabteilung und Beleuchtungsmeister: David Hedinger-Wohnlich, Leitung der Ton- und Videoabteilung: Gérard Gisler, Rebecca Stofer, Leiter Probenbühnen: Thomas Künzel, Transporte: Ido van Oostveen, Hamzi Gashi, Chefmaskenbildnerin: Lena Mandler, Leiterin Kostümabteilung: Angelika Laubmeier, Gewandmeisterin Damen: Ulrike Scheiderer, Gewandmeisterin Herren: Andrea Pillen, Kostümmalerin: Camilla Villforth, Leiterin Ankleidedienst: Monika Malagoli, Fundusverwalterin: Rhea Willimann, Werkstättenleiter: Marco Brehme, Leiterin Malersaal: Brigitte Schlunegger, Schlosser: Nicola Mazza, Leiter Schreinerei: Tobias Pabst, Tapezierer: Alfred Thomas, Leiter Statisterie: Sergio Arfini


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Die schwarze Null

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Ein heiterer Totentanz aus der Agglomeration Der Hitzkircher Journalist und Autor Erwin Koch ist bekannt für seine Reportagen: Berührend durch eine Unmittelbarkeit, detailverliebt und doch sachlich, beschreibt er seine Figuren so zärtlich wie kaum ein anderer. Fünf dieser Reportagen und eine kurze Anekdote hat die Regisseurin Ivna Žic in Szene gesetzt. Vergleichbar mit einem Episodenfilm werden die einzelnen Erzählstränge miteinander verschnitten und fügen sich zu einem schillernden Bild der Region. Wie auf einem Dorfplatz kommt das Publikum mit den Spielerinnen auf der Bühne zum Geschichtenerzählen zusammen. In dieser intimen Runde werden die Figuren aus Erwin Kochs Reportagen zum Leben erweckt: ein heiterer Totentanz aus der Agglomeration. Ivna Žic und ihr Team haben als Rahmen ihres Erzählreigens die Fasnacht gewählt. Kostüme und Masken, etwa inspiriert vom Tüüfel der Einsiedler Fasnacht, den Krienser Wöschwybern, der Basler Weggis Larve oder dem Hochsetspäärli der Eierleset und dem Straumuni, bevölkern nach und nach die Bühne. Der Reiz des Archaischen und des Sublimen sowie die Faszination ritueller Vorgänge verbinden die Lust des Geschichtenerzählens mit der Fasnacht. Der Phantasie ist Tür und Tor geöffnet.

«DIE SCHWARZE NULL» ARBEITET MIT DEN FOLGENDEN REPORTAGEN Die Abschaffung des Albert T., in: Spiegel Special (Mai 1998), S. 106 – 123. Doris und Josef, in: Was das Leben mit der Liebe macht. Wahre Geschichten, Berlin 2013, S. 85 – 100. Rico, in: Welt (25. Nov 2013). Ein herzensbester Mensch, in: Vor der Tagesschau an einem späten Sonntagnachmittag. Wahre Geschichten, Zürich 1997, S. 43 – 64. Marie Blättler, unveröffentlicht, im Rahmen der Feierlichkeiten von «200 Jahre Gastfreundschaft Zentralschweiz» einige Male aufgeführt. Die Geschichte «Der Sparer» wurde für «Die schwarze Null» verfasst und ist bisher unveröffentlicht. Die Namen der meisten Figuren sind aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes verändert.


6 DORIS UND JOSEF SMS Chat 609, Dating & Fun: Doris: Wo bisch du treue erlicher mann maximal 30jährig? Josef: Hoi Doris. 15 Jahre war ich bei der Bahn. Bin treu und ehrlich. Erzähl etwas von dir. Doris: Erzehl zu zuerst. Josef: Hoi Doris. Die hälfte des lebens war ich bei der Bahn, dann Entlassen ohne grund, bin Allein + treu. Und du? Doris: Hallo fremder Josef. Bin vergewaltigt worde. Kein Fertrauen in niemand. Ich kann beser reden als Schreiben. Willst du mich bsuchen? Der Josef wird ihr erster richtiger Mann, was für ein Glück, dass sie ihn hat, er schreit nicht, er trinkt nicht, ganz anders als ihr Vater. Sie beschliessen zu heiraten, Nikolaustag 2007, 6. Dezember. RICO Rico ist elf, bester Schüler der sechsten Klasse. Ein fröhliches Kind, ein lustiger Bub war Rico, liebenswert und klug, klein, hübsch, ein bisschen frech vielleicht oder laut. Am 4. Oktober 2010, einem Montag, verlässt Rico das Haus am Hang, steigt auf das rote Rad, ein Mountain Bike KID 24 TSX, fährt durch die engen

Gassen des Dorfes, auf die hohe Brücke, die über die Schlucht führt, stellt das Rad ab, legt sein Handy auf die Brüstung, 17 Uhr 25 und springt ohne Schrei. ALBERT T., LAURA N. UND OSKAR D. In einem grauen Aktenordner mit blauem Rücken hielt Albert T. seine plötzliche Liebe zu Laura N. fest, Beweis auf Beweis, Rechnungen, Fahrkarten, Einkaufszettel, zeitlich gegliedert, nach Monaten abgelegt. Über das Züricher Partnerwahlinstitut Beldan hatten sie sich gefunden. Sie heiraten. Oskar, Lauras Geliebter zieht bei dem Ehepaar ein. Verschiedene Mordversuche an Albert scheitern. Ein Pilzmahl, der Föhn in der Badewanne, Heroin, das Blut eines Aidskranken. Am 21. September 1993 spritzen Laura und Oskar dem Albert T. zwölf Milliliter Lidocain und den Saft grüner Knollenblätterpilze. Albert erwachte einmal kurz, schrie: Au, was macht ihr mit mir? Dann sprach er nichts mehr. MARIE BLÄTTLER-VON WYL Sie heisst Marie Blättler-von Wyl, geboren am 6. September 1916 in Kägiswil, Kanton Obwalden, am Fuss des Berges, der ihr Verhängnis war


7 – dieses Jahr, 2017, würde sie 101. Der Vater war Lokomotivführer bei der Zahnradbahn, im Sommer brachte er Touristen auf den Berg, im Winter war er Wart auf dem Pilatus. Später war sie, zusammen mit Sepp, ihrem Mann, der letzte Winterwart auf dem Pilatus. Die letzte Winterwartin. Von November bis Mai. Jahr für Jahr. Ein Winterwinterwinterwinterleben. ERWIN SCHRÖTER Der herzensbeste Mensch in Schötz war dieser Erwin Schröter, bis zum 4. Mai 1992. Dann, kurz nach 13 Uhr, verliess er, Verwalter der Raiffeisenbank, ohne Nachricht das Dorf, die Pistole an der Schläfe geladen, denn die Gerechtigkeit war nicht eingetreten. Im Juli füllte sein Geständnis mehr als 300 Seiten Papier. In den letzten 14 Jahren hatte er mehrere Millionen veruntreut und dabei doch am wenigsten an sich selbt gedacht. Schötz gedieh. Die Kinder trugen Zahnspangen im Gesicht, für zwei Millionen Franken bauten sie ein Pfarrheim ins Dorf und jeden der 30 Vereine im Dorf hatte Schröter beschenkt. Den grössten Teil aber, vier bis fünf Millionen schenkte er seinem Onkel für den besten aller Zwecke: die Gerechtigkeit. Sein Leben lang hing der Onkel seltsamen Erbschaftssachen an, die dem Armen kein

Geld brachten, nur Schulden und einen Verfolgungswahn. Die Beteiligung am Erbe seines einzigen Mandanten, der sich als legitimen Nachfahre von Ludwig XVII. begriff, blieb aus. Erwin Schröter finanzierte. FELIX G. Felix G., Jurist, Millionär, und krankhaft sparsam. Sein Handy schaltet Felix nur von 19 bis 20 Uhr ein. Der Akku. Oktober 2012, Tod der Mutter. Felix läd die Trauernden zum Kaffee ins Coop-Restaurant. Er präpariert seinen Lebensgefährten so, dass dieser es nicht wagt den Notarzt zu rufen, als er von einer Hornisse gestochen wird. Das kostet nur. Anaphylaktischer Schock mit Herz-Kreislaufstillstand. Gestorben am 11. August 2016 im Kantonsspital Luzern. Todesursache: Selbstbehalt.



Ich plündere fremdes Leben Regisseurin Ivna Žic und Autor Erwin Koch im Gespräch mit Dramaturgin Angela Osthoff Angela Osthoff — Erwin, bei unserem

Konzeptionsgespräch hast du gesagt: «Ich bin ernst, nicht lustig und ich möchte gute Geschichten schreiben.» Was ist das, eine gute Geschichte? Erwin Koch — Das habe ich gesagt? (Lacht.) Eine gute Geschichte, finde ich, ist eine Geschichte, die man nicht erleben möchte. Eine gute Geschichte erzählt von den Dingen, die Angst machen, von Verrat, Liebe, Krankheit, Abschied, Sehnsucht, Verlangen, Einsamkeit, Tod. Ohne Tiefpunkt, man kann es auch Katastrophe nennen, kommt eine gute Geschichte nicht aus – sonst wird sie zu Kitsch. Gute Geschichten, die Weltliteratur ist voll davon, handeln vom menschlichen Scheitern – der conditio humana. AO — Du findest deine tragischen Ge-

schichten in der Wirklichkeit, in Zeitungsnotizen, in Nachrichten. Du schlägst die Zeitung auf, und dann…? Wie entstehen deine Reportagen?

EK — In der Tat entdecke ich wohl die Hälfte der Geschichten, die mir am Herzen liegen, in einer Zeitung

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– vielleicht habe ich im Laufe der letzten 35 Jahre einen Riecher dafür entwickelt, hinter welcher Meldung sich ein menschlicher Abgrund auftun könnte. Meine erste Anstrengung besteht dann darin, die Identität der Menschen herauszufinden, die in dieser Notiz, zumeist namenlos, vorkommen. Habe ich sie gefunden – und sind sie bereit, mir ihr Leben zu erzählen –, passiert es mir immer wieder, dass ich mich auf gewisse Weise in sie verliebe. Diese Menschen, die mir vertrauen, sind mir dann wirklich sehr sympathisch. Sie breiten mir, aus welchen Gründen auch immer, ihr Leben aus. Ich bediene mich, plündere es, aber immer unter der Bedingung, dass sie ihre Geschichte, bevor sie öffentlich wird, lesen und gutheissen. Beim eigentlichen Schreiben, das ich als Anstrengung empfinde, entliebe ich mich wieder. Das Schreiben, die Beschäftigung mit dem Stoff, schafft wieder jene Distanz, die ich will, die ich brauche. Ivna Žic — Darf ich auch etwas fragen? AO — Klar! IŽ — Deine Texte beeindrucken so sehr durch ihre Details und ihren literarischen Charakter. Man denkt:


10 So genau kann ihm das doch keiner erzählt haben! – Das meine ich als absolutes Kompliment, weil darin gerade der Unterschied zu anderen Reportagen liegt! Woher kommt deine Detailverliebtheit und was sind die Strategien, diese Details herauszufinden?

darauf ein nützliches Detail. Selbst dann, wenn ich jemanden treffe und im Grunde nur eine Frage an ihn habe, fange ich trotzdem mit banalen Fragen an, um eine Vertrauensbasis zu schaffen. Danach erst wage ich es, die Frage zu stellen, die mich eigentlich umtreibt.

EK — Ich glaube, der Mensch erzählt seine Geschichte gern. Aber er weiss nicht, was er dir erzählen soll, was dir wichtig ist, man muss ihn steuern oder lenken. Ich verbringe, wenn ich mit einer Geschichte unterwegs bin, viel Zeit damit, mir vorab möglichst viele Fragen auszudenken, die ich dann, wenn ich jemanden treffe, stelle. Ich will, ich muss Stoff zusammenkratzen, Informationen, Details, Kleinigkeiten. Die erste Frage – auch weil es ungefährlich ist, so zu beginnen  – lautet meistens: Wann sind Sie, wann bist du geboren? Warst du eine Hausgeburt? War deine Geburt normal, oder bist du zu früh gekommen, zu spät, warst du eine Zangengeburt? Vielleicht ergibt die Antwort darauf einen schönen Nebensatz, ein Detail, das der Geschichte, die ich erzählen will, guttut. Dann frage ich nach dem Beruf der Eltern, nach ihrer Herkunft, ich frage nach frühsten Erinnerungen, nach der schönsten Kindheitserinnerung, nach der hässlichsten. Vielleicht gibt die Antwort

AO — Die Fragen, die dich interessie-

ren, richten sich eigentlich immer an Menschen von nebenan, nicht an die sogenannten «Erfolgreichen» unserer Gesellschaft.

EK — Grundsätzlich sind mir sogenannt einfache Menschen näher. In einer Kneipe ist mir wohler als in einem Sternerestaurant, wo links neben dem Teller drei silberne Gabeln liegen, rechts drei Messer, als wäre man in einem Zeughaus. Unter Arbeitern ist mir wohler als unter Managern. Vielleicht schreibe ich auch nur deshalb so oft über einfache Leute, weil sie, im Gegensatz zu anderen, denen scheinbar alles gelingt, nicht über jenes Instrumentarium verfügen, das die Erfolgreichen sich im Laufe der Karriere angeeignet haben: das Überhören von Fragen, das Herunterraspeln von Antworten, das Verdünnen von Wahrheiten. Scheiternde, glaube ich, sind offener, Verlierer haben, wenn sie ihren Fall erzählen, weniger Hemmungen


11 als Gewinner – aber auch weniger Fallhöhe. Also weniger zu verlieren. AO — Unser Untertitel heisst «Zentral-

schweizer Reportagen». Sind deine Geschichten typisch für die Region?

EK — Ich glaube, die Lebensgeschichten, die ich geschrieben habe, können überall passieren. Überall, nicht nur in den Schweizer Bergen, kann ein Elfjähriger von der Brücke springen und nichts als Trauer, Wut und Unverständnis zurücklassen. Wohl überall, wo Menschen sind, ist es möglich, dass jemand, der realisiert, dass man ihn vergiften will, dem Vorhaben nichts entgegensetzt – und schliesslich vergiftet wird. Überall, nicht nur in Schötz LU, gibt es Menschen, die nicht nein sagen können und deshalb zum Betrüger werden. AO — Ivna, was interessiert dich an

Erwins Geschichten?

IŽ — Mich interessieren immer die Geschichten, die etwas Grundmenschliches verhandeln, und ich glaube, gute Autoren können diese Themen sowohl mit Königen wie mit Menschen von nebenan verhandeln. Und dann finde ich diese Kombination spannend, dass jede Geschichte von Erwin archaisch ist und überall stattfinden könnte, sodass ich, die ich nie in

einem Dorf gewohnt habe, die Geschichte genauso spüren kann, wie jemand, der aus einem Dorf kommt. Und dann knüpfen sich die Geschichten an eine ganz bestimmte Landschaft, an eine Atmosphäre, an eine Sprache und sind dadurch mit der Region verbunden. Zwischen dem sehr Konkreten und dem MenschlichAllgemeinen, darin berühren und begleiten sie mich. AO — Erwin schreibt Reportagen, keinen klassischen dramatischen Text. Wie inszeniert man soetwas? IŽ — Ich verstehe Theater zunächst einmal grundsätzlich als einen Erzählort. Für mich mussten das noch nie dramatische Texte im klassischen Sinne sein, die auf der Bühne erzählt werden. Das Archaische, das Ursprüngliche des Geschichtenerzählens ist, dass man sich versammelt an einem Abend. Dass man zusammen in einem Raum sitzt, dass es Menschen und einen Anlass gibt, Geschichten zu erzählen. Mein Theater kommt sehr von einem Erzählen her. Bebildern hat mich auf dem Theater noch nie interessiert, sondern eher die Frage, wie man eine Phantasie erzeugt, in der Reibungen entstehen: Was erzähle ich, was entsteht in meinem Kopf, was kann ich dazulegen, ohne etwas vorzusetzen, damit in meinem


12 Kopf noch mehr entsteht. Wie finde ich ganz kleine Stellen, die dann aber ein riesiges Kino im Kopf auslösen? Dafür muss ein Text nicht per se dialogisch sein – wenn man von dieser Form ausgeht, geht man sehr stark vom Schauspieler als Dialogträger aus, als wäre das so etwas wie ein Kern von Theater. Für mich entsteht Theater aber durch alle Elemente, durch den Raum, durch den Klang, durch Masken, natürlich auch durch Schauspieler und den Text. AO — Raum, Klang und Masken – du

hast zusammen mit Sophie Reble und Martina Mahlknecht eine ganz spezielle Setzung gemacht. Das Publikum sitzt im Kreis und wird konfrontiert mit historischen Fasnachtsmasken und Strohmännern, obwohl nur eine der Reportagen von Erwin inhaltlich etwas mit Fasnacht zu tun hat… IŽ — Einerseits ist es eine sehr konkrete Auseinandersetzung mit dem Ort Luzern, an dem wir aufführen und wo die Fasnacht tief verankert ist, andererseits war klar, dass wir die Geschichten nicht realistisch darstellen wollen, auch und gerade weil sie diesen dokumentarischen Aspekt haben. Und dann gab es auch eine pragmatische Setzung: Es war klar, wir arbeiten mit drei Schauspielern. Dann

bekommt man 20 Geschichten von Erwin geschickt und zählt die Figuren durch und denkt: Okay, ich brauche nicht drei, sondern 150 Schauspieler. Unmöglich! Und dann beginnt der Spass der Übersetzung – wie kann man das möglich machen? Wie wird aus den Reportagen ein Theaterstück? Fasnacht ist wie das Theater eben auch ein Ritual, man verkleidet sich, erzählt etwas, legt es wieder weg. Das ist eine sehr archaische Struktur. Und die menschlichen Abgründe, oder viel mehr: Archetypen, die in den traditionellen Fasnachtsfiguren sehr überhöht ausgedrückt werden (z.B. die Figur der Nichtigkeiten, der Tod, oder ein immer wieder auftretendes Hochzeitspaar), finde ich alle in deinen Geschichten, Erwin. Es gab da auch eine Lust, wie in einem Totentanz diese Figuren zu erwecken. AO — Du sprichst von Ritual, Archaik und Totentanz und machst damit ein grosses Fass auf, das Fragen nach Schuld, Freiheit und Schicksal suggeriert. Wie reagieren die Figuren, von denen erzählt wird auf Kräfte, die grösser sind als sie selbst? EK — Frau Blättler wollte ihrem Leben eine neue Wendung geben, also heiraten, um ihrer Einsamkeit auf dem Pilatus zu entkommen – und nahm dann den Falschen, ausgerechnet


13 den, der sie dann an den Pilatus fesselte. AO — Schicksal? IŽ — Nein, sie hat doch frei entschieden und gehandelt. EK — Erwin Schröter, der Millionen unterschlug, wollte sich, als er die Last nicht länger ertrug, erschiessen – und schaffte es schliesslich nicht. Aber Josef, am wenigsten mit Handlungsspielraum ausgestattet, handelte trotzdem. Er brachte einen Zug zur Entgleisung, machte sich schuldig. Und befreite sich dadurch. IŽ — Die Handlungsspielräume sind mal enger und mal breiter, aber die Figuren, die auf der Bühne stehen, hatten alle die Möglichkeit zu handeln. Wir wollten Geschichten erzählen, wo es Spielraum für freie Entscheidung gibt. Jede gute Geschichte braucht mindestens eine Handlungsmöglichkeit.


Biografien IVNA ŽIC geboren 1986 in Zagreb, aufgewachsen in Zürich, studierte angewandte Theaterwissenschaft in Giessen, Schauspielregie an der Theaterakademie Hamburg, sowie Szenisches Schreiben bei uniT Graz. Žic arbeitet als freie Regisseurin und Autorin u.a. am Luzerner Theater, Schauspielhaus Wien, Schauspiel Essen, Theaterhaus Gessnerallee, Theater Winkelwiese und Roxy Birsfelden, vermehrt auch in freien und kollektiven Konstellationen. Mit dem Stück «Die Vorläufigen» gewann sie den Autorenwettbewerb der Stadt Konstanz und St. Gallen 2011 und erhielt den Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik. In der Spielzeit 12/13 war Žic Hausautorin am Luzerner Theater sowie Stipendiatin am Literarischen ColloquiumBerlin. Sie erhielt das DramatikerInnen Stipendium des Bundeskanzleramtes 2015 sowie einen Werkbeitrag von Pro Helvetia. Seit 2013 entstehen in Wien Theater- und Übersetzungsprojekte gemeinsam mit Versatorium, Verein für Gedichte und Übersetzen, mit Einladungen an das Burgtheater Wien, Theater Bremen, Theater Freiburg, Schauspielhaus Zürich / Winkelwiese. MARTINA MAHLKECHT geboren 1984 in Brixen, Italien studierte Bühnenbild und freie Kunst an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg bei Raimund Bauer und am Mozarteum in Salzburg bei

Herbert Kapplmüller. Bereits während des Studiums entstanden Bühnen am Landestheater Salzburg, der Ruhrtriennale 2010 und auf Kampnagel in Hamburg. Sie verbindet eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit der Regisseurin Ivna Žic. Zusammen entstanden Bühnen und Installationen u.a. an der Gessnerallee Zürich, am Theater Essen und am Luzerner Theater. Als bildende Künstlerin arbeitet Martina Mahlknecht im Künstlerkollektiv YOVO! YOVO! mit dem sie an internationalen Kunstausstellungen in Westafrika, den Vereinten Arabischen Emiraten und in Marokko teilnahm. Mit dem Hamburger Künstlerinnenkollektiv POOL erforscht sie die Möglichkeiten eines künstlerischen Austausches über geografische Grenzen hinweg. SOPHIE REBLE geboren 1985 in Zürich, studierte Kostümbild bei Prof. Florence von Gerkan an der Universität der Künste Berlin. Während des Studiums entstanden eigene Performanceprojekte vor allem in Zusammenarbeit mit Caroline Creutzburg. Seit 2010 arbeitet sie intensiv mit dem Regisseur und Choreografen Laurent Chétouane. Im Bereich Schauspiel besteht eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit Ivna Žic und Johannes Holmen Dahl. Zudem arbeitet sie als Kostümbildnerin im Kunst- / Performancekontext, und schuf die Kostüme für den Kinofilm «Sarah joue un loup garou» von Katharina Wyss (2017). Als freischaffende Kos-

14 tümbildnerin arbeitete sie u.a. an den Dramaten Stockholm, am Aalborg Teater, an der Gessnerallee Zürich, an der Oper Duisburg, am HAU Berlin, auf Kampnagel Hamburg und im SIC! Raum für Kunst Luzern. ERWIN KOCH geboren 1956, lebt in der Nähe von Luzern. Er schreibt Romane, Hörspiele und Kinderbücher, vor allem aber Reportagen. Wahre Geschichten. Von 1984 bis 1990 arbeitete er als Redakteur beim Tages-Anzeiger-Magazin, anschliessend als Reporter für verschiedene Medien, DIE ZEIT, GEO, NZZ, das Frankfurter Allgemeine Zeitung Magazin. Von 1999 bis 2002 war er als Reporter beim Spiegel tätig, seit 2002 schreibt er vor allem für DAS MAGAZIN und REPORTAGEN. Erwin Koch wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem zweimal mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis und mit dem Mara-Cassens-Preis für den besten deutschsprachigen Debütroman.



Ein assoziatives Lexikon   CONDITIO HUMANA In beiden Stücke, der «schwarzen Spinne» und der «schwarzen Null» ringen die Protagonisten um Freiheit und Autonomie. Jeremias Gotthelf wie Erwin Koch stellen die grossen Fragen der conditio humana, gestern wie heute: Was ist gut und was böse? Wie reagiert man auf Kräfte, die grösser sind als das eigene Ich? Ist jemand schuld, wenn ein Elfjähriger von der Brücke springt? Wie ist es möglich, in grösster Not noch handlungsfähig zu bleiben, ohne seinen moralischen Kompass zu verlieren? ENGEL, TEUFEL, MENSCH VON NEBENAN In engen Tälern und am Fusse grosser Berge leben, lieben und sterben sie. Menschen aus der Region, ihre Sprache und ihre Landschaften – das spielt in beiden Inszenierungen eine zentrale Rolle. Gotthelf und Koch zeichnen allerdings ein unterschiedliches Bild von diesen Menschen. In Gotthelfs erzählerischen Welten gibt es Engel oder Teufel, dazwischen wenig. So, wie die Rahmenhandlung rund um die Taufe von Zufriedenheit, Sattheit und Frieden strotzt, so trieft es in den Binnengeschichten von Gift, Verrat und Mangel. Gotthelf führt seine Figuren in Versuchung. Er testet sie so unnachgiebig, dass die Extreme menschlichen Handelns

sichtbar werden. Erwin Koch berichtet auch von Extremsituationen, er benutzt jedoch zartere Töne: Der zweimalige Kisch-Preisträger erzählt die Geschichten von psychisch labilen Bahnarbeitern, suizidalen Kindern, und masslos Liebenden, von einsamen Legasthenikern, von verlorenen Söhnen und der letzten Winterwärtin auf dem Pilatus. Seine Reportagen zeichnen ein liebenswertes Bild der Menschen von nebenan. Bisweilen sind es skurrile Geschichten, manchmal tragisch, zärtlich sind sie immer. LEHRSTÜCK VS. REPORTAGE Als Autor tritt Erwin Koch so weit zurück wie nur möglich. Die Wertung überlässt er den Lesenden. Ganz anders bei Gotthelf: «Die Schwarze Spinne» ist ein Lehrstück par excellence. Als protestantischer Pfarrer und Schulkommisär seiner Region verstand Gotthelf sein Schreiben als Bildungsauftrag. So ist die Metapher des Fensterpfostens, in dem das Böse zwar eingeschlossen aber dennoch präsent ist, eine Mahnung, Werte und Traditionen zu bewahren.


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