L Der unzer -brochene Krug Box ← Bram Jansen ist bekannt für seine Klassikerbefragungen. Für Luzern hat er sich Kleists Lustspiel «Der zerbrochne Krug» vorgenommen und setzt da an, wo alle einig scheinen: Dorfrichter Adam hat den Krug zerbrochen. Aber auf welcher Grundlage kommt dieses Urteil zustande? Gibt es «die eine Wahrheit» über den Fall? Wo scheidet sich Wissen von Spekulation? Wo füllt die Vorstellungskraft bestehende Informationslücken? Je tiefer man in die Kleistschen Kosmos
T vordringt, desto verworrener wird die Sachlage, Fakten verändern ihr Aussehen, ihre Bedeutung. Was eben noch perfekt passte, liegt plötzlich zerbrochen vor einem. Beim Versuch die Scherben wieder zu einem Ganzen zu machen, bleiben Bruchkanten und Leerstellen bestehen. Die Idee, was die Scherben einmal waren, tritt als Gedanke hervor und zugleich wird das Einzelne ein neues Ganzes.
DER UNZERBROCHENE KRUG
INSZENIERUNG Bram Jansen
LESERIN Verena Lercher
Alternative Fakten zu Heinrich von Kleist
BÜHNE UND KOSTÜME Sophie Krayer
ADAM Christian Baus
Uraufführung
MUSIK Marcel Babazadeh
FRAU MARTHE Wiebke Kayser
VIDEO David Röthlisberger
EVE Alina Vimbai Strähler
CHOREOGRAFISCHE BERATUNG Ryan Djojokarso
RUPRECHT Jakob Leo Stark
Premiere: 16. November 2017 Dauer: ca. 1 Stunde, ohne Pause Herzlichen Dank an unseren Impulsgeber Dr. Frank Hänecke vom MAZ – Die Schweizer Journalistenschule. MEDIENPARTNER Kulturtipp WIR DANKEN DER LANDIS & GYR STIFTUNG FÜR DIE UNTERSTÜTZUNG DIESER STÜCKENTWICKLUNG.
DRAMATURGIE Hannes Oppermann LICHT, TON, TECHNISCHE EINRICHTUNG David Clormann, Stanley Hügi REGIEASSISTENZ UND ABENDSPIELLEITUNG Lucia Wunsch REGIEHOSPITANZ Meret Feigenwinter PRODUKTIONSHOSPITANZ Irina Biadici Die Ausstattung wurde in den Ateliers und Werkstätten des Luzerner Theaters angefertigt.
IMPRESSUM TEXTNACHWEIS Alle Texte sind Originalbeiträge von Hannes Oppermann. Herausgeber: Luzerner Theater Theaterstrasse 2, 6003 Luzern luzernertheater.ch Spielzeit 17/18 Intendant: Benedikt von Peter Verwaltungsdirektor: Adrian Balmer Leitende Dramaturgin Schauspiel ad interim: Julia Reichert Redaktion: Hannes Oppermann Gestaltung: Studio Feixen Druck: Engelberger Druck AG Diese Drucksache ist nachhaltig und klimaneutral produziert nach den Richtlinien von FSC und Climate-Partner.
Wahrhaft Wahrheit? «Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstände. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.» — Kleist an Wilhemine Zenge, 1801. Was Kleist hier in knapper Form beschreibt, stellt die Wahrnehmungsobjektivität des Menschen infrage. Heute ist das wissenschaftlich belegbar: In unserem Gehirn sind Mechanismen tätig, die Formen, Farben, Klänge, Gerüche erkennen und filtern und fehlende Informationen aus Erfahrungen und Vorstellungskraft ergänzen. Jeder Mensch trägt eigene Filter, jeder ergänzt die Lücken anders. Kleist verweist den Menschen in die Schranken seiner Subjektivität: Können wir also die Welt nie so sehen, wie unsere Mitmenschen? Aber wie schaffen wir es
dann, miteinander zu leben? Worauf gründet sich unser Verständnis von Wahrheit? Die Figuren im Kleistschen Lustspiel ringen um Wahrheit bzw. um das, was sie für die Wahrheit halten oder zur Wahrheit machen. Ihre Strategien kommen uns bekannt vor, beispielsweise das Diskreditieren der Glaubwürdigkeit anderer, das Infragestellen der Wahrnehmung des Gegenübers und das Abstreiten belegbarer Tatsachen. Kleist nimmt damit vorweg, was in Zeiten von «fake news» und «alternativen Fakten» offensichtlich wird: Die Grundpfeiler des Miteinanders weichen auf, Wahrheit droht zu einer Frage der Perspektive zu werden. Wo in der Moderne noch die grossen politischen und sozialen Erzählungen Orientierung boten, verbannt die Postmoderne den Menschen – nicht nur in den sozialen Netzwerken – in die Echokammern der eigenen Subjektivität. Was bildet heute den «common ground», auf dem wir miteinander leben und sprechen? Oder ist die Welt zerbrochen, und die Wahrheit ergibt sich aus dem, was zwischen den Scherben sichtbar wird?
Zur Vorlage von Heinrich von Kleist Es ist Gerichtstag im Dorf. Frau Marthe tritt vor den Richter Adam, in den Händen die Scherben ihres Kruges. Sie beschuldigt Ruprecht, den Verlobten ihrer Tochter Eve, in deren Zimmer eingedrungen und dort den Krug zerstört zu haben. Doch Ruprecht widerspricht, er hat Eve mit dem vermeintlichen Nebenbuhler Lebrecht im Zimmer erwischt, doch dieser hat ein Alibi. Eve schweigt zu dem Vorgang, aber nicht freiwillig. Dorfrichter Adam wirkt bei der ganzen Angelegenheit ungewöhnlich nervös. Seine Fragen zielen vielmehr darauf, schnell
einen Täter festzulegen, als die Ereignisse tatsächlich aufzuklären. Als die Zeugin Brigitte auftritt, wird die Beweislast gegen Adam erdrückend. Als Eve schliesslich doch ihr Schweigen bricht, flüchtet er. Und der Krug? Der hat sein Recht immer noch nicht bekommen. «Der zerbrochene Krug» ist das Ergebnis eines Dichterwettstreits zwischen Kleist und zwei Freunden im Jahr 1802 in Bern. Den Ausgangspunkt bildet ein Kupferstich, auf dem ein junges Liebespaar, eine alte keifende Vettel mit einem Krug und ein grossnasi-
ger Richter zu sehen sind. Der eine Freund wollte eine Erzählung schreiben, der andere eine Satire und Kleist ein Lustspiel. Vier Jahre später schickt Kleist die erste Fassung an seinen Verleger Adam Müller, dieser wiederum sandte das Stück zu Johann Wolfgang von Goethe. Goethe war dem Stück wohlgesonnen, auch wenn er es dem sogenannten «unsichtbaren Theater» zuordnete, was meint, dass es seinen Handlungsfortgang nicht aus der Gegenwart nimmt, sondern ein Ereignis aus der Vergangenheit enthüllt. Bei der Uraufführung 1808 in Weimar
fiel das Stück durch, sodass Kleist beschloss in der Buchfassung das Ende zu kürzen. Er strich 18 Seiten, in denen die Figur der Eve detailliertes Zeugnis über die Ereignisse ablegt. Damit blieb die wichtigste Zeugin des Falles ungehört. An ihre Stelle tritt die Spekulation.