Masterstudiengang Architektur Essaysammlung Vertiefungsarbeit Herbstsemester 2012
Struktur – Vermittler zwischen Funktion und Form?
Masterstudiengang Architektur Essaysammlung Vertiefungsarbeit Herbstsemester 2012
Struktur – Vermittler zwischen Funktion und Form?
Titelbild: Sol Le Witt; Double Tower, 1999
Vertiefungsarbeit Frühjahrsemester 2013 Luzern, 24.06.2013 Verfasser: Hauri, Daniel Speicherstrasse 24 A 8500 Frauenfeld Masterstudiengang Architektur
Vertiefungsarbeit Herbstsemester 2012 Dozenten: Dufner, Oliver Technik und Architektur Departement Plagaro Cowee, Natalie Korrektur Orthografie: Dr. Oliver Dufner Modulverantwortung: Stutz, Max
Dozierende: Dr. Oliver Dufner, Natalie Plagaro Cowee
Abstract Die vorliegende Vertiefungsarbeit befasst sich mit dem Phänomen der Ambiguität in der Architektur der Phillip Exeter Library von Louis Kahn. Literarische Basis bildet die fundierte Auseinandersetzung mit Robert Venturis Manifest „Komplexität und Widerspruch in der Architektur“ und
Inhalt Vorwort
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Ausdruck macht Eindruck Kohärenz von Tragstruktur uns architektonischer Erscheinung als prägendes Entwurfsthema Cyrill Chrétien
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Gewölbe Strukturieren Eine Entwicklung in Raum und Zeit Anthony Frank
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Der Filigranbau und seine Füllung Vier tektonische Mittel zur innenräumlichen Artikulation Daniel Hauri
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Räumliche Vielfalt in modularen Raumstrukturen Raumexperimente für das Hochhaus Stefan Kunz
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Themenübersicht der weiteren Arbeiten
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Vorwort In der Architektur assoziiert man mit dem Begriff der Struktur häufig die ordnende Komponente des Entwurfs. Im Gegensatz dazu steht die Form für den gestalterischen Anspruch den die Architektur verfolgt. Man könnte also sagen, während die Form die Sprache der Architektur ist, versteht sich die Struktur als deren immanente Grammatik. Erst durch die sinnfällige Wechselwirkung und das sich gegenseitige Bedingen der Beiden entsteht das architektonische Objekt. Welche Bedeutung die Struktur dabei auf die Genese von Architektur hat interessiert uns und steht im Fokus unserer Arbeit in diesem Semester. Ausgehend von der genannten These starten wir das Semester mit einigen Inputveranstaltungen und Übungen die neben einer Annäherung an das Thema Struktur auch der Schulung der Recherchekenntnisse und der Schreibfähigkeiten dienen. Über eine individuelle Definitionsfindung des Strukturbegriffes in der Architektur werden anhand vorgegebener Themen Beispiele von Bauten aus der Architekturgeschichte analysiert. Dies ermöglicht die Interaktion zum Entwurfsmodul und schafft zugleich eine thematische wie methodische Grundlage für die weitere Arbeit. Das Thema der eigenen Untersuchung wird Schritt für Schritt eingegrenzt, geschärft und schriftlich weiterentwickelt. Die Arbeiten werden durch die Dozierenden betreut und während des Semesters in unterschiedlicher Form präsentiert. Die Abgabe erfolgt in Form einer schriftlich abgefassten Vertiefungsarbeit. Das Potential des Moduls liegt darin, ausgehend von einem persönlichen Interesse innerhalb des Themenfeldes `Struktur` relevante Fragestellungen zu benennen, die Architekturgeschichte und die eigene Wahrnehmung zu befragen und daraus eine eigenständige These zu entwickeln. Diese soll über den eigenen Erkenntnisgewinn hinaus auch eine Relevanz für die heutigen konkreten Aufgabenstellungen im Zusammenhang mit architektonischer Struktur haben. Eine wechselseitige Befruchtung mit dem Entwurf wird angestrebt. Die nun in diesem Reader vorliegenden Textbeiträge – sie stellen aus Platzgründen nur einen Auszug aus den im Kurs erarbeiteten Beiträgen dar – spannen eine grosse Breite an Themen auf und agieren methodisch auf ganz unterschiedliche Weise. Alle Beiträge verbindet ein Interesse daran, die Bedeutung von strukturellen Konzeptionen – unabhängig davon ob es sich um räumlich, konstruktive oder nur gedanklich ausformulierte Themen handelt - schriftlich zu fass und im Hinblick auf Ihre architektonische Relevanz zu beschreiben. Wir danken allen Beteiligten für Ihr Engagement und die wertvollen Beiträge Oliver Dufner / Natalie Plagaro Cowee Im März 2013 5
Studierende Markus Abegg / Matthias Blumer / Cyrill Crétien / Anthony Frank / Franziska Furger / Arnold Gamborino / Daniel Hauri / Stefan Kunz / Natascia Minder / André Murer / Christina Odermatt / Noemi Schumacher / Markus Tschannen / Raphael Wicky / Raphael Wiprächtger Gastkritiker Schlusskritik Gian-Marco Jenatsch, Architekt ETH / Dozent ZHAW Prof. Dr. Martino Stierli, Kunsthistoriker / SNF Förderungsprofessor Universität Zürich
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Ausdruck macht Eindruck Kohärenz von Tragstruktur und architektonischer Erscheinung als prägendes Entwurfsthema
Vertiefungsarbeit von Cyrill Chrétien Hochschule Luzern, Master in Architektur
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Vertiefungsarbeit Herbstsemester 2012 / 2013
Thema
Ausdruck macht Eindruck Kohärenz von Tragstruktur und architektonischer Erscheinung als prägendes Entwurfsthema
Verfasser Schule Studiengang Betreuung
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Abgabedatum
Cyrill Chrétien Hochschule Luzern, Technik & Architektur Master in Architektur Oliver Dufner, Natalie Plagaro Cowee Luzern, 21. Januar 2013
„Konstruktion wird Ausdruck, Konstruktion wird Gestaltung“ Sigfried Giedion, 1928
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Abstract Die Tragstruktur eines Gebäudes kann, über ihre eigentliche Funktion des statischen Gerüstes hinaus, auch den architektonischen Ausdruck wesentlich mitprägen. Dass dies keineswegs eine neue Erkenntnis darstellt, beweisen zahlreiche herausragende Beispiele der jüngeren und älteren Architekturgeschichte. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich eine Vielzahl der Architekten das Potenzial dieser „ausdrucksstarken Tragstrukturen“ nicht mehr zunutze machen können oder wollen. Architekten und Ingenieure arbeiten isoliert, vielfach getrieben von ökonomischen Zwängen und allgemein verschärften Rahmenbedingungen, in klar definierten Rollen an einem Projekt. Aus diesem Grund thematisiert die vorliegende Arbeit diese vielfach vernachlässigten Zusammenhänge zwischen Tragwerkskonzeption und architektonischer Erscheinung. In drei aufeinander aufbauenden Teilen wird das Thema einer möglichen Genese derartiger „ausdrucksstarken Tragstrukturen“ vertieft behandelt. Dies geschieht zunächst durch die Einbettung in den architekturgeschichtlichen Diskurs und der Definition von drei möglichen Arten der Zusammenarbeit von Ingenieur und Architekt. Anschliessend werden vier exemplarisch ausgewählte Objekte sowie ihre Autoren anhand einheitlicher Kriterien analysiert, um ein vertieftes Verständnis für die Frage nach den Zusammenhängen von Konstruktion und Ausdruck zu entwickeln. Dieses Wissen erlaubt es, im Schlussteil der Arbeit spekulative Vergleiche zu ziehen und eigene Hypothesen zu formulieren. So gelangt die Arbeit zur Erkenntnis, dass eine Vielzahl von möglichen Herangehensweisen zu einer Kohärenz von Tragstruktur und architektonischem Ausdruck führen können. In jedem Fall scheint sich aber eine intensive und vor allem frühzeitige Zusammenarbeit zwischen Ingenieur und Architekt als sehr förderlich für die Genese der Projekte zu erweisen. Darüber hinaus kommt die Arbeit jedoch zum Schluss, dass derartige Kollaborationen wohl auch in Zukunft eher die Ausnahme bleiben werden, da die Entwicklung von neuen Projekten oftmals von Faktoren dominiert wird, welche nicht im Einflussbereich von Ingenieur und Architekt liegen. 5
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Inhaltsverzeichnis Einleitung - Ausgangslage und Problemstellung
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- Abgrenzung und Begriffsdefinition
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- Einbettung in den architekturgeschichtlichen Diskurs
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- Zum Verhältnis von Architekt und Ingenieur
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Analytische Betrachtungen - Definition der Untersuchungskriterien
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- Pier Luigi Nervi | Ausstellungshalle, Turin (1948)
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- Ludwig Mies van der Rohe | Neue Nationalgalerie, Berlin (1968)
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- Renzo Piano & Richard Rogers | Centre Pompidou, Paris (1977)
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- Rem Koolhaas/OMA | Kunsthalle, Rotterdam (1992)
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Hypothesen und spekulative Vergleiche - Kombinieren und Vergleichen der Analyseergebnisse
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- Ableiten von Hypothesen
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- Konklusion: Resultate und Erkenntnisse
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Reflexion und Fazit
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Anhang
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Einleitung Ausgangslage und Problemstellung Die Konzeption der Tragstruktur ist in vielerlei Hinsicht ein entscheidender Faktor bei der Entwicklung eines Gebäudes. Daher erstaunt es nicht, dass Architekten und Ingenieure ganz wesentlich daran interessiert sind, Tragstrukturen über ihre Wirkung als „statisches Gerüst“ eines Objekts hinaus noch mit weiteren Funktionen aufzuladen. Ausgehend von diesen Überlegungen eröffnet sich ein riesiges Feld an Möglichkeiten. Eine davon ist es, durch eine ausdrucksstark ausformulierte, konstruktive Idee beim Betrachter eine bestimmte innen- oder aussenräumliche Wirkung zu evozieren. Hierfür müsste die Konzeption der Tragstruktur vom Architekten zwingend als grundlegende, entwurfsbestimmende Komponente anerkennt werden. Dies ist jedoch eine Voraussetzung, welche heute längst nicht in jedem Fall zutrifft. Seit geraumer Zeit scheint sich nämlich das Interesse vieler Architekten scheinbar einzig und alleine auf den Ausdruck des Gebäudes verlagert zu haben. Ausgefallene Volumenspielereien und das Erproben neuer Fassadenmaterialien werden oft einer Genese der Architektur vorgezogen, welche sich den tektonischen und konstruktiven Grundregeln verpflichtet fühlt. Dies führt zu einer Fokussierung des Architekten auf rein formale Fragen des Ausdrucks und gleichzeitig zu der verpassten Chance einer innovativen Tragwerkskonzeption. So stellt heute bei vielen Gebäuden ein ökonomisch optimiertes Betonskelett aus Stützen und Platten den Normalfall dar. Diese Tatsache drängt den Ingenieur mehr und mehr in die Rolle eines gesichtslosen Dienstleisters des Architekten. Ein Spezialist unter vielen, dessen Kompetenzbereich sich auf die Dimensionierung von Platten und Stützen reduziert hat.1
1 | Im Vorwort zu ihrem Buch „Kooperation“ äussert sich Aita Flury zu diesem Thema: „Der Ingenieur verschwindet in einer Masse von gleichwertigen Beratern, Fachplanern und Subunternehmern und/oder lässt sich in einer auf Kunstobjekte und mediale Symbolik ausgerichteten Welt aus dem Vernunftstempel zerren und vom Architekten für die vorgegebene Form instrumentalisieren.“ Aus: Flury 2012, S.9 f.
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Das Ziel dieser Arbeit ist es daher, ein Schlaglicht auf diese vielfältigen, jedoch zunehmend vernachlässigten Zusammenhänge zwischen Tragwerkskonzept und äusserer Erscheinung eines Gebäudes zu werfen. Wie bereits erwähnt, bewegen sich diese beiden Faktoren in der Architektur nicht selten in einer vielschichtigen Beziehung zueinander und können daher unter ganz verschiedenen Aspekten untersucht werden. Zuerst soll das Verhältnis von „innerer Struktur“ und „äusserer Erscheinung“ im architekturgeschichtlichen Diskurs genauer eingebettet und verankert werden. Ausserdem wird ein forschender Blick auf die möglichen Arten der Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur geworfen. Darauf aufbauend soll mit der Analyse einiger exemplarisch ausgewählten Bauten sowie deren Architekten ein vertieftes Verständnis für die Frage nach den Zusammenhängen von Konstruktion und Ausdruck erreicht werden. Nur mit all diesem Wissen ist es danach möglich, im letzten Teil der Arbeit einige Vergleiche und Hypothesen zu formulieren. Dadurch wird es möglich, sich dem Thema der Kohärenz von Tragstruktur und architektonischer Erscheinung auch auf einer spekulativen Ebene etwas annähern zu können.
Abgrenzung und Begriffsdefinition Die Arbeit kann und will sich im umfangreichen Themenbereich der „ausdrucksstarken Strukturen“ nicht allzu ausschweifend mit allgemeinen und übergeordneten Themen auseinandersetzen. Sie grenzt sich zudem klar von vereinzelten, modischen Strömungen in der Architektur ab, bei welchen überinstrumentalisierte Tragstrukturen lediglich dem Erregen von Aufmerksamkeit zu dienen scheinen. Das Thema soll daher nicht primär umfänglich, sondern in erster Linie fundiert bearbeitet werden. Zudem wird mit der Einteilung in drei inkrementelle Kapitel eine inhaltliche Klarheit und Kohärenz angestrebt. In dieser Hinsicht ist es auch wichtig, die Terminologie dieses vielfältigen Themengebietes einzugrenzen und einige Begriffe etwas präziser zu definieren. Kohärenz Ursprünglich stammt der Begriff Kohärenz vom lateinischen Wort cohaerentia (Zusammenhang) ab. Gebräuchlich ist der Begriff nicht nur in der Architektur, sondern auch in vielen Bereichen der Wissenschaft, beispielsweise in Physik, Psychologie oder Linguistik. Ausser als Zusammenhang kann man Kohärenz auch als eine logische Verknüpfung oder als Ausdruck für eine Folgerichtigkeit verstehen.2 Ausdruck Der Begriff entstammt ursprünglich dem französischen Wort expression. Unter Ausdruck versteht der Duden ein „äusseres, sichtbares Zeichen, in welchem sich eine innere Beschaffenheit oder Struktur widerspiegelt“. Zudem wird der Begriff als eine Art von Kennzeichen beschrieben.3 Bezogen auf das Thema dieser Arbeit kann also dann von einer „ausdrucksstarken Tragstruktur“ gesprochen werden, wenn sich deren innere Logik und Organisation in einer besonderen Weise im Ausdruck des Gebäudes manifestiert. Wirkung Die vorliegende Arbeit versucht zwar, die Wirkung der unterschiedlichen Tragstrukturen, sei dies nun im Innen- oder Aussenraum, auf einer möglichst objektiven Ebene zu analysieren. Trotzdem gilt es in jedem Fall zu beachten, dass die Wirkung, welche ein Gebäude auf einen Menschen ausübt, in vielen Fällen auch sehr stark von subjektiven Empfindungen geprägt sein kann.
| vgl. Duden: http://www.duden.de/ rechtschreibung/kohaerenz (16.01.2013) 3 | vgl. Duden: http://www.duden.de/ rechtschreibung/ausdruck (16.01.2013) 2
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Einbettung in den architekturgeschichtlichen Diskurs Bauen bedeutet immer auch die Widersetzung menschlichen Schaffens gegen die Naturgesetze der Schwerkraft. Dass dabei die Tragstruktur eines Gebäudes dessen Ausdruck wesentlich mitprägen kann, ist ein Fakt, welcher wohl beinahe so alt ist wie die Baukunst selbst. In diesem Zusammenhang kann die Konzeption von Tragwerken gewissermassen als eine der existenziellen und immer wiederkehrenden Fragen des Bauens verstanden werden.4 Schon früh war der Mensch gezwungen, sich mit der Thematik von Tragwerken zu befassen. Aufgrund der zunächst eher bescheidenen technischen Möglichkeiten wurden bereits kleine horizontale Spannweiten zur Herausforderung. Eine fortlaufende Entwicklung von immer neuen Lösungsvorschlägen lässt sich aus heutiger Sicht beispielsweise anhand der diversen Gewölbe-, Kuppeloder Sturzkonstruktionen des Mittelalters nachvollziehen. Diese Entwicklungen waren gleichzeitig auch immer eng verbunden mit dem allgemeinen technischen Fortschritt, beispielsweise in Form neuer Baumaterialien oder verfeinerter Bautechnik. Von Beginn weg ist also ein sehr enger Zusammenhang von technischen und gestalterischen Fragen erkennbar. Die Korrelation von Struktur und Material, von Tragwerkskonzeption und architektonischem Ausdruck, ist also eine architekturgeschichtlich weit zurückreichende Thematik.
| In sehr umfangreicher Form widmet sich die Zeitschrift werk, bauen + wohnen in ihrer Ausgabe 05/2009 dem Thema der „Starken Strukturen“. Diese werden im Editorial (Seite 3) wie folgt genauer definiert: „Tragstrukturen, die nicht im Verborgenen ihre Funktion erfüllen und die Lasten möglichst diskret ins Erdreich leiten, sondern aus dieser existenziellen Thematik, diesem Drama, Architektur machen.“
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| vgl. Rüegg 2009, S.4
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Durch die industrielle Revolution veränderten sich viele Lebensbereiche des Menschen ganz wesentlich. So erfuhr auch die Baukunst durch die neuen technischen Möglichkeiten nach und nach zahlreiche, tiefgreifende Veränderungen. In struktureller Hinsicht bildet dabei Joseph Paxtons 1851 in London eröffnete Crystal Palace einen wichtigen Entwicklungsschritt. Das Gebäude, gebaut als Ausstellungspavillon für die erste Weltausstellung, ging aufgrund der neuartigen Anwendung von Eisen und Glas in die Architekturgeschichte ein. Auch der Eiffelturm, 1889 in Paris erbaut, ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Auch wenn er kein Gebäude im eigentlichen Sinne ist, so legt er doch eindrücklich Zeugnis einer engen Korrelation von struktureller Konzeption und architektonischem Ausdruck ab. Die meist zu industriellen Zwecken genutzten Eisenbauten beeinflussten auch die Architekten der zu dieser Zeit langsam aufkommenden Moderne. Die freigelegte, nackte Struktur des Eiffelturmes erschien wie der Vorbote einer neuen Architektursprache, welche sich nach und nach von den „Schlacken der Stile“ zu befreien versuchte.5 Dieser Umbruch, der Wille zur ganzheitlichen Erneuerung aller Lebensbereiche, liess die Architekten und Ingenieure der Moderne, begleitet von einer immer einflussreicher werdenden Industrie, in kurzer Zeit viele Innovationen hervorbringen. Als eine der wichtigsten und für die Tragwerkskonzeption bedeutsamsten ist dabei sicherlich die Entwicklung des Eisen- und Stahlbetons zu nennen. Dieses Material ermöglichte fortan eine Vielzahl an neuartigen Konstruktionsweisen. Ausgehend von der Verwendung als einfachen Betonbalken erkannte man schon bald das grosse Potenzial dieses Baustoffes und innert weniger Jahre wurden nicht nur einzelne Bauteile sondern ganze Gebäude aus Beton gefertigt. In der Schweiz sind derartige kon-
struktive Entwicklungen vor allem auf Personen wie Robert Maillart oder Heinz Isler zurückzuführen.6 Geleitet von grundlegend neuen Wohn- und Lebensvorstellungen erlebte die Architektur in den 1920er und 1930er Jahren einen deutlichen Umbruch. Die grossen Meister der Moderne entwickelten eine komplett neue Architektursprache, welche von einer rationalistischen Grundhaltung geprägt war. Die Technik sollte dem fortschrittlichen Menschen dienen, und dementsprechend wurde sie auch in der Architektur angewandt. Das äusserte sich beispielsweise in immer ausgefeilteren Formen der Präfabrikation, was natürlich wiederum konstruktive und gestalterische Folgen nach sich zog. Dies war sicherlich einer der Gründe, wieso sich zu dieser Zeit die Kompetenzbereiche von Architekt und Ingenieur immer weiter auseinander bewegten. Neben der weit verbreiteten, rational geprägten Architektursprache eines Mies van der Rohe oder Le Corbusiers entwickelten sich im Zuge der Moderne aber auch noch andere Strömungen. Auch diese lassen, exemplarisch dargestellt am Beispiel des Umgangs mit dem Baustoff Beton, die Möglichkeiten einer starken Kohärenz von Tragwerkskonzept und architektonischem Ausdruck erkennen. Eero Saarinen nutzte zum Beispiel die neuartigen Eigenschaften des Betons gekonnt aus, um beim TWA Terminal in New York (1962) die Dynamik des Fliegens über gewölbte Betonschalen auszudrücken. Mit ganz ähnlichen Mitteln gelangte auch Jørn Utzons Opernhaus in Sydney (1959-1973) zu Weltruhm. Und auch der bei Kirchenbauten verbreitete, eher bildhauerisch anmutende Umgang mit dem Baustoff Beton, offenbart deutlich das Interesse an der Korrelation von Struktur und Materialität. Oder anders gesagt, die des Tragwerks und des architektonischen Ausdrucks. Die Wallfahrtskirche in Neviges von Gottfried Böhm (1968) oder Walter Förderers Pfarrkirche in Hérémence (1967-1970) sind in diesem Zusammenhang nur zwei von zahlreichen, anschaulichen Beispielen. Es erstaunt nicht, dass das Thema einer „architektonischen Rhetorik“7 auch in der heutigen Architekturszene noch immer sehr präsent ist.8 Allerdings gilt dies kaum für die breite Masse an Bauwerken. Teilweise ist dies sicherlich mit komplexeren Rahmenbedingungen erklärbar, beispielsweise mit immer höheren Anforderungen an die Gebäudehülle. Die löblichen Ausnahmen zeichnen sich dafür des öfteren durch ganz individuelle Interpretationen zum Thema der „ausdrucksstarken Tragstrukturen“ aus. So ist beispielsweise ein Trend zu immer komplexeren Tragstrukturen erkennbar. Zum Beispiel das Olympiastadion in Peking von Herzog & de Meuron (2008), welches besonders gegen Aussen einen starken, expressiven Ausdruck entfaltet. Der genaue Kräfteverlauf ist dabei allerdings kaum mehr festzustellen.9 An einem anderen Ort knüpft Christian Kerez an die Diskussion über die Kohärenz von Tragstruktur und Ausdruck an. Beim Haus Forsterstrasse in Zürich (2005) konnten Trag- und Raumstruktur, auch dank der stimulierenden Zusammenarbeit mit dem Ingenieur Joseph Schwartz, auf symbiotische Weise überlagert werden und evozieren so, mit dem Mittel der Reduktion, einen starken und eigenständigen architektonischen Ausdruck.
| vgl. Rüegg 2009, S.6 | Rüegg 2009, S.7 8 | Mit dem Begriff der „architektonischen Rhetorik“ umschreibt Rüegg eine Architektur, welche über ihren Ausdruck grundlegende Ideen der Konstruktion vermittelt. Dabei bezieht er sich auf die Definition von Rudolph Redtenbacher, welcher 1881 den Begriff der „Architektonik“ einführte. Dieser unterscheidet zwischen einer „Tektonik des Fügens“ (Assemblage von Bauteilen) und einer „Tektonik des Tragens und Lastens“ (Spürbarmachen der Kräfteverläufe im Innern der massiven Formen). vgl. Rüegg 2009, S.7 9 | Der Ingenieur Jürg Conzett erkennt darin jedoch eine klare Absicht: „Das Verschleiern der Wirkungsweise eines Tragwerks kann auch als Mittel zur Steigerung des architektonischen Ausdrucks eingesetzt werden“. In: Rüegg 2009, S.8 f. 6 7
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Zum Verhältnis von Architekt und Ingenieur Die Aufteilung der Baukunst in die zwei unterschiedlichen Spezialgebiete des Architekten und des Ingenieurs ist eine eher neuartige Entwicklung. Davor, beispielsweise im Mittelalter, waren gestalterische und technische Fertigkeiten üblicherweise in der Person des Baumeisters vereint. Die Spezialisierung fand zu dieser Zeit eher über die Unterscheidung der verschiedenen Bauaufgaben statt. So gab es also Baumeister, welche eher auf Kirchen, Wohnhäuser oder Strassen spezialisiert waren. Im allgemeinen wird die zunehmende Separierung der eigentlichen Fachgebiete erst mit der Zeit von 1750 bis 1900 in Verbindung gebracht. Mehrere Gründe führten zu dieser Entwicklung, wobei das Aufkommen von neuen Bauaufgaben und die damit verbundene Entwicklung von neuen Materialien zu den wichtigsten zählen. Dazu begünstigten grosse Fortschritte in den Berechungsmethoden der neuartigen Tragwerke ebenfalls eine immer grösser werdende Separierung der Architektur und des Ingenieurwesens.10
| vgl. Flury 2012, S. 9 | vgl. Nervi 1963, S.4 12 | Schon Jahre zuvor äusserte sich Nervi zur Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur:„Das Schwierige liegt darin, die Seele des Dichters mit dem Wissen und der Erfahrung des Technikers in Einklang zu bringen. Noch schwieriger ist es, die Umwelt zum Verständnis der Werte zu erziehen, welche aus der Verbindung von Dichter und Techniker entstehen können.“ Aus: Greco et al. 2008, S.3 13 | Beispielsweise fand im November 2011 an der ETH in Zürich die Podiumsdiskussion „Dialog der Konstruktuere“ statt. (http://www.multimedia. ethz.ch/misc/2011/bsa) 14 | Die erfolgte Unterteilung stammt vom Philosophen Christoph Baumberger. Er verfasste zu diesem Thema ein Kapitel im Buch „Kooperation“ von Aita Flury. (vgl. Flury 2012, S.57 ff.) 10 11
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Im 20. Jahrhundert entwickelten sich im Zuge der Moderne dann ganz verschiedene Strömungen der Architektur, bei welchen die Ingenieursleistungen jeweils einen sehr unterschiedlichen Stellenwert genossen. In Bezug auf das Thema der Arbeit erscheint vor allem die von Pier Luigi Nervi definierte „strukturelle Architektur“ von Bedeutung. Nervi fordert dabei im Vorwort zu seinem Buch „Neue Strukturen“ von 1963 dazu auf, dass die Architekten sich von jeglicher Reminiszenz im formalen Bereich frei machen, um sich den immer komplexer werdenden Aufgaben unvoreingenommen widmen zu können.11 Dies kann durchaus auch als ein Aufruf Nervis zur Annäherung der beiden Disziplinen verstanden werden.12 Seit der Moderne sind zahlreiche Arten der Zusammenarbeit von Architekten und Ingenieuren erprobt worden. Auch in der zeitgenössischen Architekturdebatte scheint das Thema kaum an Aktualität und Brisanz eingebüsst zu haben. Wie lassen sich sonst die zahlreichen Artikel- und Buchpublikationen, Ausstellungen oder Podiumsdiskussionen erklären, welche zum Thema der zahlreich vorhandenen Schnitt- und Berührungspunkte von Architektur und Bauingenieurswesen in den letzten Jahren stattgefunden haben?13 Im Fall von Christian Kerez und Joseph Schwartz, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, hat eine derartige Kollaboration schon zu zahlreichen, innovativen Konzepten und Projekten geführt. Grosse Beachtung erzielten sie, wie bereits vorher kurz erwähnt, zum Beispiel mit dem Wohnhaus Forsterstrasse in Zürich (2005), bei welchem sich die grundlegenden Gedanken von Trag- und Raumstruktur in einer annähernd kongruenten Art und Weise zu überlagern beginnen. Somit lassen sich nun im Wesentlichen drei unterschiedliche Arten der Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur definieren. Es handelt sich dabei um den Monolog, das Selbstgespräch und den Dialog.14 Sicherlich werden, insbesondere in der täglichen Praxis, auch noch zahlreiche Mischformen und Variationen ihre Anwendung finden. An dieser Stelle können sie jedoch nicht näher thematisiert werden.
Monolog Diese Art der Zusammenarbeit kommt in der Praxis sehr oft vor und zeichnet sich im Wesentlichen dadurch aus, dass ein Architekt oder Ingenieur die Führungsrolle inne hat und die jeweils andere Partei als dienendes Element in die Planungen miteinbezieht. Im Falle des leitenden Architekts wird der Ingenieur so in die Rolle eines beliebig austauschbaren Spezialisten gedrängt. In dieser ist er lediglich noch dazu da, ein ihm bekanntes statisches System auf die vom Architekten vorgesehene Tragstruktur anzuwenden und eine wirtschaftlich optimale Dimensionierung der Bauteile vorzunehmen. Im Hochbau eher weniger verbreitet ist in diesem Zusammenhang der Monolog des Ingenieurs. Bei Brücken oder ähnlichen Bauwerken des Spezialtiefbaus kommt es hingegen oft vor, dass die Formfindung eines Objekts einzig und allein durch den Ingenieur geschieht. Seine Prämissen sind dabei aber nur sehr selten von architektonischer Natur. Vielmehr folgt er zielstrebig mathematischen oder ökonomischen Grundsätzen und gelangt so zu einer vermeintlich optimalen Lösung.15 Selbstgespräch Eher die Ausnahme bilden Exponenten, welche gleichzeitig über ein hohes Ausmass an architektonischen und technischen Kompetenzen verfügen. Doch immer wieder bringt die Architekturgeschichte solche Ausnahmekönner wie Pier Luigi Nervi, Félix Candela oder Santiago Calatrava hervor. Die Gestaltung und formale Erscheinung ihrer Objekte steht für die Ingenieur-Architekten meistens in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem ingeniösen Akt des Konstruierens. Daher erstaunt es nicht, dass die Art des Tragwerks am fertigen Objekt oftmals etwas überzeichnet oder gar überinstrumentalisiert wirkt und deshalb für den Betrachter sehr direkt und fast zu deutlich ablesbar wird.16 | vgl. Flury 2012, S.57 ff. | vgl. Flury 2012, S.59 f. 17 | Dabei forderte bereits 1910 der deutsche Architekt Peter Behrens in einem Vortrag :„Es ist nicht wahrscheinlich, dass sich ein besonderer Beruf, den man mit Ingenieur-Architekt bezeichnen kann, ausbilden wird, vielmehr glaube ich, dass die Zukunft ein enges Nebeneinander von Künstlern und Ingenieuren nötig macht. Dabei soll weder der Baukünstler noch der Ingenieur der Untergeordnete vom andern sein.“ Aus: Flury 2012, S.61 18 | vgl. Flury 2012, S.60 f. 15
Dialog Ähnlich wie die Ausnahmeerscheinung der Ingenieur-Architekten ist auch das Modell einer Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur als gleichwertige Partner eher selten anzutreffen.17 Ein wichtiger Grund dafür ist wohl der immer noch anhaltende Prozess der Spezialisierung der einzelnen Fachgebiete. Doch einzelne bemerkenswerte Beiträge, seien es nun Wettbewerbsprojekte oder tatsächlich gebaute Objekte, lassen das grosse Potenzial dieser Form der Zusammenarbeit erahnen. Ziel dabei ist es, dass sich die jeweiligen Kompetenzgebiete in einer symbiotischen Weise überlagern und gegenseitig befruchten. Dies erfordert allerdings von beiden Seiten nicht nur ein hohes Mass an Kommunikationskompetenz sondern auch die Bereitschaft sich vermehrt auf Fragestellungen der jeweils anderen Fachrichtung einzulassen.18
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Analytische Betrachtungen Absicht / Methodisches Vorgehen Die folgende analytische Untersuchung ist ganz bewusst auf vier exemplarisch ausgewählte Objekte und ihre jeweiligen architektonischen und ingeniösen Schöpfer beschränkt. Bei der Auswahl der Exponenten und ihrer Bauten spielten zahlreiche Faktoren eine Rolle. In erster Linie war natürlich ein Bezug zur Thematik der ausdrucksstarken Tragstrukturen entscheidend. Durchaus erwünscht waren aber die jeweils sehr unterschiedlichen Arten der Ausprägung dieser Expressivität. Dabei waren nicht in erster Linie Objekte und Architekten interessant, bei welchen eine ausdrucksstarke Ausbildung der Konstruktion auf den ersten Blick ikonografisch in Erscheinung tritt.19 Sehr viel reizvoller erschien hingegen die Analyse von Objekten, bei welchen sich die Kohärenz von Tragstruktur und architektonischem Ausdruck in einer unterschiedlichen Lesart oder erst auf den zweiten Blick zu offenbaren vermag. Bei der Auswahl der einzelnen Objekte waren darüber hinaus zumindest weitgehend vergleichbare Entstehungszeiten und Raumprogramme ein wichtiges Kriterium. So beschränkten sich die folgenden Untersuchungen auf Ausstellungshallen und Museumsbauten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Anzumerken ist auch, dass die gewählten Objekte in der Regel durchaus auch sinnbildlich für die architektonischen Überzeugungen ihrer Schöpfer stehen. So stellt beispielsweise Pier Luigi Nervis Ausstellungshalle in Turin von 1948 eine klassische Referenz für seine eigens entwickelte Ferrozementtechnik dar. Und Ludwig Mies van der Rohe kann bei der Neuen Nationalgalerie in Berlin von 1968 sogar attestiert werden, dass bei diesem Projekt beinahe sämtliche Themen einflossen, welche ihn über weite Strecken seiner architektonischen Laufbahn beschäftigt und geprägt hatten. Ergänzt wird das Feld der untersuchten Objekte von zwei Museumsbauten der 1970er und 1990er Jahre. Einerseits wird ein Schlaglicht auf das Centre Georges Pompidou in Paris geworfen, welches 1977 den beiden Architekten Renzo Piano und Richard Rogers innert Kürze zu weltweiter Berühmtheit verhalf. Als letztes Objekt wird anschliessend auch die 1992 eröffnete Kunsthalle in Rotterdam von Rem Koolhaas/OMA näher untersucht. Definition der Untersuchungskriterien | Als Beispiel für diese stark überzeichneten Tragstrukturen mögen einige Bauten von Santiago Calatrava gelten. In surrealistischer Weise verfremdet, erinnern diese teilweise sogar an Motive aus der Natur. vgl. Flury 2012, S.60 19
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Anschliessend an die Analyse der vier einzelnen Projekte sollen im zweiten Teil der Arbeit nachvollziehbare Vergleiche ermöglicht und das Feld für spekulative Vergleiche und Hypothesen geöffnet werden. Daher erscheint es sinnvoll, einige wenige, dafür einheitliche Untersuchungskriterien zu bestimmen. So werden die Objekte, nebst einem allgemeinen Beschrieb sowie deren Einordnung in das Gesamtwerk des jeweiligen Architekten, anschliessend nach den Kriterien der Autorenschaft, der Konstruktion sowie der Wirkung separat untersucht.
1 | Autorenschaft Die Arten der Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur sind, wie bereits angetönt, ausgesprochen vielfältig. Daher ist es für die folgende Untersuchung von Interesse, wie die Zusammenarbeit beim spezifischen Objekt genau verlief und wie die Rollenverteilung war. Auch wenn diese Frage nach der Autorenschaft nicht immer abschliessend und mit Sicherheit beantwortet werden kann, so ist es doch interessant und aufschlussreich, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieses Kriteriums bei den vier untersuchten Objekten herauszuschälen. 2 | Konstruktion Angesichts des Themas der Arbeit ist die Konstruktion des Gebäudes und insbesondere die Wahl der Tragstruktur bei der Untersuchung der Objekte natürlich von zentraler Bedeutung. Wertneutral werden die Konzeption der Tragstruktur und die daraus resultierenden konstruktiven Auswirkungen auf das Gebäude analysiert und kommentiert. Einen wichtigen Einfluss hat dabei nicht nur der Entscheid für oder gegen ein Tragsystem, sondern auch dessen spezifische Ausformulierung, die Detailausbildungen sowie die Materialisierung. Das Ziel ist es also, die wesentlichen Absichten der Autorenschaft in konstruktiver Hinsicht zu erkennen und einzuordnen. 3 | Wirkung Zu welchen räumlichen Auswirkungen führt nun aber der Entscheid für eine bestimmte Tragstruktur und deren spezifische Ausarbeitung? Wie genau manifestiert sie sich am fertigen Gebäude? Entfaltet sich ihre Wirkung eher nach innen oder tritt die Tragstruktur dominant nach aussen in Erscheinung? Nicht zuletzt interessiert in diesem Zusammenhang natürlich die Frage, welche spezifischen Elemente des Tragsystems denn nun genau den „ausdrucksstarken“ Charakter der Tragstruktur evozieren. Zweifellos greift die Analyse bei diesem Kriterium auch auf eine semantische Ebene über. 15
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Pier Luigi Nervi | Ausstellungshalle, Turin (1948) Der italienische Bauingenieur und Architekt Pier Luigi Nervi (1891 1979) schuf in seiner langen und in vielerlei Hinsicht bemerkenswerten Karriere zahlreiche Bauwerke, welche auch heute noch zurecht als Ikonen der Architektur- und Baugeschichte gelten. Durch seine theoretischen, vor allem aber auch durch seine praktischen Forschungen im Bereich von Tragwerken aus Stahlbeton, leistete er einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung dieser Technik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In seiner Tätigkeit fühlte sich Nervi seit seiner Ausbildung an der Universität von Bologna im Prinzip der klassischen Ingenieurstradition verpflichtet. Diese zeichnet sich in erster Linie durch geschlossene, harmonische Tragsysteme sowie möglichst optimal dimensionierte Bauteile aus. Bei Nervi kam schon bald auch ein ausgeprägtes Interesse für die noch junge Technik des Stahlbetonbaus hinzu. Wohl auch geprägt durch die Umstände seiner Zeit, entwickelte er schon bald neue Anwendungsmethoden und Techniken und liess diese auch patentieren. Sein Leben lang entwickelte er seine Erfindungen wie den Ferrozement oder die Fertigbauweise weiter und perfektionierte sie mit jeder erprobten Anwendung noch etwas mehr.20 In bemerkenswerter Weise vereinten sich bei Nervi technisches Verständnis und Innovationskraft, aber eben auch ein ausgeprägtes Gespür für architektonische und gestalterische Fragen.21 Als selbständiger Unternehmer realisierte Nervi so zahlreiche Projekte, bei welchen er sich sowohl für die Architektur, die technische Planung sowie auch die Bauausführung verantwortlich zeigte. Für diese daraus resultierende, unverkennbare Handschrift Nervis bietet die Turiner Ausstellungshalle (1947 - 1948) ein sehr anschauliches Beispiel.
| vgl. Greco et al. 2008, S.13 ff. | Nervi verfasste dazu auch einige architekturtheoretische Schriften wie z.B. „Die Kunst und Wissenschaft des Konstruierens“ (1945), „Die architektonische Sprache“ (1950) oder „Neue Strukturen“ (1963) vgl. Greco et al. 2008, S.208 f. 20 21
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Abb. 1 | Innenaufnahme der Ausstellungshalle in Turin
1 | Autorenschaft In diesem Fall ist die Frage nach der Autorenschaft sehr einfach zu beantworten und übereinstimmend in vielen Quellen belegt. Der ausgebildete Bauingenieur Nervi übernahm bei den meisten seiner Bauten, so auch bei der Ausstellungshalle in Turin, sowohl die Rolle des Architekten wie auch jene des Ingenieurs. Die ausdrucksstarke Wirkung seiner Bauten ist dabei jeweils stark über die Wahl des Tragwerks sowie der Art der Konstruktion determiniert. Nervis Bauten tragen nicht zuletzt durch die grosse Kohärenz in seinem Schaffen und der stetigen, konsequenten Weiterentwicklung der eigenen Konstruktionsprinzipien eine unverkennbare Handschrift. 2 | Konstruktion Die Konstruktion der Ausstellungshalle in Turin ist durchwegs geprägt von Nervis Entwicklungen im Bereich der Fertigbauweise und des Ferrozements. Erstmals kommt sein Konstruktionsprinzip dabei, in einer neuerlich weiterentwickelten und patentierten Form, bei einem derart grossmasstäblichen Bau zur Anwendung. Die beachtliche Spannweite von 81m derart elegant zu überbrücken, war für diese Zeit eine Meisterleistung. Durch die raffinierte Konstruktion schaffte es Nervi, das tonnenförmige Dach in einzelne Bogenprofile zu unterteilen, welche aus jeweils 13 Einzelelementen bestanden. Jedes dieser ca. 4m langen und 2.5m breiten Elemente konnte mit einfachen Mitteln vorfabriziert werden. Diese von Nervi stets weiterentwickelte Konstruktionsweise führte zu einer deutlichen Vereinfachung der Bauabläufe und grossen Ersparnissen an Material, qualifizierten Arbeitskräften und Zeit.22 3 | Wirkung Das Puristische und Reine an Nervis Architektur wurde, gerade in der turbulenten Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, nicht nur in Italien hoch geschätzt. Zu der Leichtigkeit der geschwungenen Betonbögen kam in Turin dank der Weiterentwicklung seiner Deckenelemente auch noch eine eindrückliche Transparenz hinzu. Seine ornamental wirkenden Konstruktionen erlangen so innert kurzer Zeit Kultstatus.23
| vgl. Greco et al. 2008, S.178 | Ein Kritiker schrieb dazu: „Nervi hat die Kraft, sich von der Schwerkraft zu lösen, dabei aber deren Gesetze zu gehorchen.“ In: Scharfenorth 2011, S.2
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Ludwig Mies van der Rohe | Neue Nationalgalerie, Berlin (1968) Zweifelsohne gehört Ludwig Mies van der Rohe (1886 - 1969) zu den einflussreichsten Vertretern der Modernen Architektur. Er hat die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts ganz wesentlich mitgeprägt. Seine Bauwerke, ganz besonders jene, welche nach seiner Emigration in die USA entstanden, offenbaren deutlich eine anhaltende und sich stetig vertiefende Auseinandersetzung mit Fragen der Ordnung, der Struktur und der Reduktion. Beeinflusst durch seine handwerkliche Ausbildung und den Lehrjahren bei Peter Behrens in Berlin, aber auch durch die Werke von Frank Lloyd Wright oder den Schriften von Hendrik Petrus Berlage, entwickelte Mies auf diese Weise nach und nach seine ganz eigene Architektursprache.24 Diese bestand im Wesentlichen aus dem Gedanken einer klaren, auf das Wesentliche reduzierte Konstruktion. Da für ihn dieses Prinzip der Reduktion auch beim Materialeinsatz galt, beschränkte er sich bei der Konstruktion seiner Gebäude auf Beton, Stahl und Glas. Diese Materialien setzte er dann entsprechend ihrer spezifischen Eigenschaften ein und ordnete die daraus entstehenden Bauteile unter Anwendung eines strukturellen Rasters zueinander an.25 Doch die Annahme, dass Mies‘ Bauten nur absolut logische, funktionale oder gar mathematisch begründbare Entscheide zugrunde liegen wäre falsch. Ganz entscheidend prägte jeweils auch die Suche nach den richtigen, harmonisch wirkenden Proportionen seine Entwürfe.26 Dies war auch bei der Neuen Nationalgalerie in Berlin nicht anders. Mies kehrte für dieses Objekt, welches seine architektonische Laufbahn schliesslich krönen sollte, nach vielen Jahren in den USA nach Deutschland zurück. Dieser Bau bot Mies endlich die Möglichkeit, die lange gehegte Vision der Kombination eines monumentalen Daches mit einem weitläufigen, komplett stützenfreien Innenraum zu kombinieren.27
| Dazu äusserte sich Mies wie folgt: „Von Behrens lernte ich die grosse Form, von Berlage die Struktur.“ Aus: Zimmerman 2006, S.9 24
| Werner Blaser schrieb dazu: „Mies van der Rohe entwickelt seine Ideen aus den Prinzipien der Konstruktion, so dass die Gestalt der Bauwerke der vollendete Ausdruck ihrer Struktur wird.“ Aus: Blaser 1991, S.10 26 | vgl. Jäger 2011, S.58 27 | In diesem Zusammenhang sind die Projekte für die Convention Hall in Chicago (1954), das Bacardi Gebäude in Santiago (1957) oder das Georg-Schäfer Museum in Schweinfurt (1960) zu erwähnen. In: Blaser 1991, S.176 ff. 25
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Abb. 2 | Aussenaufnahme der Neuen Nationalgalerie
1 | Autorenschaft Die architektonische Handschrift von Ludwig Mies van der Rohe ist bei der Neuen Nationalgalerie in Berlin unverkennbar. Es besteht Einigkeit darüber, dass dieses Objekt durchaus als „sein Vermächtnis und als Quintessenz seines Denkens“ begriffen werden kann.28 Unklarheit besteht hingegen bei der Frage nach der ingeniösen Kontribution. Bekannten Quellen ist kaum zu entnehmen, wer neben Mies noch bei der Planung der Neuen Nationalgalerie beteiligt war. Sicherlich hat die kontinuierliche Weiterentwicklung von Mies‘ konstruktivem Prinzip des Doppel-T-Trägers auch bei der Planung der Neuen Nationalgalerie gewisse Vereinfachungen der statischen Berechnungen zugelassen. Doch die enge Zusammenarbeit mit einem Ingenieur scheint aus heutiger Sicht schon nur in Anbetracht der beachtlichen Spannweite des gewaltigen Hallendaches unumgänglich.29 2 | Konstruktion Bezüglich der Konstruktionsweise seiner Gebäude, und damit auch jener der Neuen Nationalgalerie, propagierte Mies eine „Konstruktion, die sich nie verstecken, sondern offen und transparent bleiben sollte.“30 Er entwickelte seine Ideen immer aus den Prinzipien der Konstruktion heraus, so dass die Gestalt der Bauwerke der vollendete Ausdruck ihrer Struktur wurde.31 Seine Konstruktionsphilosophie perfektionierte Mies im Laufe der Jahre immer mehr. Dies gelang ihm vor allem durch die fortwährende formale Aneignung des industriellen Halbfabrikats des Doppel-T-Trägers.32 So gipfelte diese kontinuierliche Entwicklung seines ganz persönlichen Konstruktionsprinzips schlussendlich 1968, im Spätherbst seiner architektonischen Laufbahn, auf eindrückliche Weise in der Konstruktion der Neuen Nationalgalerie in Berlin. 3 | Wirkung
| vgl. Jäger 2011, S.11 | vgl. Blaser 1991, S.188 30 | vgl. Jäger 2011, S.57 31 | Blaser 1991, S.10 32 | vgl. Flury 2012, S.42 33 | Ein Zitat des ersten Direktors der Neuen Nationalgalerie, Werner Haftmann, veranschaulicht dies: „Der Bau selbst ist das erste Kunstwerk, das dem Besucher entgegentritt.“ Aus: Jäger 2011, S.11 34 | Jäger 2011, S.17 28 29
Die virtuose Art, mit welcher Ludwig Mies van der Rohe die Konstruktion des monumentalen Daches der Nationalgalerie zur Schau stellte, verfehlte ihre Wirkung nicht. Schon die Aussenwirkung des trotz seiner gewaltigen Dimensionen fast schwebend wirkenden Daches faszinierte sowohl Fachwelt wie auch Laien vom ersten Tag an.33 Auch im Innenraum, den Fritz Neumeyer einmal als „Innenraum mit der Anmutung eines Aussenraums“34 bezeichnete, entfaltet die offen gelegte Konstruktion des Kassettendaches im Zusammenspiel mit den anderen, sorgfältig aufeinander abgestimmten Materialien, ihre ganz eigene, unverkennbare Wirkung.
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Renzo Piano & Richard Rogers | Centre Pompidou, Paris (1977) Die beiden Architekten Renzo Piano (1937) und Richard Rogers (1933) gelangten 1971 durch den Gewinn des Wettbewerbs für das Centre Georges Pompidou in Paris praktisch über Nacht zu weltweitem Ruhm. Erst zwei Jahre zuvor hatten sie sich kennen gelernt, doch die Zusammenarbeit der beiden fruchtete sehr schnell.35 Ihr Entwurf für das Zentrum, welches ganz der modernen französischen Kultur dienen sollte, setzte sich deutlich gegen zahlreiche Mitbewerber durch und wurde schliesslich nach fast sechsjähriger Bauzeit 1977 feierlich eröffnet. Der Massstabssprung zur umliegenden Bebauung ist gewaltig, das Gebäude hat eine Grundfläche von 166m x 60m und ist rund 45m hoch. Auf sieben Stockwerken bietet es durch das „Ausstülpen“ seiner Innereien wie Tragstruktur, Haustechnik oder Erschliessung rund 100‘000m2 frei bespielbare Ausstellungsfläche. Da in jedem einzelnen Geschoss grundsätzlich jede Art der Kulturnutzung möglich sein musste, bedeutete dies für die Tragstruktur des Gebäudes eine „Kumulation maximaler Anforderungen“.36 Piano und Rogers standen mit Peter Rice und Tom Barker von Ove Arup + Partners zwei fähige Ingenieure zur Seite, welche diese Herausforderungen annahmen.37 Doch auch Piano selbst setzte sich schon seit Beginn seiner Laufbahn intensiv mit konstruktiven und technischen Fragen auseinander.38 Gemeinsam trieb das Team so den Entwurf des Centre Pompidou Schritt für Schritt voran, stark geprägt von einer funktional-architektonischen Philosophie. Noch deutlicher als bei vielen anderen technikgeprägten Entwürfen des 20. Jahrhunderts darf bei diesem Objekt davon ausgegangen werden, dass die Rolle des Ingenieurs eine sehr wesentliche war.
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| vgl. Haberlik 2008, S.177
| Flury 2012, S.47 | So wird die Faszination für Rice‘s Arbeit in diesem Zitat von Piano spürbar: „Peter entwarf Tragwerke wie ein Pianist, der mit geschlossenen Augen spielen kann.“ Aus: Jodidio 2012, S.9 38 | Piano arbeitete nach seinem Studium beispielsweise bei Louis Kahn in Philadelphia oder beim polnischen Bauingenieur Stanislaw Makowski in London. Zudem inspirierten ihn die Visionen von Peter Cook und Cedric Price von Archigram sowie das Werk von Ingenieur-Architekten wie Pier Luigi Nervi, Richard Buckminster Fuller oder Jean Prouvé. vgl. Jodidio 2012, S.9 f. 36 37
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Abb. 3 | Aussenaufnahme des Centre Pompidou
1 | Autorenschaft Das Centre Pompidou wäre ohne die fruchtbare Zusammenarbeit der Architekten Renzo Piano und Richard Rogers mit den Ingenieuren Peter Rice und Tom Barker nicht in dieser Form denkbar gewesen. Das lag in erster Linie am innovativen aber bis dahin weitgehend unerprobten Konzept des „Umstülpens“, was unter anderem auch die wesentlichen Teile der Tragstruktur nach aussen verschob. Diese neuartigen Anforderungen und die gewaltigen Ausmasse des Gebäudes erforderten gerade auch von den Ingenieuren bereits in der Entwurfsphase weitreichende Überlegungen. 2 | Konstruktion Wie bereits erwähnt basieren sowohl das räumliche wie auch das konstruktive Prinzip des Centre Pompidou auf dem Gedanken des „Umstülpens“. So mussten teils enorme Spannweiten von bis zu 48m mit 3m hohen Fachwerkträgern überbrückt werden. Sowohl Lastabtragung wie auch Aussteifung erfolgen in einem mehrere Meter tiefen Gerüst, welches der eigentlichen Fassade vorgelagert ist. Dieses weist eine Vielzahl unterschiedlicher Elemente auf, von welchen jedes eine ganz bestimmte Funktion zu erfüllen hat. Die einzelnen Teile dieses Gesamtsystems wurden also genau nach ihren Anforderungen entwickelt und dimensioniert. Als anschauliches Beispiel können in diesem Zusammenhang die gusseisernen „Gerberetten“ genannt werden, welche die inneren Lasten aus den Fachwerkträgern in das statische Gerüst vor der Fassade leiten. Ganzheitlich gesehen entsteht durch diesen differenzierten Umgang mit den konstruktiven Elementen des Gebäudes eine direkte Ablesbarkeit der Kraftflüsse - die Konstruktion wird auf didaktische Weise regelrecht inszeniert.39 3 | Wirkung
| vgl. Flury 2012, S.47 | Renzo Piano beschreibt die Wirkung des Centre Pompidou folgendermassen: „Das Beaubourg ist in doppelter Hinsicht eine Provokation: zum einen eine Herausforderung für die gängige Architekturlehre, zum anderen eine Parodie auf die technischen Spinnereien unserer Zeit. Es als Hightech zu beschreiben ist ein Missverständnis.“ Aus: Jodidio 2012, S.12 41 | Jodidio 2012, S.23 39
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Die grundlegende Idee des Umstülpens evoziert also in erster Linie eine Reihe ausserordentlicher technischer Lösungen. Dies hat eine regelrechte Zurschaustellung der Technik zur Folge und lässt das Centre Pompidou wie eine „alleinstehende Maschine“ wirken.40 Unterstrichen wird dieser Eindruck von seinen gewaltigen Ausmassen und der grossen Massstabsdifferenz zum umliegenden Kontext. Mittlerweile längst zur Ikone der Architekturgeschichte geworden, ist das Centre Pompidou aufgrund dieser Radikalität nicht nur ein Publikumsmagnet, sondern gewissermassen ein gebautes Manifest, „die Erfüllung zahlreicher Technikträume des 20. Jahrhunderts.“41
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Rem Koolhaas / OMA | Kunsthalle, Rotterdam (1992) Der niederländische Architekt Rem Koolhaas (1944) und sein Office for Metropolitan Architecture, welches er 1975 mitbegründete, nehmen seit vielen Jahren eine wichtige Rolle im weltweiten Architekturdiskurs ein. Mit einer grossen Anzahl an Wettbewerbsprojekten, aber auch vielen ausgeführten Bauten, theoretischen Texten oder Ausstellungen bezieht Koolhaas regelmässig neuartige und progressive Positionen in der Architekturszene. Wichtige Themen, welche Koolhaas in seinen Projekten immer wieder aufgreift, sind beispielsweise die Suche nach städtischer Dichte, das Aufbrechen von starren Strukturen jeglicher Art oder die Rolle seiner Bauwerke als soziale Katalysatoren.42 Einige dieser Themen finden sich in anschaulicher Art und Weise auch in der Kunsthalle in Rotterdam wieder, welche Koolhaas von 1988 1992 realisieren konnte. Das Programm sah im Wesentlichen drei grosse Ausstellungsräume vor, welche einzeln oder gekoppelt nutzbar sein sollten. Dazu kamen ein Auditorium und ein Restaurant mit eigenem Zugang. Der niedrige, quadratische Baukörper wird von zwei Achsen durchschnitten und definiert so vier voneinander abgetrennte Bereiche. Über eine grosse, offene Rampe im Zentrum des Gebäudes werden die drei Ausstellungsbereiche miteinander verbunden. Koolhaas‘ Grundkonzept sah vor, dass alle drei Hallen einen sehr unterschiedlichen Charakter aufweisen sollten, so dass der Gang durchs Gebäude zu einer Sequenz von kontrastierenden Raumerlebnissen wird.43 Diese Absicht setzte Koolhaas mit grosser Konsequenz auch im Tragwerkskonzept um. Der Ingenieur Cecil Balmond, bekannt für seine Theorie des „informal“, zeichnete sich dafür verantwortlich und prägte mit seinen Ideen den Entwurf von Koolhaas wesentlich mit.44
| vgl. Koolhaas 1993, S.22 ff. | vgl. Koolhaas 1993, S.50 ff. 44 | vgl. Balmond 2002, S.57 ff. 42 43
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Abb. 4 | Aussenaufnahme der Kunsthalle
1 | Autorenschaft Das Mitwirken des Ingenieurs Cecil Balmond, welcher bereits in der Konzept- und Entwurfsphase eine wichtige Rolle einnahm, wird von Rem Koolhas selbst als „sehr stimulierend“ bezeichnet. Gewissermassen könnte man Balmond und sein Team bei Ove Arup + Partners durchaus als ein „Pendant“ zu Koolhaas und seinem Office for Metropolitan Architecture sehen.45 Dass die Zusammenarbeit dieser beiden Exponenten tatsächlich zahlreiche neuartige und für den Architektur- und Ingenieursdiskurs bereichernde Konzepte und Ideen hervorbrachte, bewiesen sie bereits bei früheren gemeinsamen Projekten wie dem Medienzentrum Karlsruhe ZKM (1989) oder der Bibliothek in Paris (1992-1993).46 2 | Konstruktion Koolhaas und Balmond geht es in erster Linie um das Eliminieren einer erkennbaren und dominanten Struktur.47 Dies wird bei der Kunsthalle dadurch erreicht, dass die Tragstruktur aus ganz unterschiedlichen Elementen besteht. Bewusst wird auf eine repetitive oder serielle Verwendung der einzelnen statischen Elemente verzichtet. So entsteht eine Art Collage - die einzelnen statischen Interventionen erhalten einen weitgehend autonomen Charakter und sind nicht mehr ohne weiteres als zusammenhängendes System erkennbar.48 Balmond verlässt damit, ganz im Sinne seiner Strategie des „informal“, den Weg des klassischen Ingenieurs, welcher geschlossene, harmonische und möglichst optimierte Systeme als Idealfall ansieht.49 3 | Wirkung Das differenziert ausgestaltete Tragwerk der Kunsthalle verleiht den einzelnen Ausstellungsräumen einen jeweils sehr eigenständigen Ausdruck. Dies unterstreicht Koolhaas zudem durch ganz unterschiedliche Oberflächenbehandlungen und wechselnde Lichtstimmungen. Dem gegenüber stehen verbindende Elemente, wie ein überall ablesbarer Serviceturm oder die gemeinsame Erschliessungsrampe. Diese vermitteln dem Gebäude die nötige Kohärenz und verschaffen einem das Gefühl eines mehrdimensionalen Raumgefüges anstelle einer linearen Sequenz einzelner Räume. Besonders im Innenraum trägt die differenzierte Ausformulierung der Tragstruktur dabei sehr stark zur Wirkung und Art der Wahrnehmung des Raumes bei.50
| vgl. Koolhaas 1993, S.28 | vgl. Flury 2012, S.51 47 | Flury 2012, S.51 48 | Umfangreich und anschaulich dokumentiert ist der Entwicklungsprozess der Tragstruktur der Rotterdamer Kunsthalle in Cecil Balmonds Buch „informal“. vgl. Balmond 2002, S.57 ff. 49 | vgl. Flury 2012, S.51 ff. 50 | vgl. Koolhaas 1993, S.50 ff. 45 46
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Spekulative Vergleiche und Hypothesen Absicht / Methodisches Vorgehen Die ersten beiden Teile dieser Arbeit konzentrierten sich vor allem darauf, das Thema der Kohärenz von Tragstruktur und architektonischem Ausdruck genauer zu ergründen. Dafür wurde das Thema geschichtlich verankert, wesentliche Begriffe definiert und diese voneinander abgegrenzt. In der darauf folgenden Analysephase wurden vier Architekten mit einem für sie jeweils aussagekräftigen, gebauten Beispiel nach einheitlichen Kriterien (Autorenschaft, Konstruktion und Wirkung) analysiert. Im nun folgenden zweiten Teil der Arbeit wird versucht, die Ergebnisse dieser vier Einzelanalysen miteinander in Verbindung zu bringen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden so ersichtlich und eröffnen gleichzeitig das Feld für einige spekulative Seitenblicke. Schlussendlich ist das Ziel, aus diesen Erkenntnissen Hypothesen zur Genese von Gebäuden mit ausdrucksstarken Tragstrukturen ableiten zu können. Kombinieren und Vergleichen der untersuchten Beispiele 1 | Autorenschaft Beim Vergleich der vier Objekte fällt auf, dass einzig und alleine bei Pier Luigi Nervis Ausstellungshalle in Turin unbestrittene Klarheit über die Autorenschaft von räumlicher Idee und Tragwerkskonzeption besteht. Der Ingenieur-Architekt Nervi bildet im Vergleich zu den anderen Exponenten damit aber die alleinige Ausnahme. Denn sowohl bei Piano/ Rogers sowie auch bei Koolhaas sind die beteiligten Ingenieure namentlich bekannt. Zudem ist ihr Einfluss, auch auf die grundlegenden Fragen des architektonischen Konzepts, wohl weitgehend unbestritten. In beiden Fällen scheint aus heutiger Sicht eine fruchtbare Dialogkultur zum schlussendlich realisierten Projekt geführt zu haben. Somit ist ein Beziffern der Einflussanteile von Architekt und Ingenieur nur in spekulativer Weise möglich und macht daher wenig Sinn. Gut möglich, dass nicht einmal mehr die an Planung und Bau beteiligten Personen selbst eine derartige Einschätzung abgeben könnten.51 | Diese Kollaborationen sind klar dem Modell des „Dialogs“ zuzuordnen. Eine saubere Trennung der Zuständigkeitsbereiche ist darum nicht mehr möglich. Oder wie es Christoph Baumberger treffend ausdrückt: „Beide arbeiten an der Konstruktion, der eine primär vom Gesichtspunkt der Tragwerkskonzeption, der andere primär vom Gesichtspunkt der Raumbildung aus.“ vgl. Flury 2012, S.71 51
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Bei Mies van der Rohe ist die Situation etwas komplexer, da die Quellenlage praktisch keinen Aufschluss darüber zulässt, wie stark die jeweilige Zusammenarbeit mit den Ingenieuren Mies‘ Entwurfsgedanken beeinflussten. Einiges deutet aber darauf hin, dass die ingeniösen Einflüsse auf die grundlegenden architektonischen Fragen, zumindest beim Bau der Neuen Nationalgalerie, eher bescheiden waren. Zuerst gilt es anzumerken, dass Mies schon früh über ein sehr ausgeprägtes Verständnis für konstruktive und technische Fragen verfügte. Zudem sammelte er während seiner Zeit in den USA viele Erfahrungen bei der Konstruktion zahlreicher Stahlskelettbauten. Auch die grundsätzliche
Entwurfsidee der Kombination eines monumentalen Daches mit einem stützenfreien Grundriss begleitete Mies schon mehrere Jahre als er nach Berlin zurückkehrte. Bestimmt erforderte das gewaltige Dach der Neuen Nationalgalerie sehr umfangreiche und detaillierte Berechnungen, welche Mies ziemlich sicher nicht selber ausführen konnte. Doch die Vermutung liegt nahe, dass sich die Aufgabe des Ingenieurs möglicherweise ausschliesslich auf diese Dimensionierung der Bauteile beschränkte. Der Ingenieur wäre in diesem Fall also in seine „klassische“ Rolle als Dienstleister des Architekten gedrängt worden und sein Mitwirkungsgrad an der Erscheinung des Gebäudes wäre als eher gering zu bezeichnen. 2 | Konstruktion Die einzelnen Konstruktionsarten der vier Objekte unterscheiden sich im Einzelnen natürlich sehr stark voneinander. Auf den zweiten Blick lassen sich aber dennoch einige interessante Beobachtungen und Feststellungen machen. Das grundsätzliche Tragwerkskonzept orientiert sich sowohl bei Nervi und Mies, wie auch bei Piano/Rogers klar an den Richtlinien einer traditionellen Ingenieurskultur. Diese zeichnet sich durch regelmässige, in sich geschlossene und ökonomisch optimierte Systeme aus. Koolhaas jedoch verlässt zusammen mit Cecil Balmond dieses bereits intensiv erforschte Gebiet. Mit dem Konzept eines offenen Systems, welches sich bewusst gegen ein ordnendes Raster sowie serielle Repetition richtet, brechen Balmond und Koolhaas mit den gängigen Regeln der Ingenieurskunst.52 Bei der Ausbildung der Tragstruktur der Neuen Nationalgalerie lässt sich feststellen, dass diese stark von den Regeln des verwendeten Materials dominiert wird. Dies deckt sich erwartungsgemäss sehr präzise mit der architektonischen Überzeugung von Mies.53 Ähnlich verhält sich dieser Sachverhalt bei Pier Luigi Nervis Ausstellungshalle in Turin. Die Regeln, welche ihm sein Baustoff (Ferrozement) und die Konstruktionsweise (Fertigbauweise) vorgaben, respektierte der Ingenieur und entwickelte innerhalb dieser Leitplanken eine mögliche Tragstruktur, welche den von ihm gewünschten Ausdruck erzielen konnte. Rem Koolhaas nimmt mit dem Tragwerkskonzept der Kunsthalle in Rotterdam eine deutliche Gegenposition zu Nervi und Mies ein. Das Tragwerk ist nämlich als eine Art Collage oder Ansammlung von Ad-hoc-Lösungen formuliert. Für Koolhaas ist es zwar massgebend an der Erzeugung eines bestimmten Raumeindrucks beteiligt, die Dimensionierung der Tragstruktur hängt aber kaum von den verwendeten Materialien der einzelnen tragenden Elemente ab. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass es sich genau umgekehrt verhält. Koolhaas hat eine genaue formale
| vgl. Flury 2012, S.50 f. | In diesem Zusammenhang äusserte sich Mies folgendermassen: „Jedes Material, gleichgültig ob natürliches oder künstliches, besitzt besondere Eigenschaften, die man kennen muss um mit ihnen arbeiten zu können. (...) Entscheidend ist der richtige Umgang mit ihnen. Jeder Stoff ist nur das wert, was man aus ihm zu machen versteht.“ In: Blaser 1991, S.50 52 53
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Vorstellung davon, wie der fertige Raum aussehen soll und welchen Eindruck er zu vermitteln hat. Dazu entwickelte er in enger Zusammenarbeit mit Balmond ein Tragwerk, welches diesen Eindruck im besten Fall noch zu verstärken weiss. Die genaue Konstruktion des Tragwerks scheint für ihn also eher von untergeordneter Bedeutung zu sein. Man kann auch sagen, dass sich diese Art der Tragwerkskonzeption einfach besser dazu eignet, seine architektonischen Absichten auszudrücken. Bei Piano/Rogers ist der Sachverhalt noch einmal etwas different. Er deckt sich allerdings doch eher mit Koolhaas als mit Nervi und Mies. Das „Umstülpen“ beim Centre Pompidou kann dabei als funktional begründetes, architektonisches Entwurfskonzept angesehen werden. Dieses Konzept erfordert eine ganz spezifische Tragstruktur, welche diese hohen Anforderungen erfüllen kann. Die Ingenieure Peter Rice und Tom Barker verfolgten dabei die Absicht, die Tragstruktur genau den Bedürfnissen entsprechend einzusetzen. Die Technik wird so zu einem dem Menschen dienenden Element. Normierte und alltägliche Produkte wurden gemieden, an deren Stelle trat eine „virtuose Ausnutzung der Baustoffe“54, welche beispielsweise im gusseisernen Formteil der „Gerberette“ gipfelte.55 3 | Wirkung
| Flury 2012, S.49 | Christian Penzel fasste dies in seinem Beitrag zum Buch „Kooperation“ von Aita Flury wie folgt treffend zusammen: „Gegenüber der Ordnung von Mies liegt die entscheidende Verschiebung nun darin, die Technik nicht mehr mit genuin architektonischen Mitteln zu repräsentieren, sondern die untransformierte Technologie möglichst unmittelbar zur Anschauung zu bringen.“ Aus: Flury 2012, S.49 56 | vgl. Flury 2012, S.42 54 55
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Bei den vier untersuchten Objekten ist die Wahrnehmbarkeit der Tragstruktur natürlich immer ein wichtiges und zentrales Thema des Entwurfs. Am stärksten und in einer fast didaktischen Art und Weise trifft dies wohl beim Centre Pompidou zu. Der mehrere Meter tiefe technische „Mantel“, welcher das ganze Gebäude umschliesst, offenbart ganz unmittelbar die nackte Technik, wie sie vom Menschen in der ihr zugedachten Funktion zum Einsatz gebracht wird. Da dabei jedes einzelne Bauteil eine ganz bestimmte Aufgabe zu erfüllen hat, lassen sich die Kräfteverläufe sehr genau nachvollziehen. Den Gedanken einer nackten, rohen und auf das Wesentliche reduzierten Tragstruktur verfolgt zweifellos auch Mies van der Rohe. Jedoch äussert sich dieses Bestreben bei der Neuen Nationalgalerie in einer ganz anderen Art als beim Centre Pompidou. Mies arbeitete bewusst mit einem industriellen Halbfabrikat, dem Doppel-T-Träger, und leitete aus dessen Regeln unter Anwendung eines ordnenden Rasters das Konzept einer Tragstruktur ab. Dabei kann man in einer gewissen Weise von der „formalen Aneignung eines Industrieprodukts“ sprechen, was folglich einer „Ästhetisierung der Technik“ entspricht.56 Gewisse Prämissen welche Mies verfolgte, können auch bei Nervi erkannt werden. So markiert auch bei ihm ein bestimmtes Material (Ferrozement) in einer bestimmten Anwendungsmethodik (Fertigbauweise) den Ausgangspunkt der Tragwerkskonzeption. Auch er verhält sich somit konträr zu Piano und Rogers, welche das Tragwerkssystem und dessen Materialisierung aus einer architektonisch-räumlichen Idee ableiteten. Hier erkennt man dafür einige Parallelen zu Rem Koolhaas. Auch dem Tragwerkskonzept der Kunsthalle scheinen in erster Linie
räumliche Ideen zugrunde zu liegen. Doch der Umgang mit diesen, im Prinzip vergleichbaren Fragestellungen, könnte bei Koolhaas und Piano/Rogers kaum unterschiedlicher sein. Koolhaas bricht, mit entscheidender Unterstützung seines Ingenieurs Cecil Balmond, aus einem starren Raster aus und verzichtet bewusst auf jegliche konstruktive Ordnung. Anstelle eines regelmässigen und geschlossenen Systems mit spezifisch ausformulierten und dimensionierten Bauteilen tritt eine Art Collage aus einzelnen Tragwerkselementen. Dies führt, ganz im Sinne von Koolhaas, dazu, dass die Logik des Tragsystems am fertigen Gebäude kaum noch ablesbar ist und so die räumliche Wirkung nicht mehr von einer konstruktiven Idee überlagert und dominiert wird.57 Ganz interessant ist auch der Vergleich von Innen- und Aussenwirkung dieser vier unterschiedlichen Tragstrukturen. Ganz allgemein kann festgehalten werden, dass wohl keines der Projekte explizit darauf ausgelegt wurde, eine bewusst „expressive“ Wirkung gegen Innen oder Aussen zu entfalten. Der Entscheid für ein bestimmtes Tragwerkskonzept sowie dessen konstruktive Ausprägung führt aber trotzdem dazu, dass die untersuchten Projekte ihre ausdrucksstarke Wirkung je nach dem eher innen- oder aussenräumlich entfalten. Das Paradebeispiel hierfür ist ganz offensichtlich das Centre Pompidou mit der regelrechten äusseren Zurschaustellung der Technik. Auch Mies‘ grundlegende konstruktive Idee des monumentalen und dabei doch fast schwebenden Daches tritt bei der Neuen Nationalgalerie primär nach aussen in Erscheinung. Durch den virtuosen Einsatz von nackten, rohen Betonstrukturen kann auch Pier Luigi Nervi bei vielen seiner Bauten ein grosser Wille zu einer einprägsamen Aussenwirkung seiner Tragwerkssysteme attestiert werden. Die untersuchte Ausstellungshalle in Turin bildet, im Gegensatz zu Nervis Stadien oder Hangars, daher eher eine Ausnahme. Da die Halle zwischen zwei anderen Hallen errichtet werden musste, ist sie nicht freistehend und weist keine eigentlichen Fassaden auf. Die Tragstruktur des leicht und transparent wirkenden Tonnendaches entfaltet ihre Wirkung deshalb primär im Innenraum der Halle. Bei Koolhaas schlussendlich spielt das Tragwerkskonzept im Aussenraum auf den ersten Blick praktisch keine Rolle. Nur vereinzelt und unzusammenhängend sind an einigen Stellen verschiedenartige Stützen und Träger zu sehen und die grossen Verglasungen offenbaren hie und da einen Blick auf Teile der innenliegenden Tragstruktur. Doch genau diese augenscheinliche Inkohärenz strebt Koolhaas an. Er verzichtet bewusst auf regelmässige Elemente in einer klar ersichtlichen konstruktiven Logik und bricht starre Systeme auf. Auf den ersten Blick würde man wohl behaupten, dass die Tragstrukturen seiner Projekte jeweils nur die formalen Ansprüche technisch ermöglichen müssen. Doch schon bald wird klar, dass Koolhaas das Tragwerk bewusst als ein Element einsetzt, welches seine räumlichen Ideen unter Umständen noch dramatisieren kann. So kann man also auch diesen Einsatz einer Tragstruktur ohne weiteres als „ausdrucksstark“ bezeichnen, auch wenn dies, oberflächlich gesehen, vielleicht nicht von Anfang an klar ersichtlich wird.
| Christian Penzel vergleicht diese Art der Tragwerkskonzeption mit der Manier des „Bricoleurs“, welcher Claude Levi-Strauss in seinem 1968 erschienenen Buch „Das wilde Denken“ als Gegenpart zum Ingenieur etablierte. vgl. Flury 2012, S.53
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Ableiten von Hypothesen Ergänzend zu den erfolgten Vergleichen der vier Objekte untereinander werden nun Hypothesen zum Thema der Kohärenz von Tragstruktur und architektonischem Ausdruck formuliert. Dadurch soll noch einmal eine neue Lesart der Thematik entwickelt werden, welche sich jedoch noch deutlicher als zuvor auf einer spekulativen Ebene befindet. Hypothese I - Herangehensweisen Der Vergleich der vier Objekte und ihrer Schöpfer offenbarte nicht nur eine Reihe von inhaltlichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Ganz deutlich zeichneten sich nämlich auch vier unterschiedlich geprägte Auffassungen von Architektur ab, welche sich beispielsweise in der Art der Herangehensweise an ein Projekt manifestieren. So können die Entwurfshaltungen der vier Exponenten grundsätzlich in zwei verschiedene Gruppen unterteilt werden. Von der Struktur zum Objekt > „strukturelle“ Herangehensweise - z.B. Pier Luigi Nervi > strukturell - materiell - z.B. Ludwig Mies van der Rohe > strukturell - seriell Vom Objekt zur Struktur > „formale“ Herangehensweise - z.B. Renzo Piano & Richard Rogers > formal - technisch - z.B. Rem Koolhaas/OMA > formal - konzeptionell Die thematische Verwandtschaft offenbart sich demnach bei Nervi und Mies über die Struktur, bei Piano/Rogers und Koolhaas dagegen eher über die Form. Dennoch demonstrieren auch innerhalb dieser Gruppen die Entwurfsabsichten noch eine gewisse Eigenständigkeit. So ist Nervis strukturell-materielle Herangehensweise stark von seinen eigenen materialtechnischen Innovationen geprägt, während Mies auf ein industrielles Halbfabrikat setzt und dieses in einer strukturell-seriellen Herangehensweise zur Anwendung bringt. Eine andere, eher von formalen Überlegungen geprägte, architektonische Herangehensweise zeigt sich bei Piano/Rogers sowie bei Koolhaas. So dominiert bei seiner Kunsthalle ein formal-konzeptioneller Gedanke, welchem alles, auch das Tragwerkskonzept, untergeordnet zu sein scheint. Damit unterscheidet sich diese Herangehensweise von jener des Centre Pompidous, welche eher als formal-technisch bezeichnet werden kann. Die Entwurfshaltung scheint bei beiden Objekten ihren Ursprung in räumlich-volumetrischen Konzepten zu haben, welchen erst in einem zweiten Schritt ein Tragwerksprinzip einverleibt wurde. Dies bedeutet aber nicht, dass diese Prozesse zwangsläufig voneinander entkoppelt verliefen. Vielmehr ist es von Interesse, welche Idee dem Entwurf zugrunde lag, eher eine „strukturelle“ oder doch eher eine „formale“. 34 28
Hypothese II - Ablesbarkeit des Kräfteflusses Es lässt sich aber auch noch eine weitere Hypothese formulieren, welche einen anderen Bereich der Kohärenz von Tragstruktur und architektonischem Ausdruck beleuchtet. Im Umgang mit der Frage nach einer „Ablesbarkeit des Kräfteflusses“ sind zwischen den vier Objekten nämlich ganz unterschiedliche Haltungen auszumachen. Diese lassen sich grob gesagt in zwei Hauptgruppen unterteilen. Ablesbarkeit des Kräfteflusses wird angestrebt - z.B. Pier Luigi Nervi > Serie des gleichen Bauteils - z.B. Renzo Piano & Richard Rogers > Individualisierte Bauteile Ablesbarkeit des Kräfteflusses wird verschleiert - z.B. Ludwig Mies van der Rohe > Abstraktion - z.B. Rem Koolhaas/OMA > Collage / Assemblage Allerdings sind auch innerhalb dieser beiden Gruppen, ähnlich wie schon bei der ersten Hypothese, gewisse Unterschiede zwischen den einzelnen Interpretationen auszumachen. So ist beispielsweise sowohl bei Nervi als auch bei Piano/Rogers das Bestreben nach einer Ablesbarkeit des Kräfteflusses deutlich spürbar, thematisiert wird es anschliessend jedoch ganz unterschiedlich. Nervi ermöglicht diese Nachvollziehbarkeit durch einen seriellen Einsatz von statisch optimierten Einzelteilen aus Ferrozement. Insofern unterscheidet er sich dabei von Piano/Rogers, welche für das Centre Pompidou eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Bauteilen entwickelten. Diese sind in ihrer Form, Materialisierung und Dimension ausschliesslich auf ihre genau definierte Aufgabe im statischen System des Gebäudes ausgelegt. Somit entsteht eine direkte Ablesbarkeit des Kräfteflusses also eher aus dem Zusammenwirken von ganz verschiedenen Bauteilen. Als krasser Gegensatz zu diesem Bestreben kann die Kunsthalle von Rem Koolhaas angesehen werden. Aus vielen Quellen geht hervor, dass Koolhaas und Balmond ein Konzept verfolgten, welches genau diese Ablesbarkeit des Kräfteflusses verhindern wollte. So präsentieren sich die einzelnen, statisch wirksamen Elemente eher wie eine Collage: Einzeln sind sie zwar erkennbar und verständlich, als System ergeben sie jedoch kein zusammenhängendes Bild. Insofern unterscheidet sich Koolhaas‘ Haltung doch recht stark von jener von Mies van der Rohe. Trotzdem ist das statische Konzept der Neuen Nationalgalerie als ein „verschleiern“ der Kräfteflüsse interpretierbar. Zwar nicht als Ziel und absoluter Wille von Mies, welcher ja die Ablesbarkeit der tragenden Funktion grundsätzlich befürwortete, sondern mehr als Resultat einer maximalen Reduktion. Der Betrachter kann nämlich die genaue statische Wirkungsweise dieser kolossalen und doch fast schwebend scheinenden Scheibe des Daches nicht mehr ohne weiteres nachvollziehen.
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Konklusion: Resultate und Erkenntnisse Zusammenfassend lassen sich nun aufgrund der erfolgten Untersuchungen einige Erkenntnisse ableiten. Dabei ist entscheidend, dass die ausgewählten und analysierten Objekte lediglich als exemplarische Beispiele verstanden werden. Aus diesen wenigen Beispielen weitreichende oder gar allgemein gültige Erkenntnisse ableiten zu wollen, würde dem vielschichtigen Thema der „ausdrucksstarken Tragstrukturen“ in keiner Weise gerecht werden. In erster Linie fällt auf, wie unterschiedlich sich das Thema der Kohärenz zwischen Tragstruktur und architektonischer Erscheinung bei einem Gebäude thematisieren lässt. Nicht nur die diversen Beispiele aus der Architekturgeschichte, sondern auch die konkret untersuchten vier Objekte zeigten dies anschaulich. Mit ganz unterschiedlichen Mitteln schafften es die Architekten und Ingenieure, grundlegende Ideen der Tragwerkskonzeption wirksam in eine architektonische Erscheinung zu übersetzen. Dies gelingt ihnen aber nicht nur über die reine Konstruktion des Gebäudes, sondern auch durch die Kombination mit räumlichen Konzepten oder dem bewussten Einsatz verschiedener Materialien. So wird deutlich, dass die Art und Weise, wie man zu einer Kohärenz von Tragstruktur und architektonischer Erscheinung gelangen kann, ausserordentlich vielfältig sind. Davon zeugen nur schon die unterschiedlichen Entstehungsgeschichten der vier untersuchten Objekte. Eine durchaus entscheidende Rolle nimmt bei diesem Prozess offensichtlich das Verhältnis der Zusammenarbeit von Ingenieur und Architekt ein. Natürlich gibt es auch bei einer vollumfänglichen Kooperation von Architekt und Ingenieur als gleichwertige Partner keine Garantie auf den gewünschten Erfolg. Doch die analysierten Objekte zeigen, dass eine Bündelung der Kompetenzen die Chancen für die Genese von innovativen Tragwerkskonzepten mit eigenständigem architektonischem Ausdruck durchaus erhöhen kann. Die Untersuchung offenbart jedoch auch, dass die Art der Zusammenarbeit mit dem Ingenieur nur einer von vielen Faktoren ist, welcher die Kohärenz von Tragstruktur und architektonischem Ausdruck beeinflussen kann. In einem immer komplexer werdenden Umfeld muss der Architekt heute nämlich auch noch eine Vielzahl von weiteren Rahmenbedingungen beachten. Neben diversen ökonomischen Zwängen, wie Kostenvorgaben oder Zeitpläne, beeinflussen beispielsweise auch die immer höheren Anforderungen an die Haustechnik oder die Gebäudehülle den Entwurfsprozess. Im Gegensatz dazu gibt es aber auch immer wieder Faktoren, welche die Suche nach neuen Lösungen begünstigen. So kann der technische Fortschritt, beispielsweise mit der Entwicklung von neuen Materialien, durchaus interessante Impulse für neuartige Tragwerkskonzepte liefern. 30 36
Reflexion und Fazit Die Zusammenhänge zwischen Tragwerkskonzeption und architektonischer Erscheinung eines Gebäudes sind wie gesehen nicht nur sehr vielfältig, sondern teilweise auch sehr komplex nachzuvollziehen. Gerade der wichtige Blick zurück in die Architekturgeschichte ist oft mit vielen Unklarheiten verbunden. Die Genese der einzelnen Projekte kann auch mit zahlreichen Quellen nicht immer zweifelsfrei zurückverfolgt werden und bleibt letztlich nie frei von Interpretation und damit auch Spekulation. Dieser Tatsache gerecht zu werden, war von Beginn weg ein wichtiger Bestandteil des Konzepts dieser Arbeit. Somit erhebt die vorliegende Untersuchung weder einen Anspruch auf Vollständigkeit, noch kann oder will sie eine Anleitung dazu liefern, wie mit der Frage der Kohärenz zwischen Tragstruktur und architektonischem Ausdruck umgegangen werden soll. Vielmehr ist die Arbeit als eine Art „Sensibilisierung“ der Fachleute für dieses Thema gedacht. Somit richtet sie sich als Aufforderung an Architekten und Ingenieure, diesen wichtigen Entwurfsfaktor wieder vermehrt in ihre Arbeit miteinzubeziehen. Auch unter anspruchsvollen Rahmenbedingungen gilt es, diese Chance auf eine ausdrucksstarke Tragstruktur nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Die Erkenntnisse der Arbeit sind zwar vielfältig, äussern sich aber in erster Linie in einem persönlichen Erkenntnisgewinn des Autors respektive des Lesers. Begründet liegt dies wohl zu grossen Teilen in der umfangreichen Analysephase. Diese erforderte neben einer Auseinandersetzung mit der Architektur- und Ingenieurstradition auch die Suche nach aussagekräftigen Objekten, an welchen das Thema anschaulich gemacht werden konnte. Auch das Leben und Werk ihrer Schöpfer, den Architekten und Ingenieuren, spielte bei der Analyse eine wichtige Rolle. Wie man an den ausgewählten Objekten erkennt, weist jeder dieser Exponenten ganz eigenständige architektonische Ideen, Prinzipien und Entwurfshaltungen auf. Nicht zuletzt ist es wünschenswert, dass die Erkenntnisse dieser Arbeit den Leser auch zu eigenen, weiterführenden Gedankengängen ermuntern und Diskussionen anzuregen vermögen. Dabei begünstig ein mutiger und lustvoller Umgang mit dieser Thematik sicherlich auch unter schwierigen äusseren Bedingungen die Genese von gehaltvollen und innovativen Konzepten. 31
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Anhang / Quellenverzeichnis Biografien Pier Luigi Nervi 1891 1913 1915-19 1918-23 1920 1940 1946-61 1979
Geboren am 21. Juni in Sondrio, Italien Ingenieursdiplom in Bologna Pioniersoffizier in der italienischen Armee Mitarbeit bei der AG für Zementbauten in Florenz Gründung seines eigenen Büros in Rom Erfindung des Ferrozements Professur an der Universität Rom, Architekturfakultät Gestorben am 9. Januar in Rom
Ludwig Mies van der Rohe 1886 1899-02 1908-12 1913 1930-33 1938 1944 1969
Geboren am 27. März in Aachen Besuch der Gewerbeschule und Maurerlehre Mitarbeit bei Peter Behrens in Berlin Tätigkeit als selbständiger Architekt Direktor des Bauhauses in Dessau Auswanderung nach Chicago Amerikanische Staatsbürgerschaft Gestorben am 17. August in Chicago
Renzo Piano 1937 1958 1964 1965-68 1965-70 1971-77 1977-81 1981
Geboren am 14. September in Genua Beginn des Architekturstudiums in Florenz Architekturdiplom am Polytechnikum Mailand Dozent am Polytechnikum Mailand Mitarbeit bei Stanislaw Makowsky in London Büro mit Richard Rogers in London Büro mit Peter Rice in London Gründung seines eigenen Büros in Paris und Genua
Richard Rogers 1933 1953-59 1959 1960 1963-67 1970-77 1977 1991 32 38
Geboren am 23. Juli in Florenz Architekturstudium in London Fortsetzung des Studiums an der Yale University Bekanntschaft mit Norman Foster in Yale Mitglied der Architektengruppe Team 4 Büro mit Renzo Piano in London Gründung seines eigenen Büros in London Erhebung in den britischen Adelsstand
Rem Koolhaas 1944 1952-55 1965-68 1968-72 1972 1975 1995 2007
Geboren am 17. November in Rotterdam Aufenthalt in Indonesien Tätigkeit als Journalist und Drehbuchautor Architekturstudium in London Mitarbeit bei O.M. Ungers an der Cornell University Mitbegründer des Office for Metropolitan Architecture Professur an der Harvard University in Cambridge Mitglied im Rat der Weisen zur Zukunft Europas
Peter Rice 1935 1953 1956-77 1957-58 1977-81 1982 1992 1992
Geboren am 16. Juni in Dundalk, Irland Ingenieursstudium in London Mitarbeit bei Ove Arup + Partners Nachdiplomstudium am Imperial College London Büro mit Renzo Piano in London Gründung des Büros RFR mit Martin Francis und Ian Ritchie Goldmedaille des RIBA für sein Lebenswerk Gestorben am 25. Oktober in London
Cecil Balmond 1943 1961 1964 1966 1968 2000 2001-06 2010
Geboren in Sri Lanka Beginn des Ingenieursstudium an der Universität Colombo Studium an der Univerität Southhampton Studium am Imperial College London Mitarbeit bei Ove Arup + Partners Mitbegründer der AGU (Advanced Geometry Unit) Mitarbeit an diversen Serpentine - Pavillons Gründung des „Balmond Studio“ in London und Colombo 33
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Literaturverzeichnis Balmond, Cecil: „Informal“. München: Prestel, 2002 Baumberger, Christoph: „Tragwerkskonzeption und Raumgestaltung zum Verhältnis zwischen Architekt und Bauingenieur“. In: Flury, Aita (Hg.): „Kooperation. Zur Zusammenarbeit von Ingenieur und Architekt“. Basel: Birkhäuser 2012. Seiten 57-71 Blaser, Werner: „Mies van der Rohe“. Zürich: Artemis 1991 Flury, Aita: „Neugieriges Grenzgängertum“. In: Flury, Aita (Hg.): „Kooperation. Zur Zusammenarbeit von Ingenieur und Architekt“. Basel: Birkhäuser 2012. Seiten 9-16 Greco, Claudio / Wirz, Heinz (Hg.): „Pier Luigi Nervi - Von den ersten Patenten bis zur Ausstellungshalle in Turin 1917 - 1948“. Luzern: Quart 2008 Haberlik, Christina: „50 Klassiker Architektur des 20. Jahrhunderts“. Hildesheim: Gerstenberg 2008 Jäger, Joachim: „Neue Nationalgalerie Berlin“. Ostfildern: Cantz 2011 Jodidio, Philip: „Renzo Piano - die Poesie des Fliegens“. Köln: Taschen 2012 Koolhaas, Rem: „Die Entfaltung der Architektur“. In: Arch+, Ausgabe 117, 6/1993, Seite 22 ff. Koolhaas, Rem: „Kunsthalle Rotterdam“. In: Arch+, Ausgabe 117, 6/1993, Seite 50 ff. Nervi, Pier Luigi: “Neue Strukturen”, Stuttgart: Callway 1963 Penzel, Christian: „Die Kultur der Konstruktion - einige Beispiele der letzten 50 Jahre zu einer bemerkenswerten Entwicklung“. In: Flury, Aita (Hg.): „Kooperation. Zur Zusammenarbeit von Ingenieur und Architekt“. Basel: Birkhäuser 2012. Seiten 41-56 Scharfenorth, Heiner: „Die Architektur von Pier Luigi Nervi “. In: Architektur & Wohnen, 2/2011, http://www.awmagazin.de/artikel/diearchitektur-von-pier-luigi-nervi (13.01.2013) Rüegg, Arthur: „Starke Strukturen - Formen des Umgangs mit der Tragkonstruktion“. In: Werk, Bauen + Wohnen 5/2009, Seiten 4-9 Zimmerman, Claire: „Mies van der Rohe - Die Struktur des Raumes“. Köln: Taschen 2006 40 34
Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Greco et al. 2008, S.247 Abb. 2 Jäger 2011, S.107 Abb. 3 Jodidio 2012, S.8 Abb. 4 http://goo.gl/wriXE (15.01.2013) Alle weiteren Abbildungen/Grafiken wurden eigenständig erarbeitet. Weitere Quellen Zitat Titelseite
Werk, Bauen + Wohnen 5/2009, S.4
Biografie P.L. Nervi
Greco et al. 2008, S.13 ff.
Biografie L. Mies vdR
Blaser 1991, S.198 f.
Biografie R. Piano
Haberlik 2008, S.263
Biografie R. Rogers
Haberlik 2008, S.181
Biografie R. Koolhaas
Haberlik 2008, S.275
Biografie P. Rice
http://en.wikipedia.org/wiki/Peter_Rice (16.01.2013)
Biografie C. Balmond
http://en.wikipedia.org/wiki/Cecil_Balmond (16.01.2013) 35
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Gewรถlbe Strukturieren Eine Entwicklung in Raum und Zeit
Anthony Frank
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Gewรถlbe Strukturieren Eine Entwicklung in Raum und Zeit
Vertiefungsarbeit Herbstsemester 2012 Horw, 21.01.2012 Verfasser: Anthony Frank Dorf 40 6265 Roggliswil Dozenten: Oliver Dufner Natalie Plagaro Cowee
Lucerne of Applied Sciences and Arts Hochschule Luzern Technik Architektur
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Abstract Die vorliegende Vertiefungsarbeit befasst sich mit der Entwicklung der Gewölbe und ihrer strukturierenden Eigenschaften. Im Hauptteil kategorisiert die Studie unterschiedliche Gewölbetypen ihrer Wesenscharakter entsprechend in stereotome, diaphane und polygene Gewölbe. Zu den formgebenden Mechanismen von Gewölbe und Struktur zählen die statische Einflussnahme, raumprogrammatische Anforderungen, der raumcharakteristische Zweck und tektonischer Zustand. Die Studie stellt fest, dass im Unterschied zu Bauten aus der Gotik gegenüber heute eine Verschiebung von der statischen Disziplinierung zu raumprogrammatischen Prämissen erfolgt ist. Dabei bewahrheitet sich die von Viollet-le-Duc formulierte Aussage, dass Form nichts anderes als die Folge der zu erfüllenden Aufgabe ist. Abschliessend führt die Studie vor Augen, inwiefern Mechanismen und Prinzipien der Struktur, im Gewölbe und ihrer Glieder, Einheit geben.
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Fragestellung Eugène Viollet-le-Duc bezeichnet im Kapitel Stil, dass „die Form nichts anderes ist als die Folge der zu erfüllenden Aufgaben. Dieses generierende Prinzip besteht in der Verwendung der Materialien aufgrund ihrer Eigenschaften, bei dem die Mittel zu jeder Zeit sichtbar bleiben, so wie wir beim menschlichen Körper das Knochengerüst des Skeletts, den Ansatz der Muskeln, den Sitz der Organe unterscheiden können.“1 Dabei bezieht sich Viollet-le-Duc spezifisch auf die Gewölbekonstruktionen der gotischen Bauwerke, bei der sich die Struktur explizit aus der direkten Lastabtragung heraus bildet. Die Raumstruktur als sichtbarer Ausdruck der vertikalen Lasten bildet mit der Tragstruktur eine Einheit. Die räumliche Entfaltung war nur insoweit möglich wie es die zu tragende Struktur unter den Lasten erlaubte. Weite Stützen-/Wandabstände waren in der Zeit vor der Industrialisierung nur möglich, durch die Anwendung von Gewölbekonstruktionen. Durch die Einführung des Béton armé und ihrer Eigenschaft gleichermassen Zug- und Druckkräfte erstmals für flache Deckentragwerke zu nutzen, ist der Einsatz von Gewölbedecken im Hochbau regressiv. Dies ungeachtet einigen Rückgriffen der klassischen Moderne auf Gewölbesysteme (bspw. Louis Kahn, Kimbell Art Museum) oder in der Mutation von Gewölben als paraboloide Freiformschalen (bspw. Heinz Isler, Schalentragwerke). Dabei erwächst die Frage, ob der Gewölbebau den von Viollet-le-Duc selbst festgehaltenen Imperativ, dass die Form aus den Bauanforderungen resultiert, im zeitgenössischen Hochbau noch einzulösen vermag. Soll sich dies bewahrheiten, ist zu analysieren, innerhalb welcher Anforderungen und in welcher Ausprägung die Potentiale für den zeitgenössischen Gewölbebau im Hochbau existieren. Folglich stellt sich die Frage, ob die Raumstruktur sich wie in der Gotik primär aus den statischen Lastabtragungen bildet oder ob sie über andere Mechanismen determiniert wird. Innerhalb obiger Fragestellung und aus der Analyse resultiert die unten stehende Hypothese, die es im Haupt- und Schlussteil der Arbeit zu verifizieren gilt:
1 aus Düttmann 1993. S.24
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Im zeitgenössischen Gewölbebau hat sich die Raumstruktur durch den ingeniösen Fortschritt von den statischen Zwängen gelöst. Vielmehr folgt die Gewölbetypologie räumlichen Prämissen.
Um die Mechanismen im Gewölbebau zu ergründen, werden Charakteristiken einzelner Gewölbekonstruktionen anhand historischer Beispiele untersucht. Die Arbeit unternimmt den Versuch in der Analysephase historische Gewölbetypen und ihre zugehörige Raumstruktur in drei Typologien zu kategorisieren. Gegenstand der Untersuchungen ist das römische Tonnen- und Kreuzgewölbe, das gotische Kreuzrippen- oder Spitzbogengewölbe und in einer neuzeitlichen Interpretation des Gewölbes aus der klassischen Moderne. Innerhalb der Unterteilung wird der jeweilige Gewölbetyp unter verschiedenen Aspekten, wie Auswirkung der Gewölbetypologie auf Schnitt und Grundriss, analysiert. Dabei zielt die Untersuchung auf die Mechanismen ab, welchen von einem Gewölbetyp herführend, Auswirkung auf Raumstruktur und Wahrnehmung haben. In der Konklusion werden die verschiedenen Mechanismen herausgefiltert, welche zu der Raumstruktur führen. Durch die Erkenntnis aus der Analyse ist es möglich mittels einer Inversion aus den Prämissenansprüchen Rückschluss auf den anwendbaren Gewölbetyp zu erschliessen. Die Konklusion reflektiert Erkenntnisse aus dem Analyseteil; ergründet die Mechanismen; stellt die Aussage Viollet-le-Duc‘s und der Auswertung aus der Analyse gegenüber; verifiziert oder falsifiziert die eingeleitete Hypothese und rezitiert methodische Prinzipien, die in den aufgeführten Bauten zur strukturellen Einheit führten.
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Eingrenzung
Die Studie befasst sich explizit mit Gewölben, wie sie im Kapitel Begriffe definiert wird. Verwandte sphärische Deckengebilde wie Kraggewölbe, Kuppel oder dazugehörendem Penditiv, werden nicht behandelt. Erwähnung findet die Kuppel explizit in romanischen Sakralbauten, da die Kuppel in der Vierung für die Raumbildung konstruktiv unabdingbarer Abschluss war. Die Arbeit verschärft ihre Untersuchung auf Raumsequenzen, die sich aus mehreren zueinander bezogenen Jochintervallen herausbildet. Einräume oder Raumsequenzen, die von nur einer Einwölbung abgeschlossen werden, sind nicht Teil des Untersuchungsgegenstands. Dahin gehend sind Gebäude umfassende Freiformschalen, wie sie in jüngerer Zeit von Heinz Isler oder Eero Saarinen praktiziert wurden, nicht behandelt.2 Die Chronologie der Gewölbeentwicklung erfährt im Ausschluss der Stilepochen Barock, Manierismus, Klassizismus, Historismus einen Bruch. Der Entwicklungsrozess Römisch-Romanisch-Gotik-Moderne dient der Fokussierung und Relativierung formbildender Mechanismen, relevant zu Viollet-le-Duc‘s Aussage.
2 Die Vertiefungsarbeit verweist hier auf die nutzungsspezifische Problematik, die in der Anwendung von gesamtüberspannenden Freiformschalen resultiert. Colin Rowe begegnet in seinen Essays Neoklassizismus und moderne Architektur I & II die raumübergreifende Kuppel in der postmiesschen Architektur der Problematik darin, dass er den Nutzen in Gestalt von empirischer Kuppel über idealem Grundriss nur in Bauten mit aussergewöhnlichen Funktionsanforderungen sieht. (vgl. Schnoor, 1998, S. 147-148)
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Tektonisch beschränkt sich die Untersuchung auf gemauerte oder betonierte Gewölbe. Gezimmerte Gewölbe oder stählerne Konstruktionen bilden Tragwerke eigener Wirkungsweisen und sind dementsprechend gesondert zu betrachten. Da Mechanismen die vom Gewölbetyp geprägt sind, nur unschwer innerhalb eines gebauten Objekts kunsthistorisch erfasst sind und somit eine dem Leser konsistente Darstellung anhand eines „typischen“ Objekts verwehrt bleibt, bedient sich die Arbeit zur Vermittlung der Mechanismen in den Typologien stereotome / diaphane Gewölbe mehrerer Objekte als Anschauung. Diesbezüglich erhofft sich die Arbeit auch eine konsekutive Vermittlung wichtiger Metamorphosen innerhalb der Typologie. Der Feldversuch versteht sich mehr als ein Addendum der Vertiefungsarbeit und dient der Erkennung einer zusätzlichen methodischen Prinzipes, der aus Anforderungen zeitgenössischer Bauten zu erwachsen vermag.
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Begriffe Stereotom
Allg. Teil der Stereometrie, der die Durchschnitte der Oberflächen von Körpern behandelt, besonders den sogenannten Steinschnitt bei Gewölbekonstruktionen; spez. der Begriff Stereotomie ist ein entlehnter Begriff aus Kenneth Framptons Vortrag „Morphologie des Architektonischen“ an der ETH Zürich3; Frampton unterscheidet die Stereotomie „earthwork“ das im Massivbau gründet von der Tektonik „roofwork“ das im Filigranbau gründet.
Diaphan
Griech. diaphanes, zu: diaphaínesthai = durchscheinen; so beschaffen, dass etwas von Licht durchdrungen werden kann; kunsthistorisch ein von Hans Jantzen geprägter Begriff, der insbesondere die Charakteristika gotischer Kathedralen beschreibt.
Polygen
Biol. von einem Erbvorgang durch das Zusammenwirken mehrerer Gene bestimmt; Fachspr. vielfachen Ursprung habend, durch mehrfachen Ursprung hervorgerufen; spez. Gewölben die beiden Charakteristika des stereotomen und diaphanen zugrunde liegt
Die untenstehenden Begriffsdefnitionen entstammen wortgetreu dem Glossar aus der kunsthistorischen Publikation Das gotische Gewölbe.4
3 vgl. Deplazes 2009, S. 13 4 Aus Nussbaum 1999, S. 383-388
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Apsis
halbkreisförmiger oder polygonaler, überwölbter Raumabschluss
Arkade
auf Stützgliederen (Pfeilern oder Säulen) ruhender Bogen bzw. Folge solcher Bogenstellungen
Basis
ausladender, profilierter Fuss einer Säule, Pfeiler
Bündelpfeiler
rundum von Diensten umstandener Pfeiler
Busung
sphärische Bauchung der Gewölbekappen beim Kreuzgewölbe
Chor
im Mittelalter der für den Chorgesang und das Gebet der Geistlichen bestimmte Raumteil der Kirche; meist im Osten gelegen
Chorumgang
den Binnenchor umfassende Raumzone, meist in Fortsetzung der Seitenschiffe
Dienst
Stützglied für Archivolten und Gewölbeglieder, das an Pfeilern oder Wänden hochgeführt wird; die sehr unterschiedlichen Querschnitte können bisweilen auf stabartige Profile reduziert sein
Empore
galerieartige Einbau über Seitenschiffen oder Chorumgängen, auch im Westen über das Mittelschiff gespannt oder zwischen die Wände von Einsatzkapellen gespannt
Gebundenes System
Raumordnung einer Gewölbebasilika, in der einem quadratischen Mittelschiffjoch je zwei quadratische Seitenschiffe von halber Seitenlänge entsprechen
Gewölbe
einen Raum überdeckende, gekrümmte und gemauerte Fläche, die sich selbst trägt und zwischen Widerlager gespannt ist; in der Gotik zumeist durch Grate oder Rippen in mehrere Kappen geteilt; in konstruktiver Hinsicht ein gekrümmtes Flächentragwerk, das seine Lasten im wesentlichen über Druck abträgt
Kreuzgewölbe
Durchdringungsfigur zweier sich kreuzender Tonnengewölbe gleicher Höhe, die sich aus vier im Grundriss dreieckigen, in der Jochmitte zusammentreffenden Gewölbekappen zusammensetzt
Kreuzgratgewölbe
Kreuzgewölbe dessen Kappen mit scharfen Graten aneinanderstossen
Kreuzrippengewölbe Kreuzgewölbe, dessen Graten von Rippen unterfangen werden, die sich in der Jochmitte kreuzen Sechsteiliges Gewölbe Rippengewölbe, das sich aus Diagonalrippen und Tranversalrippe in der Jochmitte aufbaut; typisch für Bauten der Hochromanik und Frühgotik Tonnengewölbe
Gewölbe in Form eines liegenden Halb- oder Teilzylinders; als Querschnitt kommen neben dem Halbkreis auch Parabel, Zykloid, Spitz- und Segmentbogen vor
Grat
von zwei aneinandergrenzenden Gewölbekappen gebildete Kante
Gurtbogen
an den Jochgrenzen quer zur Längsachse eines Gewölbes gespannter Bogen, der die einzelnen Joche eines Schiffes trennt
Joch
auch Travée genannt, der einem Gewölbefeld entsprechende Raumteil; befindet sich als Raumkompartiment zwischen vier Pfeilern; mehrere aneinandergereihte Joche bilden ein Schiff; in der Antike der Achsabstand zwischen zwei Säulen
Kämpfer
im konstrutkiven Sinn der Punkt, an dem die Krümmung eines Bogens oder Gewölbes ansetzt; als Bauelement markiert der Kämpfer das Gelenk zwischen Stütz- und Bogenglied
Kapitell
ausladendes Kopfstück einer Stütze, Pfeilers, das formal zwischen dem Stützenschaft und der getragenen Last vermittelt
Kappe
u.a. Gewölbekappe, ein von Graten oder Rippen begrenztes Gewölbefeld
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Abb. 1. Bauelemente und Abmessungen am Kreuzgewölbe.
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Kappenfirst
Rückseite des Kappenscheitels auf dem Gewölberücken
Konche
halbrunde Apsis, z.B. in Chorumgang oder Querhaus
Kreuzkappe
eines der vier Gewölbefelder in einem Kreuzgewölbe
Kuffverband
Steinverband aus Schichten, die parallel zur Scheitellinie der Gewölbekappen verlaufen
Masswerk
Bauornament aus meist ungegenständlichen, geometrischen Stabwerk, das zur gitterhaften Gliederung von Fenstteröffnungen, geschlossenen Flächen und Gewölbekappen dient
Obergaden
der über die Seitenschiffe erhöhte, in einer Basilika durchfensterte Teil der Mittelschiffwand
Rippe
unter die gemauerte Schale eines Gewölbes gespannter Bogenschenkel, in Verbindung mit anderen Rippen zu den unterschiedlichsten Rippenfiguren kombiniert
Diagonalrippe
diagonal zur Längs- und Querachse eines Raumes verlaufende Rippe
Transversalrippe
quer zur Längsachse eines Raumes verlaufende Rippe
Schildbogen
Bogen, der ein Gewölbe von seinem Umfassungswänden absetzt
Schlussstein
Stein im Scheitel eines Bogens; beim Rippengewölbe Hauptknotenpunkt der Rippen im Gewölbescheitel
Stelzung
Überhöhung eines Bogens oder Gewölbes durch die Verlängerung der Vertikalen von Pfeiler oder Mauer über den Kämpfer hinaus bis zum Ansatz der Krümmung
Stich
Höhenunterschied zwischen dem Gewölbescheitel und dem Scheitel der das Gewölbe begrenzenden Bögen (Gurtbogen, Schildbogen); ein gerader Stich ist ein Stich mit geradlinig steigender oder fallender Scheitelhöhe; beim Bogenstich ist die Scheitellinie gekrümmt
Strebewerk
Konstruktion zur Aufnahme von Druck- und Schubkräften an der gotischen Basilika aus Strebepfeilern und Strebebogen bestehend
Trifiorium
Laufgang in der Mitteschiffwand einer Basilika unterhalb der Obergadenfenster; durch eine Arkatur zum Mittelschiff geöffnet
Vierung
Raumteil, der aus der Durchdringung von Langhaus und Querhaus entsteht
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1 Stereotome Gewölbe Entstehung
5 Zwar sind Decken aus echten Keilsteingewölben in Form flacher oder halbkreisförmiger Lehmziegeltonnen in der Lage grössere Spannweiten als sphärische Konstruktion bereits in Mesopotanien (5. Jhd. v. Chr.) bekannt, erst aber in römischer Zeit wurden echte Gewölbe als Raumabschluss stützenloser Räume eingesetzt. (vgl. Nussbaum 1999, S.9 / S. 321) 6 siehe hier S. 7 vgl. Nussbaum 1999, S. 10 8 ebd. S. 62-63 9 vgl. Düttmann 1993, S. 69-76 10 vgl. Nussbaum 1999, S. 14
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Als erstes abendländisches Volk waren es die Römer, die sich dem Gewölbe bedienten. Anlass Deckenabschlüsse mit gebogenen Flächen zu überspannen, lag vermutlich in der konstruktiven Notwendigkeit grosse Räume ohne dicht nebeneinanderstehende Säulen zu spannen.5 Da bei einem Gewölbe oder einer Kuppel nur Druckspannungen auftreten, sofern sie einer Stützlinie6 folgt, war es möglich, innerhalb der baukonstruktiven Kenntnisse und Ressourcen, stützenlose Räume zu gestalten. Durch die Kurvatur des Bogens ergab sich ein zweites Phänomen; indem neu die Raumhöhe eine feste Verbindung mit der Spannweite erfährt. Die Römer setzten für Zentralräume eine halbkugelige, aus Ringschichten gemauerte Kuppel ein, währenddessen man bei gerichteten Räumen die Halbkreistonne verwendete, die den Bogen in der Achse beliebig verändert. Grundform aller römischen Gewölbe wurde damit der Kreisbogen. Auf konstruktiver Seite ist die Herbeiführung des Gewölbes als neues Bauglied bekannt, jedoch gestaltet es sich schwierig andere Prämissen zu nennen, als die aus der statischen Erkenntnis und der Raumprogrammatik herbeigeführte Metamorphose der Raumstruktur. Für Vitruv waren es nebst praktischen Nutzen, raumklimatische Gründe, die zur Wahl von Gewölben führten und nicht zufällig ist von den Gewölben im Zusammenhang mit Bädern die Rede. So war es die spätrömische Thermenarchitektur, die zu einer ersten Transformation des Gewölbes herbeiführte; woraus in der Durchschneidung von zweier sich im rechten Winkel schneidender, halbzylindrischer Tonnen gleicher Grösse das Kreuzgewölbe sich herausbildete.7 Nach dem Zerfall des Römischen Reiches fehlte es den Baumeistern der karolingischen Zeit an Methoden, baulichen Mitteln und um Wissen die Gewölbe der Römer, insbesondere die des Kreuzgewölbes als tragendes Deckenfeld nachzubilden.8 Eingeschränkt durch die geringe Anzahl an qualitativ verfügbaren Hausteinen, wandten sich die romanischen Baumeister über die geometrische und empirische Formfindung von der römischen Stereometrie ab. Es galt nicht mehr ein stabiles und homogenes, jedoch starres Gewölbe auszubilden, wie es lange Zeit nur die Römer dank ihrer hohen Mörtelqualiät erreichten, sondern die Suche nach einer tektonischen Abhängigkeit des Materials und ihrer abzuleitenden Last. Daraus resultierte ein Gewölbe, das ohne Mörtel auf dem Gesetz der Elastizität beruht.9 Frühromanische Bauten setzten sich regional bedingt innerhalb der Baute aus verschiedenen Deckenträgern zusammen. Hauptschiffe wurden im Südwesteuropa mit Tonnengewölben eingedeckt und im nördlichen Raum häufig mit Flachdecken aus Holz.10 Indem die romanischen Baumeister begriffen, dass Tonnengewölbe einen kontinuierlichen Schub auf die Seitenwände ausübten, verzichteten sie den Gewölbetyp in Haupt- und Seitenschiffe weiter einzu-
setzen.11 Bereits seit karolingischer Zeit war das Rechteck ein Modul komplexer Raumplanungen. Da die klassische Durchdringungsfigur des römischen Kreuzgewölbes sich nicht auf querrechteckige Felder übertragen liess, durch die ungleichen Spannweiten und Scheitelhöhen, musste eine für die Gotik immanente Transformation des Gewölbetyps stattfinden. Die Abkehr von der Raumgeometrie des römischen Kreuzgewölbes, basierend auf der Durchschneidung zweier Halbkreise und ihrer damit entstehenden elliptischen Raumdiagonale, führte über die geometrische Empirie zu den Kreuzgewölben romanischer Prägung12, den Vorläufern des Kreuzrippengewölbes. Anfang des 11. Jahrhunderts schliesslich breitet sich die Raumkonzeption der ganzheitlich gewölbten Basilika, mit ihren verketteten und massstäblichen variierten Kreuzgewölbejochen in ganz Mitteleuropa aus, jedoch blieben die Spannweiten im Vergleich zur Gotik noch in geringem Ausmass.13 Raum- und Tragstruktur Die fünfschiffige Kirche in Saint-Sernin in Toulouse ist ein Bauwerk graecoromanischer Baukunst. Während der Hochromanik 1077 und 1119 erbaut, gilt sie als die grösste romanische Kirche Frankreichs. Die Kirche entspricht dem Bautyp einer dreischiffigen Emporenhalle14 mit Querhaus. Das Hauptschiff wird von einem Tonnengewölbe die von massiven Gurtbogen unterstützt wird überdeckt; die Baumeister der Kirche verzichteten auf das Überwölben des Hauptschiffs mit Kreuzgratgewölben. Dies in Betracht, dass zeitgleich der Ausbau des Speyrer Dom, ebenfalls einer der einflussreichsten Sakralbauten, die Überwölbung des Hauptschiffs mit Kreuzgratgewölben bereits vollzog und als Exempel zu manifestieren galt; oder regional naheliegender, das ebenfalls mit Kreuzgraten eingewölbte Hauptschiff der Klosterkirche in Vézelay. Unklar bleibt, ob die Hinwendung zum Tonnengewölbe auf den Erkenntnissen der Wölbungsproblematik beim Einsatz von Kreuzgratgewölben gründete oder durch raumgestalterische Prämissen begründet war. Exemplarisch für die früh- & hochromanischen Sakralbauten ist, dass der Gesamtbau sich aus einer Addition verschiedenster Gewölbetypen zusammensetzt. In Saint-Sernin finden wir bereits in den Seitenschiffen Jochabschlüsse aus Kreuzgratgewölben. Ein Abschluss, der sich allmählich von den Krypten auf Narthex, Kreuzgänge und Seitenschiffe ausgedehnt hatte. Der es aber in der Romanik, wenn es ihm gelang die Einwölbung im Hauptschiff einzugliedern, es im Hinblick geometrischer Komplexität eine Einwölbung des Chors und damit einer durchgängigen Einverleibung des Gesamtbaus verwehrt blieb. Der Einbezug römischen Formenrepertoires
Abb. 2. Axonmetrische Darstellung der Gewölbeuntersichten. Kirche Saint-Sernin.
11 vgl. Düttmann 1993, S. 76 12 Kreuzgewölbe mit geradem Stich, Bogenstich oder Bogenstich mit Busung 13 vgl. Düttmann 1993, S. 14-18 14 Gegenüber der vorherrschenden Bauweise ist die Kirche in Saint-Sernin keine Basilika, sondern eine Emporenhalle. Einerseits weist sie beidseitig echte Emporen auf, also erhöhte zugängliche Ebenen. Anderseits besitzt die Kirche keine für basiliken typischen Obergaden auf und gehört daher zur Typologie der Hallenkirchen.
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ist auch der Abschluss oberhalb der Vierung zu verstehen. Über der Vierung aus Quer- und Langhaus gebildetem Joch erhebt sich eine achteckige Kuppel über Trompen, die vom Viereck zum Achteck überleiten. In dem Sinne versteht sich auch die Etymologie des Wortes romanesque und ihrer Herleitung auf die römische Linguistik und der römischen Formensprache. Die Schubkräfte, die sich aus der Einwölbung mit Gewölben ergab, war den Römern bereits bekannt. Die romanischen Baumeister versuchten die Schubkräfte direkt in die Dienste, also Gurtbogen und Pfeilervorlagen abzuleiten. Ebenso verbreiterten sie die Aussenmauern und legten zwischen der äussern und inneren Mauern einen Holzbalken ein.15 Die statisch und konstruktiv günstigere Lösung, also die punktuelle und gezielte Ableitung der Schubkräfte ins aussen liegende Strebewerk zu führen wurde erst von den gotischen Baumeistern konsequent verfolgt. Die Baumeister der Kirche in Saint-Sernin lösten das Problem der Schubkräfte auf besondere Weise. Im Schnittbild erkennbar, verzichteten sie auf die übliche Belichtung über die Obergadenfenster. Das Widerlager der Tonnengewölbe schliesst unmittelbar an die Empore des Seitenschiffs an. Somit wirkt der Schub auf das erste Seitenschiff und nicht ausschliesslich auf die Aussenwand oberhalb des Hauptschiffs.
Abb. 3. Grundriss Saint-Sernin, 1120. Abb. 4. Längsschnitt durch Saint-Sernin Toulouse.
Abb. 5. Querschnitt Kirche St. Sernin.
Die Transformation zum Kreuzgratgewölbe Das im 11. Jhd. in der Romanik eingeführte Kreuzgratgewölbe geht aus der Weiterentwicklung des römischen Kreuzgewölbes hervor. Durch die Durchschneidung zweier Halbkreise bildet das römische Kreuzgewölbe in ihren Diagonalen, den Graten, eine Halbellipse. Aus Sicht einzelner Kunsthistoriker16 war es ein Wandel in der Bautechnik die zur Abkehr des Kreuzgewölbes führte und damit später den Weg ebnete für das Kreuzrippengewölbe. Ergaben sich beim römischen Gewölbe die Grate durch die Berührung der Schalbretter der rechtwinkligen Tonnenfelder, erfolgte in der Romanik die Konstruktion über Lehrbögen, mangels geometrischen Kenntnissen17, zu einer halbzylindrischen Form der Grate. Einer weiteren Erklärung findet Nussbaum im Bestreben der Baumeister, einer zu starken Setzung des Gewölbescheitels beim Ausschalen entgegenzuwirken. Da nun der Radius der Halbzylinder der Diagonalen grösser als die der Gurtbogen war, kam der Schlussstein im Gewölbescheitel höher zu liegen. So wandelte sich im Längsschnitt der horizontale Grat der römischen Konstruktion bei Addierung der Joche zu einer Kurvatur der Scheitellinie. Ebenfalls trug das Ansteigen des Stichs zu einer Stabilisierung im Kreuzgewölbe bei. Die Abwandlung führte alsbald bei den Graten zu Spitzbögen mit elliptisch gebogenen Schenkeln. Anfänglich hatten die Kreuzgratgewölbe einen geraden
15 vgl. Düttmann 1993, S. 74 16 vgl. Müller 1990, S.140 17 Gemäss Viollet-le-Duc blieb es den Baumeistern der Romanik verwehrt die halbelliptische Diagonale konstruktiv genau zu ermitteln und aufzuzeichnen. (vgl. Düttmann 1993, S. 77)
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Abb. 6. Kreuzzylindisches römisches Kreuzgewölbe. Kratlinien unter Eigengewicht nach Barthel. Duchriss (1) im Bereich von Schildund Gurtbogen.
Stich. Die bautechnisch und raumwirksam ungünstige Abflachung zum Gewölbescheitel hin führte zur Modifikation des Kreuzgewölbes mit Bogenstich. Eine weitere Erscheinung ist das gebuste Kreuzgratgewölbe. Wohl eher aus gestalterischen Gründen führt die Modifikation zu einer sphärischen Blähung der Wölbflächen, sodass die Grate scharf hervortreten. Allen Modifikationen eigen ist, dass diese keine zwingenden Auswirkungen auf die Flächenfigur, das Quadrat hatten. Spätestens seit karolingischer Zeit war das Rechteck ein Modul komplexer Raumplanungen.18 Die Durchdringungsfigur des römischen Kreuzgewölbes führten im rechteckigen Joch zu ungleichen Spannweiten und Scheitelhöhen. Konstruktiv und formal konnte dies nicht befriedigen und wurde letztlich erst von den gotischen Baumeistern sinnfällig gelöst.19 Gibt man den Randbögen die gleiche Höhe und gleichmässige Kappenwölbung, weisen im Grundriss die Grate eine s-förmige Kurve auf. Um Gerade und damit bautechnische konstruierbare Grate zu erzeugen, transformierten die Baumeister die halbkreisförmigen Randbogen zu einem spitzbogigen Randbogen. So erlaubten die Spitzbögen über variable Brechungswinkel und Schenkelkrümmungen eine gleichbleibende Bogenhöhe bei wechselnden Bogenspannen und damit eine statische Vergünstigung des Gewölbebogens und Kappenfläche. Jedoch mahnt Nussbaum zur Vorsicht, wenn aus der Problematik mit Rechteckjochen, eine Vorstellung von einer kontinuierlichen Optimierung des romanischen Kreuzgratgewölbes zum gotischen Kreuzrippengewölbe hin führen sollte. Joche mit rechteckigem Grundriss blieben geografisch und zeitliche Ausnahmen.20 Daher liegen auch in Saint-Sernin die relativ flachen Kreuzgratgewölbe auf quadratisch oder annähernd quadratischem Grundriss in den Seitenschiffen auf und verzichten auf eine einheitliche Überwölbung der rechteckigen Joche im Mittelschiff. Raumgeometrien
18 vgl. Nussbaum 1999, S. 15 19 ebd. S. 16 20 ebd. S. 14-17
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Der Grundriss der Kirche von Saint-Sernin folgt dem Bautyp der Kreuzbasilika. Christliche Sakralbauten sind im Grundriss eine Transformation des antiken Profanbaus der basiliké stoá, der sogenannten Königshalle. Die dreischiffige Säulenhalle diente als Gerichtssitz oder als Markthalle der Antike. Die halbkreisförmige Apsis, einstiger Sitz des Richters oder Kaisers, umfasst im Christentum die Sitze des Klerus und des Altars. In Saint-Sernin ist dem Altar ein Chor vorgelagert und wird von einem Chorumgang umschlossen. Eine Kreuzbasilika entsteht durch das Einfügen eines Querhauses, gleicher Länge und Breite des Mittelschiffs, vor der Altartribüne. Ursprünglich nicht als Symbol für das Kreuz stehend, gewährte es der Liturgie mehr Platz neben dem Chorraum. Die Schaffung des Querhauses erzeugt eine räumliche Dynamik, die bevor das Mittelschiff vor der Altar-
nische endet, der Raum sich noch einmal grossartig erweitert und so die Bedeutung des Sanktuariums entscheidend hervorhebt.21 Raumwirkung Die Baumeister der karolingischen und romanischen Zeit verstanden die Verwendung von verschiedenen Wölbarten auf einem relativ unmittelbaren praktischen Nutzen. So sah man bei Jochen mit grossen Spannweiten wie Vierungen; aus der Grundrissform herführend komplexen Raumgeometrien, wie Apsiden; oder in Zentralräumen den Einsatz von Kuppeln, Halbkuppeln oder Klostergewölben vor. Dagegen fanden Kreuzgewölbe mit seinem Charakteristika der gleichförmigen Reihung gerade bei klassischen Wegräumen seine Verwendung. Absicht der Architekten war es im Kirchenbau ein höhengestaffeltes Nebeneinander von gerichteten und miteinander kommunizierenden Raumfluchten, den Schiffen herzustellen.22 Das Alternieren der Dimensionen in Höhe und Breite der einzelnen Schiffe rhythmisieren das Langhaus; die Einführung weiterer Kompartimente wie Querhaus, beide im engen Zusammenhang mit der Proportion der Apsis, vollenden den Bau in einer Vielfalt von Raumgeometrien. Führte zuvor der Deckenabschluss des Mittelschiffs als offener Dachstuhl oder als unterseitig geschlossen ausgeführte Holzdecke zu einem vis-à-vis der beiden Seitenschifffassaden, so fasst die stereotome Einwölbung als Tonnengewölbe oder aus Kreuzgratgewölben gebildeten Jochen die beiden Seitenschiffe zu einem homogenen Baukörper zusammen und steigert die Wahrnehmung des Mittelschiffskörpers. Nussbaum erklärt die Wandlung im Raumcharakter durch die Einführung der Kreuzgratgewölbe folgendermassen: Die Umbildung der flachgedeckten Basilika zur kreuzgewölbten bedeutet zugleich die Einführung additiver Prinzipien in die Entwurfspraxis. An die Stelle flächenbegrenzter Langräume traten Folgen gleichartiger, aneinandergereihter Raumintervalle, in denen das Kreuzgewölbe eine Doppelrolle spielt: Zum einen definiert es das Einzeljoch als bogengerahmte Raumzelle, zum anderen schafft es durch rhythmische Formwiederholung Verbindungen über die Intervallgrenzen hinweg und eint Räume divergierender Richtung. Langhäuser, Querhäuser, Chöre verbinden sich durch den Rapport allseitig offener Kompartimente zu einem motivisch harmonisierten Deckenpanorama.23 Der Kirche in Saint-Sernin gelingt es, trotz der drei unterschiedlichen Gewölbetypen, mittels der Betonung der massiven Gurtbögen den Rhythmus der Joche zu bewahren und ein harmonisierendes Deckenmotiv zu vollen-
Abb. 7. Kreuzgratgewölbe mit geradem Stich. Abb. 8. Kreuzgratgewölbe mit Bogenstich Abb. 9. Kreuzgratgewölbe mit Bogenstich und Busung
21 vgl. Wikipedia 2012, Basilika 22 vgl. Nussbaum 1999, S. 14 23 aus Nussbaum 1999, S. 14
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den. Gemäss Nussbaum sind es schliesslich die Gurte als eigentlichen Katalysatoren beim Zusammenwachsen von Gewölbeabschnitt und tragendem Unterbau zu einer gerahmten Raumzelle. Zu der homogenen Erscheinung trägt auch der weiche Farbkontrast zwischen den strukturierenden Rippen und den Füllflächen.24
Abb. 10. Mittelschiff der Kirche Saint-Sernin Isometrie eines Pfeilers in der
Die eng aufeinanderfolgenden Arkadenpfeiler stärken die Volumina des Mittelschiffs. Potenziert durch die im Vergleich zur Gotik massiven Pfeiler erschweren sie in der Reihung den Einblick in die Seitenschiffe. Das Licht vermag zwar über die Empore oder den seitlichen Altarnischen die Flächen im Mittelschiff ebenmässig zu erhellen; das Licht als Träger des Heiligen Geists vermag nicht die Permanenz aufzuweisen, wie sie in gotischen Kathedralen zugegen ist. Vereinzelt erstrahlt das Licht gezielte Stellen, wie es im Gadenlicht im südlichen Querhausarm gesehen werden kann. Durchbrüche für die Belichtung sind als klare Perforation der Aussenmauer lesbar. Noch versteht sich die Tragstruktur der Kirche in Saint-Sernin sowie die meisten hochromanischen Sakralbauten als stereotome Masse. Die in der Wahrnehmung gegenwärtigen Wandflächen im Langhaus lassen das Mittelschiff als raumeinschliessendes Gefäss erfahren. Tektonik
Abb. 11. Halbpfeiler, Spätromanik. Das Konstruktionssystem führt immer mehr Teile ein, um Homogenität durch Elastizität abzulösen.
24 vgl. Nussbaum 1999, S.19
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Das Gussmauerwerk Opus caementitium war essenziell für die römischen Gewölbe- und Kuppelbauten; der aus Kies, Schotter, Sand und gebranntem Kalkstein, mit Puzzolane als Zuschlagstoff gebunden ist.Beim Mauerwerksbau umschlossen die Römer den Kern aus Gussmauerwerk mit Schichten aus Ziegeln, Bruchsteinen oder behauenen Steinen. Die Kuppeln oder Kappen der Gewölbe selbst wurden aus Bögen aus Backsteinen oder Kopfsteinen verlegt; bei grösseren Bauten aus Beton gegossen, den man in Holzformen gestampft hatte. Mittelalterliche Gewölbe sind zumeist aus Bruchstein, Haustein oder Backstein. Im Gegensatz zur römisch weitläufigen Logistik mussten die Baumeister des Mittelalters sparsam mit Bruchsteinen aus den naheliegenden Steinbrüchen umgehen. Minderwertiges Material diente bei den Aussenmauern als Füllmaterial für die sie umschliessenden Hausteine. Beim Kreuzgewölbe sind die meisten Kreuzkappen auf Kuff gemauert, also parallel zur Scheitellinie. Durch den fest bindenden Mörtel waren die Gewölbe der Römer eine homogene und stabile Masse. Die Baumeister der Romanik mussten sich anderer Mittel bedienen, um die Stabilität ihrer Gewölbe zu halten. Behilflich sind Bogenkonstruktionen bei den Gurten aus zwei oder mehr Schichten, bei der die Last gezielter getragen wird und Spannungen dezimierter auftreten.25 Da Kreuzgratgewölbe nun elastisch ausgebildet werden, setzt sich der Pfeiler allmählich aus mehr und mehr
Teilen zusammen. Die Beibehaltung der Gurtbögen als Schalungsträger im Kreuzgratgewölbe bedeutete, dass der Grat nicht mehr wie beim Kreuzgewölbe auf die vordere Eckkante der Säule im Grundriss traf, sondern nun auf den rückspringenden Eckpunkt im Pfeiler lief.26 So wird begreifbar, dass jede Modifikation des Gewölbetyps notwendige Auswirkungen auf das tektonische Gefüge einnahm. Und nicht selten darauf eine Transformation der Gewölbekonstruktion, aus nicht vorhergesehenen Folgen der modifizierten Tektonik, resultierte. Metamorphose Gegenüber den christlichen Sakralbauten, die auf dem Raumkonzept der Saalkirche, der Hallenkirche, der Basilika oder dem Zentralbau basieren, bestand die Diokletiansthermen (298-305 n.Chr.) wie die meisten Kaiserbäder aus einem Rechteckbau mit einem symmetrisch angelegten Raumkonglomerat. Ein komplexes Raumprogramm der 376 m × 361 m grossen Therme regelte die Wechselbeziehungen der Bäder untereinander. Zur Mitte der Anlage befanden sich die Kaltbäder, sogenannte Frigidarien. Das Raumprogramm sah vor, die Wegachse des Natatio, einem grossen Freibad, zu den Wärmeräumen Caldarium & Tepidarium mit der Wegachse der grossen an den Stirnseiten befindlichen Aussenhöfe den Palaestra zu kreuzen. Demzufolge war das Kaltbad ein Weg- und Wandelraum. Daher erforderten die Durchgänge ein maximales öffnen der Wände in alle Richtungen und eine daraus notwendige Lastabtragung der Decken auf punktuelle Ecksäulen. Während in den Bädern aus raumklimatischer Sicht zumeist kuppelförmige Raumabschlüsse dem Tonnengewölbe vorgezogen wurden, musste in den Kaltbädern eine Konstruktion gefunden werden, welche eine ausreichende Belichtung und gegeben durch tiefe Anräume eine solche über Schildwände bewerkstelligen konnte. Die über drei Joche führenden Kreuzgewölbe erbrachten die Lösung zu dieser problematischen Aufgabenstellung. Die eigentlichen Frigidarien finden in den Nischen der Kreuzarmwinkel der Joche ihren Platz.27 So präsentiert sich das zur Jochfolge kombinierte Kreuzgewölbe als nach allen Seiten offene und anschlussfähige Form, die für seitlich belichtete Räume geradezu prädestiniert erscheint. Diesen Vorzügen liegt eine einzige Entwurfsidee zugrunde: das Parzellieren des Tonnengewölbes durch Quertonnen. Seine modulartigen, zum Rapport fähigen Eigenschaften gewinnt es durch die Entscheidung zur angeschnittenen, gleichsam unvollständigen Form. Seine Konzeption folgt nicht dem Wunsch nach einem repräsentativen, baldachinartigen Deckenmotiv, sondern der baupraktischen Forderung nach einer
Abb. 12. Maueraufbau aus Füllung und Blendmauer, verzahnt.
25 vgl. Düttmann 1993, S. 59, 70 26 ebd. S. 69-83 27 vgl. Nussbaum 1999, S. 10
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zweckdienlichen Form für einen klar definierten Raumtyp: den von Querachsen durchdrungenen Longitudinalbau mit über niedrigen Seitenräumen angesetzten Fenstern. Als adäquate Deckenlösung, nicht als apriorische Formentscheidung, sollte sich das Kreuzgewölbe schliesslich auch in den romanischen und gotischen Gewölbebasiliken gegen die anderen Gewölbeentwürfe römischer Prägung durchsetzen.28 Tektonisch erforderte die Thermen eine luft- und dampfundurchlässige Gewölbedecke als Raumabschluss, bei der sie in der Therme die Funktion als Wärmespeicher optimal auszunutzen wusste. Vitruv schlug vor die Gewölbedecken doppelt auszuführen um ein zirkulieren der Feuchtigkeit und Wärme stattfinden zu lassen und so das obere Dachwerk aus Holz nicht zu beschädigen.29 Im Vergleich zur romanischen Epoche scheint es den Römern gelungen zu sein, die Seitenjoche auch im querrechteckigen Feld einzusetzen. Die freie Entfaltung des Raumes im Grundriss und die Entmaterialisierung der stereotomen Masse nehmen bereits Wesenszüge der diaphanen Struktur vorweg. Indes bleibt aber die Metamorphose als nicht gänzlich abgeschlossen. Noch ist im Schnitt eine schlüssige statische und tektonische Kohärenz zwischen Gewölbe und Auflager, wie Viollet-le-Duc bemisst, nicht vorzufinden. Formrückgriffe auf den griechischen Säulenaufbau führen zu einem statisch ungünstigen Architrav und Kranzgesims über dem Kapitell. Im Grundriss verweilen trotz materiellen Fortschritt römischer gegenüber den mittelalterlichen Baukünsten weitere gliedernde Bauteile wie die Säulen zwischen den Kreuzarmen als solitäre, bisweilen überdimensionierte Massenträger.
Abb. 13. Vincenzo Scamozzi, Rekonstruktion der Diokletiansthermen 3.Jhd. v. Chr., gestochen von Mario Cartaro, 1580.
28 aus Nussbaum 1999, S. 11 29 vgl. Nussbaum 1999, S. 9
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2 Diaphane Gewölbe Kreuzrippengewölbe Das Kreuzrippengewölbe ist keine explizite Entwicklung, die einer Baumeistergruppe zugeordnet werden könnte. Wie voraus ersichtlich weist das Kreuzrippengewölbe eine diffizil erörterbare Entwicklung auf. Es wäre verfehlt die Entwicklung zum Kreuzrippengewölbe hin unmittelbar auf eine konsekutive Entwicklung aus einem konsequent geführten Baujournal, die auf den Erkenntnissen früher erstellter Werke beruhte zu simplifizieren. Eine Zerstreuung der einzelnen Steinmetzorganisationen und ein lange fehlendes Medium zur Verbreitung der bautechnischer Lösungen oder statischer Erkenntnisse liessen erfolgsversprechende Ansätze zur Lösung grosser Raumweiten mit Kreuzgewölben vor der Gotik nur örtlich und kurzphasig auftreten. Waren grossartige romanische Bauwerke vielfach eine Leistung klösterlicher Ordensgemeinschaften, so stellten sie meist in sich behütete Wissensgemeinden. Durch die landwirtschaftliche Kultivierung und die folgliche Ausbauung der Dienstwirtschaft wetteiferten die explosiv anwachsenden Städte zunehmend mit den säkularen Bauten des Klerus. Die im 12 Jhd. anhaltende fromme Ehrsamkeit für säkulare Bauten trug indes auch in Städten zur Ausbildung von Kathedralen als grossartigste Bauwerke. Als Inkunabel der einheitlich eingewölbten Kreuzrippenbasilika gilt die Gegend um Ile-de-France. Unter der territorialen Vormachtstellung des französischen Königs Ludwig IV versammelte sich die Bau- und Werkmeister der Normandie um später jene Bauten zu vollenden die der Gotik als dessen Territorialstil einverleiben sollten. Waren Kirchen in den Kronlanden bis Mitte des 12. Jhd mit flachgedeckten Mittelschiffen ausgeführt noch ganz in romanischer Tradition, wiesen sie doch Grundelemente der Gotik, wie eine Jochrahmung spitzbogig geformter Schlusssteine, einen deutlichen Stich der Querjoche zu Längsjoche und sorgfältig gehauenem und lagerhaft versetztem Werkstein als Glieder mit Schlussstein auf. Einen geografisch gesonderten Ansatz zu den Stilmerkmalen gotischer Bauten bildeten sich im frühen 12. Jhd. in der Kathedrale von Durham. Richtungsentscheidend für die Ile-de-France waren jedoch die Bauten an der Normandie. In St.-Étienne in Beauvais sind die Basen und Kapitelle zum ersten Mal den Jochdiagonalen hin ausgerichtet. Ein Bemühen, die Dienstbündel so zu drehen, dass sie den Tragelementen der Jochglieder zugeordnet sind. Die normannische Architektur nahm auch die Wölbeinteilung der sechsteiligen Rippengewölbe vorweg. Sie sollte später zum Standard für weit gespannte Hauptschiffgebäude werden. Doch noch sind nicht alle statischen Konsequenzen so profund umgesetzt, wie dies bei den Dienstbündeln der Fall war. So erweisen sich die Jahre zwischen 1100 und 1140 als Phase grosser Umwälzungen, die den Weg bereitete für die Baumeister der Kronlanden. Der Wille Pfeilerapparat und Gewölbebogen durch Formwiederholung und motivische Angleichung zu wiederholen wird zum ersten Mal in der Abteikirche St-Denis erkennbar. 66
Raum- und Tragstruktur Der variable, die Scheitelhöhen nivellierende Spitzbogen in der Abteikirche von Saint-Denis schafft es, die Probleme der Randbogenkonstruktion im querrechteckigen Kreuzgewölbe ein für alle Mal zu lösen und die Einwölbung als Einheit verstehen zu lassen. Alle konstruktiv verzichtbaren Aussenwandflächen transformieren sich in der 1140 eingeweihten Kirche zu Glasflächen, um den schweren romanischen Gliederstil durch das gotische leichte Steinskelett abzulösen. Dabei kommt der Ausbildung des Spitzbogens die wesentlichste Aufgabe zu. Stelzung und wechselnde Brechungswinkel kompensieren die unterschiedlichen Bogenspannweiten, sodass die Zentren der Bogenradien auf unterschiedlichen Basislinien liegen. Dadurch kann ein einheitlicher Bogenradius geführt werden, der es erlaubt wandernde Lehrbögen für die Konstruktion der Gewölbe bereitzustellen. Gestalterisch band es die unterschiedlichen Gewölbestrukturen zu einer uniformen Einheit zusammen. Der konsequente Einsatz des Spitzbogens erbrachte die nötige Flexibilität bei der Überbrückung aller durch den Grundriss vorgegebenen Raumweiten. Der Spitzbogen wird zum unverzichtbaren Modul für den komplexen Raumentwurf.30 In den Kirchen von Noyon und Sens ist die Wandlung von der Säule zum Bündelpfeiler gänzlich vollzogen. Jedes einzelne Pfeilerglied ist ausgerichtet auf die Geometrie des Gewölbes. Die in der Gotik stark ausgeprägten Rippen gehen nahtlos in die einzelnen Glieder der Pfeiler über. Die in der Romanik streng geometrischen Körper lösen sich in einzelne Kompartimente auf und bewirken im Grundriss eine Drehung des Gesamtpfeilers um 45° den Jochdiagonalen zu. Dies vollzieht sich auch in den Halbpfeilern an der Aussenwand. Sind bei romanischen Bauten Brüche und Unstimmigkeiten zwischen der nachträglichen Zwangsvereinigung von Wand und Gewölbe erkennbar, so wird in Sens der dreigeschossige Wandaufriss aus Arkaden, Triforium und Obergaden wesentlich durch das Gewölbe und seine Stützglieder geprägt. Der Stützenwechsel aus Doppelsäulen und Bündelpfeiler sorgt für die sinnfällige Vorbereitung aller Gewölbebögen durch Dienste. Einzelne, kräftige Dienstgruppen führen nahtlos und ununterbrochen die unteren Glieder der Bündelpfeiler fort. Sie treten über der Arkadenwand stark in Erscheinung und tragen zu einer rhythmisierenden Wandprofilierung bei, welche die einzelnen Arkaden untereinander auszeichnet. Dabei führt jeder Dienst die ihre zugetragene Gewölberippen fort. So entspricht die Profilierung der Dienste und Pfeiler im Ausdruck der zugetragenen Aufgabe der aufzufangende Rippenträger, der die Einheit der Funktion durch ein Angleichen der Form demonstriert.31
Abb. 14. Statik eines spitzbogigen Kreuzgrewölbes nach dem Falllinienmodell Mohrmanns. Graphische Annäherung an Barthels dreidimensionale Studien.
30 vgl. Nussbaum 1999, S. 47
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Abb. 15. Saint-Denis, Abteikirche, 1140. Querschnitt mit Strebewerk; Innenansicht mit Arkatur, Grundriss.
Abb. 16. Notre-Dame-de-Chartres, Kathedrale, 1194.
Abb. 17. Saint-Étienne in Bourges, Kathedrale, 1195.
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Es scheint als sei es den Baumeistern gelungen, jedes einzelne tragende Glied der Logik der Erdanziehungskraft unterzuordnen. Zunehmend wird das in den Aussenflächen augenscheinlich. Die Entmaterialisierung aller statisch unnötigen stereotomen Flächen erwirkt alsbald, dass der Steinverband als Membran taxiert werden kann, der Zwischenräume mit transparenten Flächen ausfüllt. Indes wird der Schub durch die Ausweitung der Spannweiten höher, sodass die Baumeister vollends vom Konzept der Verdickung der Wand abwenden und folglich die Kräfte auf der Aussenseite der Kathedralen ableiten zu versuchen. Das eingeführte Strebewerk transportiert den Kräftefluss sichtbar nach aussen und lässt die strukturelle Gliederung des Inneren erahnen. Die statische Auswirkung hatte wiederum eine Rückkoppelung auf das Raumprogramm zur Folge; wie bei der Kathedrale Notre-Dame wurden vermehrt die Nischen im Strebewerk zu innenräumlichen Kapellen umgebaut.32 Deutlich zutage tritt die Raumstruktur als Einheit im Grundriss auf. Chor und Apsis sind durch den Chorumgang erweitert, nehmen nun die gesamte Breite des Kirchenbaus auf. Der gotische Bau vereint so gesamträumlich den vom Klerus zugesprochenen Chor mit dem Laienschiff.33 Raumstrukturellen Abschluss findet die Kirche im Chorpolygon, das im Zentrum der Aspis ausgehend einen Gewölbefächer in Kreissegmenten aufspannt. Durch die Ausbildung mit Spitzbogengewölbe ist es nun möglich, vielfältige Polygone einzuwölben. Die räumliche Dynamisierung über das Querschiff, wie in romanischen Bauten entfällt in Kathedralen der Gotik wie Bourges und Notre-Dame zusehends. In Absicht einen Allraum zu schaffen. Einer für die Raumprägung wesentlichsten Unterschieds zu romanischen Bauten ist, dass es der gotischen Bauweise gelungen ist, die Raumstruktur mittels Addierung unterschiedlich beschaffener Joche in der Höhe und Proportion zu einer ganzheitlichen Raumsequenz des Gesamtraumes herzuleiten und dies innerhalb der gleichen strukturellen Systemsprache zu vollenden. Frühgotische Bauten wie St-Denis, Sens, Laon, Noyon beruhten auf dem Grundrisschema der Romanik; dem gebundenen System.34 Aus der fehlenden Beherrschung im Umgang mit querrechteckigen Gewölbefeldern führten die romanischen Architekten das Gebunde System ein, um durch die Addition zweier Seitenschiffjoche die Einwölbung des Mittelschiffjochs auf ein Quadrat festzuhalten. Die frühgotischen Baumeister bauten indessen auf dieser Tradition weiter. Das Gebundene System hatte zur Folge, dass die Pfeiler der Kreuzgrate stärker ausgebildet waren als die Pfeiler der Kappenscheitel. Die Jochintervalle wurden je nach Architekt unterschiedlich stark
Abb. 18. Sens, Kathedrale. Mittelschiffgewölbe mit sechsteiligem Gewölbe
31 ebd. S. 50 32 vgl. Deplazes 2009, S. 285 33 Die liturgische Trennung vollzog sich nun mit der Lettner, einer steinernen oder hölzernen Schranke vor dem Chor. 34 Das Gebundene System bezeichnet eine typische Raumgliederung in romanischen Basiliken. Die Räume in Haupt- und Seitenschiff stehen parallel zueinander. Ein oder zwei Quadrate bilden die Grösse des Jochs im Hauptschiff. Es herrscht ein linearer Raumeindruck vor. Das gebundene System beeinflusst auch den Schnitt. (vgl. Nussbaum 1999, S. 73)
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ausgebildet. Die Kathedrale von Sens, als Beispiel eines frühgotischen Bauwerks, beruht auf dem System der sechsteiligen Kreuzrippengewölbe als Gebundenes System. Die frühgotische Teilung der Kappen folgt in diesem Punkt der romanischen Bautraditon. Sens wird durch einen ausgeprägten Stützen- und Vorlagenwechsel im Doppelrhythmus unterstreicht. Durch die Kappenkurvatur und Profilierung der Gurte und Rippen unterstützen die Gewölbe die beabsichtigte Wirkung.35 Gegen Ende des 12. Jhd. kehrten die Baumeister von der Konzeption der sechsteiligen Rippengewölbe ab. Gründe dafür, könnten einerseits ein Bestreben sein die Arkadenpfeiler einheitlich auszubilden oder die allmähliche Erkenntnis, dass die Longitudinalkraft an den Ecken der Diagonalen bei einem sechsteiligen Rippenfeld die doppelte Kraft aufwies als dies bei den Kreuzgraten zweier querrechteckiger Felder gleicher Fläche der Fall war. Unmittelbare Auswirkung hatte das vierteilige Kreuzrippengewölbe auf den Raumeindruck. Die Fenster der Schildkappen können dank den offeneren Winkel einen besser beleuchtete und gleichmässigeren Lichteinfall gewähren.36
Abb. 19. Kräfteparallelogramm im vierteiligen und sechsteiligen Gewölbe nach Taylor und Mark. Im vierteiligen Gewölbe weisen die Schubkräfte auf die Pfeiler die Hälfte auf.
35 vgl. Nussbaum 1999, S. 69 36 ebd. S. 72-73 37 vgl. Wikipedia Gotik
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Mit den grossen Kathedralen Chartres (ab 1194), Reims (ab 1211) und Amiens (ab 1218) läutet die Hochgotik den klassischen Grundriss aus Basilika mit dreischiffigem Langhaus und ausladendem Querhaus, Doppelturmfassade sowie Chorumgang mit Kappelenkranz ein. Einen anderen Weg begeht die Kathedrale von Bourges mit ihrem fünfschiffigen Aufbau als Allraum, die auf dem Schema der Notré-Dame de Paris baut und neuartige Raumgestalt darstellt. Trotz ihrer Grösse vermochte sie gegenüber der Kathedrale von Chartres für kommende Bauten kein richtungsweisender Sakralbau zu werden. In der Hochgotik verschmelzen die Bündelpfeiler mit den Diensten und den Rippen vollends. Mit der Auflösung des Kapitells weicht die gotische Architektur nun endgültig von Formenrepertoire der antiken Baukunst ab. Es galt in der Hochgotik ebenso die in der Frühgotik auf vielfältige Weise praktizierten Detaillösungen allmählich zu normen, Grundtypen gegenüberzustellen die durch die steitige Verbesserung den stetig steigenden Anforderungen der grösser werdenden Kathedralen gerecht zu werden.37
Die tragende Rolle der Rippe Seit die Erkundung der gotischen Baukunst in architekturtheoretischen Schriften Einzug hielt, beschäftigt die Verfasser die Frage nach der statischen und konstruktiven Notwendigkeit der Rippe, welche die Gewölbekappen teilt. Von den Anfängen der Lehre des Renaissancearchitekten Philibert Del‘Orme über die Theoretiker des 19. Jhd., wie eben Viollet-le-Duc, gilt die Auffassung, dass die Rippen, sei dies bei den Gurtbögen wie insbesondere bei den Kreuzrippen, statische Lasten von den Gewölbekappen zu den Pfeilern weiterleiten. Mittels zeitgenössischer Berechnungsmodelle ist das Tragverhalten der Kreuzrippen wesentlich relativiert worden, wohin die Bogenstatik der Rippen eine zu der Schalenstatik der Kappen unabhängiges Tragsystem aufweist. Statisch sind die Gewölbekappen selbst in der Lage, eine gegenseitig sich aussteifende Wirkung zu erzielen und die Kräfte eigenhändig zu den Pfeilern weiterzuleiten.38 Weiter kann auch die vermeintlich konstruktive Notwendigkeit der Rippen als allgemeine Auflager für die Errichtung des Lehrgerüsts und der aufliegenden Kappen heute infrage gestellt werden. Wenn auch in einigen mittelalterlichen Bauwerken die konstruktive Komponente vorzufinden ist. Die Frage nach der statischen und/oder konstruktiven Relevanz der Rippen ist keine Irrelevante in kunsthistorischen Kreisen, da sie einhergeht mit der übergeordneten Frage, ob in der gestalterischen Ausprägung der gotischen Baukunst allein statische oder konstruktive Schlüsse zu der jeweiligen Form führten. War die gotische Struktur als rational kalkulierte, technisch versierte Konstruktion aufzufassen, oder eher als Veranschaulichung einer Baustatik, die von den Erbauern nicht wirklich ermittelt werden, sondern bestenfalls intuitiv nachvollzogen werden konnte. Folgte also die Form zwingend der Funktion, oder hatte sie im Rahmen eines funktionierenden Ganzen vor allem hinweisenden Charakter? Infolge dessen bildet die Frage nach der statischen Aufgabe der Rippe den Kern der Diskussion um Stilmittel und Formziel der Gotik schlechthin.39 Letztlich muss aber zur Vorsicht gemahnt werden, wenn der durch zeitgennösische Berechnungen beeinflusste Schluss nahe zu liegen kommt, dass die Rippe aus Sicht der gotischen Baumeister ausschliesslich gestalterisches oder raumprägendes Einsatzmittel sei und die Rippen von den Baumeistern keine tragende Funktion zugesprochen worden ist. Die einzig im Mittelalter vorzufindende Quelle aus der Kathedrale von Chartres benennt drei Fachleute, welche die statische Relevanz der Kreuzrippen fest bezeugen. Wenn auch hier angedeutet werden muss, dass die Überlieferung nicht auf andere zeitlich oder ausserregional entstandene Bauten rückschliessbar sei.40
Abb. 20. Sechsteiliges Kreuzrippengewölbe. Entwurf eines Gewölbes, zuerst in der Horizontalprojektion, dann in der Vertikalprojektion, die die Lage der steinernen Rippen festlegt.
Abb. 21. Isometrie eines sechsteiligen Kreuzrippengewölbes.
38 vgl. Nussbaum 1999, S. 60-67 39 ebd. S. 60 40 ebd. S. 63
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Abb. 22. Schematisches Bild der Spannungen in einem halbkreisfĂśrmigen Bogen.
Abb. 23. Konstruktion eines Bogens aus zwei Viertelkreisen mit jeweils versetztem Mittelpunkt. Anstelle des Schlussteins eine Fuge.
Abb. 24. Formveränderung des Rundbogens zum Spitzbogen hin.
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Herleitung von Raumgeometrien Spitzbogen - Die Baumeister erkannten das Gewölbe aus Spitzbögen statische Vorteile gegenüber Gewölben mit Rundbögen vorweisen. Die kräftige Ausbauchung im unteren Bereich des Rundbogens führt zu einer Zunahme der Horizontalkräfte an den Bogenschenkeln unter einem Winkel von 30° und bewirkt ein Abweichen der Stützlinie. Tektonische Auswirkung sind Bruchfugen in Gurtbogen und in der Kappenfläche. Da der Spitzbogen bei gleicher Spannweite einen höheren Scheitel aufzuweisen vermag als Rundbögen und dadurch zu einer Annäherung an die statisch günstigste Bogenform der Stützlinie folgte.41 Ein Bogen folgt der Stützlinie, wenn im Querschnitt auf der gesamten Strecke nur Druckkräfte auftreten. Schwieriger aufzunehmende Kräfte wie Biege-, Schub- und Torsionspannungen treten bei der Stützlinie nicht auf. Haben Bögen nur ihre Eigenkräfte zu tragen, so resultiert die Stützlinie aus der Form der Katenoide. Wird der Bogen zusätzlich durch eine Gleichstreckenlast belastest, so ist die Stützlinie eine quadratische Parabel. Der Spitzbogen hatte auch zur Folge, dass die Kräften der Gewölbefelder vertikal in die Stützglieder weitergeleitet werden konnte.42 Grundriss - Gemäss Viollet-le-Duc ist der Grundriss wesentlich durch die lastabtragenden Glieder beeinflusst. Frühgotische Baumeister entwarfen folglich Kirchen und Kathedralen von oben nach unten. Demnach sind es die Gewölbe, die an erster Stelle der Lastabtragung stehen, welche die Disposition der weiteren Bauteile im Grundriss bestimmen und als Generator der ganzen Struktur und damit der Symmetrie dient. Im Dictionnaire raisonné de l‘architecture bedient sich Viollet-le-Duc der Kirche Saint-Yved zu Braisne zur Veranschaulichung der Anordnung und Massabstände der Stützenpfeiler zueinander. Ausgangspunkt bildet die Vierung als quadratisches Joch im Schnittpunkt von Langhaus und Querhaus. Stützendimension und Pfeilerabstand resultieren gemäss heutigem Wissenstand aus empirischen Studien vorhergehender Bauten. Der geometrischen Konstruktionsaufbau anzufügen ist, dass gotische Massbezüge, seien dies im grossmassstäblichen beispielsweise in Stützenabständen oder selbst im Detail eines Pfeilerquerschnitts methodisch sich aus symmetrischen Zahlenverhältnissen herausbilden. Das Altertum bediente sich den für sie heiligen Zahlen 3, 4 und 7 oder ihrer Quadrate 9, 16 und 49, die untereinander nicht teilbar sind. Dies diente gemäss Viollet-leDuc dazu, Massbezüge dem Auge des Betrachters nicht erkennbar werden zu lassen. Die Diagonalen des angesprochenen Jochs sei hier 7 Klafter und 1 Fuss. Verlängert man die Diagonale um 4 Klafter, erhält man die anliegenden Joche in den Seitenschiffen, die ebenfalls über ein quadratisches
41 ebd. S. 35 42 Wikipedia Stützlinie
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Abb. 25. Grundriss der Kirche Saint-Yved zu Braisne. Sie veranschaulicht die vielfältigen Bezüge aller MAsse untereinander, die für Violletle-Duc ihr System der Symmetrie ausmachen.
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Ausmass verfügen und in diesem Falle an die Aussenwand schliessen. Die Projektion aus dem Joch in der Halle und der des Seitenschiffes ergeben die querrechteckigen Ausmasse der Mittelschiffjoche im Langhaus und derer im Querhaus. Apsis, Chor und die Kapitelle in den Seitenschiffen folgen aus weiter aufbauenden Überlegungen her.43 Schnitt - Wie der Grundriss, so leitet sich auch der Schnitt aus Proportionen heraus, die durch das Gewölbe und ihren statischen Geometrien gebildet ist. Kreis und Dreieck sind wichtige geometrische Formen für die gotische Architektur. Gemäss Viollet-le-Duc ist es das Dreieck, unter welchem antike, romanische und gotische Baumeister ihre Proportionsregeln aufgestellt haben, weil auf diese Weise die Proportionen den Gesetzen der Stabilität unterworfen sind.44 So trifft man im Schnittbild bei romanischen Bauten vielfach auf gleichschenklige Konstruktionsprinzipien, die auf den geometrischen Grundprinzipien römischer Gewölbebauten aufbauen. Die fünfschiffige Kirche in Saint-Sernin in Toulouse bildet einen solchen Querschnitt, der sich aus gleichseitigen und gleichschenkligen ableiten lässt. Obwohl graecoromanischer Herkunft wird sie von Viollet-le-Duc als die am nachhaltigsten und am lebendigsten von den Proportionssystemen der Griechen und Römer angedeihte Kirche angesehen. Horizontaler Ausgangspunkt ist der Sockel, der als Basis für die folgenden Dreiecke dient. Es lässt sich feststellen, dass die Basislinie in gotischen Bauten der Sockel etwa 1 Meter (3 Fuss) über den Boden endet, während dessen romanische Bauten eine Sockelhöhe von 65 cm (2 Fuss) aufweisen. Von der Innenkante des peripheren Wandpfeilers konstruierte man das gleichseitige Dreieck, dass die Gesamthöhe des Baus bestimmte, die Höhenlinie der Gesimse die der äusseren Schiffe und die Höhe der oberen Kapitelle des Hauptschiffs. Vom gleichen Punkt konstruierte man das gleichschenklige Dreieck zur Bestimmung der Höhe der Schlusssteine, der Bögen und den Abschluss der Kapitelle des Triforiums. Die Spitze eines anderen gleichseitigen Dreiecks, in welchem die Hypotenuse in den Mittelachsen der äusseren zweiten Schiffpfeilers zu enden kommt, liegt der Scheitelpunkt des Tonnengewölbes und Gurtbögen im Hauptschiff zugrunde. Geometrische Figuren aus 45° und 60° Winkel lassen sich auch in der Fassade oder in detaillierten Bauteilen vorfinden. Da Sakralbauten immer von innen nach aussen konstruiert sind, sind selbst die äusseren Konturen des Bauwerks in das System der Dreiecke hineingebettet.45 Indessen gingen die gotischen Baumeister hauptsächlich vom gleichseitigen Dreieck aus, wohl aus der Erkenntnis diese sei der Konstruktion für einen Spitzbogen gebildetem Gewölbe dienlicher.46 Jedoch finden sich auch
Abb. 26. Saint-Yved zu Braisne, 1180, Klosterkirche. Grundriss.
43 Eine weiterführende Massherleitung aus der Untersuchung Viollet-le-Duc‘s liefert Düttmann auf den Seiten 52 - 56. 44 vgl. Düttmann 1993, S.137 45 vgl. Düttmann 1993, S.142-143 46 Dazu sei auf die ausführliche Behandlung der ehemaligen Palastkapelle Saint-Chappele in Paris durch Viollet-le-Duc hingewiesen. (siehe Düttmann 1993, S. 146-148)
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Abb. 27. Halbierter Querschnitt der Kirche SaintSernin, Toulouse, 1077. Geometrische Ableitungen aus gleichseitigen und gleichschenkligen Dreiecken.
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bei Sakralbauten gotischer Herkunft gleichschenklige Dreieck47 und das aus der ägyptischen Ära stammende Dreieck wieder.48 So setzt sich der Grundriss und Schnitt gemäss Viollet-le-Duc aus einer Verhältnismässigkeit aus Fülle und Leere, zwischen Höhe und Breite, zwischen Fassade und Oberfläche zusammen. Eine Verhältnismässigkeit die sich der Geometrie, deren Anwendung grösste Aufmerksamkeit verlangt, ganz verpflichtet hat. Dabei ist die Architektur nicht Sklave eines hierarchischen Proportionssystems, sondern sie kann sich im Gegenteil immer wieder neu gebären, neue Anwendungsformen finden, andere Proportionen schaffen und so die Anwendungsmöglichkeiten der Geometrie unendlich variieren. Denn so Viollet-le-Duc; sind die Proportionen die Töchter der Geometrie, sowohl in der Architektur wie im Ordnungsgefüge der gesamten organischen und anorganischen Natur.
Abb. 28. Saint-Yved zu Braisne, 1180. Blick zum Chor.
Raumwirkung Es wäre verfehlt der gotischen Baukunst ausschliesslich konstruktive Entwurfsableitungen vorzutragen, die aus den Ursachen der Lastverteilung oder der Tektonik resultieren. Mittelalterliche Gewölbe liegen ebenso raumprogrammatischen Prämissen zugrunde, welche die Raumstruktur nicht minder prägen als Auswirkungen statischer Anforderungen. Bereits an den frühgotischen Bauten zeigt sich die Vielfalt der dem Rippengewölbe zugedachten Aufgaben. Galt es in St. Denis ein flexibles Bogenmodul zu entwerfen, das den ausfusionierenden Elementen gebauten Umgangschor einheitlich überwölbt, so steht in den Chören von Noyon und St.Germaindes-Prés und in den Mittelschiffen von Sens und Laon das Bemühen um die raumabschliessende Integration von Wand und Gewölbe im Zentrum.51 Die Frühgotik ist einer neuen Architekturauffassung die den gesamten Baukörper erfasst und durchformt. Die wesentlichen Metamorphosen vollziehen sich an der Mittelschiffwand. Viele der hier eingesetzten Bauformen entstammen der Romanik, doch sie werden nicht wahllos kompiliert, sondern zu einer neuen Formensprache verschmolzen, in der jede Einzelform die ihr zukommende Funktion ausfüllt und zugleich ausdrückt.52 Das rhythmisieren durch die stark raumeinschneidenden Glieder wie Dienste, Rippen und dergleichen unternimmt den Versuch, die Anatomie des Baus visuell zu erfassen. Wesentliches Merkmal gotischer Kathedralen sind ihre lichtdurchfluteten Räume. Diese geht aus der Liturgie hervor. Kirchen verstanden sich als gebaute Liturgie, die sich auf das Himmlische Jerusalem bezogen. Das Himmlische Jerusalem wird beschrieben als vom Gleisenden Licht erstrahlt. Die
47 Zu sehen im Schnittbild der Kathedar von Bourges. (siehe Düttmann 1993, S. 150-152) 48 Das ägyptische Dreieck ergibt sich aus der Vierteilung der Hypothenuse und einer folglichen zweieinhalbfachen Multiplizierung der Teile der mittleren Dreieckshöhe. 49 vgl. Düttmann 1993, S.136 50 Das Himmlisch Jerusalem geht aus der Offenbarung Johannes hervor, wonach am Ende der Apokalypse eine Stadt aus dem alten Himmel auf die alte Erde herabfahren soll. 51 vgl. Nussbaum 1999, S.16 52 ebd. S. 67-68
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Abb. 29. Notre-Dame de Noyon, Kathedrale, 1157. Südliche Querhauskonche.
53 ebd. S. 46 54 ebd. S. 53 55 Aus Nussbaum 1999, S.53 56 Diaphan bedeutet durchscheinend, durchsichtig (von griech. diaphainesthai, ”durchscheinen“). Das Wort wird auch für transparentes oder transluzentes Material verwendet, oder auch für vergängliche oder ephemere Erscheinungen. In der Kunstgeschichte wird „diaphan“ seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts verwendet um stark durchlichtete, vor allem Kirchenräume, zu beschreiben. Siehe hierzu; Jantzen H., Die Gotik des Abendlandes. DuMont, 1997
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Kirche St. Denis zeugt erstmals vom Bestreben alle statisch nicht wirksamen Aussenflächen durch Fenster zu ersetzen. Zweck der Entmaterialisierung der Bauglieder ist der grösstmögliche Gewinn an Fensterfläche. Die Komposition in Grundriss und Schnitt erzielt eine gleichmässige Lichtdurchflutung der Innenräume.53 Immanente Rolle kommt dem Kreuzrippengewölbe zuteil. Die Schildwände werden zu den Aussenseiten durch die steilen Spitzbogen aufgerissen und bieten Platz für immer grössere Fensterflächen. Die Kirche in Noyon geht soweit, dass sogar auf Schildbögen im Querhaus verzichtet wird, zugunsten segmentbogiger Fenster. Und die Gewölbekappe unmittelbar an den Flanken der Gewölbezunge abbricht. Grund für das Fehlen der Schildbögen ist, dass sie die grossflächige Entfaltung der Fenster im Kämpferansatz überschnitten hätten und somit zu einer Beeinträchtigung des Fensterlichts geführt hätte. Form und Grösse waren demzufolge vorrangig und das fächerartige Gewölbe erfüllt die Rolle der rahmenden Deckenform, generiert aus den Konturen des Fensterentwurfs.54 Das Kreuzrippengewölbe greift die Linearstruktur des Wandreliefs auf und schliesst den Raum als ein Schalentragwerk, dessen extreme Formbarkeit den Höhendrang der neuen Fenster erst ermöglicht.55 Die Harmonisierung aller Teile untereinander hatte ebenfalls den Zweck, den Kirchenbau als Kosmos wiederzugeben. Das Streben und letztlich auch das Erlangen nach Einheit im Bau unterscheidet die gotische Architektur von der romanischen Baukultur. Schönheit, Harmonie, Lichtdurchflutung, Geometrie, Proportion, Material und Farbe sind die Mittel dem Zustand des Kosmos näherzukommen. Die Auflösung der Wände, das zutage treten der Skelettstruktur hatte nicht nur das Ziel die statischen Glieder auf das Minimum zu reduzieren. Ziel war mittels der diaphanen Struktur auf metaphysischer Ebene einen ephemeren Zustand zu erreichen, um alles stereotome, irdische zu beseitigen und letztlich in der die Halle nur noch ein durch Licht geflutetes himmlisches Gebilde preiszugeben. Architektonisch wurde dies erreicht über die Addierung gestaffelter Raumschichten in Längsrichtung. Somit wiederfährt dem Laien im Mittelschiff eine Distanzierung von den mittelbaren Aussenwänden. Zu der Aufgliederung der Wände trägt das Triforium wesentlichen Beitrag, mehr als die funktionelle Eigenschaft als Laufgang, hat es zur Aufgabe die Wandfläche, die sich vor dem ursprünglichen Dachansatz befand, bauplastisch aufzubrechen und zu gliedern. Die vollständige Verglasung an der dreigeteilten Mittelschiffwand aus Arkade, Triforium und Empore vermittelt dem Betrachter den von Hans Jantzen eingeführten kunsthistorischen Begriff der diaphanen Struktur.56
Mit der Auflösung der Wände einer Ausdruckskraft einer durch vorgestellte Dienstbündel und eingestellten Gitterstrukturen wie Triforien, Emporenarkaden, verstabte Gruppenfenster musste das Gewölbe um die Harmonie einzuhalten, selbst eine Filigranität annehmen. Die Bogenprofile der Gewölbe sollten in eine konsequent abgestufte Rippenhierarchie eingebunden werden, um einer an der Wand entwickelnden Hierarchie der Dienste zu begegnen. So steigerte der Verzicht auf eine kuppelige Überhöhung der Gewölbe die monumentale Wirkung des in drei oder vier Geschossen modellierten Wandreliefs.57 Die gotische Architektur machte sich diesen Gewölbetyp zu eigen, um die in riesige Fensterflächen aufgelöste Schildwände ins Unermessliche wachsen zu lassen.58 Abschliessend musste eine neue Kurvatur des Gewölbes geschaffen werden, wie sie durch die Kombination zweischenklig gespitzter Randbögen mit halbrunden Diagonalrippen erzeugt werden konnte, welches die Fragilität einer dünnen Schale vorzuspielen wusste. Tektonik Romanische Baumeister liessen sich von geometrisch einfachen Formen leiten, die im Studium der Antike gründeten. Die Unstimmigkeit zwischen dem bereits weiterentwickelten Kreuzgratgewölbe und der darunter befindlichen Säule mit Würfelkapitel war bereits in der fortgeschrittenen Romanik augenfällig. Von einem Pfeiler kann daher erst gesprochen werden, wenn sie die Geometrie der abzuleitenden oberen Glieder nachvollzieht. So ist es unter Umständen möglich, bereits im Steinschnitt des Pfeilers Aussagen zu erbringen, wie sich die räumliche Struktur aufspannt. So wie die stereotome Struktur ihren Ausdruck über die tektonische Erscheinung generiert, so weist auch die diaphane Struktur der gotischen Bauten ihre innewohnende Tektonik auf. Die tektonische Raumsprache transformiert die in der Romanik flächige und homogene Wandgeometrie zu einer Komposition aus Skelett- und Füllstruktur. Innerhalb der Füllstruktur vollzieht sich der Wandel von der Steinfüllung zur gläsernen Wand. Die französischen Baumeister verzichteten zumeist auf eine Plastifizierung der Flächen durch eine aufgetragene Farbschicht. Die offen dargelegten Lagerfugen tragen zu der filigranen Struktur bei. Um ein Auseinanderdriften der Glieder zu verhindern, eint der Baldachin über eine flächige Einfärbung ihrer den Bau. Vermutlich ahnt der Leser, dass die auf vielfältige vermittelte Sinnigkeit in der strukturellen Gestalt, nicht unmittelbare Konsequenzen aus statischen Einflüssen generiert. Die vorgeführte Funktionslogik bleibt vorgespielt.
Abb. 30. Notre Dame d’Amiens, 1220, Kathedrale. Die serielle Produktion der Steinmetze führte zu filigranen Masswerken oder wie hier in der Vorfertigung des Tas-de-charges, aus Kämpferwerkstücken.
57 vgl. Düttmann 1993, S.42 58 vgl. Nussbaum 1999, S.34
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Nicht der Dienstbesatz der Pfeiler nimmt primär tektonischen Aufgaben, sondern der Pfeilerkern selber, die Wand hinter den Dienstbündeln und ihrem aussen vorgesetztem Strebewerk. Auch die Rippen verstehen sich in weisender Funktion, indem sie die Kappen parzellieren und ihre Kräfte visuell in die Pfeiler tragen. Trotz einer all gemeinen Zelebrierung der Skelettstruktur waren die Baumeister frei in der Wahl, welche Glieder sie verschieden stark zum Ausdruck brachten. Vor allem die gestalterische Einflussnahme der Gewölbejoche im Wandaufriss wurde verschieden bemessen. Während einerseits die Kirche in Sens die einzelnen Jocheinheiten der sechsteiligen Kreuzrippengewölbe untereinander über die Pfeilerdimension monumental differenziert und somit paarweise Arkaden zusammenbündelt; folgt die Kirche in Laon dem Bestreben die Pfeilereinheiten harmonisch zusammenzufassen, um die Reihung der Arkadengänge ins Unermessliche zu steigern.59 Abb. 31. Saint-Yved zu Braisne, 1180. Gewölbefelder in Langhaus und Seitenschiffe, durch Scheidbogen getrennt.
59 vgl. Nussbaum 1999, S.51
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3 Polygene Gewölbe Rückblende Das Kreuzrippengewölbe breitete sich in der Hoch- und Spätgotik auf ganz Westeuropa aus. Die Suche nach gestalterisch ausgeklügelten Deckenmotiven führte in den Deckengewölben zu einer immer höheren Figuration in Ticerongewölben, Liernengewölben, Schirmgewölben, Netzgewölben und verstrebten Hängegewölben. Zu beachten ist, dass selbst diese vermehrt aus der Formsuche generierten Gewölbe konstruktive Auswirkungen auf die auffangende Struktur besassen. Mit dem Ende der Gotik verlor auch das Spitzbogengewölbe in Sakralbauten an Bedeutung. Die Renaissance und nachfolgende Stile nahmen zwar die Bauform des Gewölbes auf, allerdings praktizierten die Architekten mit wiederentdeckten Formen der Antike. Unter diesem Aspekt verlor das Gewölbe ihre vorgebende Rolle auf die Tragstruktur; im Gegensatz zur Kuppel. Mit der Erfindung des béton armé im 19. Jhd. durch Joseph Monier war es alsbald möglich flache Decken für weit gespannte Raumweiten einzusetzen. Wo Kuppel und Gewölbe einst in Sakralbauten, wie auch in Profanbauten wichtige Bautypen darstellten, lokalisierten sie sich im 20. Jhd. nun vornehmlich in Industriebauten, wo sie ihre statischen Vorteile zur Geltung bringen konnten. Rückgriffe in der klassischen Moderne auf Gewölbekonstruktion sind nur vereinzelt festzuhalten. Aus dem Fundus greift die Studie einen Bau auf, bei dem der Architekt das Gewölbe in eine neuartige Struktur transformiert. Wesentlich bleibt die Frage, inwiefern moderne Gewölbe aus neuen Anforderungen erwachsen und ob die Erkenntnisse neue Mechanismen zu Tage fördern.
Abb. 32. Zykloid geformte Schalen mit Projektion der gleichmässigen Lichtverteilung über Aluminiumreflektoren.
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Kimbell Art Museum - Lous I. Kahn Raum- und Tragstruktur Das Dach des Kimbell Art Museum wird über sechs nebeneinanderliegend kreissegmentförmige Betongewölbe geformt, die auf einer Pfeilerkonstruktion zu liegen kommen. Nur an den Aussenwänden und an gezielten raumdefinierenden Stellen im Innenraum werden die Zwischenräume mit Travertinwänden ausgefüllt. Louis Kahn führt hiermit ein ungewöhnliches Tragsystem aus Stützen und longitudinal gerichteten Gewölbeschalen ein.60 Auflagerpunkt im Schnitt ist nicht mehr allein der tragende Pfeiler, sondern ebenfalls die Konsole. Vergleicht man die Tragkonstruktion mit dem gotischen Kreuzrippengewölbe, so erweist sich, dass eine Transformation der Gurtbogen von ihrer ursprünglichen Bogenform zu einem horizontalen Druck- und Zuggurt erfolgt ist. Die Schotten der Tonnenkonstruktion vereinigen sich mit den Pfeilersystemen gotischer Kreuzrippengewölbe. Wie die mittelalterlichen Baumeister versteht auch Kahn die Glieder des Baus als Einheit. Kahn bezieht sich auf die von Thomas Aquin zu erbringenden Kriterien des Schönen; Einheit, Vollkommenheit, Ebenmass und Klarheit. Kahn diszipliniert die Kriterien so weit, dass sie zusammen völlige Selbstvollkommenheit aufzuweisen haben, also die Unmöglichkeit ein Kriterium wegzulassen, ohne das Ganze zu zerstören. Nach Kahn bedeutet Klarheit so Einheit mit einer Zweckbestimmung. Die Unterscheidung von dienenden Räumen und bedienenden Räumen ist grundlegend für seine Architektur. Diese funktionale Unterscheidung ist auch im Kimbell Art Museum in der vertikale Wegerschliessung und den Nasszellen erkennbar, wo beide direkt unter der Bahn der Hohlkasten untergliedert sind.61 Das Kimbell Art Museum stellt laut Kenneth Frampton nicht nur in Bezug auf die einmalige Einführung einer neuen Formensprache in Kahns Oeuvre als Apotheose in Wort, sondern ebenso der stereotomische Unterbau, d.h. die Integration des Bauwerks in seine Umgebung. Frampton schliesst an, dass die gespaltene, artikulierte Tonnenschale zum Lichtspender wird, während der Unterbau an die Präsenz der Natur erinnert, einer stärker auf die Erde bezogene Metaphorik.62 Herleitung Typus Schnitt - Hervorgerufen durch die geringe Bauhöhe von 13m in der Gesetzgebung, ergibt sich in Kahns Oeuvre ein ungewöhnlich horizontales Bauwerk.63 Die Höhenstappelung ist dreigeteilt, didaktisches Fundament bildet das als solitär wahrnehmbarem Untergeschoss. Die Pfeilerreihung im Erdgeschoss ist Rahmen und Gliederung der Ausstellungsfläche zugleich.
Abb. 33. v. oben n. unten; Untergeschoss, Erdgeschoss, Deckenfeld, Querschnitt, Längsfassade.
60 Im Gegensatz zu den zeitgleichen Konstruktionen die deutlich ablesbares sekundäres Element sind oder den gestaltschaffenden Konstruktionen seiner Frühwerke. 61 vgl. Giugola 1984, S. 154-162 62 vgl. Frampton 1993, S.268 63 vgl. Gast 1999, S.144
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Abb. 34. Grundrissanalyse nach Klaus-Peter Gast des Kimbell Art Museum von der Anfangsfigur eines Doppelquadrats bis zur Endfigur.
Innerhalb des Grundrisses verdoppelt Kahn gewisse Flächen in der Höhe. Dort schliessen die Deckenstirne genau auf der Höhe der Gurtunterzüge an. Hier kommt die stereotome Masse der Tonnenschalen den Besuchern unmittelbar zur Geltung. Gewölbetyp - Durch sein Anliegen die Sammlung unter natürlichem Licht auszustellen, konzipierte Kahn zwei Arten von Tageslicht, das zenitale geführte „silberne Licht“ und das von den Innenhöfen ausgehende „grüne Licht“. Das Tonnengewölbe wird durch eine axiale durchgehende öffnung in zwei Schalensegmente geteilt. Perforierte Aluminiumreflektoren werfen das Licht auf die Innenwölbung der zykloid ausgeformten Betonschalen. Die innere Wölbung der jeweiligen Betonschale und der Reflektoren folgt auschliesslich den Prämissen der gleichmässigen Lichtverteilung.
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Grundriss - Gemäss der Untersuchung Klaus-Peter Gast, setzt sich Kahn bei seinen Bauten stark mit Proportionssystemen wie dem Goldenen Schnitt auseinander. Die Grundfläche des Museums bildet sich aus einem Doppelquadrat, bei welchen die Quadrate um das Mass x in sich geschoben sind. Die Überlagerungsbreite x ist zugleich das Sprungmass der Gewölbedecken. Die Differenz der sechs Gewölbeschotten ergibt aufgeteilt die zwischenliegenden hohlen Betonträger für die Technik, welche im Querschnitt gut erkennbar werden. Der Grundriss wird in der Länge statisch und räumlich dreigeteilt, Teillänge zu Breite entsprechen dem Verhältnis 1 : 1.618 des Goldenen Schnitts. Der Eingangsbereich wird gebildet durch das Rückspringen des mittleren Segments um die Hälfte der Schottenanzahl. In den Seitensegmenten werden die Lichthöfe mittig angelegt.65 Dienende Elemente sind im Rasterfeld der Träger untergebracht. Zeitlich gesehen gehört das Kimbell Art Museum, 1966 - 72, zu den Spätwerken L. Kahns, wo einfache Grundformen sein Werk erneut charakterisieren. Achsialsymmetrie, Urform und geschlossene Ganzheit der Körper bestimmten seine letzte Schaffensperiode.66 Struktur, Raum und Form sind beim Kimbell Art Museum als Ganzheit zu verstehen, die in ihrer Abfolge eine neue übergeordnete Einheit bilden. Die von Kahn angestrebte autonome Form erzielt eine Einheit und überwindet darin das Dogma der Moderne einer funktionalistisch entwickelten Gestalt. Bei Kahn bestimmt die Konstruktion den Raum mit ihrer Struktur. Dabei ist die Konstruktion raumbildendes Element.67
Abb. 35. Zwei Geschosse hohes Auditorium im Kimbell Art Museum.
Raumwirkung Räumliche Entfaltung - Kahn befreit im Kimbell Art Museum die darunterliegende Raumsequenz von ihrem bis anhin eindimensionaler Ausrichtung bei gleichzeitiger Verwendung im Typus des Tonnengewölbes. Durch die Einbindung von Pfeiler als Auflager der Schalen erreicht der Bau eine höhere Flexibilität. Allerdings misst Kahn, trotz dem nun scheinbar möglichen freien Raumgestaltung, dem Typus der Schottenstruktur die gleiche Relevanz für den Stützenraum zu. Die Räumlichkeiten im Erdgeschoss nehmen somit die Rasterung der Gewölbestruktur auf. Die im Raster eingliederte Raumkammern strukturieren den Stützenraum. Ziel ist die bewusste Wegführung der Besucher durch den offenen Grundriss zu den einzelnen Ausstellungsexponaten. Dass Kahn sich von der Eindimensionalität vom Tonnengewölbe löst, zeigt sich im Weiteren im Öffnungsverhalten des Eingangs. Gegenüber historischen Bauten mit Tonnengewölben führt der Hauptzugang nicht longitudinal ins Gebäude, sondern seitlich hinein; einerseits in der Mittelachse des Erdgeschosses und auf der gegenüberliegenden Seite in der Basis des Untergeschosses.
64 vgl. Giurgola 1984, S.83 vgl. 65 vgl. Gast 1998, S. 96 66 vgl. Gast 1999, S.12 67 vgl. Gast 1999, S.10
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Abb. 36. Früher Entwurf des Deckenfelds als Betonfaltdach und indirekteer Belichtung, Frühling 1967.
Kenneth Frampton deutet in seiner tektonischen Untersuchung Kahn und die neue Monumentalität wie das Dach des Museums ein Dilemma aus zweier sich widersprechenden Impulsen aufwirft: Kahns frühe Entwürfe für das Museum gehen aus diametralen Mechanismen hervor. Einerseits für den Museumsentwurf im Frühling 1967 welche ein industriell gefertigtes Faltwerk vorsah. Andererseits wähnt Kahn im Herbst des gleichen Jahres eine, aus Sicht des Auftraggebers zu Monumentales, Gewölbereihung das einen Radius von 12 Fuss entsprach und auf zwei Fuss hohen Balken auflag.68 In Aspekt beidem divergierender Willen, Ersterem ein aus dem konstruktiven Mechanismus entstandener Ausdruck und Letzterem ein vorderhand aus dem Willen der Formgebung der Raumgestalt bemühte sich Kahn, wohl unter dem Kriterium des Ebenmasses, mit der Einführung der zykloid geformten Schale beide Mechanismen die gleiche Gewichtung teilzukommen. Kahn entbindet die Tonnengewölbe von der steretomen Füllung der Aussenwand. Die Trennung wird auch longitudinal durchgeführt. In diesem Kunstgriff, der funktional für die Belichtung sorgt, gelingt es Kahn den äusseren Eindruck zu gewähren, das Tonnendach scheine über dem massiven Sockel zu gleiten. Im Inneren zeichnen sich die Konturen der Glasbänder durch den Lichtkontrast solider ab. Kahn war sich bewusst, dass das Einwölben der Galerie neu geschaffene Raumstimmungen hervorbringt: Durch die gewölbeartige Konstruktion entsteht ein Spiel von hohen Räumen mit einem Raum zwischen jedem Gewölbe, dessen Decke am Kämpfer angesetzt ist... Die Dimension des von oben kommenden Lichts ist ungeteilt, denn das Gewölbe lässt keine Teilung zu. Sogar wenn er getrennt ist, bleibt der Raum ein Raum. Man könnte sagen, dass das Wesen eines Raumes darin besteht, dass er immer den Anschein der Vollkommenheit hat.69 Tektonik Die im 19. Jhd. teils praktizierte Kappendecke kann als Vorgänger für das Verständnis die freie räumliche Entfaltung unter der Gewölbestruktur angesehen werden.
68 vgl. Frampton 1993, S. 268 69 aus Heidegger 1951, S. 79 wiedergegeben in Frampton 1993, S. 266
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Kahn teilt über Schattenfugen den Pfeiler in Basis, Schaft und Kapitell. Nimmt die Ausformung des gotischen Kapitells die Aufgabe als Auflager für die Gewölbeschalung, so verrät Kahn an den Aussenseiten die Form aus dem Nutzen des Dachwasserkanals. In der Materialisierung von Stütze und Aussenfläche differenziert Kahn in der Haptik von Struktur und Füllung; so Kahn:
Der Beton übernimmt die Funktion der Konstruktion, hält die Dinge aufrecht. Die Stützen sind voneinander getrennt. Der Zwischenraum muss gefüllt werden. Daher der Travertin... Travertin und Beton passen wunderbar zusammen, weil der Beton genommen werden muss wie er ist, welche Unregelmässigkeiten und Fehler beim Ausfugen auch zum Vorschein kommen. Travertin und Beton sind sehr ähnlich. Sie sind so beschaffen, dass sie so aussehen, als handle es sich um das gleiche Material. Dies wiederum macht den ganzen Bau einheitlich und trennt die Dinge nicht.70 So wählt Kahn zwei Materialien, die seiner Ansicht klar differenzierbare Wahrnehmungen wiedergeben, die aber durch die Materialverwandtheit eine Einheit nicht verschweigen.
Abb. 37. Seitenansicht der Schalen mit Spannkabeln und Oberlicht, Grundriss mit Spannkabeln und Oberlicht; Querschnitt des Schalenendbogens mit Glastrennung zwischen Endbogen und Wänden.
Abb. 38. Kimbell Art Museum. Eingangshalle EG, seitlicher Haupteingang.
70 aus Nell a.a.O., S. 44 wiedergegeben in Frampton 1993, S. 267
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Konstruktiv gesehen ist das Tonnendach keine Addierung von halbzylindrischen Gewölben, sondern eine durch den Lichtschlitz voneinander getrennte zykloid geformte Halbschale, die mit den Gurtbögen im Verbund gegossen sind; Kahns erstem Entwurf als Faltwerk ähnlicher. Auch wenn die Schalen über den Schlitz durch Zugbänder verbunden sind, um eine Tragwirkung in beiden Richtungen zu erbringen. Bautechnisch musste Ingenieur Auguste Kommendant die lichte Weite von 104 Fuss der Tonnenschalen durch Verstärkung der Unterzüge um den Lichtschlitz, der Verbreiterung der zykloiden Schale zur Basis, um das Giessen zu erleichtern, das Giessen der Zykloide als Zweitguss über den Unterzügen und das Nachspannen der Bewehrungskabel an den Enden vorsehen. All diese Eingriffe zielten auf das Verhindern einer Durchbiegung der Schalen.71
Abb. 39. Fleisher House in Pensylvannia, 1959. Entwurf.
Abb. 40. Kimbell Art Museum. Aussenansicht. Das äussere Gewölbe untersteht dem Frontzugang.
71 ebd., S.268-269 72 siehe Giugola 1984, S. 160
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Metamorphose Zwei Ein verwandtes Werk, das ebenfalls von Kahn entworfen wurde, aber in diesem Sinne Entwurf blieb, ist das für Robert H. Fleisher vorgesehene Haus im Jahre 1959 in Pensylvannia.72 Vergleicht man den Entwurf mit dem Kimbell Art Museum, so stellt man eine vertikale Inversion des Kimbell Art Museum fest. Die filigranen Glieder sind als Abschluss bestimmt und sitzen auf einem massiven Sockel. Formgebende Gestalt der bogenartigen Öffnungen hätte Kahn in der Tageslichtzufuhr gesehen. Dieser Entwurf greift entscheidend auf gegenwärtige Bauten vor, wie wir sie in der Tama Art Library von Toyo Ito sehen können.
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4 Konklusion Nun stellt sich die Frage, welche Schlüsse wir aus der Analyse historischer Bauten herausziehen können. Zu Anfang interessiert die Frage, inwiefern aus einer Aufgabe jene Mechanismen herausgefiltert werden, die unmittelbaren Einfluss auf die Architektur, also die Gestalt der einzelnen Glieder, hier spezifisch die Gewölbeform; die Struktur; die Tektonik usw. üben. Mechanismen Wie wir innerhalb der Untersuchung erkennen, führten in den aufgeführten Beispielen spezifische Mechanismen, die aus externen Anforderungen erwuchsen, zu einer Kristallisation eines jeweilig bestimmten Gewölbetyps. Zu den vorgefundenen Mechanismen zählen die Statik, die Raumprogrammatik, das Raumcharakteristikum sowie die Tektonik. Ob sie für sich alleine stehen oder summiert, gestalten sie doch wesentlich den Ausdruck der Gewölbe und die Struktur der Baute. Aus der Analyse wird erkennbar das Trag- und Raumstrukturen direkt aus den Mechanismen erwachsen. Die genannten Mechanismen sollen nicht als abschliessend aufgefasst werden, da die Typologie und die Struktur von Gewölben letztlich als Sequel vorausgegangenen Entwicklungen und Kontexte hervorgeht sowie an materielle und technische Ressourcen geknüpft ist. Jedoch ist das Gewölbe und ihre Raumstruktur direkte Abfolgen von statischen Einflüssen; raumprogrammatischen Anforderungen; dem aus dem Material vorgeworfenen konstruktiven Impetus und aus dem gestalterischen Willen hinzielende Raumcharakteristika. Wichtig erscheint, dass Parameter eines Mechanismus auf die zu erfüllenden Aufgaben durch den Architekten zu konkretisieren sind. Wie auch eine Steuerung des Mechanismus von Belang ist, um das Ziel erreichen zu wollen. Die Lehren aus den drei Teilen zeigen aber indes auf, dass innerhalb des gesteuerten Prozesses eines Mechanismus, neue Prozesse sich herausbilden, die vorderhand nicht einbezogen wurden. Diese Zweitprozesse wirken sich unmittelbar auf verwandte Mechanismen aus.
73 Indes kann ein reziproker Prozess mangels fundierten Erkenntnissen nicht ausgeschlossen werden.
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Als Beispiel hierfür sollen die Phasen in der Entwicklung vom Kreuzgewölbe hin zum Kreuzgratgewölbe abstrahiert werden: Ursprung bildete die verstärkte Bestrebung einen eruierbaren Schalungsvorgang für die untereinander verknüpften Jochintervalle zu entwickeln; durch die Erhöhung des Scheitels wurde ein baukonstruktiver Mechanismus in Gang gesetzt. Der seitens der Baumeisterschaft initiierte Prozess hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Gestalt der Gewölbekurvatur. Die Studie nimmt an, dass die statische Vergünstigung als Folgeerscheinung einer baukonstruktiven Mechanismus zu werten ist.73 Konstruktiv führte der gesteuerte Prozess
im ersten Schritt zu einem Gewölbe mit geradem Stich. Als Folge sicherlich nicht beabsichtigt war die Abflachung zum Scheitelpunkt hin und ihre ungünstige Auswirkung wiederum auf die Lehrgerüstform und die Raumgestalt. Die Baumeister sahen sich gezwungen einen erneuten Prozess zu forcieren, der letztlich zum Kreuzgratgewölbe mit Bogenstich führte. Wohl fand der hier beschriebene Prozess über mehrere Bauten statt. Allerdings führt die Einsicht in den Entwurfprozess Kahns beim Kimbell Art Museum vor, dass Prozesse auch mit grösseren Auswirkungen auf Gestalt und Ausdruck der Struktur durchaus innerhalb des Objektentwurfs vorkommen. In Anbetracht der im Laufe der Jahrhunderte kürzeren Projektphasen, kann es ratsam sein, in der Vorprojekt- und Projektphase gezielte Mechanismenstränge durchzuspielen, um ihre Auswirkungen auf Struktur und Ausdruck zu simulieren. Damit klärt sich, dass der Prozess zur Findung einer Struktur, ein Prozess darstellt; in dem die Mechanismen über ein iteratives Vorgehen erarbeitet werden müssen. Strukturtypen Die Studie hatte sich zur Aufgabe genommen, herauszufinden, inwiefern jeweilige Gewölbearten in ihrem Charakteristika auf die Gesamtstruktur Einfluss üben. Die Auswertung zeigte, dass spezifische Merkmale eines Gewölbetyps in enger Verbindung mit der darunterliegenden Struktur stehen. Folge dessen unternahm die Studie den Versuch die vom Gewölbe definierten Strukturen in unterschiedliche Typologien einzuteilen, um die enge Wechselbeziehung von Gewölbe und Struktur unmittelbar aufzuzeigen. Die Einteilung in stereotome, diaphane und polygene Gewölbe erwächst aus einer verallgemeinerten Differenzierung zwischen den verschiedenen Gewölbetypen und ihrer Auswirkung auf Struktur, Raumwirkung und Tektonik. Dass die Einteilung der Bauten in die verschiedenen Typologien mit der chronologischen Entwicklung kongruent fährt, ist weniger eine aussagenreiche Erkenntnis, denn vielmehr eine aus der Objektauswahl entstandene Ursache. Vereinfachen wir das stereotome Gewölbe auf den Typus des Tonnengewölbes, so erkennt man, dass die ihm zugehörigen kongruenten Auflager im Grundriss zwei Longituden bilden. Der statische Raum generiert sich darin aus zueinander gerichteten Scheiben. Demgegenüber erkennen wir im Pendant der Kreuzrippengewölbe als diaphanen Gewölbetyp die Aufla-
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ger aus zumeist vier Punkten. Formulierte man indes eine absolute Tragwerksstruktur, so fänden wir keine sekundäre Tragebene aus Pfeilern vor, denn die Erkenntnis der Parabellehre liesse nur das Gewölbe als Träger gelten. Betrachten wir nun die wichtigsten Raumcharakteristiken stereotomer Gewölbe, erscheint die Raumstruktur aus der stereotome Masse heraus geschält zu sein. Raumhaltige Einschlüsse und Perforation modellieren die stereotome Masse, sodass Raum und Öffnung entstehen. Die Räume sind als Abfolge von Raumsequenzen aus Raumgefässen erfahrbar.74 Stereotome Gewölbe und ihre Auflager zeugen von einer einfachen Formensprache, die Formen sind als Quader, Zylinder und Pyramide entschlüsselbar. Der Umgang mit stereotomen Raumstrukturen erfolgt mehr über eine skulpturale Formulierung, denn über eine Plastische.
Abb. 41. L. Kahn. Skizze für eine moderne Kathedrale, 1944
74 Auf den Begriff der Raumschachtel wird vermieden, wie in bspw. Leonardo Benevolo versteht, da er aus Sicht der Studie präziser für flachgedeckte Räume geltbar ist. Benevolo, Architektur 1+2, 1998, S. 292. 75 Die Bezeichnung PfeilerSphärenkonstruktion versteht sich nicht als architektursprachlichen Terminus. Als Analogon wäre demzufolge korrekter die Bezeichnung der diaphanen Struktur als Stützen-Plattenkonstruktion.
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Demgegenüber vermitteln Diaphane Gewölbe die Struktur eines Skeletts. Bei der Pfeilerstruktur kann weniger von einer Auflösung raumfassender Masse gesprochen werden, vielmehr ist die Struktur eine Addition ihrer Glieder. Strukturell ausgedrückt sind es Pfeiler-Sphärenkonstruktionen.75 Die primäre Raumstruktur ist ungerichtet. Über Abstand und Volumetrie der Glieder und über die Formulierung der Jochintervalle ist eine Rhythmisierung wie Hierarchisierung des Raumkontinuums möglich. Die statischen Kräfte finden sich im unmittelbaren Ausdruck der Glieder wieder. Ziel ist weniger den faktischen Kräftefluss wiederzugeben, sondern mehr dem von Ratio geleiteten Verstand Ausdruck zu geben. Die hinzielende Raumcharakteristika zum ephemeren Gebilde ist essenzieller Bestandteil diaphaner Strukturen; wie wir sie bei der Palastkapelle der Ste-Chapelle in Paris wahrnehmen können. Dabei ist die diaphane Struktur nicht an das stereotome Material gebunden. Kahn radikalisiert in einer seiner Skizzen die metaphysische Wirkung zu einem gläsernen Gefilde mit geschweissten Stahlrohr. Wobei in der Skizze für eine moderne Kathedrale zu hinterfragen ist, ob der ephemere Eindruck nicht ebenso beeinflusst wird durch die hintereinander divergierenden Raumschichten, welche sich in den gotischen Kathedralen in flüchtiger Metaphysik aus Licht und Schattenraum zu erkennen gibt. Bezüglich der angestrebten Raumwirkung weist das stereotome Gewölbe den Vorteil auf, dass durch die Handhabung der Mechanismen die Vermittlung einer irdischen Archaik konstruktiv umsetzbar erscheint, wonach bei dem diaphanen Gewölbe die Steigerung zum ephemeren Raum hin unbegrenzt erscheint. Beiden Strukturen gemein ist, dass ein direkter Ausblick nach aussen, nicht vorrangig oder durch indirekter, höhengestappelter und
zenitaler Öffnung umgangen wird. Die Erhaltung des metaphysischen Raumes, beim stereotomen Gewölbe in der Erdung und beim diaphanen Gewölbe im Ephemeren obliegt. Polygene Strukturen bilden sich aus Teilen aus diaphanen Strukturmerkmalen und aus Teilen stereotomer Strukturmerkmalen. Raumcharakteristika sind divergierend. Polygene Gewölbe bieten den Vorteil Wesensmerkmale beider zu subsumieren. In der richtigen Handhabung kann dies, wie beim Kimbell Art Museum geschehen, zu einer Potenzierung beider Charakteren führen. Das Arbeiten mit Gewölbekonstruktionen erfordert nicht nur bei polygenen Gewölben eine hohe Aufmerksamkeit an der Schnittstelle GewölbeAuflager, sondern ist auch bei diaphanen und stereotomen Gewölben von immanenter Bedeutung. Form als Folge Inwiefern deckt sich nun die Aussage Viollet-le-Duc‘s, dass die Form nichts anderes ist, als die Folge der zu erfüllenden Aufgaben ist, mit der Erkenntniss aus der Arbeit? Subsumieren wir den Aussagegehalt Viollet-le-Duc‘s in der deutschen Wiedergabe des Dictionnaire raisonné de l‘architecture, scheint es als führe er im Teil Konstruktion explizit den Mechanismus der aus statischen Zwängen resultiert als formbildend für Gewölbe und Unterglieder an. Die fundierte und methodisch konsekutive Vermittlung einer hier imperativen Korrelation zwischen Form und Lastabtragung; täuscht nicht darüber hinweg, dass es sich nebst der kunsthistorischen Relevanz um eine Streitschrift handelt. Wie in den analysierten Teilen ersichtlich, tragen ebenso in der Romanik und wider Viollet-le-Duc‘s Proklamation auch in der Gotik raumprogrammatischen Anforderungen und der Gestaltungswille des Ausführenden und Auftragenden zur Formbildung der Gewölbe bei. Rekognosziert man alle Kapitel der architekturtheoretischen Schrift, erfährt man das selbst Viollet-le-Duc andere Mechanismen für die Formbildung von Gewölbe und Unterbau dartut, wobei die Definition als Prämissen hier zutreffender ist. Die in der Schrift aufgeführten Prämissen sind Symmetrie begleitet von der Eurythmie, dem schönen Rhythmus, aus den Verhältnissen von Zahlen und Proportion aus den Relationen von Geometrien. Grenzen wir den Aussagegehalt auf das obige Zitat, so sind Aussage Duc‘s und Erkenntnis der Untersuchung deckungsgleich.
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Explizit der in der Analyse erforschte Umgang mit Gewölbekonstruktionen zeigt auf eindrückliche Weise, wie stark sich die Form aus Anforderungen generiert, ohne durch einen vordergründigen Formwillen modelliert zu werden. Vergleichen wir nun die in der Einleitung aufgestellte Hypothese; dass im zeitgenössischen Gewölbebau die Raumstruktur sich durch den ingeniösen Fortschritt von den statischen Zwängen gelöst hat und die Gewölbetypologie vielmehr räumlichen Prämissen folgt; vorderhand zutrifft, so müssen wir doch erkennen, dass bereits in vorindustriellen Stilen raumprogrammatischen Prämissen zum Repertoire des Architekten gehörten. Andererseits sind auch heutige Architekten an statische Mechaniken gebunden. Es fällt allerdings auf, dass wie wir bei Kahn‘s Kimbell Art Museum entdecken können, raumprogrammatische und daraus gehend belichtungstechnische Prämissen zur Formbildung der Gewölbe und letztendlich der Struktur beitrug. Der technische Fortschritt erlaubt offenbar Gewölbetypologien; die wäre die Gewölbeform ohne die Kenntnisse des vorgespannten Betons von statisch ungünstiger Form ereilt, sich nun über neue Prämissen definieren zu können. In Anbetracht Viollet-le-Duc‘s Aussage bedarf das Gewölbe und die darunterliegende Struktur einer Bildung durch Prämissen, seien dies statische, raumprogrammatische, tektonische oder andere funktionale Erfordernisse. Einheit Abschliessend interessiert die Studie, ob innerhalb der analysierten Bauten sich Zusammenhänge feststellen lassen. Dabei ergründet die Arbeit synchrone Kriterien jeweiliger Mechanismen. Rezitieren wir Viollet-le-Duc‘s literarisches Werk gesellen sich zu dem in der Einleitung gestellten Zitat zwei ebenso aufschlussreiche Aussagen: Stil ist das Sichtbarwerden eines Ideals auf der Grundlage eines Prinzips76 und ferner Stil ist die Konsequenz eines methodisch befolgten Prinzips. Demnach ist er so etwas wie eine geschenkte Form, eine Form, nach der man nicht gesucht hat. Jede gesuchte Stilart ist manieristisch. Manierismus altert, Stil jedoch niemals.77 76 aus Nussbaum 1993, S.18) 77 ebd. S.39)
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Verfolgen wir nun die Methoden mit denen die Prinzipien in der Romanik, der Gotik und im Kimbell Art Museum für die Formbildung angewandt
wurden; lässt es sich feststellen, dass Mechanismen die aus statischen, raumprogrammatischen Anforderungen erwachsen, nicht alleine autodidaktisch zur Form führen. Es bedarf ebenso Prinzipien architektonischen Gestaltungsprinzipien. Romanische und gotische Baumeister verliessen sich ebenso auf Prinzipien geometrischer Proportionssysteme und Zahlenverhältnissen. Vermutlich lagen diese im Studium der Antike und der Natur begründet, jedoch ausschliesslich aus den Naturgesetzen oder Kosmologie lassen sich die Parameter der Regeln nicht herleiten. Dabei ist die aus den statischen Mechanismen hervorgerufene Form nicht immer kongruent mit den methodisch befolgten Prinzipien und ferner der tatsächlichen Intention. Das Anliegen, zuweilen auch das Dilemma; Mechanismus, Prinzipes und Intention in eine Gestalt zu bringen und alle Glieder dieser Gestalten zu einer harmonischen Einheit zu führen, wird bei den mittelalterlichen Baumeistern, wie auch bei zeitgenössischen Architekten offensichtlich. So erkennen wir auch bei Kahn in den unterschiedlichen Entwürfen, die Auseinandersetzung zwischen Gestalt und Funktion. Daringehend deutet Kenneth Frampton das Pseudogewölbe als in vielerlei Hinsicht widerspiegelndes Dilemma und Bestreben des gräko-gotischen Ideals.78 Bemerkenswert bleibt, dass es den gotischen Baumeistern gelingt, die von der Makrostruktur wie Trag- und Raumstruktur ausgehende Ausdruckskraft ebenso diszipliniert ins Detail hereinfliessen zu lassen. Diese aus den Mechanismen herbeigeführte geschenkte Form ist in der Tat eine aus einer Methodik streng befolgten Prinzips.
Abb. 42. Grundriss von Pfeilern und Säulen in der Kirche Saint-Yved zu Braisne. Auch die Detailmasse bilden symmetrische Zahlenverhältnisse.
78 vgl. Frampton, 1993, S. 268 Frampton deutet hier den Widerspruch zwischen der griechisch entlehnten Auffassung; Form durch Eurythmie und der (pseudo)gotischen Auffassung; Form follows Function (siehe Ebd., Kapitel. Gräko-Gotik und Neugotik: Die anglofranzösischen Ursprünge der tektonischen Form)
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5 Feldversuch Nachfolgend möchte die Studie einen methodischen Vorgang aufgreifen, dass auf den Erkenntnissen aus der Vertiefungsarbeit, einer von der Hochschule initiiertem Begleitgespräch betreffend des Logbuchseintrags und dem im Fokusprojekt begegneten Entwurfsprozess fundiert. Ziel war eine für den Gewölbebau neuartige Entwurfsmethodik zu erörtern, in Anbetracht von Viollet-le-Ducs Aussage, das Stil die Konsequenz eines methodisch befolgten Prinzips sei. Die Studie erlaubt es sich, nur wesentliche Sachverhalte hierin zu eröffnen. Und versteht sich mehr als generische Wiedergabe.
Abb. 43. Analytische Durchdringung.
Ziel war ein Wohnhochhaus zu entwerfen, dass eine vielschichtige Raumsequenz in Grundriss und Schnitt wiederfährt. Der Autor dieser Studie unternahm den Versuch, über eine analytische Vorgehensweise die Prämissen für die Struktur des Wohnhochhauses zu definieren. Da aus der Vertiefungsarbeit erkennbar wird, das Gewölbetypen spezifische und differente Wesensmerkmale aufweisen, folgte der Schluss, dass der Einsatz verschiedener Deckentypologien zu einer Vervielfältigung der Raumcharakteristiken führt. Die analytische Vorgehensweise sieht vor, dass durch den gezielten Einsatz von verschiedenen Deckentypologien, polyvalente Raumwahrnehmungen im Wohnhochhaus stattfinden. Durch die Regulierung von Dimension, Ausmass und Form der Gewölbe können Raumsequenzen untereinander hierarchisiert und rhythmisiert werden. Das Szenario sieht vor, den Grundriss in Schotten zu parzellieren. In Analogie zum Kimbell Art Museum wird jede zweite Schotte der dienenden Raumsequenz zuteil. In Alternation mit der Schotte der bedienenden Raumsequenz. Die beiden Schottenräume werden über Ausmass und Deckentypologie voneinander differenziert. Die Einwölbung der längs gerichteten bedienenden Räume erfolgt über ein Tonnengewölbe. Die Eindeckung der dienenden Schotte entspricht einer konventionellen Deckentypologie. In der analytischen Vorgehensweise findet durch Einschübe quer gerichteter Deckentypologien an spezifischen Stellen eine Transformation der gekreuzten Tonnengewölbe, hin zu einem Kreuzgewölbe statt. Der Prozess geht so weit, dass Kreuzgewölbe durch eine Mutation hin zu Kreuzgratgewölben formal gesteigert wird. Analog zu den Schnittstellen der dienenden Räume, erfahren auch die bedienenden Schotten durch Einschübe für die Erschliessung Kreuzungspunkte auf. Der Prozess zeigte, dass die analytische Vorgehensweise gewissen Regelungen untersteht. So obliegen Raumprogrammatik und statische Prämissen der analytischen Vorgehensweise. Die analytische Vorgehensweise versteht sich als eine weitere Methodik zur Befolgung eines stringenten Prinzips.
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Abb. 44. Grundriss mit seitlichen Schnitten. Phase 1; longitudinal gerichtete Schotten aus dienenden und bedienenden Räumen.
Abb. 45. Grundriss mit seitlichen Schnitten. Phase 2; Rhytmisierung durch EinschĂźbe quer gerichteter Zonen.
Abb. 46. Schnittbild Wohnhochhaus Fokusprojekt.
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Schlusswort Die Vertiefungsarbeit erhofft sich einen Einblick in den Prozess von Bauten mit Gewölbekonstruktionen, der von vielfältigen und wechselseitig bedingten Mechanismen geprägt ist, eröffnet zu haben. Die Studie geht mit der Einsicht Nussbaum‘s überein; dass die mannigfachen Abwandlungen des Gewölbes nicht einer zweckfreien Form huldigen, sondern als Antwort auf Problemstellungen, die sich aus übergeordneten Zielen des Gebäudeentwurfs ergeben, zu werten ist. Insofern erweitert die Studie die Aussage, dass die Geschichte des Gewölbes eine Geschichte eines Gewölbetyps mit hoher gestalterischer Wandlungsfähigkeit darstellt.79 Aller Voraussicht nach fällt dem Leser eine moralische Kongruenz zwischen Viollet-le-Duc und Louis Kahn auf, bezüglich der verfolgten Prinzipien und der kosmologischen Auffassung von der Einheit auf.80 Die Studie klärt, dass die Tatsache vorderhand kein Kriterium für die Auswahl der Objekte darstellte. Die Interkorrelation offenbarte sich folglich erst in der späteren Analysephase. Unter den Deckentypen erfordert spezifisch das Gewölbe eine typologische Kongruenz zwischen Grundriss und Schnitt. Als sphärisches Raumgebilde fordert es Adäquanz im Aufriss wie im Schnitt. Mithilfe methodischer Prinzipien wie in der Anwendung von Raumgeometrien, Zahlenverhältnissen oder der methodischen Analytik können Strukturen rhythmisiert und hierarchisiert werden. Die Studie ist sich der Fragilität der prinzipiellen Logik bewusst, erachtet aber die gestalterischen Potenziale höher, als eine allfällige Unstimmigkeit in der prinzipiellen Kosmologie. Dahin gehend möchte die Vertiefungsarbeit weniger eine abschliessende Antwort fassen, denn mehr eine sachliche Auseinandersetzung der Fragestellung an die von Colin Rowe behandelte Thematik im Essay Die Mathematik der idealen Villa weiterleiten. 79 vgl. Nussbaum 1999, S.14 80 Wie Kenneth Frampton feststellt, war Kahn insoweit ein Neugotiker, in dem er die von Viollet-le-Duc aufgestellten Regeln beachtete, und ein Anhänger des gräko-gotischen Ideals, in zu einer Suche nach der reinen Form veranlasste, wenn er die empirischen technischen Anforderungen erfüllt sah. (vgl. Frampton, 1999, S. 268)
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Literatur- und Quellenverzeichnis - Colin Rowe, Die Mathematik der idealen Villa. und andere Essays, 3.Aufl., Basel Birkhäuser 1998 - Düttman M., Definitionen. Sieben Stichworte aus dem Dictionnaire raisonné de l‘architecture, 1.Aufl., Basel Birkhäuser 1993 - Frampton Kenneth, Grundlagen der Architektur, Studien zur Kultur des Tektonischen, Grabensstätt Aries 1999 - Gast Klaus-Peter, Louis l. Kahn. The Idea of Order, 1.Aufl., Basel Birkhäuser 1998 - Gast Klaus-Peter, Louis l. Kahn. Studio paperback, 1.Aufl., Basel Birkhäuser 1999 - Giugola R.; Mehta J., Louis l. Kahn. Studio paperback, 2. Aufl., Zürich & München Verlag für Architektur Artemis 1984 - Müller W., Grundlagen gotischer Bautechnik, München 1990 - Nussbaum N.; Lepsky S., Das gotische Gewölbe. Eine Geschichte seiner Form und Konstruktion 1999 - Ronner H.; Jhaveri S., Louis I. Kahn. Complete Work, 2.Aufl., Basel 1987 - Seite „Basilika (Bautyp)“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 3. Dezember 2012, 11:57 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Basilika_ (Bautyp)&oldid=111238825 (Abgerufen: 29. Dezember 2012, 12:41 UTC) - Seite „Gotik“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 14. Januar 2013, 08:44 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Gotik&oldid=112935159 (Abgerufen: 20. Januar 2013, 20:44 UTC) - Seite „Hans Jantzen“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 20. Januar 2013, 15:06 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Hans_ Jantzen&oldid=113203064 (Abgerufen: 20. Januar 2013, 20:48 UTC) - Seite „Kathedrale von Bourges“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 9. Januar 2013, 16:20 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index. php?title=Kathedrale_von_Bourges&oldid=112729331 (Abgerufen: 20. Januar 2013, 20:45 UTC) - Seite „Kathedrale von Chartres“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 9. Januar 2013, 16:20 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index. php?title=Kathedrale_von_Chartres&oldid=112729308 (Abgerufen: 20. Januar 2013, 20:46 UTC) - Seite „Kathedrale von Saint-Denis“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 10. Januar 2013, 05:35 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index. php?title=Kathedrale_von_Saint-Denis&oldid=112750466 (Abgerufen: 20. Januar 2013, 20:47 UTC) - Seite „Romanik“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 14. Januar 2013, 16:10 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Romanik&old id=112953158 (Abgerufen: 20. Januar 2013, 20:45 UTC)
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1. Aus: Nussbaum 1999, S. 12 14 Abb. 2. Aus: Wikisource 2013, Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle
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Abb. 3. Aus: Wikipedia 2013, Saint-Sernin 19 Abb. 4. Aus: www.bildindex.de 2013, Saint-Sernin 19 Abb. 5. Aus: www.bildindex.de 2013, Saint-Sernin 19 Abb. 6. Aus: Nussbaum 1999, S. 14
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Abb. 7. Aus: Nussbaum 1999, S. 15 21 Abb. 8. Aus: Nussbaum 1999, S. 15 21 Abb. 9. Aus: Nussbaum 1999, S. 15 21 Abb. 10. Aus: Wikipedia 2013, Saint-Sernin 22 Abb. 11. Aus: Düttmann 1993, S. 81 22 Abb. 12. Aus: Düttmann 1993, S. 109 23 Abb. 13. Aus: Wikipedia 2013, Diokletiansthermen 24 Abb. 14. Aus: Nussbaum 1999, S. 13 27 Abb. 15. Aus: Wikisource 2013, Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle
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Abb. 16. Aus: Wikisource 2013, Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle
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Abb. 17. Aus: Wikisource 2013, Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle
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Abb. 18. Aus: Nussbaum 1999, S. 51 29 Abb. 19. Aus: Nussbaum 1999, S. 73 30 Abb. 20. Aus: Düttmann 1993, S. 93 31 Abb. 21. Aus: Düttmann 1993, S. 93 31 Abb. 22. Aus: Düttmann 1993, S. 87 32 Abb. 23. Aus: Düttmann 1993, S. 87 32 Abb. 24. Aus: Düttmann 1993, S. 87 32 Abb. 25. Aus: Düttmann 1993, S. 52 34 Abb. 26. Aus: www.wissenschaftliches-bildarchiv.de 2013, Saint-Yved de Braisne
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Abb. 27. Aus: Düttmann 1993, S. 143 36 Abb. 28. Aus: www.wissenschaftliches-bildarchiv.de 2013, Saint-Yved de Braisne
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Abb. 29. Aus: Nussbaum 1999, S. 53 38 Abb. 30. Aus: Nussbaum 1999, S. 76 39 Abb. 31. Aus: www.wissenschaftliches-bildarchiv.de 2013, Saint-Yved de Braisne
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Abb. 32. Aus: Ronner 1984, S. 345 42 Abb. 33. Aus: Gast 1999, S. 146 44 Abb. 34. Aus: Gast 1998 44 Abb. 35. Aus: Frampton 1999 , S. 264
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Abb. 36. Aus: Frampton 1999, S. 263 46 Abb. 37. Aus: Frampton 1999, S. 263
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Abb. 38. Aus: Gast 1999, S. 145
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Abb. 39. Aus: Giugola 1984, S. 160
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Abb. 40. Aus: Gast 1999, S. 145 48 Abb. 41. Aus: Frampton 1999 , S. 229
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Abb. 42. Aus: Düttmann 1993, S. 55 55 Abb. 43. Aus: Schema Autorenschaft 56 Abb. 44. Aus: Schema Autorenschaft 57 Abb. 45. Aus: Schema Autorenschaft 57 Abb. 46. Aus: Endabgabe Fokusprojekt 2013 57
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Der Filigranbau und seine FĂźllung
Vier tektonische Mittel zur innenräumlichen Artikulation
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Der Filigranbau und seine Füllung
Vier tektonische Mittel zur innenräumlichen Artikulation
Masterkurs Architektur Fokus Struktur Herbstsemester 2012 / 2013 Vertiefungsarbeit 21. Januar 2013
Betreuungsteam intern Duffner, Oliver Plagaro Cowee, Natalie
Verfasser
Hauri, Daniel
Korrektur Orthographie Ryser- Fässler, Barbara
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Abstract Die Ausgangslage für die vorliegende Arbeit bildet das architekturrelevante Phänomen von „Struktur und Füllung“. Die Fokussierung auf das Konstruktionssystem Filigranbau erwies sich als sinnvoll, da darin beide Phänomenkomponenten in wesensgetreuem Charakter erscheinen. Der innenräumlichen Erscheinung von Struktur und Füllung wurde in der Betrachtung hohe Bedeutung zugesprochen. Die Fokussierung auf die artikulierte Trennung der Phänomenkomponenten führte zur Erarbeitung von vier tektonischen Mitteln: dem Material, der Lage, der Masse / Leere und der Fuge. Anhand von vier realisierten Bauwerken wurden die tektonischen Mittel erläutert und in ihrer Relevanz erhärtet. Die vertiefte Auseinandersetzung zeigte Parallelen und Diskrepanzen in der innenräumlichen Artikulation und konstruktiven Umsetzung der tektonischen Mittel. Die Identifikation der vier tektonischen Mittel bildet die Relevanz der Arbeit und bietet als theoretisches Werkzeug eine Hilfestellung bei Entwurfsaufgaben.
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Abb. 01 Semper, Gottfried Hauri, Daniel Erste Annäherung an „Struktur und Füllung“
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01 Annäherung 01.1 Architektonisches Phänomen Abb. 01
Mit „Struktur und Füllung“ wird das übergeordnete architektonische Phänomen dieser Arbeit festgelegt und in der weiteren Betrachtung auf ein Archetyp der Konstruktion sowie auf vier tektonische Mittel fokussiert. Die Annäherung startet mit der Beobachtung an das aufgefächerte Phänomen „Struktur und Füllung“. Strukturen und dazugehörige Füllungen lassen sich im Handwerk, der Kunst und der Architektur erkennen. In allen Disziplinen sind identische Charakterbestandteile und Absichten erkennbar. Handwerk Das Phänomen „Struktur und Füllung“ erscheint im Handwerk, wird hier jedoch unter dem Phänomen „Rahmen und Füllung“ aufgeführt. Trotz unterschiedlicher Namensgebung formuliert sich das Wesen konstant. Der nachvollziehbare Beginn der Handwerkstechnik der Intarsien beläuft sich auf die Ägypter, übermittelt sich an die nachfolgenden Kulturvölker und ist bis heute Zeuge der hohen Handwerkskunst. Die Konstruktion von „Rahmen und Füllung“ verdankt ihre ausdrucksvolle Form in der Entstehung einer nicht rein formalen ästhetischen Forderung, sondern dem Bestreben, unbändiges Holz zu bewältigen und, hier kann die Analogie zur Architektur gelingen, der ressourcenbewusste Umgang edlerer Rohstoffe. Architektur Um das Vorkommen des Phänomens „Struktur und Füllung“ in der Architektur zu erörtern ist die Klärung des Massstabes von Vorteil. Der Massstab der Stadt lässt sich anhand der Stadt New York, genauer anhand von Manhattan, dem Stadtteil mit dem „greatest Grid“ veranschaulichen. Die geometrische Ausdehnung, welche die Erschliessung von Mensch und Ware oberirdisch beansprucht, bildet ein regelmässiges Rasterwerk, eine rigide, orthogonale Struktur. Diese Struktur der Erschliessung spannt Flächen auf, welche mit dreidimensionalen Volumen / Bauwerken, öffentlich oder privater Nutzung, gefüllt oder leer belassen (öffentliche Aussenräume) werden. „Struktur und Füllung“ erscheinen hier auf der grossmassstäblichen Ebene der Stadt. Auf der Massstabsebene des einzelnen Bauwerks bildet die Urhütte die Ausgangslage eines architektonischen Diskurses und den Auftakt in die vorliegende Arbeit. Mit Gottfried Semper‘s Skizze der karibischen Hütte festigt sich die Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Struktur und Füllung“. Die reine Struktur, das tragende Gerüst, ohne räumlichen Abschluss, gilt als unbewohnbar, als reine Abstraktion oder als intellektuelle Ausgangslage. Die Struktur, in dieser Skizze ein räumliches Gerüst aus Palmstämmen, welches vom Aussenraum durchflutet wird, beginnt sich mit der Füllung aus geflochtenen sowie gewobenen Palmblättern zu ergänzen und wird zum architektonisch formulierten Raum. Semper spricht klar von einer „Bekleidung“ der Struktur. Die Beziehung zwischen dem Innern und Äusseren eines Bauwerks erfolgt über ein sekundäres, additatives Element und nicht über das Gerüst selbst. Gottfried Semper‘s Skizze Abb. 01 der „karibischen Urhütte“ stellt im Architekturdiskurs ein grundlegendes Artefakt dar. In diesem Diskurs wird oft und ausführend von Verkleidung, Bekleidung und die Rolle von Hülle und Struktur in der Erscheinung des äusseren Gesichts gesprochen.01 Die Thematik von „Struktur und Füllung“ wird mit der Annahme, dass Füllung mit Bekleidung somit Verhüllung -ob massiv oder transparent- gleichgesetzt wird, auf die Anwendung des äusseren Abschlusses eines Bauwerks herabgesetzt. Die ausgelegte Thematik bietet sich an nicht nur auf die Hülle eines Bauwerks, sondern auf dessen innenräumliche Artikulation einzugehen. Mit einem „Bilderrausch“ startet die vertiefte Betrachtung und lässt die Relevanz der gewählten Thematik erahnen.
01 Verweis auf: Schinkel, Karl Friedrich. Semper, Gottfried: „Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten“ 1834. „Bekleidungstheorie“; Loos, Adolf: „Das Prinzip der Bekleidung“. 1898; und die Werke von: Wagner, Otto; Soullivan, Louis Henri. Wright, Frank Loyd.
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01.2 Abb. 02- 04 Terragni, Guiseppe: Casa del Fascio Como IT, 1932-1936 Die „Mutter“ von Struktur und Füllung
Abb. 05- 06 Prouvé, Jean: Maison du Peuple Clichy FR, 1935-1939
Abb. 07- 10 Eames, Ray & Charles: Eames House, Case Study Los Angeles USA, 1949 „Struktur und Fülllung“ als Phänomen der Hülle.
Abb. 11- 13 Ponti, Gio; Nervi, Pier Luigi: Pirelli Hochhaus Mailand IT, 1956-1960 „Struktur und Fülllung“ als Phänomen im Innenraum (Mediensaal).
Abb. 14-16 Mangiarotti, Angelo: Chiesa Mater Misericordiae Mailand IT, 1957
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Bilderrausch
Abb. 17- 18 Haller, Fritz: Kantonsschule Baden Baden CH, 1964
Abb. 19- 20 Vaccini, Livio; Snozzzi, Luigi: Verwaltungsgebäude Fabrizia Bellinzona CH, 1965
Abb. 21- 23 Tschumi, Bernard: Folies, Parc de la Vilette Paris FR, 1982-1998
Abb. 24- 26 Arets, Wiel: Rijkshogeschool Kunst & Arch. Maastricht NL, 1993
Abb. 27- 28 Hiendl Schiess Architkekten Werk & Denklabor Pauker Friedberg DE, 2006
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Abb. 29- 30 Hoffmann, Josef: Palais Stoclet Brussel Brussel BG, 1905
Abb. 31- 33 Loos, Adolf: Haus am Michaelerplatz Wien AT, 1910
Abb. 34- 36 Reichlin, Bruno: Casa Tonini Torricella CH, 1974
112
01.3 Betrachtung Konstruktionssysteme Die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Struktur und Füllung“ setzt die Erkennung der Konstruktionssysteme voraus, da sich „Struktur und Füllung“ nicht in allen Archetypen der Konstruktion gleich ausformulieren lässt. Andrea Deplazes erläutert in seinem Buch „Architektur konstruieren, vom Rohmaterial zum Bauwerk“ 02 die drei Archetypen der Konstruktion. Diese bilden die Grundlage der Konstruktion und werden im folgenden kurz anhand der Thematik „Struktur und Füllung“ betrachtet. Diese ersten Betrachtungen und die daraus erworbenen Erkenntnisse sind von grosser Wichtigkeit. Sie lassen das Erscheinen des Phänomens erkennen und kategorisieren. Mit diesen Betrachtungen lässt sich klar erkennen, auf welches Konstruktionsprinzip die vorliegende Arbeit gründet. Massivbau Im Konstruktionssystem des Massivbaus treten Formulierungen von Struktur und Füllung auf. Der Palais Stoclet in Brüsell von Josef Hoffmann Abb. 29- 30 aus dem Jahre 1905 veranschaulicht in adäquater Weise die nachfolgende Ausführung. In der Auseinandersetzung der Grundrisse wird der Massivbau als Primärkonstruktionssystem erkannt. Vereinzelt erscheinen Stützen, die sich durch Anzahl und Formulierung jedoch in der Hierarchie der Konstruktion unterordnen. In der Fassade sowie in mehreren Innenräumen, wie im Musik- und Theatersaal, lässt sich das Phänomen von „Struktur und Füllung“ erkennen. Diese Artikulationen gründen, wie mehrere Arbeiten in Kunst, Design und Architektur aufzeigen, in dekorativer, ornamentaler Natur und besitzen keine primäre konstruktive Relevanz. Der Ausschluss solcher Arbeiten nimmt keine Stellungnahme oder moralische Wertung dieser Haltung vor, sondern dient der Klärung, um das Phänomen „Struktur und Füllung“ in der gewünschten Reinheit betrachten zu können. Mischkonstruktion In Mischkonstruktionen, wie Stützen-Plattenkonstruktionen, dem von Le Corbusier entwickelten „Principe Domino“, welche Massivelemente sowie Elemente des Filigranbaus innehalten, offenbart sich das Phänomen „Struktur und Füllung“ an der Fassade sowie im Innenraum an architekturhistorisch wichtigen und ideenreichen Projekten. In diesem Archetyp der Konstruktion erscheinen „Struktur und Füllung“ an dem Anteil des Konstruktionssystem, welcher Filigranbauanteile aufweist, konstrutkiv reduziert auf die Vertikale, der Stütze und dem Bauteil Wand, da die geschossaufspannende Horizontale, das Bauteil Decke, ein Teil des Primärsystems darstellt. In Mischkonstruktionen, wie dem von Adolf Loos entworfenen Haus am Michaelerplatz Abb. 31- 33 in Wien oder Bruno Reichlins Einfamilienhaus Tonini in Torricella Abb. 34- 36, werden „Struktur und Füllung“ in der Horizontalen und in der Vertikalen räumlich akzentuiert ausgearbeitet. Die horizontale Betonung lässt sich auf dekorative Motive zurückführen, sie übernimmt visuelle, jedoch keine konstruktive Primäraufgaben. Mischbauten gelten als Träger dieses Phänomenaspekts der Dekoration und es wird erkennbar, dass „Struktur und Füllung“ an realisierten Mischbauten häufiger in Erscheinung tritt als in anderen Archetypen der Konstruktion. Die folgende Auseinandersetzung fokussiert sich ausschliesslich auf Bauten des Filigranbaus, da dieser Archetyp der Konstruktion in seinem Charakter die Grundlage für die Absolutheit in der Erscheinung des Phänomens „Struktur und Füllung“ darstellt. Primär- und Sekundärsystem treten in drei-
02 Deplazes, Andrea 2006. S.13
113
dimensionaler Erscheinung auf und können als rein bezeichnet werden. In der Fokussierung auf das Konstruktionssystem Filigranbau wird das Konstruktionssystem exakt betrachtet und die Gründe erforscht. Gottfried Semper‘s Skizze lässt erahnen, und die genauere Betrachtung beweist, „Struktur und Füllung“ sind Urphänomene des Filigranbaus.
Archetypen Konstruktion Schema zu 01.4: Konstruktionssystem Filigranbau
Archetypen Archetypender derKonstruktion Konstruktion
Archetypen Archetypender derKonstruktion Konstruktion
1
Filigranbau Filigranbau
FokusStruktur Strukturund undFüllung Füllung Fokus
Struktur Struktur
Massivbau Massivbau
2
Füllung Füllung
Primärsystem Primärsystem
Biegesteif Biegesteif
Mischbau Mischbau
3
Sub-/Komplementärsystem Sub-/Komplementärsystem
4
Gelenk Gelenk
Stäbe Stäbe alsals Raumgitter Raumgitter mitmit Windverstrebungen Windverstrebungen zu zu biegesteifem biegesteifem Systemverbund Systemverbund
Funktionder derFüllung Füllung Funktion
Füllung FüllungRein Rein
6
114
strukturelle strukturelleÖffnung Öffnung
System System mitmit Gelenkverbindungen Gelenkverbindungen
Füllung FüllungMisch Misch
Füllung Füllung Raumabschliessend Raumabschliessend && SelbstSelbstNutzlastentragend Nutzlastentragend
Öffnungsprinzip Öffnungsprinzip
5
7
Füllung Füllung Raumabschliessend Raumabschliessend && Primärsystemwirkung Primärsystemwirkung
Öffnung Öffnungder derFüllung Füllung
Öffnung Öffnungder derFüllung Füllung
01.4 Konstruktionssystem Filigranbau Der Filigranbau1 - die geschossaufspannende Platte fällt weg- weist das Charakteristikum der Trennung von strukturell tragenden Gliedern, Stützen und Trägern und füllenden Elementen, wie Decken- und Wandelementen auf. Der Filigranbau erscheint somit als Struktursystem, welches die Trennung auf klar definierte Systemkomponenten innehält. Das Primärsystem, die Struktur2, welche Druck und Zugkräfte aufnehmen kann, erscheint mit seinem Sub-/ Komplementärsystem der Füllung3. Die Struktur erscheint ohne Einsatz von Füllung als regelmässiges Gitterwerk mit homogener Ausmessung, ohne definierte Räumlichkeit. Das dreidimensionale Raumgitter kann biegesteif4 oder gelenkig5 konstruiert werden. Diese Unterscheidung der Strukturkonstruktion ist wichtig, da die Funktion der Füllung, also des Subsystems, sowie die Art der Füllung sich massgebend ändert. Ein in sich biegesteifer Filigranbau benötigt die Füllung, als reines Subsystem, somit als architektonisches Element der räumlichen Definition. Die Füllung übernimmt keine Anforderung des Primärsystems und wird als „rein“6 katalogisiert. Erst durch den Einsatz der Füllung entsteht messbarer, definierter Raum. Das Öffnungsprinzip beim biegesteifen Filigranbau lässt eine höhere Varietät zu. Der biegesteife Filigranbau lässt strukturelle Gesamtöffnungen sowie partielle Öffnungen in der Füllung zu. Beide Öffnungsprinzipien zeichnen sich als systemgerecht ab. Ein mit Gelenken ausgebildeter Filigranbau erhöht die Anforderungen an die Füllung. Die Füllung übernimmt in dieser Konstruktion Aussteifungsaufgaben, somit Anforderungen, die dem Primärsystem angehören. Diese Füllung wird als Mischfüllung7 bezeichnet. In dieser Formulierung des Filigranbaus sind Öffnungen nur partiell möglich, da wie oben erwähnt die Füllung Primäraufgaben übernimmt.
01.5 Gründe Filigranbau Die Anwendung des Konstruktionssystems Filigranbau weist unterschiedliche Ursachen auf. Nomadische Behausungen in allen Kulturregionen bestanden aus einem einfachen Gerüst, welches zum Schutz vor der Natur bekleidet wurde. Ersten Behausungen der sesshafteren Bevölkerung wurde wenig Bedeutung der Dauerhaftigkeit des Bauwerks eingeräumt. Gerüste, meist aus Holz, die Einräume formulierten, wurden mit organischen Materialien bekleidet. Der technische Fortschritt und der mit ihm auftretende Erwerb von Wissen über Rohstoffe und dessen Verarbeitung und Anwendung, förderte das Spektrum der Konstruktionssysteme und die Vielfalt der innenräumlichen Artikulation. Am Beispiel des Filigranbaus in Stahl können Ursachen und Merkmale des Konstruktionssystems erkannt werden. Der Gewinn von natürlichen Ressourcen, gekoppelt mit der Fähigkeit der Verarbeitung, ermöglichte es in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Stahlgerüste über mehrere Geschosse zu errichten. Die Wahl des Skeletts war nicht nur rein technischer Natur, sondern auch die der Ressourcenkosten. Stahlskelette wurden mit anderen Baumaterialen wie Backstein, Holz, Glas, Stein, dünnen Blechen und anderen Materialien gefüllt. Die Thematik „Struktur und Füllung“ bekam somit nicht nur auf der rein funktional- technischen Ebene, sondern auch auf der Basis architektonischer Präsenz an mehr Gewicht. Die Wahl des Konstruktionssystems Filigranbau verhilft zum einen einer Vereinfachung der Bauaufgabe da die Systeme voneinander getrennt erscheinen, zum anderen entstehen, da vorteilsweise vorgefertigte Elemente zum Einsatz kommen, anpassungsfähige und ökonomische Hochbauten. Das Konstruk115
Abb. 37 -38 Elwood, Craig: Rosen House Los Angeles USA, 1961-1963 „Struktur und Füllung“ Phänomen der Hülle.
Abb. 39- 40 Yasuhiro, Ishimoto: Katsura Imperial Villa Tokio JP, 1981 „Struktur und Füllung“ Phänomen im Innenraum.
Abb. 41- 43 Dudler, Max: Folkwang Bibliothek Essen DE, 2011 „Struktur und Füllung“1Phänomen im Innenraum.
116
tionssystem Filigranbau und die damit innehaltende Thematik „Struktur und Füllung“ verbindet technische und ökonomische Auflagen, die an Bauaufgaben gestellt werden, mit architektonischen Ansprüchen.
01.6 Prämissen der Betrachtung Wie vorgängig erkannt spannt das Phänomen „Struktur und Füllung“ ein weitläufiges Betrachtungsfeld im Architekturdiskurs auf. Um eine vertiefte Aussage zu tätigen, werden Prämissen erarbeitet und zugunsten der vertieften Auseinandersetzung vorgenommen. Diese Prämissen bilden den Einstieg, klären die Sachlagen und erläutern die Relevanz der Betrachtung. 01.6.1 Innenraum Prämisse 1 Das Phänomen „Struktur und Füllung“ tritt sowohl an der Fassade Abb. 37- 38 als auch im Innenraum in Erscheinung. Der Fokus Innenraum gründet auf persönlichem Interesse mit der Affinität zu atmosphärischen Innenräumen und der Ahnung der hohen Relevanz der Betrachtung. Neuzeitliche Bauprojekte weisen vermehrt die Anforderung an verschiedenste Lebensphasen und dazugehörige Funktionen auf, welche sich auf die innenräumliche Disposition und Artikulation auswirkt. Die umschliessend schützende Hülle, kann, sofern sie den Anforderungen genügt, erhalten bleiben. Die stetig ändernden Anforderungen an Bauwerke tragen entscheidend dazu bei, dass die Füllung mit einem höheren Präsenzanteil der Fläche in Erscheinung tritt. Die Tragstruktur wird zu Beginn auf das maximale Minimum dimensioniert und charakterisiert somit die Ausnahme in der flächigen Regel. Vergleichsweise lässt sich der gleichmässige englische Rasen, gespickt mit blühenden Blumen vor Auge halten. Obschon die Betrachtung der Ausnahme, „Struktur und Füllung“ stehen im Flächenverhältnis im Gleichgewicht, sich als äusserst spannend vorstellen lässt, wird diese Möglichkeit in der weiteren Auseinandersetzung weggelassen. Die Struktur erhält in den betrachteten Referenzobkjekten jeweils den Charakter des Tragsystems, der Firmitas, womit sich die nun folgende Verfeinerung mit der Füllung beschäftigt. Mit der Annahme, dass sich die Struktur im Gegensatz zur Füllung zeitlich bedingter auslegt, eröffnet sich in der Artikulation der Systemteile Potential. Die Füllung kann in ihrem Wesen unterschiedlich interpretiert werden. Klassisch ist die Annahme des Bauteils. Die Füllung erscheint als Wand, als Boden oder Decke. Sie definiert Raumzellen im Raumgitter und umschliesst/ beherbergt Raum. Diese Annahme der Definition von Raum kann in einem identischen Verständnis der Lebensdauer der Systemteile gründen. Wird die Füllung als temporärer Bestandteil eines Bauwerks verstanden, so kann sich die Art der Artikulation ändern. Die Füllung kann als raumdefinierendes „Möbel“ interpretiert werden, welches sich nicht nur in ihrer Zeitlichkeit sondern in ihrer „Mobilität“ zur klassischen Annahme unterscheidet. Zur Veranschaulichung wird zum einen auf das in Referenzprojekte aufgeführte Projekt „Folkwang Bibliothek“ Abb. 41- 43 von Max Dudler verwiesen, in welchem die vertikale Füllung als raumdefinierendes Möbel in Erscheinung tritt, zum anderen an die japanischen Paläste erinnert, bei welchen mobile vertikale Füllungen, differenzierte Raumdispositionen sowie Rauminterpretationen zulassen. In der Katsura Imperial Villa Abb. 39- 40 wird der Innenraum durch die Artikulation der Füllungen positiv gestärkt. Die Frage der „Rollenverteilung“ von „Struktur und Füllung“ drängt sich auf. Die Rolle der Füllung auf einen rein funktionalen, raumdefinierenden Charakter zu beschränken, scheint dem Wesen 117
nicht gerecht zu werden. Die Füllung kann nebst funktionalen auch qualitativen und quantitativen Charakter erhalten. Die Füllung definiert nicht nur den dreidimensionalen Innenraum, sie kann ihn auf unterschiedlichsten Ebenen prägen. Innenräumliche Artikulationen definieren, im Gegensatz zu Aussenräumen, Stufen der hohen Intimität und Schutz des menschlichen Körpers und seiner Seele. Dabei stellen Haptik, Akustik und Raumklima, somit Utilitas und Venustas, prägnante Parameter dar, welche die Füllung als Träger dieser Aufgaben übernimmt. Wie erkannt, erhält das Phänomen „Struktur und Füllung“ eine hohe Relevanz / hohen Stellenwert in der Betrachtung des Innenraumes. 01.6.2 Beziehung der Systemteile Prämisse 2 Die nächste Prämisse liegt in der Betrachtung der Beziehung von Tragstruktur und raumdefinierender Füllung. Die Auseinandersetzung beläuft sich auf die Haltung der starken Abhängigkeit von „Struktur und Füllung“ um die Klarheit der Auseinandersetzung zu gewährleisten. Ist die starke Abhängigkeit von „Struktur und Füllung“ gewährleistet, werden beide Systemteile in ihrer Wichtigkeit der Architektur gestärkt. Das Gitterwerk mit homogenem, ungerichtetem Raum, dem spacio, „durchflutet“, übernimmt die erste Massnahme einer nachfolgenden Raumkonstellation und bleibt dadurch nicht auf ein rein funktionales Tragsystem beschränkt. Die Füllung ihrerseits in starker Abhängigkeit Abb. 44- 45 Decq, Odile: Café Phantom de L‘Opera Paris, 2011
Abb. 46- 47 Haller, Fritz: Kantonsschule Baden Baden, 1964 Trennung von Tragstruktur und Füllung
118
zum Gitterwerk definiert schliesslich Raum. Diese Fokussierung erlaubt der Architektur Ausdruck von Struktur zu werden, wie dies in architekturhistorisch wichtigen Haltungen manifestiert wird.03 Das Projekt Café Phantom de L‘Opera von Odile Decq Abb. 44- 45 in Paris veranschaulicht die oben erläuterte Prämisse prägnant. Die raumdefinierenden Füllungen des bestehenden Bauwerks stehen in starker Abhängigkeit zur tragenden Struktur, wobei die räumliche Füllung des 2011 realisierten Projektes nur eine vage oder beliebige Beziehung zur Struktur aufnimmt. Die Wahrnehmung von Raum kontrastiert sich in beiden Haltungen stark. Während im bestehenden Bauwerk die Struktur eine „raumdefinierende“ und tragende Funktion übernimmt, erhält die bestehende Struktur im neu realisierten Projekte die reine Funktion der Wahrnehmung / der Dekoration. Odile Decq geht mit seinem Weiterbau eine visuelle, jedoch nicht konstruktive Beziehung ein. Die Füllung im neu realisierten Projekt, bedingen auf der Ebene der Konstruktion / der Struktur Alt und Neu nicht.
03 van der Rohe, Mies. 1970
01.6.3 Tektonisches Prinzip Trennung Prämisse 3 Weiter wird das tektonische Prinzip der Trennung fokussiert. Die Trennung von Tragsystem und Raumabschluss steigert das Potential der konstruktionsgetreuen, architektonischen Formulierung des Innenraumes. Die damit verbundene subjektive Lesbarkeit / Erkennbarkeit der Systemteile, der Struktur und der Füllung, kann für das Verständnis, oder besser für das Begreifen des Gesamtsystems, hilfreich sein. Die persönliche emotionale Aneignung der Dinge, somit auch der Innenräume erfolgt über verschiedene Parameter. Sind es nebst persönlichen Erlebnissen auch das Verständnis der Dinge, die uns ein Gefühl der Identifikation mit dem Bauwerk verleihen. Diese Erkenntnis gibt weiteren Aufschluss auf die Relevanz der gewählten Betrachtung. Liegt die Verschmelzung von Tragstruktur und raumabschliessender Füllung auf funktionaler Ebene und architektonischer Formulierung vor, -die Systemteile erscheinen somit als Einheit und können nicht als Einzelteile erkannt werden-, wird das Phänomen „Struktur und Füllung“ negiert. Die Betrachtung der Trennung der Systemteile lässt die Forschung über die Art und Weise, die tektonischen Mittel, des Prinzips zu. Die Mittel der Tektonik bilden den Kern der Auseinandersetzung.
02.0 Mittel der Tektonik Prämisse 4 In der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem tektonischen Prinzip der Trennung wurden vier Mittel der Tektonik erkannt mit welchem sich das Prinzip der Trennung formulieren lässt. Diese vier tektonischen Mittel erheben nicht den Anspruch der Vollständigkeit, wohl mehr stellen sie in ihrem Charakter die Urtypen der Trennung dar.
02.1 Material Das ersterkannte tektonische Mittel formuliert die Materialität. Die differenzierte Materialisierung von „Struktur und Füllung“ lässt beide Systemteile eigenständig erscheinen. Das Material vereinigt / beherbergt als Überbegriff verschiedenste Aspekte der Erkennung. In der karibischen Hütte von Gottfried Semper ist Handhabung von Materialität erkennbar, welche sich aus der Funktion wesensgetreu generiert. Die Struktur erscheint in harter, wobei die Füllung in einer „leichten“, gar flüchtigen Materialität in Erscheinung tritt. Das klassische Verständnis einer Füllung als Bauteil ist in dieser Konzeption nicht erkennbar. 119
Lage der FĂźllung Skizzen zu 02.2 Lage. Die Lage der FĂźllung und die daraus resultierende differenzierte Artikulation des Innenraumes.
120
Typ 1: identisch
Typ 2: Versatz 1
Typ 2: Versatz 2
Typ 3: raumhaltig- raumerweiternd
Typ 4: einseitige Beplankung
Typ 5: beidseitige Beplankung
Die von Gottfried Semper eingenommene Haltung über die Materialität von „Struktur und Füllung“ kann in der Architekturgeschichte weiterverfolgt werden. Japanische Teehäuser und Paläste halten die identische Konzeption über Materialität in „Struktur und Füllung“ inne. Unter Material versteht sich nicht nur die starke Differenzierung und den erarbeiteten Zusammenklang unterschiedlicher Materialen.04 Die differenzierte Bearbeitung, respektive die unterschiedliche Haptik der Oberflächen, ist Teil des tektonischen Mittels Materialität. In diesem Betrachtungsaspekt werden Begriffspaare wie hart-weich, glatt-rauh (fein-grobstrukturiert), hell-dunkel und warm-kalt für die Betrachtung unabdingbar. Die Wahl der Materialität kann nebst den oben erkannten Punkten auch einen ökonomischen Aspekt aufweisen, den es zu erwähnen lohnt. Der Umgang mit edlem (kostenintensiv) sowie handelsüblichem (kostengünstig) Material und deren Ausarbeitung kann zu einer präzisen Formulierung der architkektonischen Konzeption des Verfassers beitragen. Zum einen die offensichtliche Haltung, wobei die Struktur, welche als Primärsystem eine hohe funktionale Wichtigkeit besitzt, mit einer kostenintensiveren Materialität artikuliert wird. Es entsteht eine stringente Wertsteigerung und Verdoppelung des Sinnwertes. Zum anderen kann, und diese Artikulation interessiert besonders, die Füllung aus edlem Material und in feiner Ausarbeitung artikuliert werden. Mit dieser widersprüchlichen Haltung kann eine fragile, doch höchst interessante Spannung in der Wahrnehmung und im Verstand erzeugt werden.
04 Zumthor, Peter. 2006
02.2 Lage Die starre Struktur kann sich in ihrer Lage nicht verändern, somit ist dieses architektonische Mittel der Füllung zugeschrieben. Je nach Lage der Füllung wird Struktur akzentuiert oder in der Wahrnehmung negiert. Der Umgang mit der Lage der Füllung zur Struktur lässt eine räumliche Interaktion zu. Räumliche Interventionen mit Hilfe der Füllungslage können in sehr kleinem Massstab stattfinden. Drei Grundtypologien können definiert werden. „Struktur und Füllung“ können die identische Lage aufweisen, hier wird die Trennung der Systemteile durch ein anderes tektonisches Mittel vorgenommen oder „Struktur und Füllung“ liegen nicht auf einer Ebene, erhalten einen Versatz, das heisst entweder die Struktur oder die Füllung sind zurückgezogen oder vorgesetzt. Dieser Versatz der beiden Systemteile bildet eine Erweiterung des Innenraumes und lässt die Systemteile, auch bei identischer Materialität als solche erkennen. Die dritte Grundtypologie der Füllung, eine in den Referenzobjekten selten erkannte, lässt eine Raumerweiterung innerhalb der Füllungsfläche zu oder die Füllung selbst wird raumhaltig ausgebildet. Kommt die Füllung auf oder hinter der Struktur zu liegen, kann von einer einseitigen Beplankung / Verkleidung der Struktur ausgegangen werden. Die innenräumliche Wahrnehmung lässt bei der einseitigen Beplankung, im starken Kontrast zur konstruktiven Formulierung, keinen Unterschied erkennen. Die Phänomenserscheinung wird bei der beidseitigen Beplankung gar negiert. Da in dieser Arbeit die Reinheit der Systemteile und deren Vorkommen im Fokus steht, wird die Typologie der einseitigen Beplankung der Struktur, als nicht phänomensgerecht erachtet, da der Charakter wesensfremd erscheint. Die beidseitige Beplankung der Struktur negiert die unter 01.6.3 angestellte Prämisse des Trennungsprinzips. Somit werden beide Beplankungstypologien aus der Betrachtung ausgeschlossen. Im Interesse steht die Lage der Füllung zwischen dem Raum, welcher die dreidimensionale Struktur „aufspannt“. 121
Struktur & Füllung Schema zu 01.6 Prämissen der Betrachtung. Vom Phänomen zum Archetyp. Mehtodik und Erkenntnissicherung.
Phänomen
Erscheinung
Struktur
Füllung
Primärsystem
Sub-/Komplementärsystem
Innenraum
Fassade
Prämisse 1
Beziehung Systemteile
kohärent
inkohärent Sinnfrage des Systems
Prämisse 2
Prinzip Tektonik
Trennung
Verschmelzung
Prämisse 3
Systemteile erkennbar
Systemteile nicht erkennbar
Erscheinung Massivbau
Mittel Tektonik Prämisse 4
Archetyp typologisch reinster Typ
122
Material
Lage
Masse
Fuge
02.3 Masse / Leere Verschiedene Interpretationen können dem tektonischen Mittel der Masse zugeschrieben werden. Die Füllung an sich stellt visuelle Masse dar, was jedoch nicht auf ihre physikalische Masse schliessen lässt. In dieser Arbeit interessiert der Umgang mit visueller Masse und Leere, mit öffnen und schliessen des Raumgitters und deren tektonische Artikulation. In diesem Archetyp der Trennung wird die Artikulation des Charakters der Füllung in den Vordergrund gerückt. Füllungen, welche eine hohe Masse aufweisen, sind als Bauteile, Wand oder Decke / Boden, wobei Füllungen mit geringer Masse als mobile Füllungen erkannt werden können. Die absolute Leere lässt wie die dichte Masse das Primärsystem Struktur in voller Kraft erkennen. Das tektonische Mittel der Leere zeichnet sich durch die Akzentuierung der Struktur aus.
02.4 Fuge Die Fuge stellt mit ihrem Charakter den Urtyp der tektonischen Mittel der Trennung dar und besitzt somit eine hohe Relevanz in der Betrachtung der tektonischen Mittel. Die Fuge zeichnet sich primär durch die optisch wie konstruktive Loslösung von Teilen aus. Für Laien, wie für Personen mit Fachwissen, ist die Bedeutung der Fuge und deren symbolischen Gehalt klar. Die Betrachtung fokussiert nicht spezifisch die bautechnische Fuge oder toleranzbedingte Fuge (Schattenfuge / Fuge im Material beziehungsweise Konstruktionswechsel / Plattenfugen / Dilatationsfugen und ähnliche), da sie zwar ein Element der Architektur darstellt, jedoch vorwiegend nicht architektonisiert in Erscheinung tritt. Interessant erscheint die architektonisch bewusst ausgearbeitete, gar in gewisser Weise inszenierte Fuge, welche eine innenräumlich hohe Relevanz / Wichtigkeit aufweist. In diesem Vorkommen übernimmt die Fuge eine Funktion, die über das Trennen und Loslösen der Teile hinausgeht, hin zu einer Funktion, welche die räumliche Artikulation stärkt. Die Artikulationsmöglichkeiten und das Vorkommen solcher bewusst gestalteten Fugen sind reichhaltig. Das tektonische Mittel Fuge kann somit in dieser Arbeit nicht vollumfänglich in ihrer Dreidimensionalität und in einer reinen Filigrankonstruktion behandelt werden. Dies mag zu Beginn als störend empfunden werden, doch lässt die vorhandene Situation einen wichtigen Erkenntnisgewinn zu und stärkt die zu Beginn in der Prämissenformulierung des Konstruktionssystems angestellte Beobachtung. In der folgenden Betrachtung werden die theoretisch erarbeiteten tektonischen Mittel anhand von vier prägnanten Fallbeispielen erläutert und gefestigt. Ziel ist die Veranschaulichung der erarbeiteten tektonischen Mittel und der Verknüpfung von erarbeiteter Theorie und der Analyse der Fallbeispiele. Die vier Fallbeispiele fungieren als Archetypen des jeweils zugehörigen tektonischen Mittels.
123
03.1 Archetyp Material Smithson, Alison & Peter: Hunstanton School. Norwich UK, 1954
Abb. 48 Alison & Peter Smithson Hunstanton School Norwich UK, 1954
A. & P. Smithson verfassen in Norwich nicht primär das Bindeglied zweier architektonischen Strömungen, sondern kreieren das Vorbild für den international aufkommenden Brutalismus. Offensichtlich eine elegante Interpretation der harten Moderne mit „Miesscher“ Prägung, in Sprache und Form ein sichtbares Bezeugnis, lässt die rauhe Poesie des Alltags, die neue Ästhetik der Materialen das Amerikanische ruhen und erweckt den Klang „von unterdrücktem Extremismus, von vornehmer Gleichgültigkeit, die in diesem Raster eingefangen sind.“
03.2 Archetyp Lage Kahn, Louis: Yale Center for British Art. New Jersey USA, 1974 Louis Kahn bearbeitet im Yale Center for British Art das homogene Gitterwerk mit bewundernswertem Reichtum. Der Einsatz der Füllung beginnt mit der klassischen Formulierung als Bauteil und endet in der Interpretation der fernöstlichen „filigranen“ Füllung, als Bestandteil von unterschiedlichen Räumen. Die durch Kahn geführte Schrift der Füllung prägt äusserst subtil das Wesen und die Bestimmung aller Räume. Dabei stellt sich der tektonische Archetyp der Lage als grundlegende, charakteristische Eigenschaft heraus.
Abb. 49 Louis Kahn Yale Center for British Art New Jersey USA, 1974
124
03.3 Archetyp Masse Sobek, Werner: Haus R128. Stuttgart DE, 2001 Das Haus R128 skizziert in seiner absoluten Reinheit des Systems und der Klarheit der Sprache die moderne Gestalt der karibischen Hütte. Der rohe Körper des Gitterwerks und die archaische Anwendung der Füllung erzeugt in Paarung mit der Bekleidung, dieses Gewands des Lichts, einen visuellen Fluss der Räumlichkeit der in der Vertikalität beginnt und in der Weite des Landes kaum zu enden vermag. Der Umgang mit den architektonischen Mitteln der Leere und Dichte modelliert eine erstaunliche Präsenz der Transparenz.
Abb. 50 Werner Sobek Haus R128 Stuttgart DE, 2001
03.4 Archetyp Fuge Kahn, Louis: Kimbell Art Museum. Dallas USA,1972 In mystischem Einklang fügt sich im Kimbell Art Museum rohe Struktur mit Raum zu vollkommener Einheit. Struktur und Raum, Form und Konstruktion sind hierarchisch gleichgesetzte Entwurfsparameter, wobei sich der Raum als Grundelement in der „Kahnschen“ Architektur, manifestiert. Die Wahl der Materialität und der differenzierte Einsatz von Tageslicht verleihen dem Raum eine unverkennbare Seele. Die präzise Anwendung des tektonischen Mittels der Fuge eröffnet einen Erkenntnisgewinn, welcher über die reine Trennung der Teile hinausreicht.
Abb. 51 Louis Kahn Kimbell Art Museum Dallas USA, 1972
125
03.1 Archetyp Material
Smithson, Alison & Peter: Hunstanton School. Norwich UK, 1954
03.1.0 Einleitung
Phillip Johnson, amerikanischer Architekt und Architekturkritiker, erster Pritzker- Preisträger und Schüler Mies van der Rohe, bezeichnet in seinem Artikel in „the architectual review“ 05 aus dem Jahre 1960 die Hunstanton School als „das wohl ehrlichste, moderne Gebäude Englands“. Dieser Aussage wird in den vertieften Betrachtungen nachgegangen und erläutert, mit welchen Mitteln sich die Radikalität in diesem Projekt manifestiert. Alison und Peter Smithson gewannen den Wettbewerb als junges Paar. Das Areal der Hunstanton Primary School fasst mehrere Gebäude zu einem ausserordentlichen Gemenge zusammen. Die äussere Erscheinung referenziert sich, obwohl die Verfasser die Miesche Arbeit nie sahen, an das Illonois Institue of Technologie. Die Proportionierung der Geometrie, der Öffnungen und der Tragstruktur sind äusserst gelungen proportioniert. Die Hunstanton School erscheint in einem wesensgetreuem äusseren und inneren Antlitz. Jedes sichtbare Element erscheint als das was es wirklich ist und formuliert sich strukturell, funktional oder dekorativ bedingt als Teil einer integrierten Architektur. Alison und Peter Smithson entwerfen, projektieren und bauen die Hunstanton School zu Beginn der Zeit, in welcher sich nebst dem international aufkommenden Brutalismus die neue Tendenz oder Haltung der „as found“ zu entwickeln beginnt. Obschon die Dadaisten in der frühen Moderne den Wert des Vorgefundenen erkennen, greift diese Strömung erst ab den 50er Jahren. Ideale der Wahrheit und Wirklichkeit, des Hier und Jetzt, um Reales und Gewöhnliches, nicht um Utopien und Ideale. Die Suche nach den Spuren des Alltäglichen, den Spuren des Vorgefundenen zu folgen und dabei das Gewöhnliche zu entdecken und zu neuen Erkenntnissen und Ideen gelangen.
03.1.1 Betrachtung 1: Konstruktionssystem
126
Die Auseinandersetzung mit dem Primärsystem und ihrer raumdefinierender Füllung setz, das Erkennen des Primärsystems voraus. Die erste Ahnung erhärtet sich in der vertiefteren Auseinandersetzung, dass das Primärsystem der Hunstanton School nicht mit entworfener / kosmetischer Reinheit brilliert. Die Tragstruktur besteht in der Konzeption aus einer filigranen Stützen- Trägerkonstruktion aus handelsüblichen Stahlprofilen, welche vor Ort zu biegesteifen, somit statisch aktiven Rahmen verarbeitet und versetzt wurden. Additional verlaufen horizontale Betonträger. An der Fassade mit U-Profilen verkleidet und im Innenraum nackt belassen, werden die Träger somit je nach Lage unterschiedlich materiell artikuliert. Um aufzuzeigen, weshalb sich die Hunstanton School klar von der amerikanischen Moderne löst, ist ein Vergleich mit anzustellen. Sind in der Miesschen Moderne, am Beispiel der Lake Shore Drive Appartements eindringlich erkennbar, immer „ehrliche“ und „richtige“ Begründungen / Antworten auf technische und ästhetische Herausforderungen vorhanden, erweckt die Hunstanton School von Peter und Alison Smithson die Ahnung von rein ehrlichen Antworten zu zeugen. Diese reine „Ehrlichkeit“ fordert den Verlust von Eleganz. Das verwendete Rahmensystem birgt bei einem rechtwinkligen Richtungswechsel Herausforderungen in sich. Peter und Alison Smithson reagieren mit zwei separaten Stützen, die durch eine feine Fuge getrennt, den Richtungswechsel vornehmen. In der Haupthalle entstehen so mehrere unterschiedliche Variationen. Sicherlich nicht elegant, jedoch mit einer technischen Ehrlichkeit behandelt und einer sozialen Ethik unterlegt.
03.1.2 Betrachtung 2: Innenraum Abb. 54- 56
Um die Auseinandersetzung mit der Materialität vertieft zu schärfen wird der Fokus auf den Innenraum, genauer auf den Übergang von Schulraum zur grossen Halle gelegt. Diese Betrachtung hält alle auftretenden Anwendungskonzeptionen von Material inne. Die Erscheinung der grossen Halle weist Ähnlichkeiten zur Gestaltung der Fassade auf. Peter und Alison Smithson formulieren die Halle als inneren Aussenraum. Die vertikale Füllung, das Bauteil Wand, wird mit einer zweischaligen Backsteinwand und somit identisch den vertikalen Backsteinfüllung im Äusseren artikuliert. Wie in der Fassade, weist auch die betrachtete Füllung keine Differenzierung in der „äusseren“ wie „inneren“ Erscheinung auf. Beide Backsteinschalen bestehen aus identischem porösem Backstein und identischer Verlegeart. Die Füllung differenziert sich hier durch seine Haptik, von porös zu glatt und durch ihre Optik, von hell zu dunkel, von dem Primärsystem aus vertikaler Stahlstütze und nacktem Betonträger. Die Füllung in der Horizontalen wird in den zwei Geschossen konstruktiv kongruent behandelt. Die Aufsicht des Primärsystems wird verkleidet und an die Materialität der Nutzschicht angepasst, wobei die Untersicht in den definierten Raum ragt. Die Materialität der Nutzschicht ist von der Nutzung der jeweiligen Räume abhängig. Der Charakter der harten, mineralischen Haptik wird in allen, ausser der grossen Halle, welche eine Nutzschicht aus naturbelassenem Holz in Langriemen aufweist, Räumen beibehalten. Somit ändert das Wesen der horizontalen Nutzschicht, des Bodenbelages, nur in der Halle. Die Tragschicht besteht aus mehreren Komponenten. Vorfabrizierte Rippendeckenelemente aus vorgespanntem Stahlbeton, welche die Deckenuntersicht zusammen mit dem sichtbaren Primärsystem im ganzen Projekt massgebend prägen, stellen die Tragschicht der horizontalen Füllung, auch jene des obersten Abschlusses, dar. Diese Deckenelemente werden in einer leicht farblichen Nuance bestrichen um eine optische Angleichung an die Backsteinwände zu erhalten, sowie die klare optische Absetzung vom Tragwerk sicherzustellen. Ihre Form ermöglicht die Integration der gebäudetechnischen Installationen. Die Tragschicht erhält eine minimierte Deckschicht aus Beton in welcher sich ein Heizsystem aus standardisierten Kupferrohren befindet und womit sich der Untergrund für die Nutzschicht bildet.
03.1.3 Erkenntnissicherung
Der an der Hunstanton School angewandte Gebrauch von Material, speziell die Materialität der Füllungen, erzeugt eine inhärente bis dahin nicht vorhandene Ästhetik. Die Direktheit und das modulare Vorkommen der unverkleideten Bau- und Werkstoffe im stringenten, modernen Raster lassen den Wert, den ethisch- soziologischen, sowie den haptischen Wert der Materialien in grosser Stärke erscheinen. Die kohärente Suche der Verfasser nach der Qualität des Materials ist augenfällig und zeigt sich stringent in ihren Arbeiten. Die Materialien von „Struktur und Füllung“ erscheinen durchgängig mit einer einzigen Ausnahme, in haptisch harten Materialien. Backstein und Glas in der vertikalen Füllung; Keramische -Terrazzo und Kunststofffliesen, sowie Beton in den horizontalen Füllungen. Die Materialität der Struktur weist Stahl und Beton auf. Die in der Betrachtung erarbeiteten technisch konstruktiven Erkenntnisse lassen gepaart mit der historischen Strömung der englischen ‚as found‘ Bewegung, in welchen die Haltung dieser Bewegung klar im Projekt vertreten ist, die Hunstanton School von Alison und Peter Smithson als Archetyp des Materials definieren und führte in architekturhistorischem Wert zur Begriffsbildung „Neuer Brutalismus“. 127
Konstruktion Konstruktionsskizze zur Betrachtung 2: Innenraum Haupthalle
4
2
3
6 1
5
128
1 Struktur horizontal: Stahlbeton
2 Struktur horizontal: Stahl
3 Struktur vertikal: Stahl
4 FĂźllung vertikal: Backstein
5 FĂźllung horizontal: Holzriemen
6 FĂźllung horizontal: Terrazzo Fliesen
Konstruktion Konstruktionsskizze zur Betrachtung 2: Innenraum Obergeschoss
3
4
5
1
2 6
3
1 Struktur horizontal: Stahlbeton
2 Struktur horizontal: Stahl
3 Struktur vertikal: Stahl
4 FĂźllung vertikal: Backstein
5 FĂźllung horizontal: Fliesen
6 FĂźllung horizontal: vorfab. Stahlbeton
129
Abb. 52 Alison & Peter Smithson Hunstanton School Norwich UK, 1954 Betrachtung: „Struktur und Füllung“ als Phänomen der Hülle. Platzfassade
Abb. 53 Alison & Peter Smithson Hunstanton School Norwich UK, 1954 Betrachtung: Eingang Hauptgebäude
06 Smitshon, Peter. 2004
130
„Architecture is not concerned with the material as such but rather the raw quality of the material, that is with the question: what can it do?“ 06
Abb. 54 Alison & Peter Smithson Hunstanton School Norwich UK, 1954 Betrachtung 2: Innenraum Nasszellen
Abb. 55 Alison & Peter Smithson Hunstanton School Norwich UK, 1954 Betrachtung 2: Innenraum Haupthalle
Abb. 56 Alison & Peter Smithson Hunstanton School Norwich UK, 1954 Betrachtung 2: Innenraum Eingang Haupthalle
131
03.2 Archetyp Lage Kahn, Louis: Yale Center for British Art. New Jersey USA, 1974
03.2.0 Einleitung Das Yale Center for British Art stellt in der Arbeit Louis Kahns ein wichtiger Aspekt dar, da das Projekt gegenüber seinem ersten anerkannten Projekt, dem Yale Art Center, zu Stande kam und vom letzten entworfenen Bauwerk vor Kahns Ableben zeugt. Wie erahnbar agiert das Bauwerk als Museum für eine Sammlung der Kunst Englands, die der Mäzen Paul Mellon der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Nebst der stattlichen Kunstsammlung, die sich ab dem Erdgeschoss zeigt, sind funktionale Einheiten wie Lehrräume für die angrenzende Universität, Shops, Bibliothek und Büroräume programmatische Apsekte im Programm. Kahn beweist in seiner letzten Arbeit wiederholt grosse Affinität in der Auseinandersetzung mit funktionalen Aspekten, im Umgang mit Proportionen, augenscheinig ist die Anwendung des Proportionverhältnisses „Goldener Schnitt“, im Umgang mit Tageslicht und in der Klarheit, sowie Ideenvielfältigkeit von Erschliessungs- Trag- und Raumstruktur. Der bewusste Betrachter kennt Kahns Arbeiten im feinen Umgang mit der Masse. Das architektonische Phänomen von „Struktur und Füllung“, welche die Essenz der Masse, genauer von spür- und erlebbarer Massivität, zu trennen gar aufzulösen versucht, erscheint in Kahns Schaffen eher am Rande. Die wahrnehmungsneutrale Betrachtung der Grundrisse lässt erkennen, dass das Projekt Yale Center for British Art die Masse als generierendes Element der Architektur nur an spezifischen Stellen, die architektonisch und soziologisch grosse Wichtigkeit darstellen, aufweist. Die Auseinandersetzung mit Tragstruktur und ihrer raumdefinierenden Füllung erscheint im Yale Center for British Art in mannigfaltiger, im Sinne von abwechslungsreicher oder reichhaltiger Erscheinung. Die in allen Räumen sichtbare Trag- struktur, ein Gitterwerk aus Stahlbeton, bildet den streng starken „Rahmen“, in welchem die Raumstruktur, artikuliert durch die Anwendung oder das Weglassen der Füllung, unerwartete Vielfalt in der Horizontalen aufweist. Die homogene Ausmessung des Tragstrukturrasters wird überaus gekonnt gebrochen. In der Formulierung des Phänomens „Struktur und Füllung“ liegt eine der grossen architektonischen Stärken des Bauwerkes. In den folgenden Betrachtungen, vier der Zahl, kann die architektonische Artikulation von „Struktur und Füllung“ erläutert und die differenzierte Handhabung der Artikulation erkenntlich gemacht werden.
03.2.1 Betrachtung 1: Hülle Abb. 58 Obwohl diese Arbeit sich mit dem Phänomen „Struktur und Füllung“ der inneren Räumlichkeiten auseinandersetzt ist die Betrachtung des äusseren Antlitzes von Wichtigkeit. Das Yale Center for British Art ist eines der Projekte, das gekonnt das Phänomen an der Fassade, dem Antlitz zur Stadt und Innenraum thematisiert. Die Fassade weist tektonische Feinheiten in allen Massstäben auf. Im Massstab des Gesamtkörpers, der Maxiebene, weist die Fassade die klassische Dreiteilung von Sockel, Mittelteil und Dach auf. Im Massstab der Teiligkeit, der Midiebene, zeigt sich augenfällig nebst der harmonischen Proportionierung die Formulierung der Tragstruktur und ihrer Füllung. Es stellt sich heraus, dass durch die erhöhte Prä132
senz der Füllmasse sich zwischen Füllung und Tragstruktur eine Hierarchie der Erscheinung auftut. Die Tragstruktur weist gegenüber der Füllung die tektonische Feinheit des vertikalen Verjüngens auf. Im nun folgenden wichtigen Zoom-In auf die Miniebene, in den Massstab des Details ragen drei tektonische Formulierungen von „Struktur und Füllung“ hervor: - Die identisch geografische Lage Tragstruktur und raumfassende Füllung sind auf der selben geografischen Ebene, somit als bündig zu erkennen. - Die unterschiedliche Materialität Der nackte Beton der Tragstruktur mit der Paarung der galvanisierten Metallverkleidung der Aussenwand erzeugen eine hohe optische Qualität. Die Materialwahl der Füllung suggeriert in der Wahrnehmung Massivität. sowie: - Die allseitig umlaufende Trennung durch die Fuge, um beiden Systemteilen klareren Ausdruck zu verleihen. Die Betrachtung der Fassade dokumentiert gleich drei der in Grafik. 02 aufgezeigten architektonischen Mitteln, im Massstab des Details jedoch auf der Ebene der tektonischen Formulierung. Eine genaue Bestimmung des Archetyps lässt diese einzelne Betrachtung nicht zu.
03.2.2 Betrachtung 2: Hülle Innenraum Abb. 59 Die Betrachtung der Füllung der inneren Fassade, also dem Bauteil der Wand, der sowohl äusserer als auch innerer Raumabschluss bildet, zeigt auf, dass es sich hier um die Formulierung mit Hilfe von Materialität handelt. Die Füllung, mit Holzrahmung aus Eiche und einer Einlage aus belgischer Leine beherbergt eine durchaus hohe haptische Qualität und kontrastiert sich ausgezeichnet zur Erscheinung des nackten Betons der Tragstruktur. Nach Gottfried Sempers Theorie01 treten hier Tektonik und textile Kunst nebeneinander auf und komplementieren sich mit der stereonomen Tragstruktur. Weder die Trennung durch die Fuge, eine unterschiedliche geografische Lage noch differenzierte Massen, im Sinne der Erscheinung und nicht der physikalischen Dichte oder Härte sind erkennbar. Die Füllung der Horizontalen zu erkunden scheint, die Relevanz erhärtet sich im weiterem Vergleich der Betrachtung 3 und 4, sinnvoll. Differenziert materialisierte Bodenbeläge thematisieren „Struktur und Füllung“ in der Horizontalen. Primär und Subsystem werden be-/ verkleidet. Die horizontale Füllung weist einen textilen Belag auf, womit sich die Artikulation auf der Materialebene bei vertikaler und horizontaler Füllung kongruent verhält. Die Struktur des Gitterwerks wird mit einem Naturstein, genauer Travertin geschmückt.
03.2.3 Betrachtung 3: Innenraum Abb. 60 Die Wand des Innenraumes verhält sich differenziert zur inneren Fassade. Während die Materialien beständig auftreten, kommt hier eine weitere tektonische Formulierung zum Vorschein. Die Innenwand ist in ihrer geografischen Lage zu der Tragstruktur zurückgezogen. Diese leichte Zurücknahme hat im Zusammenspiel mit Tageslicht zur Folge, dass sich Schatten auf die Füllung wirft. Eine feine Nuance um die Tiefenwirkung zu beeinflussen. Kahn erkannte das Potential der Lage und verfeinerte die Füllung. Der Eichenholzrahmen der Füllung behält seine Position, während die Leineneinlage der Füllung leicht nach innen versetzt wird. Die Füllung weist eine 133
Dreidimensionalität und Feinheit / Leichtigkeit auf, welche ihre Rolle als nichttragendes Systemteil, als Teil des Subsystems, verstärkt. Greifen wir zurück auf die in der Betrachtung 2 erkannten Erscheinung der bekleideten Tragstruktur, wird der differenzierte Umgang von innerer Fassade und Innenraum sichtbar. Kahn zeichnet den Tragstrukturraster im Innern, durch die Bekleidung der Tragstruktur nach. Im Innenraum wird, anders als im Innern der Fassade, die Bekleidung des Strukturrasters sichtbar. (siehe Vergleich: Grafik Betrachtung 2 und Grafik Betrachtung 3). Die horizontale Füllung der Betrachtungen 2 und 4 weisen offenkundig die identische Formulierung auf. Erkannt werden zwei Artikulationen, für den Innenraum und die Angrenzung an den inneren Aussenraum (Atrium), die je nach Lage der Füllung in Erscheinung treten. Kahn schafft durch die unterschiedliche Bearbeitung der horizontalen Füllungen ein latentes Verständnis für Struktur, Konstruktion, Raum wie und Orientierung.
02.2.4 Betrachtung 4: Atrium Abb. 61 Die beiden Atrien des Yale Center for British Art durchstossen die Volumetrie vom Erdgeschoss bis zum Dach. Sie bilden als innere Aussenräume starke architektonische Qualitäten. Sonnenlicht fällt bis ins Erdgeschoss. Die visuellen, in der horizontalen sowie vertikalen Ebene, Sichterlebnisse und akustische Erlebbarkeit verleihen diesen Orten einen städtischen Charakter. Louis Kahn zeigt sich in der Ausformulierung des Spannungsfeldes „Struktur und Füllung“ äusserst intelligent. Analog zur Betrachtung 1, formuliert er die Vertikale identisch. Struktur und Füllung liegen auf derselben geografischen Ebene. Die trennende Fuge ist nicht ausschliesslich der technischen Machbarkeit zuzuschreiben, mehr einer gestalterischen Affinität / Willens, die sich an der Fassade widerspiegelt. In der Horizontalen weicht er mit der Tragstruktur leicht nach innen, so dass analog der Innenwand eine Schattenfuge entsteht und analog dem Aussenraum die Stütze sich in der vertikalen verjüngt. Die Füllung erscheint in der kongruenten Haltung der Fassadenfüllung aus einem identischen Material, hier im Atrium aus Eichenholz. In der genaueren Betrachtung der Füllung werden Rahmen und Einlage sichtbar, jenes Thema welches Kahn an den Füllungen der Innenräumlichen Abschlüssen verwendete. Das Atrium stellt somit nicht nur architektonischen und funktionalen, sondern auch in der tektonischen Formulierung eine verschmelzende Kohärenz dar.
02.2.5 Erkentnissicherung Kahns Yale Center for British Art weist unerwartet hohes Potential in der vertieften Auseinandersetzung mit dem architektonischen Phänomen „Struktur und Füllung“ auf. Die allgemeine Annahme dass Füllung einen temporäreren Charakter besitzt als die massive Tragstruktur, kann hier hinterfragt werden. Primär- und Subsystem erhalten trotz, oder genau wegen ihren unterschiedlichen architektonischen Wirkungsebenen dieselbe Wichtigkeit. Die Rolle der Füllung tritt hier nicht rein funktional- trennend, sondern quantitativ und in hohem Masse qualitativ auf. Das Yale Center for Birtish Art zeigt sich klar als Archetyp der Lage. Wie die oben vertieften Betrachtungen aufzeigen, weisen die verschiedenen Füllungen unterschiedliche Lagen zwischen der Tragstruktur auf. Kahn verdoppelt und präzisiert diese Thematik indem er die Füllungen, je nach Standort im Innern des Bauwerks, in ihrer Lage differenziert artikuliert.
134
Abb. 57 Louis Kahn Yale Center for British Art New Jersey USA, 1974 Grundriss Obergeschoss inkl. Betrachtungen
Betrachtung 1
Betrachtung 2
Betrachtung 3
Betrachtung 4
135
Abb. 58 Louis Kahn Yale Center for British Art New Jersey USA, 1974 Betrachtung 1: Hülle
Abb. 59 Louis Kahn Yale Center for British Art New Jersey USA, 1974 Betrachtung 2: Hülle Innenraum
07 Kahn, Louis. 1973
136
„Because a wall has an interior which is different from an exterior... we have come to the point where this realization now can seperate an exterior wall from an interior wall.“ 07
Abb. 60 Louis Kahn Yale Center for British Art New Jersey USA, 1974
Abb. 61 Louis Kahn Yale Center for British Art New Jersey USA, 1974 Betrachtung 4: Atrium
137
03.3 Archetyp Masse Sobek, Werner: Haus R128. Stuttgart DE, 2001
03.4.0 Einleitung 08 Kahn, Louis. 1973
09 Sobek, Werner. 2001
Die Betrachtung Werner Sobeks Haus R128 ruft unweigerlich die Worte Louis Kahns hervor. „Consider the momentous moment in architecture when the wall parted and column becam“.08 An Stuttgarter Hanglage inmitten der Landschaftschutzzone steht Werner Sobeks privates Wohnhaus, diese Manifestation der verschwundenen Wand und der entdeckten Stütze. Der Wunsch nach Freiheit und Transparenz, nach formaler Ruhe und Einfachheit, einem Maximum an Benutzerkomfort, welcher subjektiv zu beurteilen ist, und der einfachen Recyclierbarkeit der Baubestandteile liegen der Konzeption zu Grunde. Werner Sobek formuliert seine Haltung für R128 wie folgt: „Es gibt eine Architektur die sich in ihren gestalterischen und konzeptionellen Zielsetzungen als eine Architektur des 21. Jahrhunderts versteht. Eine Architektur, die den Anspruch besitzt, eine Haltung zu formulieren die der Gegenwart wie der Zukunft gleichermassen entspricht“.09 Das Haus R128 erscheint in der modernen Gestalt der „Semperschen karibischen Hütte“, der Urhütte des einundzwanzigsten Jahrhunderts, ohne Anspruch als Musterhaus verstanden zu werden.
03.4.1 Betrachtung 1: Konstruktionssystem Abb. 62- 64 In der Betrachtung des Konstruktionssystem wurden verschiedene Systematiken zur Konstruktion des Filigranbaus angestellt. Im Haus R128 entdecken wir die Artikulation des gelenkigen Filigranbaus. Über vier Geschosse entwickelt sich das Primärsystem, ein dreidimensionales Raumgitter, bestehend aus Stützen und Trägern aus Stahl. Die vertikalen und horizontalen Primärsystemteile werden gelenkig ausgebildet und gehen keine dauerhafte Verbindung ein. Wie unter 01.4 Konstruktionssystem Filigranbau erkannt, übernimmt nun die Füllung die Aussteifung und ist somit in ihrer konstruktiven Artikulation und ihrer Verbindung zum Primärsystem eingeschränkt. Um diese Prämisse der konstruktiven Artikulation zu umgehen und einen konsequent logischen Filigranbau mit seiner stringenten Recycliebarkeit zu entwickeln, umgeht Werner Sobek die Vermischung der Anforderungen an die Systemteile, indem er Windverbände, Zugstäbe aus Stahl, in der Horizontalen und Vertikalen einführt. Das Primärsystem besteht somit folgerichtig aus Stützen, Trägern und Windverbänden. Die Windverbände übernehmen die Funktion der Aussteifung womit das Subsystem, die Füllungen, die reine Funktion des räumlichen Abschlusses übernehmen können. Durch die konstruktive Formulierung / Machart der Füllung, in der weiteren Betrachtung wird darauf genauer eingegangen, wird die Massnahme der Funktionstrennung zwischen Primär- und Subsystem pointiert. In der vertieften Betrachtung des Füllungsprinzips wird die inhärente und konsequente Logik des betrachteten Konstruktionssystems klar. Die durch das Tragwerk aufgespannten Felder werden flächig durch die Füllung belegt. Die zwei Ausnahmesituationen des zweiten und vierten Geschosses stärken die Logik von Primär- und Subsystem. Belegt die Füllung nicht das ganze Rasterfeld, wie in der Betrachtung durch die vertikale Erschliessung, reagiert die Struktur systemlogisch mit dem Einsatz eines „Querträgers“. Es handelt sich somit um eine Reaktion der Struktur auf architektonische Programmänderungen. 138
Das Primärsystem und interne Abtrennungen werden auf ein notwendiges Minimum reduziert um der konsequenten Umsetzung der Filigranbauprinzipien gerecht zu werden.
03.4.2 Betrachtung 2: Hülle Abb. 65 Wie auch bei Kahn sollte die Betrachtung der Hülle getätigt werden. Die Formulierung der Hülle des Hauses R128 hat positiv starken Einfluss auf das Phänomen „Struktur und Füllung“, da die scharfe Trennung von Innenund Aussenraum, welche das Bauteil Wand in archaischeren Häusertypen vornimmt, verwirft und somit transparent den Filigranbau im Äussern zu Tage bringt sowie die innenräumliche Atmosphäre stark prägt. Leichtigkeit und Transparenz sind Themen, die der Verfasser ernst nimmt. Die sowohl optische, als auch technische Leichtigkeit des angewandten Materials Glas, erweckt den Eindruck der Leere / des nicht existierens. Die Hülle scheint regelrecht zu verschwinden. Es entsteht ein visuelles Innen- Aussenraum Kontinuum. In der Ideologie handelt es sich um die weiterentwickelte zeitgenössische karibische Hütte. Das Tragwerk, das dreidimensionale Raumgitter wird mit einer Hülle aus einer Stofflichkeit bekleidet, welche Schutz vor Natureinflüssen bietet. Denn obwohl die Hochleistungshülle den Übergang zum Innenraum fliessend preisgibt, fasst sie den Raum klimatisch und akustisch. Durch die konstruktive Formulierung der Hülle, diesem Vorsetzen oder Umhüllen, ja bekleiden des Tragwerks, stellt die Hülle keine Füllung der Struktur dar.
03.4.3 Betrachtung 3: Innenraum Abb. 66- 67 In der genaueren Betrachtung des Innenraums zeigt sich der Verzicht von vertikalen Raumtrennungen. Vertikale Füllungen existieren im Raumgitter nicht. Dieses nicht existieren kann durchaus als Leere der Vertikalen Füllung interpretiert und festgelegt werden. Diese Handlung, in Paarung mit der Transparenz der Hülle stärkt die oben erwähnte horizontale Raumausdehnung bis ins nahezu Endlose. Der Innenraum charakterisiert sich jedoch nicht nur aus der horizontalen Ausdehnung. Weitere Aspekte im Bezug auf „Struktur und Füllung“ lassen sich im Innenraum von Haus R128 erkennen. Sowohl zwischen zweitem und drittem als auch drittem und viertem Obergeschoss fällt die horizontale Füllung aus, was ein freilegen des Tragwerks und die Überführung der bis anhin horizontal in vertikal ausdehnende Innenräume zu Folge trägt. Der vertikale Innenraum entsteht somit aus der Leere der Füllung. Die materielle Leere erzeugt Raummasse. Neue visuelle und akustische Beziehungen und Raumwahrnehmungen entstehen. Das nackte, offengelegte Tragwerk wird präzise erkennbar. Der Filigranbau als System sowie seine konstruktive Artikulation wird sicht- und begreifbar. Die technische Formulierung der innenräumlichen Füllung, hier im Haus R128, wird die horizontale Füllung vertieft betrachtet, öffnet das Feld des Betrachtungsaspektes Masse und Leere erneut. Die horizontale Füllung ist sichtbar vorhanden, sie definiert und leitet die räumliche Ausdehnung im Raumgitter. Visuell ist Masse vorhanden. Verstehen wir Masse nun in einem stofflichen, wohl haptischen, gar naiven Sinne, so zeigt die konstruktive Auseinandersetzung die Ambivalenz der horizontalen Füllung. Die Füllung besteht aus mehreren Bestandteilen, Nutz-Trag-Deckschicht. Die Nutzschicht, ein wenig millimeterstarker Polyvinylchloridbelag deckt eine sechs Zentime139
ter starke Holzverbundwerkstoffplatte, welche die Nutzlasten auf die Primärstruktur leitet. Von der Tragschicht abgelöst bilden leichte Industrieelemente den unteren Abschluss und übernehmen die Anforderungen der Klima- und Elektroinstallationen. Diese drei Schichten, in ihrer konstruktiven Feinheit, liegen innerhalb der Tragstruktur und können anstandslos als Füllung definiert werden. Die Frage, die sich offensichtlich stellt, ob die visuelle Massivität auch eine technische Masse darstellt, bleibt offen. Die verwendeten Materialien sind dem „Leichtbau“ zuzuordnen. Die visuelle Masse, die Dämmung des Raumflusses ist vorhanden, jedoch die Masse im Sinne der Schwere, mit der im allgemeinen Masse in Verbindung gebracht wird, ist nicht vorhanden. 10 Sobek. 2001
140
03.3.5 Erkenntnissicherung Wo die Leere vorherrscht wird Masse definiert. Im Haus R128 wird der Filigranbau mit seinem wesenstreuen Phänomen „Struktur und Füllung“ in einer bemerkenswerten Reinheit thematisiert. Die Auflösung eines archaischen Bauteilverständnisses mit Hilfe der architektonischen Mitteln wie Masse und Leere wird manifestationsartig verdeutlicht. Der Baukörper besteht mehr aus visueller Kontinuität, aus materieller Leere und räumlich gefasster Masse, als aus materieller, stofflicher Masse. Andrea Deplazes weigert sich in seinem Buch „Architektur konstruieren“ von Leichtbau zu sprechen, denn die Leichtigkeit sei ein relativer Begriff, welcher Annäherung an Schwerelosigkeit suggeriere. Werner Sobek dagegen schreibt sowohl von „Leichtigkeit“ und „Prinzipien des Leichtbaus“ als auch von „...eines konsequenten Leichtbaus Materialminimierung zu bewirken“10. Die Definition ob Leicht- oder Filigranbau scheint zweitrangig. Beide Begriffe fordern die konstruktive Logik und Reinheit des Systems. Werner Sobek beweist in seiner intellektuellen Auseinandersetzung und seiner technischkonstruktiven Umsetzung im Haus R128 gekonnt die Handhabung mit Masse und Leere, sowohl auf der konzeptionellen als auch auf technischer Ebene, mit welchem hiermit der Archetyp der Masse bestimmt wird.
Abb. 62 Werner Sobek Haus R128 Stuttgart DE, 2001 Primärsystem Sützten & Träger Raumgitter ungerichtet
Abb. 63 Werner Sobek Haus R128 Stuttgart DE, 2001 Primärsystem Stützen & Träger & Windverband Raumgitter ungerichtet
Abb. 64 Werner Sobek Haus R128 Stuttgart DE, 2001 Primär- Subsystem Raumgitter gerichtet / definiert
141
Konstruktion Konstruktionsskizze zur Betrachtung 3: Innenraum „Struktur und Füllung“
3
4 5
2 1
1
1 Primärstystem
142
2 Aussteifung horizontal
3 Aussteifung vertikal
4 Füllung
5 Hülle
Konstruktion Konstruktionsskizze zur Betrachtung 1: Konstruktionssystem
3
2
4
1
1
1 Prim채rstruktur
2 Prim채rsystem Quertr채ger Treppe
3 F체llung horizontal
4 Leere
143
Abb. 65 Werner Sobek Haus R128 Stuttgart DE, 2001 Betrachtung 2: Hülle Die moderne Interpretation der „Sempreschen“ karibischen Urhütte.
11 Kahn, Louis. 1973
144
„Consider the momentous moment in architecture when the wall parted and column becam.“ 11
Abb. 66 Werner Sobek Haus R128 Stuttgart DE, 2001 Betrachtung 3: Innenraum Wohnraum 3-4 Obergeschoss
Abb. 67 Werner Sobek Haus R128 Stuttgart DE, 2001 Betrachtung 3: Innenraum Wohnraum 3-4 Obergeschoss
145
03.4 Archetyp Fuge Kahn, Louis: Kimbell Art Museum. Dallas USA,1972
03.4.0 Einleitung Das Kimbell Art Museum kann als Apothese des Gesamtwerkes von Louis Kahn betrachtet werden. Das Bauwerk verfügt über die Fachwelt hinaus Renommee. Im Kimbell Art Center werden mehrere Kriterien der Kahnschen Architekturprinzipien äusserst gekonnt manifestiert. In dieser Arbeit wird von diesen gut beleuchteten Kriterien, wie dem Einsatz von Tageslicht und Schatten, der Konstruktion des Tonnengewölbes als Interpretation der Gotik, der Konzeption der Sinneswahrnehmung, sowie die allgemeinen Randbestimmungen zur Formgebung abbelassen. Diese Kriterien sind die Grundsteine der Betrachtung und fliessen in diese ein, der Fokus liegt jedoch in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Struktur und Füllung“ in ihrem differenzierten Vorkommen, sowie der tektonischen Artikulation der Fuge. In der zu Beginn breit angesetzten Auseinandersetzung mit Filigranbauten wurde bis anhin kein Fallbeispiel erkannt, die dem Anspruch, in welcher die Fuge in starker Artikulation erscheint, entspricht. Alle betrachteten Referenzprojekte lassen sich in der vertieften Betrachtung als Mischbau klassifizieren. Im Gesamtsystem als Mischkonstruktion zu bewerten, weisen diese Bauten Anteile der Massiv- und Filigrankonstruktion auf. Wird die Betrachtung auf den Anteil der Filigrankonstruktion fokussiert, erscheint das tektonische Mittel der Fuge in dieser unter 02.4 erwähnten und gewünschten / geforderten Artikulation.
03.4.1 Betrachtung 1: Konstruktionssystem 12 Frampton, Kenneth. 1993
146
Das Kimbell Art Museum als Gesamtsystem in seiner Zweigeschossigkeit wird unabweisbar als Mischbau erkannt und fällt somit in der Reinheit der angestrebten Betrachtung aus. Die Konstruktion des Kimbell Art Museum wird in einer Art von Zweiteiligkeit notiert. Durch die Abtreppung des Geländes entsteht ein „Erdbau“12, ein massiver Sockel, auf welchem der Filigranbau auf dem Niveau des Eingangs zu liegen kommt. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass sowohl Form und Konstruktion als auch Raum und Struktur einander bedingen und sich in einem kohärenten Gesamtwerk vereinen. Der Anteil des Mischbaus, welcher die Filigrankonstruktion aufweist, hält in seiner Artikulation des Phänomens „Struktur und Füllung“ verborgenen Reichtum inne, womit die Betrachtung fortgesetzt werden sollte. Das Primärsystem definiert sich als „simples“ Gerüst aus Stützen und Trägern aus Stahlbeton. Das Strukturkonzept, folglich auch das Raumkonzept, gründet auf der Addition eines Grundelements in der x und y Achse. Das Grundelement der Struktur sowie des Raumes, und hier liegt eine der Stärken des Entwurfes, kann alleine oder in Verbindung das Gefühl von Vollkommenheit vermitteln. So simpel sich das technische Prinzip des Primärsystems zeigt, desto differenzierter wird die konstruktive Artikulation der Primärsystemteile angegangen. Die Detaillierung der Stützen findet Anklang in der klassischen Dreiteilung der griechischen Säule mit Sockel, Schaft und Krone und wird somit in ihrem Wesen historisch verortet. Die Festlegung der Fuge zwischen den Primärsystemteilen und Phänomenteilen ist des Vermerkes wert. Stütze und Träger sowie Träger und Füllung werden mit einer präzis erarbeiteten, in ihrer Wahrnehmung deutlich hierarchisch unterordnenden Ausbildung der Fuge voneinander getrennt.
Das Tonnengewölbe, darf als horizontale Füllung klassifiziert werden, welche den Raum nicht rein zwischen der Struktur definiert, sondern eine räumliche Erweiterung in die Vertikale zulässt. Ein solcher Gebrauch von raumerweiternder Füllung ist in der Auseinandersetzung der vier Fallbeispiele neu und Bedarf der Wissensverankerung. Die Füllungen der Vertikalen weisen zwei unterschiedliche Vorkommen auf, welche in den Betrachtungen 2 & 3 genauer erörtert werden. Ohne stark in die Kunst des Ingenieurwesens zu gleiten, scheint die folgende Betrachtung offenkundig. Durch den Erkenntnisgewinn der Konstruktionsbetrachtung in 01.4 Konstruktionssystem Filigranbau können präzise Aussagen zur Aufgabe der Füllung im Konstruktionssystem des Kimbell Art Museum formuliert werden. Das Primärsystem lässt sich in der Analyse als gelenkig erkennen. Die Füllungen der Horizontalen und der Vertikalen übernehmen unterschiedliche konstruktive Aufgaben im Primärsystem. Während die horizontale Füllung, das Tonnengewölbe, keine Aufgaben im Primärsystem übernimmt und somit als „reine Füllung“ erkannt wird, erfüllt die vertikale Füllung an der Fassade Anforderungen des Primärsystems, mit Charakter der Aussteifung des Gitterwerks und kann als „Mischfüllung“ kategorisiert werden. Diese differenzierte technische Anwendung der Füllung wird als Potential erkannt. Kontrastierend zu vermerken ist tektonische Formulierung der vertikalen Füllung. An der Innenseite der Fassade negiert, oder besser widerlegt Kahn die Wichtigkeit der Mischfüllung indem er die applizierte Travertinverkleidung durch eine architektonisierte Fuge die Vertikale deutlich von der Horizontalität trennt. Optisch, ohne das erlangte konstruktive Wissen, vermittelt die Fugenbildung die Irrelevanz der Füllung für das Primärsystem. Wesen und Optik sind im höchsten Grade paradox. In der Betrachtung der inneren Fassade wird genauer auf die Funktion dieser Fuge eingegangen. Technisch betrachtet weisen für das Gesamtsystem die Füllungen der Vertikalen, welche vorwiegend an der Grenze von Innen zu Aussen auftreten, einen grösseren Stellenwert auf. In höchster Kontrastierung, gar Widersprüchlichkeit dazu verhält sich die Betrachtung / Wahrnehmung des Raumes. Die horizontale Füllung, welche technisch geringe Relevanz aufweist, ist raumund konzeptionsdominierend. Wird die Analogie, und diese scheint berechtigt, zur Materialisierung beider Füllungen errichtet, kann die identische doch gegensätzliche Haltung kristallisiert werden. Die raumdominierende Füllung wird nicht rein aus technischen Belangen in / als „flüssige“ Haut des Stahlbetons artikuliert. Kahns Umgang mit Stahlbeton zeugt in mehreren Bauten von grosser Sorgfalt und wird auf keinen Fall hier in der Wertschätzung gemindert und doch bleibt Stahlbeton ein Baustoff der „minderen“ Wertigkeit. Die statisch wirksame Füllung, eine Wand aus industrieüblichen Backsteinen, wird mit Naturstein, genauer Travertin verkleidet und erhält somit auf der Ebene Materialität hohe Präsenz. Ermittelt wird ein subtiler Umgang mit den Bestandteilen der Architektur welcher wahre Begeisterung auslöst.
03.4.2 Betrachtung 2: Innenraum Strukturaddition Längsachse Abb. 71 Die erste Betrachtung fällt auf die Situation bei welcher das Grundelement der Struktur somit auch des Raumes in die Repetition übergeht. Durch den Vorgang der Addition des Grundelements in der Längsachse zu einer Einheit, wird der wahrnehmbare Raum in die Länge manifestiert. In dieser Entwicklung der Wiederholung wird die Fuge als zentrale Thematik der Aus147
einandersetzung erstmals gefestigt. Die Grundmodule werden nicht sec aneinander gereiht und in ihrer Addition somit negiert. Der Akt des Trennens manifestiert durch die raumhaltige Fuge, beeinflusst die grossmassstäbliche Wahrnehmung des Bauwerks sowie den Innenraum. Der Umgang mit der Füllung zwischen beiden Grundmodulen lässt Rückschlüsse auf historische Referenzen zu. Den Bruch in der Tiefenwirkung des Einheitsraumes modelliert Kahn durch den Einsatz der Füllung zwischen den Tragstrukturen beider Grundmodule. Die Füllung erscheint als mobiles Element, als Faltwand, welche bei Bedarf den Einheitsraum in einzelne Grundräume trennt. Die Parallele zur mobilen Füllung der japanischen Paläste sei erlaubt.
03.4.3 Betrachtung 3: Innenraum Strukturaddition Querachse Abb. 72 Die Addition des Grundelements erfolgt nicht nur in der Längsachse sondern auch in der zum Grundmodul gerichteten Querachse. Wie in der Längsrichtung wird zwischen der Struktur der Grundmodulen Raum aufgespannt. Die Betrachtung fällt auf den Bereich der horizontalen Strukturelemente, den Trägern und der abgehängten Füllung. In der Untersicht handelt es sich um eine „Beplankung“ der Struktur, womit diese Betrachtung hinterfragt werden könnte, da die Systemteile in der Untersicht nicht erkennbar sind und dies eine anfangs gestellte Prämisse darstellt. Die Betrachtung der Ansicht des Trägers und der Füllung lässt jedoch die Betrachtung als relevant festigen. Erkennbar werden „Struktur und Füllung“, welche durch eine optisch stark wahrnehmbare Fuge in der Horizontalen voneinander getrennt werden. Die Fuge übernimmt die optisch - ästhetische Anforderung der Trennung der Phänomenteile und die technische Aufgabe der künstlichen Belüftung der Raummodule / des Einheitsraumes. In der Detailsicht lässt Kahn die abgehängte Füllung an beiden Stirnseiten verjüngen. In der Dreidimensionalität des Fokus erleichtert diese Massnahme die Manifestierung der Fuge als „Wunde“ zwischen grober Tragstruktur und filigraner Füllung. Bedeutungsvollerweise kann hier eine äusserst gelungene Architektonisierung der technischen Ansprüche an Architektur geltend gemacht werden. Nebst Struktur und Raum, Form und Konstruktion, bilden Technik und Konstruktion eine vollkommene Einheit.
12 Kahn, Louis. 1972
148
03.4.4 Betrachtung 4: Hülle Innenraum Abb. 72- 73 Die tektonische und intellektuelle Auseinandersetzung Louis Kahns mit der Fuge, verstärkt die Haltung einer integralen Architektur. Die Füllung des Stützenrasters wird als klassisches Bauteil ausgeführt. Im Äussern wie im Innern der Fassade ist das tektonische Mittel Fuge zwischen „Struktur und Füllung“ prägendes Element. In der Betrachtung im Konstruktionssystem wurde bereits grob auf die horizontale Fuge der inneren Fassade verwiesen. Die Fugenbildung in der vertikalen Füllung kontrastiert sich in ihrem Wesen zum Charakter der Statik, ist jedoch in mehrfacher Beziehung zum Ganzen wirksam, womit der Einsatz der Fuge als polyvalent bezeichnet werden kann. Ist es an der unter 03.4.02 beobachteten horizontalen Fuge der Auslass der zugeführten Frischluft, wird die Abluft über die Fuge an der Innenseite der Aussenwand nach aussen transportiert. Die Fuge der horizontalen, welche unter 03.4.02 beobachtet wurde, bildet mit der hier aufgeführten Fugenbildung eine technische Systemeinheit.
Die Fuge zwischen dem Tonnengewölbe und der vertikalen Füllung, welche eine leicht konische Artikulation aufweist, bezieht sich zum einen auf eine intellektuelle - spirituelle Natur, den Umgang mit Tageslicht, welches Kahn nicht rein für die Belichtung des Innenraumes nützt, sondern ihm hohe ästhetische Fähigkeiten zuschreibt und zum anderen auf tektonische Kriterien, die wie es Kahn formuliert „Ornament und Dekoration“12 voneinander trennen. Kahn weist in der Idee der horizontalen, gebogenen Fuge auf den Transport des „grünen“ Lichts, des Lichts der Umgebung in den Innenraum hin. Somit unterscheidet er ganz fundamental von der Fuge in der Vertikalen, dem Licht der Umgebung, und der Fuge in der Horizontalen, dem Zenitallicht, dem Licht der Sonne. Das Auftreten des Begriffspaares Licht und Schatten, somit hell-dunkel, lässt sich bei der horizontalen Fuge präzise beobachten. Während des Tages erscheint die Fuge im Aussenraum als „dunkler“ konischer Schlitz, welcher Struktur und Füllung trennt, wobei in der innenräumlichen Betrachtung die Fuge gefüllt von strahlendem Licht die Struktur zu tragen scheint, somit verblüffend, einen verbindenden und nicht trennenden Charakter einnimmt. In der Nacht kontrastiert sich diese Erscheinung und verlagert sich gegensätzlich. In der tektonischen Abhandlung benennt und unterscheidet Kahn die mit Travertin verkleidete Füllung als Dekoration und die Tonnengewölbe, welche an beiden Stirnseiten verstärkt ausgebildet werden, sodass eine optische Anlehnung an das Bild eines Trägers erzeugt wird, als Ornament. 03.4.5 Erkenntnissicherung Die anfängliche Schwierigkeit, ein Fallbeispiel des Filigranbaus mit der gewünschten relevanten Existenz des tektonischen Mittels der Fuge zu bestimmen, ist mit dem Kimbell Art Musem überwunden. Trotz der hohen haptischen und ästhetischen Präsenz der Materialität von „Struktur und Füllung“, und die unterschiedlichen Massen und Vorkommen der Füllungen ist die Bestimmung des Fallbeispiels als Archetyp der Fuge folgerichtig und nach Ausführung der Betrachtungen verständlich. Die vier angestellten Betrachtungen erläutern den Umgang mit der Fuge nicht umfassend und zeigen doch die hohe Vielseitigkeit in der Erscheinung und polyvalenz der Bedeutung auf. Bewundernswerterweise nutzt Louis Kahn die Fugenbildung in einer Paarung von Gestaltungswille, technische Anforderungsbewältigung und intellektueller Auseinandersetzung. Die Trennung oder das Loslösen von Teilen bezeichnet das Urwesen der Fuge. Kahns Genius im Umgang mit der Fuge stärkt und verwirft dieses innehaltende Urwesen in ein und derselben Artikulation. Ein unauflösbarer Widerspruch, eine gewisse Ambivalenz, welche das Kimbell Art Museum beherbergt, formt die Quelle der mystischen Seele des Bauwerks. 149
Betrachtung 3
Betrachtung 2
Betrachtung 1
Abb. 68 Louis Kahn Kimbell Art Museum Dallas USA, 1972 Grundriss Eingangsgeschoss. inkl Betrachtungen
150
Betrachtung 4
Konstruktion Konstruktionsskizze zu Betrachtung 3 / 4: Strukturaddition Querachse / Hülle Innenraum
6
3
2
5
1
4
1 Struktur vertikal
2 Struktur horizontal
3 Struktur gewölbt
4 Füllung vertikal
5 Füllung horizontal
6 Füllung gewölbt
151
Abb. 69 Louis Kahn Kimbell Art Museum Dallas USA, 1972 Betrachtung: Fassade Eingang „Portikus“: Fassung / Einbezug des Aussenraums
Abb. 70 Louis Kahn Kimbell Art Museum Dallas USA, 1972 Betrachtung: Querfassade. „Erdau“ & Filigrankonstruktion
13 Kahn, Louis. 1972
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„Ich habe das Glas zwischen den Konstruktionsgliedern und den Gliedern, die nicht zur Konstruktion gehören gesetzt, denn mit der Verbindung fängt das Ornament an. Dies muß von der Dekoration unterschieden werden, die einfach appliziert ist. Das Ornament ist die Verherrlichung der Verbindung.“ 13
Abb. 71 Louis Kahn Kimbell Art Museum Dallas USA, 1972 Betrachtung 2 : Strukturaddition Längsachse
Abb. 72 Louis Kahn Kimbell Art Museum Dallas USA, 1972 Betrachtung 4: Hülle Innenraum
Abb. 73 Louis Kahn Kimbell Art Museum Dallas USA, 1972 Betrachtung 3: Strukturadditon Querachse
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04 Reminiszenz 04.1.0 Reminiszenz: Semper Die Einleitung und Grundlage in die intellektuelle Auseinandersetzung setzte Gottfried Semper mit der Abbildung der karibischen Urhütte. Mit der Skizze wurden Bestandteile von Struktur und Füllung erahnt und die Neugier zum Phänomen geweckt. In der vertieften Betrachtung mit dem Konstruktionssystem kann stringent der Rückschluss auf diese Inspirationsnotiz gezogen werden. Die karibische Urhütte, in Analogie zu den Urhütten der Kulturvölker, weist als Konstruktionssystem die Filigrankonstruktion auf. Die Diskrepanz zwischen einleitender Inspiration und erarbeiteter Thematik wird in der Prämissenbetrachtung ersichtlich. Die Sempersche Theorie, die von der „Mattenumhegung als Raumabschluss oder Wand“ zeugt, und die Analogie zur menschlichen Haut aufweist, stellt eine Verkleidung oder Verhüllung der Struktur und somit eine Beplankung der Struktur dar. In der innenräumlichen Betrachtung kann die Beplankung denselben Charakter wie die zurückgezogene Füllung stellen. Die konzeptionelle sowie konstruktive Natur der Beplankung separiert sich jedoch von den Wesenszügen der Füllung. Als weiterführende Thematik, die sich durch die „Sempersche“ Theorie formulieren und erweitern lässt, erhärten sich die Phänomenteile von „Struktur und Hülle“.
04.1.2 Reminiszenz: Filigranbau- Mittel der Tektonik - Archetypen Die vier untersuchten Archetypen weisen das identische Konstruktionssystem oder im Falle des Kimbell Arts einen hohen losgelösten Anteil im Gesamtsystem, den Filigranbau auf. Funktionen oder Gebäudeart der Archetypen, von einem Wohnhaus über eine Bildungsstätte, ein Museum mit integrierten Lehrräumen bis hin zu einem reinen Kunstmuseum sind vertreten. Diese breite Fächerung der Funktion lässt erkennen, dass der Filigranbau nicht nur einzelnen funktionsspezifischen Gebäudetypen zugeschrieben werden kann. Wie einleitend erwähnt, scheint die Fokussierung des Konstruktionssystems auf den Filigranbau, in der vertieften Auseinandersetzung seine Relevanz zu erhärten. Das architektonische Phänomen „Struktur und Füllung“ kann im Konstruktionssystem Filigranbau in wesensgetreuem, als reines Vorkommen in Erscheinung treten. Das dreidimensionale Raumgitter, in welchem sich Raum undefiniert, respektive unmessbar aufspannt, wird erst durch den Einsatz von Füllung zu architektonisch definierten, somit messbarem Raum. Der Einsatz der Füllung erfolgt nur in diesem Konstruktionssystem in den euklidischen Ebenen, der Horizontalen und der Vertikalen. Dieses differente Vorkommen, von horizontaler und vertikaler Ebene, lässt eine innenräumliche Artikulationskonzeption zu, welche als systemgerecht oder kohärent definiert werden kann. Die eindeutige Definition der Case Studies zu den tektonischen Mitteln zu vier Archetypen, wurde ohne Zweifel auch unter Beizug einer persönlichen
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Meinung beschlossen. Das Yale Art Center von Louis Kahn stellt entscheidend das Fallbeispiel dar, bei welchen der Betrachtungsfokus zu Beginn auf das Material gelegt wurde. Erst in der genaueren Analyse wurde die Artikulation mit der Lage erkannt und als sinnfälliger bewertet. Gerade bei den zwei Fallbeispielen die aus der Hand Louis Kahns stammen, wird die intensive Auseinandersetzung Kahns mit den tektonischen Mitteln, Material, Lage, Masse und Fuge in beiden Projekten erkannt. Die vier Archetypen nutzen je die vier tektonischen Mittel in einer bemerkenswerten Feinfühligkeit und schöpfen deren Potential, mit dem Ergebnis der erhöhten Qualität des Innenraums, aus. Die tektonischen Mittel lassen sich als entwurfsrelevante Werkzeuge entdecken und festlegen.
04.1.3 Reminiszenz: Verfasser
Die vorliegende Arbeit entstand im ersten Mastersemester des Verfassers, im Modul „Vertiefungsarbeit“, an der Hochschule Luzern T&A. Nicht das Aufstellen und Widerlegen oder Bestätigen einer These, sondern das Forschen über ein Phänomen der Architektur steht als zentraler Aspekt im Vordergrund der vorliegenden Arbeit. Das architektonische Phänomen in ihrer Wichtigkeit zu entdecken und erkennen und dem Verstand anzueignen, bildet einen ersten Aspekt der Relevanz der Arbeit. Die vom Verfasser recherchierte Literatur weist geringe Vorkommnisse über das Phänomen auf. Einen hohen Anteil der aufgeführten Erkenntnisse in Sprache und Bild festgehalten, sind selbstständig in der PhänomenAuseinandersetzung entstanden und durch eine kritische Hinterfragung geprüft. Die Mehrheit der aufgeführten Referenzbeispiele waren dem Verfasser bis zur Recherche unbekannt. Jene die als bekannt galten, wurden unter den aufgeführten Betrachtungsschwerpunkten neu entdeckt. Der zu Beginn aufgeführte Bilderrausch versinnbildlicht nicht nur die Herangehensweise, sondern zeigt dem Verfasser und, so fällt die Hoffnung auch dem aufmerksamen Leser, führt die Gesamtheit und Relevanz des vertieften Phänomens von „Struktur und Füllung“ im Innenraum vor Augen. Die Relevanz kann zum einen dem vertieften Wissenserwerb / Wissenserweiterung und der neuen „Sicht auf die Dinge“ zugeschrieben werden, dieser neuen „Brille“, zum anderen wird auf die persönliche Entwicklung der selbständigen Herangehensweise in einem bis anhin wenig erfahrenem Arbeitsfeld, dem der Arbeit mit dem Werkzeug der Schrift, hingewiesen Zu Beginn stand die Neugier, ein Wille Wissen zu erwerben, welche durch den Prozess hindurch standhielt, gar, je präziser die Auseinandersetzung stattfand, zunahm. Entstanden ist eine Vertiefungsarbeit, der das Ziel inne liegt, das Interesse am Phänomen „Struktur und Füllung“ an den Leser zu tragen und Wissenserwerb zu ermöglichen.
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Bibliografie
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Abbildungsverzeichnis Abb. 01 Abb. 02- 04 Abb. 05- 06 Abb. 07- 10 Abb. 11- 13 Abb. 14- 16 te.jpg Abb. 17- 18 1988. 2.5.2 Abb. 19- 20 Abb. 21- 23 Abb. 24- 26
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Abb. 34- 36 Boga, Thomas: Tessiner Architekten. 1960-1985. Bauten und Entwürfe. Zürich: Publisher, 1986 Abb. 37 -38 Alfonso Perez-Mendez : Craig Ellwood. 15 Houses. Barcelona SP: Gustavo Gili, 2004. ISBN: 978-8425220104 Abb. 39- 40 http://living-for-sophisticated-people.blogspot.ch/2012/02/ishimoto-yasuhiro-picturing-modernism.html Abb. 41- 43 http://www.maxdudler.com/27-0-Folkwang+Bibliothek+Essen.html Abb. 44- 45 http://www.idesignarch.com/phantom-lopera-restaurant-paris/ Abb. 46- 47 Beyeler, Therese: Fritz Haller, bauen und forschen. Dokumentation zur Ausstellung. Olten CH: Walter Verlag, 1988. 2.5.2 Abb. 48 Johnson, Philip: School at Hunstanton Norfolk. In: The architectural Review. London, 1960. S. 152162. Abb. 49 Prown, Jules David: The Architecture of the Yale Center for British Art. New Haven USA & London UK: Yale University Press, 2009. ISBN: 978-0-300-14964-7 Abb. 50 Sobek, Werner: R128, Bauen im 21. Jahrhundert. Berlin DE: Birkhäuser Verlag AG, 2001. ISBN: 978-3-76436-6698 Abb. 51 http://farm7.staticflickr.com/6205/6069891137_28b17dfb42_b.jpg Abb. 52-56 Johnson, Philip: School at Hunstanton Norfolk. In: The architectural Review. London, 1960. S. 152162. Abb. 57 Prown, Jules David: The Architecture of the Yale Center for British Art. New Haven USA & London UK: Yale University Press, 2009. ISBN: 978-0-300-14964-7 Abb. 58-61 http://britishart.yale.edu/sites/default/files/imagecache/collections_highlight_lightbox/images/architecture/ photo_tour Abb. 62-67 Sobek, Werner: R128, Bauen im 21. Jahrhundert. Berlin DE: Birkhäuser Verlag AG, 2001. ISBN: 978-3-76436-6698 Abb. 68 Johnson, Neil E: Light is the Theme: Louis Kahn and the Kimbell Art Museum. Fort Worth Texas USA: Kimbell Art Museum, 1975. ISBN: 978-0-91280-403-3 Abb. 69- 70 http://www.bluffton.edu/~sullivanm/texas/ftworth/kimbell/vaultlong.jpg Abb. 71- 73 http://farm7.staticflickr.com/6182/6069891911_7bf70dfb32_b.jpg Abb. n.v. Hauri, Daniel. Luzern, Oktober 12 - Januar 2013. (Abbildungen nicht verzeichnet)
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157
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Räumliche Vielfalt in modularen Raumstrukturen Raumexperimente fßr das Hochhaus
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Master in Architektur
Fokus Struktur Herbstsemster 2012
Vertiefungsarbeit
21.01.2013
Dozenten: Oliver Dufner Natalie Plagaro Cowee Student: Stefan Kunz
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Abstract
Ausgehend vom historischen Phänomen des Strukturalismus und dessen Umgang mit Modul und Raster, wurde versucht, die Vorteile der Modularität aufgrund ihrer Relevanz für die heutige Zeit, auf den Entwurf von Hochhäusern zu projizieren. Wichtige Kriterien dabei waren die Arbeit im Schnitt und das Erzeugen räumlicher Vielfalt. Anhand der Analyse der strukturalistischen Projekte der niederländischen Architekten Aldo van Eyck und Herman Hertzberger entwickelten sich die Entwurfshaltungen der Modul-Variation und der Raster-Variation, welche ihren Umgang mit Modul und Raster interpretieren. Mit Hilfe von schematischen und im Modell durchgeführten Raumexperimenten wurde das Potenzial dieser Entwurfshaltungen für den Entwurf im Schnitt getestet. Die Methodik der schematischen Entwürfe stützte sich unter anderem auf die Arbeiten von Jean-Nicolas-Louis Durand und J.P. Steadman. Die aus den Raumexperimenten gewonnenen Resultate, machten im direkten Vergleich die Vor- und Nachteile der Entwurfshaltungen sichtbar. Während bei der Raster-Variation der Entwurfsprozess eher induktiv, also vom Einzelteil zum Gesamtsystem stattfand, war der Ablauf bei der Modul-Variation deduktiv, begann also beim Gesamtsystem und endete im Einzelteil. Somit liegen die Vorteile der entstandenen Entwürfe bei der Raster-Variation mehr auf der Entwicklung innenräumlicher Beziehungen und diejenigen der Modul-Variation eher beim Ausdruck des Gesamtsystems. Ein Teil der gewonnenen Erkenntnisse floss in den Entwurf des Fokusprojektes ein und konnten dort quasi im Labor zusätzlich geprüft werden. Diese Überprüfung hat gezeigt, dass die Untersuchungen dieser Arbeit zu Modul und Raster eine hohe Relevanz für das Entwerfen räumlicher Vielfalt im Hochhaus haben.
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1. Historisches Phänomen
Struktur als Ordnungssystem findet auf allen Massstäben der Architektur seine Anwendung. Von der Stadtplanung bis zum Materialaufbau durchdringt sie alle Ebenen. Die Strömung des Strukturalismus, welche in den 1960er Jahren ihren Anfang fand, setzte sich intensiv mit dieser Thematik auseinander. Dabei beschränkte sich die Fokussierung keineswegs nur auf die Architektur, sondern schloss unter anderem auch Bereiche wie Sprachwissenschaften, Ethnologie oder Psychoanalyse mit ein. Beim Strukturalismus geht es in allen Fachgebieten darum, die grundlegende Ordnung von Phänomenen zu entdecken. Gemäss Arnulf Lüchinger beschreiben verschiedene Strukturalisten eine Struktur ungefähr wie folgt: „Sie ist ein Ganzes von Beziehungen, worin die Elemente sich verändern können und zwar so, dass diese vom Ganzen abhängig bleiben und ihren Sinn erhalten. Das Ganze ist selbstständig in Bezug auf die Elemente. Die Elemente sind auswechselbar, nicht aber die Beziehungen“.1) „Die Elemente“ können in der Architektur der Strukturalisten als RaumModule benannt werden, während „das Ganze von Beziehungen“ als Raster bezeichnet wird. Damit haben wir ordnende und zu ordnende Elemente. Dies kann sowohl auf Stadt-als auch auf Gebäudestruktur bezogen werden. Der Niederländer Aldo van Eyck war einer der prägendsten Architekten im Strukturalismus. Mit seinem Entwurf für das Waisenhaus in Amsterdam überführte er seine strukturalistischen Theorien in die gebaute Praxis und antwortete auch auf die Frage der Problematik der Entwurfs mit gleichen Modulen. Er versuchte mit diesen Modulen trotz ihrer Ähnlichkeit eine räumliche Vielfalt zu generieren. Dieses Phänomen ist die Ausgangslage für die folgenden Untersuchungen. Als weiterer wichtiger Vertreter des Strukturalismus ist Herman Hertzberger zu nennen. Der ebenfalls niederländische Architekt gehörte von 1959 bis 1963 zusammen mit Aldo van Eyck und Jaap Bakema zur Redaktion der Zeitschrift Forum. Das Projekt Centraal Beheer von Herman Hertzberger und das Waisenhaus von Aldo van Eyck, bilden in dieser Arbeit das Fundament für die Betrachtung von Modul und Raster. 2. Gründe für Modularität
Sowohl der Funktionalismus (1920-1960), als später auch der Strukturalismus (ab 1960), griffen auf klare Strukturen und die Arbeit mit Modulen zurück. Die Gründe dafür waren teilweise deckungsgleich. Ein wichtiger Punkt war die Wirtschaftlichkeit der industriellen Produktion, welche eine Vereinheitlichung der Bauelemente mit sich brachte. Beim Strukturalismus, welcher in Ländern wie Japan und Holland stark vertreten war, gab es zudem die grössten Bevölkerungsdichten. Um dem Problem des ungeordneten Zusammenwachsens entgegenzuwirken, wurden Strukturpläne erstellt, welche städtische Baumassen sinnvoll gliedern. Um diese grossen Bauaufgaben zu bewältigen, war die Arbeit mit Modulen hilfreich. Herman Hertzberger beschreibt das Phänomen von Sprache und Spre-
1) Lüchinger 1981, S. 16
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chen, wonach man sich solange versteht wie man gewisse Grundregeln der Sprache befolgt. Sprechen Elemente einer Stadt oder eines Gebäudes eine ähnliche Sprache, werden sie als zusammengehörendes Ganzes wahrgenommen, welches einer gemeinsamen inneren Logik folgt. Dies kann unter anderem erreicht werden, indem man beim Entwurf mit Rastern und Modulen arbeitet. Weiter wünscht sich Hertzberger polyvalente Räume, die dem Nutzer die Möglichkeit geben, Räume nach seinen Vorstellungen anzueignen, was eine bessere Identifikation zur Folge hat. Er meinte dazu: „Die grössere Vielfalt der alten Stadt wird sicher nicht verursacht durch stärker ausgebreitete und reichere Gegebenheiten, sondern durch eine Folge von vielfach untereinander nicht stark abweichender Räume, die durch ihre grössere Polyvalenz eine persönliche Interpretation möglich machen“.2) Modularität hat das Potenzial auf diese Aussage einzugehen. Es entstehen ähnliche Räume, welche die Nutzer unterschiedlich bespielen können. 3. Probleme der Modularität
Die Modularität lieferte viele Antworten auf die Fragen jener Zeit, warf aber auch neue Fragestellungen auf. Im Funktionalismus wurden nach Meinung der Strukturalisten viele ästhetische Probleme, die durch Wiederholung entstehen, nicht gelöst. Werden etwa gleiche Raum-Module in ein starres Raster gelegt, droht die Gefahr von Monotonie. Gerade in der Stadt kann dies für Bewohner zu Schwierigkeiten bei der Identifikation mit der gebauten Umwelt führen. Natürlich beschränkt sich dieses Phänomen nicht nur auf das Äussere eines Gebäudes, sondern hat auch Einfluss auf die räumliche Vielfalt im Innern, die dadurch reduziert wird. Viele Ansätze der Strukturalisten hatten zum Ziel diese Probleme, deren Ursprung sie im Funktionalismus sahen, zu überwinden. So versuchten sie die Planung immer als Ganzes zu erfassen und darin die Teile zu entwickeln, während bei den Funktionalisten der Fokus auf der Entwicklung der Teile lag, die dann zu einem Ganzen zusammengefügt wurden. Dies führte zu den genannten Problemen in der funktionalistischen Planung, wo das Ganze lediglich die Aneinanderreihung der Einzelteile ist, woraus eine starke Vereinheitlichung resultierte. Aldo van Eyck versuchte mit seinen Entwürfen auf die oben erwähnte Problematik eine Antwort zu geben. Er wollte, trotz der Wiederholung von Einheiten, räumliche Vielfalt generieren. Aldo van Eyck spricht in diesem Zusammenhang von „Harmonie und Bewegung“ sowie „Ästhetik der Anzahl“. Aldo van Eyck umschrieb das Problem wie folgt: „Bei Projekten sollte versucht werden, die ästhetischen Probleme zu lösen, die wie folgt entstehen: durch die Normung von Konstruktionselementen, durch die Wiederholung von gleichen und ungleichen Wohnungen in einer grösseren Quartier-Einheit, durch die Wiederholung oder Gruppierung von solchen Quartier-Einheiten, gleich oder ungleich, durch die Wiederholung von solchen Quartier-Gruppen, gleich oder ungleich“.3)
2) Lüchinger 1981, S. 54
163
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1
Ernst May. Siedlung Römerstadt. Frankfurt am Main. Deutschland. 1927-1929. Siedlung des Funktionalismus.
2
Herman Hertzberger. Verwaltungsgebäude Centraal Beheer. Apeldoorn. Niederlande. 1968–1972. Gebäudekomplex des Strukturalismus.
Er äusserte sich dazu weiter: „Differenzierung und Einheit durch Rhythmus und Subrhythmus - wenn wir das grosse Problem der Quantität lösen wollen, das aus der enormen Wohnungsfrage der breiten Bevölkerung entstanden ist, dann müssen wir unsere ästhetische Empfindung erweitern. Wir müssen die noch immer verborgenen Gesetze der sogenannten „Harmonie in Bewegung“ aufdecken - die „Ästhetik der Anzahl“. Quantität kann nicht vermenschlicht werden ohne eine feinfühlige Artikulation der Anzahl“.4) Gerade mit seinem Projekt für das Waisenhaus versuchte van Eyck diese Aussagen umzusetzen, indem er Variationen in der Modularität einplante und diese unterschiedlich im Raster platzierte. 4. Relevanz Sowohl die Gründe für Modularität als auch die daraus resultierenden Probleme sind in Architektur und Städtebau nach wie vor aktuell. Der wirtschaftliche Druck ist bei Bauprojekten ein ständiger Begleiter, welcher durch die Vorfertigung von Bauelementen etwas gedämpft werden kann. Auch die Identifikation mit einer Stadt oder einem Gebäude wird heute weiterhin vertieft diskutiert. Besonders bei grossen Neubauprojekten ist es zentral, für die Bewohner Adressen und Wohnorte zu schaffen zu denen sie einen Bezug aufbauen können. Ebenso gegenwärtig sind in der Schweiz die Probleme von Wohnungsmangel und Bevölkerungsdichte, welche mit Schlagworten wie Verdichtung und Zersiedelung omnipräsent sind. Wenn von Verdichtung die Rede ist, wird das Bauen in die Höhe, gerade beim Mangel an Bauland, oftmals als probates Mittel in Betracht gezogen. Auch beim Hochhaus gilt es eine grosse Gebäudemasse zu gliedern und zu strukturieren. Beim Entwurf ist dabei eine klare Struktur erforderlich, wobei die Arbeit mit Modulen hilfreich ist. Hier sind die Ansätze der Strukturalisten für die Planung grosser Dichte mit einheitlichen Teilen spannend. 5. Zielsetzung
Das Ziel dieser Arbeit ist es, in schematischen Entwürfen und Raumexperimenten, das Potenzial strukturalistischer Ansätze für die räumliche Vielfalt im Hochhaus zu untersuchen. Gearbeitet wird dabei mit Raummodulen zur Schaffung von Raumstrukturen, wobei die Tragstruktur als dienendes Element formuliert wird und nicht im Zentrum der Betrachtung steht. Durch eine Reihe von Variationsmöglichkeiten mit ähnlichen Modulen soll räumliche Vielfalt erzeugt werden. Die Schaffung dieser Vielfalt liegt gerade beim Hochhaus auch in der Arbeit mit dem Schnitt und der Raumerweiterung in der Vertikalen. Mit Hilfe der erwähnten Raumexperimente werden Schlüsse für die Qualität der räumlichen Vielfalt gezogen.
3) Lüchinger 1981, S. 36 4) Lüchinger 1981, S. 38
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3
Waisenhaus in Amsterdam
4 Dachlandschaft
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6. Analyse historischer Beispiele 6.1. Aldo van Eyck - Waisenhaus Amsterdam
Das zwischen 1957 und 1960 erbaute Waisenhaus setzt viele der theoretischen Ansätze von Aldo van Eyck um. Er dachte das Haus als kleine Stadt mit dem Grundgedanken, dass die Stadt wie ein grosses Haus sein sollte.5) Er sprach dabei im Gebäudeinnern von Plätzen und Strassen. Er wollte einen fliessenden Übergang von Innen und Aussen, was er mit der Materialität und der Raumanordnung zu erreichen versuchte. Das Waisenhaus kann als Versuch gesehen werden, die Forderung nach Differenzierung und Einheit ähnlicher Module durch Rhythmisierung und Anordnung zu erfüllen. Geht man von seinem Begriff „Harmonie in Bewegung“ aus, könnte man ihn hier wie folgt erfassen. „Harmonie“ beschreibt den klaren Raster und die ähnlichen Module. „In Bewegung“ verweist hingegen auf die Anordnung und den Rhythmus der Module im Raster. Das Gebäude und seine Räume sind für das vorgesehene Nutzungsmodell flexibel bespielbar, lassen aber nicht einfach jede Nutzung zu. Aldo van Eyck verfolgt hier also ähnliche Ansätze wie Herman Hertzberger mit den polyvalenten Räumen. Er machte dazu folgende Überlegung: „Extreme Flexibilität dieser Art hätte zu falscher Neutralität geführt wie ein Handschuh, der sich für niemanden eignet, weil er allen passt“.5) Ziel des Entwurfs war es eines von van Eycks benannten Zwillingsphänomenen aufzunehmen und diese zwei Begriffe gleichwertig zu behandeln, in diesem Fall „individuell-kollektiv“. Um dies zu erreichen meinte er: „Aus diesem Gedanken ergab sich die Notwendigkeit, die Idee der Einheit mit der Idee der Vielfalt in architektonischen Begriffen zu versöhnen oder genauer, das eine mit Hilfe des anderen zu erreichen“.6) Er äusserte sich dazu weiter: „...dass Vielfalt nur durch Einheit, Einheit nur durch Vielfalt zu verwirklichen ist“.6) Die Einheit erreichte er dabei durch ähnliche Module, die vorwiegend in der Grösse variierten. Die Vielfalt erzeugte er durch die Platzierung der Module zu einem komplexen Muster innerhalb eines klaren Rasters, welches wiederum Einheit garantiert. Vielfalt wird weiter durch die innenräumlichen Verbindungen der einzelnen Module generiert. Er spricht hier mehrmals die grosse Binnenstrasse an, welche als Raum für Kommunikation dient. Er äusserte in diesem Zusammenhang eine Kritik an der damals aktuellen Städteplanung: „Die Unfähigkeit, mit Multiplizität kreativ umzugehen und der Zahl durch Artikulation und Gestaltung ein menschliches Gesicht zu geben“.7) Entwurfshaltung: Modul-Variation
5) Lüchinger 1981, S. 78 6) Ligtelijn 1999, S. 88 7) Ligtelijn 1999, S. 89
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5 Rasterplan
6
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Abstrahierter Rasterplan
Modul-Position
Nicht überall im Raster sind Module positioniert. Dies führt dazu, dass die Form des Gebäudes stark geprägt ist durch die Anordnung der Einheiten. An den Orten wo keine Module stehen, zeichnen sich Plätze ab. Es entstehen Aussenräume oder es bilden sich sogar Innenhöfe. Betreten wird der Gebäudekomplex beim Riegelbau, durch welchen man in den grossen Innenhof gelangt. Die Aussenform des Waisenhauses lebt von verschiedenen Nischen, die dafür sorgen, dass der Aussenraum in das Gebäude fliesst, ohne eine zu hohe Transparenz in Kauf nehmen zu müssen. Modul-Grösse
Die Grösse der Module variiert innerhalb des Rasters. Es gibt grosse Module die aus neun kleinen Modulen bestehen. Es handelt sich hier um Selbstähnlichkeit zwischen den Modulen. Die grossen Module sind in zwei Gruppen von je vier Stück, diagonal in die Anlage gesetzt. Bei der Gruppe auf der rechten Seite gibt es drei Grossmodule, an die jeweils ein beinahe geschlossener Innenhof angegliedert ist. Alle anderen haben an ihren Ecken einen kleinen Platz inbegriffen. Modul-Verbindung
Das klare Raster wie es in der Dachaufsicht zu sehen ist, zeichnet sich im Innenraum nur bedingt ab. Teilweise werden mehrere der kleinen Module im Innern zu einem Raum zusammengefasst oder einzelne durch Wände getrennt. Es gibt also modulübergreifende und modulbegrenzte Innenräume. Als verbindendes Element durch das ganze Gebäude gibt es eine grosse Binnenstrasse. Der Hauptzugang zu der Binnenstrasse erfolgt über den zentralen Innenhof. Vertikalität
Das Waisenhaus von Aldo van Eyck beschränkt sich grundsätzlich auf ein Geschoss und bezieht die Variable der Vertikalität nicht mit ein. Lediglich der Riegel und die Gruppe von Grossmodulen auf der linken Seite sind zweigeschossig. Es handelt sich dort allerdings nur um eine Stapelung von zwei Geschossebenen, welche ausschliesslich über die Treppen in Beziehung zueinander treten.
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7
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Grundriss Erdgeschoss
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Aus Grundriss extrahierte Form der Binnenstrasse
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Centraal Beheer
10 Kommunikationsraum
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6.2. Herman Hertzberger - Centraal Beheer Apeldoorn
Das Bürogebäude der Firma Centraal Beheer wurde zwischen 1970 und 1972 erbaut. Es besteht aus zwei Gebäudekomplexen. CB1 ist ein maximal fünfgeschossiger Teppich aus gleichförmigen Kuben, der gegen die Ränder auf zwei Geschosse reduziert wird. Der Teppich hat einen klaren Raster der mit Raummodulen aufgefüllt wurde. CB2 sind höhere Gebäude die nachträglich dazugekauft und durch Herman Hertzberger mit CB1 verbunden wurden.8) Die Betrachtung dieser Analyse beschränkt sich auf CB1. Im Bürogebäude Centraal Beheer versuchte Herman Hertzberger seine Idee der polyvalenten Räume umzusetzen. Diese lassen dem Nutzer die Freiheit, den Raum selbst zu interpretieren und anzueignen. In Abb. 10 sind Arbeitsbereiche erkennbar, welche durch die jeweiligen Nutzer individuell bespielt werden können. In dem er Strassen als Kommunikationswege durch das Gebäude zog, griff er auch auf das Thema der Stadt im Haus von Aldo van Eyck zurück. Centraal Beheer ist ein Netzwerk aus Verbindungen, welches unterschiedliche Beziehungen zulässt. Passend dazu ist die Aussage vom Architekten und Mathematiker Christopher Alexander: „A City is not a Tree“.9) Also kein linearer Aufbau der Erschliessung sondern ein mit Feinarterien durchsetzter Körper. Diese Gitterstruktur negiert eine Hierarchisierung der Räume und verkörpert dadurch ein hohes Mass an Demokratie. Bereits das Ankommen beim Gebäude ermöglicht den Zugang von verschiedenen Seiten, wie es auch bei einer Stadt der Fall ist.10) Ergänzt wird das Wegesystem, im Gegensatz zum Waisenhaus von Aldo van Eyck in Amsterdam, durch vertikale Räume. Diese geschossübergreifenden Leerräume ermöglichen zusätzliche Blickbeziehungen und Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Stockwerken.
8) Lüchinger 1981, S. 81 9) Alexander 1965, S. 58 10) Wilkens 2010, S. 99
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11 Vertikalität im Innenraum
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Entwurfshaltung: Raster-Variation
Das Raster für die Module wird ergänzt und überlagert durch einen Raster mit Wegen. Dies führt zu einer Überlappung und ist bestimmend für die Gestalt der Module. Die Module an und für sich bleiben in der Grösse gleich und halten sich strikt an die Platzierung innerhalb des Rasters. Gleich wie beim Waisenhaus von van Eyck werden die Module im Äussern nicht überall platziert, was zu gefassten Aussenräumen führt. Auch in der Höhe werden Module weggelassen, was folglich eine Abtreppung der Gebäudeform erzeugt. Raster-Überlappung
Der Spezialfall der Raster-Überlappung führt zu einer grossen räumlichen Vielfalt im Innern. Die modulare Bauweise durch industriell vorgefertigte Elemente bildet die konstruktive Basis dieses Projektes. Es ist in Ausschnitten des Grundrisses zu erkennen, dass der Wegraster den Modulraster überlappt und sich somit Verbindungen zwischen den Modulen ergeben. Auch wenn sich die Innenräume teilweise über die Module ausweiten, bleibt die Modularität aufgrund der Stützen im Raum immer ablesbar. Vertikalität
Herman Hertzberger schuf in diesem Projekt viele Bezüge zwischen den einzelnen Geschossen. Dabei bleibt das angewendete Raster auf den einzelnen Etagen gleich und verschiebt sich nicht erneut, was zu einer Stapelung der Module führt. Es entstehen dadurch vertikale Kommunikationsräume, welche Blickbeziehungen über mehrere Stockwerke ermöglichen. Die Module sind jeweils an den Ecken zu den Kommunikationsräumen hin geöffnet, was die Aussicht nicht auf eine Seite beschränkt und den Kontakt zu den anderen Ebenen maximiert.
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12 Weg-Raster
13 Modul-Raster
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14 Raster-Ăœberlappung
15 Grundriss
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Raum-Modul
Raster-Fixierung
Modul-Variation
Modul-Position
Modul-GrĂśsse
Modul-Verbindung
Modul-Fixierung
Raster-Variation
16 System: Modul und Raster
178
Raster-Verschiebung
Raster-Ăœberlappung
7. Modul und Raster
Die Grundlage für die Raumexperimente bilden zwei grundsätzliche Entwurfshaltungen, die aus der Analyse der Projekte von Aldo van Eyck und Herman Hertzberger abgeleitet werden. 7.1. Raster-Variation
Die Raster-Variation entstand aus dem Projekt Cetraal Beheer von Herman Hertzberger. Bei dieser Haltung bleiben die Module einander ähnlich, es können jedoch durch die Verschiebungen im Raster Veränderungen des Moduls hervorgerufen werden. Bei dieser Herangehensweise ist die Art der Verknüpfung zwischen einzelnen Module von grosser Bedeutung. Es gibt zwei Arten wie das Raster variiert werden kann. Einerseits die Raster-Verschiebung und andererseits die Raster-Überlappung. Bei der Raster-Verschiebung, werden bestimmte Teile des Rasters um ein spezifisches Mass verrückt. Die Verschiebung kann in horizontaler als auch in vertikaler Richtung vollzogen werden. Somit bleiben die Module in ihrer ursprünglichen Grösse und Form weiterhin lesbar. Bei der Überlappung können sowohl identische als auch unterschiedliche Raster überlappt werden. Auch wenn man von zwei identischen Rastern ausgeht, die überlagert werden, kann dies dazu führen, dass die Module nicht mehr in ihrer originalen Erscheinung erkennbar sind. 7.2. Modul-Variation
Diese Entwurfshaltung kann beim Waisenhaus in Amsterdam von Aldo van Eyck entdeckt werden. In einem klaren, gleichbleibenden Raster werden ähnliche Module aneinandergereiht. Die Variationsmöglichkeiten sind dabei vielfältig. Es können beispielsweise die Module in der Grösse variiert, einzelne Module weggelassen oder unterschiedliche Verbindungen zwischen den Modulen hergestellt werden. Durch das gezielte Weglassen von Modulen bei der Modul-Position, können Innenhöfe und Aussenräume generiert werden, was wiederum starken Einfluss auf die Aussenform eines Gebäudes haben kann. Der Zusammenschluss von kleinen Modulen zu einer grösseren Einheit im Fokus der Modul-Grösse kann zu einer Hierarchisierung der Räume genutzt werden. Dies kann zum Beispiel für die Akzentuierung spezifischer Nutzungen eingesetzt werden. Die Modul-Verbindung thematisiert das Öffnungsverhalten einzelner Module zueinander und bestimmt die Art und Weise, wie die Erschliessung und die Kommunikation zwischen den Räumen funktioniert.
179
17 Jean-Nicolas-Louis Durand. EntwĂźrfe mit Quadratraster.
1x2
1x3
1x4
1x5
2x2
2x3
n=2
n=3
n=4
n=5
18 J.P. Steadman. Kombinatorik von dimensionslosen Grundrissen
180
2x4
3x3
8. Raumexperimente
Die Raumexperimente werden zuerst schematisch und in einem nächsten Schritt in Modellen durchgeführt. Es gibt dabei eine Wechselwirkung zwischen Entwurf und Vertiefung, zwischen Bild und Text. Um eine Zufälligkeit bei der Anordnung der Module zu vermeiden, werden bei jedem Schritt Prämissen gesetzt. Diese helfen dabei die Möglichkeiten einzuschränken. Die Erkenntnisse, welche aus den Schemen gewonnen werden sind rational fassbar und abstrakt. Die räumliche Situation ist zwar vorstellbar aber noch nicht konkret überprüfbar. Um die Methodik für die Arbeit mit den Schemen zu klären wird auf die Arbeiten von Jean-Nicolas-Louis Durand und J. P. Steadman zurückgegriffen. Im Sinne einer historischen Katalogisierung versuchte Durand an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Baugeschichte zu analysieren, wobei er den Entwurf auf eine rationale Grundlage stellte. Er war einer der ersten der Gebäude im gleichen Massstab zeichnete und sie verglich. Dabei identifizierte er Grundbausteine wie Portiken, Vestibüle, Säle, Zimmer, etc. Systematisch prüfte er Varianten dieser Raumeinheiten und unterlegte einen Quadratraster im Grundriss. Mit Hilfe des Quadratrasters war es ihm möglich, die unterschiedlichen Entwürfe zu vergleichen und auf einfache Weise Rekombinationen zu erstellen. Für Durand war die Frage der architektonischen Ordnung reduziert auf rein geometrisch organisatorische Aspekte der Kombination von Achsen, Rastern und Modulen.11) 12) J.P. Steadman verweist in seinem Buch „Architectural Morphology“ auf den dimensionslosen Grundriss. Dabei wird der Schwerpunkt der Untersuchungen auf die Kombinationsmöglichkeit von Räumen und deren Verknüpfung gelegt. Auch Steadman verwendete in seiner Arbeit den Quadratraster.13) In den folgenden schematischen Untersuchungen werden sowohl der Quadratraster von Durand als auch der dimensionslose Grundriss von Steadman beigezogen. Diese Methoden werden vom Grundriss in die Arbeit mit dem Schnitt überführt. Der Vorteil dieser Arbeitsweise besteht darin, dass der Fokus auf die räumlichen Zusammenhänge gelegt werden kann und die unterschiedlichen Ergebnisse miteinander verglichen werden können. Weiter haben alle Entwürfe ein hohes Mass an Selbstähnlichkeit, was später für die Kombinationen von Vorteil sein wird. Anhand von Modellen und Fotografien wird die räumliche Wirkung der schematischen Untersuchungen getestet. Im Gegensatz zu den Schemas ist die Untersuchung mittels Modell empirisch und mehr durch die Sinne und die Wahrnehmung gesteuert. Deswegen werden die Modelle mittels Fotografien visualisiert und beschrieben.
11) „Entwurfsmuster-Editorial“, in: Arch+ 2008, S. 7 12) „Das Projekt. Von der Poesie der Kunst zur Entwurfsmethode“, in: Arch+ 2008, S. 12 13) „Der Idealismus der Verknüpfung und der Realismus der Masse“, in: Arch+ 2008, S. 38
181
19 Raster symmetrisch
182
8.1. Raster-Variation
Bei der von Herman Hertzbergers Centraal Beheer abgeleiteten Raster-Variation, wurden die Verschiebung und die Überlappung beschrieben. Diese zwei Varianten bieten die Möglichkeit, gleiche Module anhand eines festen Gitters miteinander zu kombinieren und dabei vielfältige Ergebnisse zu erreichen. Der Fokus der Untersuchung wird auf die Verschiebung gelegt, da auf einfachste Weise bereits eine grosse Anzahl vielfältiger Raumkombinationen möglich ist. Eine Vereinfachung scheint auch hinsichtlich eines späteren Zusammenfügens der Raumkombinationen sinnvoll. Die Ausgangslage für die Untersuchung der Raster-Variation bilden abstrakte Raster wie sie bereits Jean-Nicolas-Louis Durand und J.P. Steadman verwendeten. Es gibt drei unterschiedliche Raster, die sich in ihrer Erscheinung ähnlich sind. Aus diesen werden spezifische Grundtypen erzeugt, die aus mehreren Module bestehen und im Modell analysiert werden. In einem nächsten Schritt werden diese Grundtypen zu Modulkombinationen zusammengefügt. 8.1.1. Untersuchung Schemas
Bei den schematischen Untersuchungen der Raster-Variation werden folgende Prämissen eingeführt: -- Grundlage bildet ein Quadratraster, da dieser zweckdienlicher für Vergleiche und Rekombination ist. Ausserdem wird der Schwerpunkt auf die Verknüpfung gelegt und weniger auf die Raumdimension. -- Es muss eine Entwicklung in der Vertikalen geben. Dies schliesst reine Grundrisslösungen aus. -- Pro Grundtyp wird die Anzahl der Module auf zwei bis drei beschränkt. -- Eine Kombination ist nur möglich wenn die Module untereinander verbunden sind und sich die „Wände“ auf einer Rasterachse befinden. -- Grundtypen, welche durch Spiegelung oder Drehung eines bereits bestehenden Grundtyps entstehen, werden nur erwähnt, wenn sich die räumliche Wirkung verändert.
183
20 Raster vertikal versetzt
184
21 Raster horizontal versetzt
185
22 Grundtypen
186
In Abb. 19 wird vom konventionellen Raster ohne Verschiebung ausgegangen. In diesem Raster können, ausgehend von den genannten Prämissen, nur vier Modulkombinationen ausgemacht werden. Die Module und deren Verknüpfungen sind klar ausformuliert. Es sind einfache Formen, welche sich gut für eine Kombination eignen. In Abb. 20 wird die räumliche Vielfalt bereits durch eine einfache vertikale Verschiebung des Rasters erhöht. Durch den Versatz um ein halbes Modul entstehen neue Verbindungen und Sichtbezüge zwischen den einzelnen Räumen. Die Auflageflächen der Grundtypen bestehen nach wie vor aus einer ganzen Modulbreite, die horizontalen Verbindungen bestehen aus einer halben Modulhöhe. Die Verbindungen in vertikaler Richtung sind hingegen ein ganzes Modul breit. Abb. 21 zeigt ein Raster mit horizontaler Verschiebung um ein halbes Modul. Die einzelnen Grundtypen sind denen aus Abb. 20 sehr ähnlich, weisen jedoch Unterschiede in der Art der Modulbeziehungen auf. Während nun die horizontalen Beziehungen eine komplette Modulhöhe aufweisen, sind die vertikalen nur noch ein halbes Modul breit. Auch die Grösse der Auflageflächen hat sich verändert. So haben die Grundtypen nur noch an ihren Enden ein Auflager von einer ganzen Modulbreite, dazwischen halbiert sich diese. Da die Auflagefläche nicht mehr überall identisch ist, dürfte die Kombination einzelner Grundtypen erschwert werden. Aus den Untersuchungen in den drei Rastern sind insgesamt 19 Grundtypen mit unterschiedlichen räumlichen Qualitäten hervorgegangen. Von diesen sind sich einige aufgrund der Anordnung der Module sehr ähnlich. Diese Ähnlichkeiten sind rasterübergreifend erkennbar. Ein Beispiel dafür sind die in Abb. 22 eingerahmten Grundtypen, welche eine hohe Ähnlichkeit in der Anordnung der Module aufweisen. Einer dieser Grundtypen stammt aus dem „Raster vertikal versetzt“ und die anderen beiden aus dem „Raster horizontal versetzt“. Der Grundtyp aus dem „Raster vertikal versetzt“ weist dabei eine stark vertikal gerichtete Form auf, während die anderen eher horizontal orientiert sind. Es kann dabei nicht generell davon gesprochen werden, dass alle Grundtypen aus dem „Raster vertikal versetzt“ auch automatisch einen stärkeren Bezug zur Vertikalen aufweisen. So gibt es auch im „Raster horizontal versetzt“ Grundtypen, welche die Höhe akzentuieren. In Abb. 22 werden die zwei Grundtypen in den gestrichelten Rahmen als Sonderfälle ausgemacht. Im Gegensatz zu allen anderen besitzen diese eine innenliegende Wand. Auch diese Grundtypen erfüllen sämtliche Prämissen, werden aber aus den kommenden Betrachtungen ausgeschlossen, da die räumliche Zonierung als ungünstig erachtet wird.
187
23 Auswahl Grundtypen
188
8.1.2. Untersuchung Modell
Für die Betrachtung im Modell werden zwölf Grundtypen ausgewählt und genauer geprüft. Die Auswahl zeigt sechs Paare, die jeweils auf einer Doppelseite analysiert werden. Die Paarung erfolgte aufgrund gewisser Ähnlichkeiten zwischen den Grundtypen. Die Paare können sowohl aus dem gleichen Rastersystem als auch aus zwei verschiedenen stammen. Um die Modelle zu visualisieren, werden zwei Fotografien gezeigt. Eine präsentiert die Grundtypen in ihrer gesamten Erscheinung und wo möglich als Schnittmodell, um die räumliche Entwicklung erkennbar zu machen. Die andere ist eine Innenraumfotografie auf der die Raumbeziehungen, die Lichtverhältnisse und die Raumwirkung sichtbar gemacht werden. Neben den Fotografien gibt es jeweils eine schriftliche Analyse der gemachten Beobachtungen. Beschrieben werden neben den Blickbeziehungen nach Aussen und Innen, die Position der Module, die Raumwirkung und das Öffnungsverhalten. Die Beschreibung der Blickbeziehungen nach Aussen bezieht sich bereits auf eine mögliche Positionierung des Grundtyps im Hochhaus. Dies meint vor allem, ob sich der Blick gegen Aussen eher zum Himmel oder eher in die Stadt orientiert. Die Beschreibungen sind intuitiv und geben die wichtigsten Eindrücke wieder. Bei den Untersuchungen im Modell werden folgende Prämissen eingeführt: -- Den Grundtypen werden mittels Modellen eine Tiefe von einem Modul und Öffnungen einverleibt. -- Die Öffnungen werden beschränkt auf zwei Stück, die aufgrund der jeweiligen Orientierung der Grundtypen platziert werden. -- Die Ausblicke liegen immer an den Enden der Grundtypen und sind horizontal gerichtet, damit eine spätere Kombination der Module mittels Stapelung oder Verschachtelung möglich bleibt.
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Doppel-Stapel
24 Doppel-Stapel Innenraum
25 Doppel-Stapel Raumschnitt
Das erste Modell besteht aus zwei Modulen die gestapelt und durch das Entfernen der Decke miteinander verbunden werden. Es entsteht dadurch ein hoher Raum mit vertikaler Betonung. Die Art der Öffnung unterstützt die Raumform. Durch das Weglassen einer Wand über die ganze Höhe, wird der Raum durchgängig gleichmässig belichtet. Der ganze Raum hat einen starken Bezug nach aussen und man hat den Ausblick sowohl nach unten als auch zum Himmel. Bei diesem Grundtyp könnte man sich gut vorstellen in der Mitte eine Galerie einzuziehen um den Raum in der Höhe zu staffeln. Denkbar wäre es auch, mehrere Podeste einzulegen auf denen unterschiedliche Nutzungen stattfinden. Wichtig dabei ist, dass die gesamte Raumhöhe weiterhin spürbar bleibt. Die Innenraumfotografie hat aufgrund der starken Orientierung der Modulkombination gegen aussen und der geringen räumlichen Komplexität keine Aussagekraft.
190
Dreifach-Stapel
26 Dreifach-Stapel Innenraum
27 Dreifach-Stapel Raumschnitt
Die zweite Möglichkeit einer Modulstapelung im „symmetrischen Raster“ wird durch drei Module definiert. Es entsteht eine maximale Verbindung der drei Module, wie es bereits beim „Doppel-Stapel“ der Fall war. Die Betonung der Vertikalen wird hier nochmals gesteigert. Das Öffnungsverhalten ist dasselbe wie beim „Doppel-Stapel“. Eine der Seitenwände wird komplett entfernt, wodurch sowohl Belichtung als auch Ausblick maximiert werden. Noch mehr als beim vorhergehenden Grundtyp scheint das Einbringen von Zwischendecken oder Podesten sinnvoll zu sein, da die Raumproportionen, durch die klar gerichtete Raumform, zu stark verzerrt werden. Für die Aussagekraft der Innenraumfotografie kann gleich argumentiert werden wie beim „Doppel-Stapel“.
191
Horizontalversatz
28 Horizontalversatz Innenraum
29 Horizontalversatz Ansicht
Zwei Module werden in horizontaler Richtung um eine halbe Seitenlänge verschoben. Die Verbindung der beiden Module ist aufgrund der horizontalen Verschiebung vertikal gerichtet. Die Beziehung zwischen den Räumen ist dadurch eher gering. Durch diese Verengung des Raums beim Übergang, erscheint der jeweils nächste Raum wieder grösser, da der räumliche Kontrast gesteigert wird. Der „Horizontalversatz“ bietet, obwohl er nur aus zwei Modulen besteht, eine grosse Anzahl an Variationen was die Art der Öffnungen anbelangt. Am Interessantesten scheint dabei eine Ecklösung zu sein, die es dem Grundtyp ermöglicht sich zweiseitig zu orientieren. Dies ergibt nicht nur zwei völlig andere Ausblicke sondern auch eine abwechslungsreiche Lichtsituation im Innern. Erwähnenswert sind auch die jeweiligen Ausblicke durch das andere Modul. Steht man im oberen Teil hat man den Blick nach unten gerichtet und sieht hinunter in die Stadt. Steht man unten ist der Ausblick unweigerlich gegen den Himmel orientiert. Die Belichtung der Räume fällt aufgrund des Verhältnisses von Öffnung zu Raumgrösse überall gut aus. 192
Vertikalversatz
30 Vertikalversatz Innenraum
31 Vertikalversatz Ansicht
Zwei Module werden in vertikaler Richtung um eine halbe Seitenlänge verschoben. Anders als beim „Horizontalversatz“ ist die Verbindung zwischen den Modulen horizontal. Der Bezug zwischen den Räumen ist durch diese horizontale Verbindung grösser als bei einer vertikalen, da die Blickbeziehungen direkter sind. Dadurch ist die Hierarchie der Räume weniger stark ausgeprägt als beim vorhergehenden Grundtypen. Auch hier können die Öffnungen vielfältig gesetzt werden. Zum Vergleich wurde ebenfalls eine Ecklösung angestrebt. Es fällt auf, dass dieser Grundtyp als Ecklösung vermutlich einfacher in ein Gesamtsystem einzusetzen sein wird als der „Horizontalversatz“, da die Auflagefläche eine ganze Modulbreite beträgt. Der Blick nach aussen durch das andere Modul ist hier weniger stark gegen oben respektive gegen unten gerichtet. Die Belichtung der Räume ist in etwa identisch mit der vom „Horizontalversatz“.
193
Aufstufung
32 Aufstufung Innenraum
33 Aufstufung Raumschnitt
Diese Kombination aus drei Modulen spielt mit unterschiedlichen Raumtiefen. Im oberen Bereich befinden sich zwei hintereinanderliegende Module, während im unteren Bereich nur eines zu finden ist. Um eine gute Belichtung der Räume zu erreichen wird die höchste Wand entfernt. Dies ermöglicht eine ausgewogene Lichtverteilung obwohl zu sehen ist, dass das obere Modul im hinteren Bereich, aufgrund des Lichteinfallwinkels, weniger gut beleuchtet ist als die anderen. Dadurch wird die Verkleinerung des Raumgefüges gegen hinten noch verstärkt. In der Hierarchie der Räume ist der obenliegende höher einzustufen. Steht man im hinteren Modul und schaut zur Öffnung, weitet sich der Raum und der Blick richtet sich nach unten.
194
Abstufung
34 Abstufung Innenraum
35 Abstufung Raumschnitt
Der Grundtyp „Abstufung“ entspricht der horizontalen Spiegelung der „Aufstufung“. Bei der räumlichen Gestalt gibt es daher gewisse Parallelen. Es handelt sich ebenfalls um drei Module, wobei hier die hintereinanderliegenden Module im unteren Bereich sind und das Einzelmodul oben steht. Das Öffnungsverhalten ist identisch mit demjenigen der „Aufstufung“, da die höchste Wand weggelassen wird. Interessant ist nun, dass die Belichtung des hinteren Raums bei diesem Grundtyp wesentlich besser ist. Durch die Art der Abstufung kann das Licht viel weiter in den Raum nach hinten gelangen und sorgt damit für eine gleichmässigere Ausleuchtung. Die Verkleinerung des Raumgefüges gegen hinten erscheint trotz der besseren Belichtung doch stärker ausgeprägt als bei der „Aufstufung“. Dies hat mit der Gestalt der darüberliegenden Decke zu tun. Während sie bei der „Aufstufung“ von hinten bis vorne durchläuft und zwei Module in der Tiefe überspannt, ist es bei der „Abstufung“ nur eine Modultiefe, wodurch der Raum darunter stärker komprimiert wirkt. Umgekehrt zur „Aufstufung“ wird der Blick aus dem hinteren Modul nach draussen, aufgrund der Raumweitung nach oben geführt. 195
Vorsatz
36 Vorsatz Innenraum
37 Vorsatz Raumschnitt
Der „Vorsatz“ beschreibt drei Module, wobei zwei davon aufeinanderliegen und ein drittes auf halber Höhe vorne angehängt wird. Der Raum hinten ist aufgrund der Verkleinerung gegen vorne sowohl oben als auch unten gefasst und ist somit klar definiert. Der Bezug nach aussen ist dadurch jedoch eingeschränkt. Das Öffnungsverhalten des Grundtyps ist stark reduziert und beschränkt sich auf den Bereich des vorgesetzten Moduls. Das Licht fällt also durch dieses Modul in den überhöhen Raum dahinter. Die Belichtung begünstigt im hinteren Teil die Raumweitung gegen unten, wohingegen der obere Teil eher dunkel ausfällt. Durch die Lichtführung wird der Blick nach innen gegen unten geführt, während der obere Teil in der Betrachtung sekundär ist. Im hinteren Raum stehend wird der Blick zur Öffnung, aufgrund der Stufe, in Richtung des Himmels geführt. Ersichtlich ist die Trennung des Raumgefüges in zwei Raumteile, wobei der hintere Raum, trotz seiner Grösse, der introvertierte und der vordere der extrovertierte ist. In der Raumhierarchie ist allerdings der hintere als höher einzustufen. 196
Aufsatz
38 Aufsatz Innenraum
39 Aufsatz Raumschnitt
Der Grundtyp „Aufsatz“ ist gleich wie derjenige vom „Vorsatz“, wobei das Ganze um 90° gegen den Uhrzeigersinn gedreht wird. Beim „Aufsatz“ entsteht eher ein fliessender Raum als eine Trennung in zwei Teilräume. Dies hat in erster Linie mit dem durchgehenden Boden zu tun, welcher als verbindendes Element dient. Alles was horizontal verbunden ist wird als fliessender wahrgenommen. Das Öffnungsverhalten ist ebenfalls einseitig orientiert. In der Fotografie scheint es, als ob der Raum besser ausgeleuchtet ist als der „Vorsatz“. Dies ist vermutlich über die grössere Lichtabstrahlung am Boden zu erklären. Beim „Vorsatz“ verschwindet das Licht im hinteren Raum nach unten.
197
Zonierung
40 Zonierung Innenraum
41 Zonierung Raumschnitt
Die Verschiebung des mittleren Raums des Grundtyps „Zonierung“ nach oben, erzeugt eine Teilung in zwei identische Bereiche auf den beiden Seiten. Das Öffnungsverhalten unterstützt diese Symmetrie. Aufgrund dieser Symmetrie ergeben sich zwei unterschiedliche Raumzonen. Einerseits eine extrovertierte Raumzone im Bereich der Öffnungen, andererseits eine eher introvertierte in der Mitte. Von den Räumen auf den beiden Seiten hat man einen erweiterten Blick gegen aussen. Im Hochhaus bedeutet dies, sowohl von der Stadt bis zum Himmel als auch im Fern- und Nahbereich, ist alles zu sehen. Dreht man sich zur Raummitte, blickt man hinauf auf die höher gelegene, dunklere Ebene. Das Raumgefüge im Innern wirkt aufgrund der doch stark erhöhten Ebene sehr dicht. Dies hat auch damit zu tun, dass die Höhe des dahinterliegenden Raumes nicht voll erkennbar ist. Steht man auf dem Podest in der Mitte schränkt sich der Blick nach aussen bereits ein. Man hat zwar noch den Bezug in die Ferne und gegen die Stadt, jedoch ist der Blick nach oben stark eingeschränkt. Im Gegensatz zum Blick nach innen entsteht beim Blick gegen die äusseren Räume ein Gefühl der Raumweitung. 198
Vertiefung
42 Vertiefung Innenraum
43 Vertiefung Raumschnitt
Bei der „Vertiefung“ handelt es sich um die horizontale Spiegelung der „Zonierung“. Es gibt ebenfalls zwei Module an den Seiten und ein Modul in der Mitte, welches hier um eine halbe Seitenlänge nach unten verschoben wurde. Dadurch entsteht eine Art Mulde im Zentrum. Es gibt auch bei diesem Grundtyp eine hohe Symmetrie die mit dem gleichen Öffnungsverhalten wie bei der „Zonierung“ verstärkt wird. Der Blick nach aussen ist in den äusseren Modulen identisch mit dem der „Zonierung“. Aus dem mittleren Modul ist das umgekehrte Phänomen zu erkennen. Der Blick wird aus der Mitte auf den Himmel reduziert. Schaut man von aussen gegen Innen, sieht man gerade durch den Grundtyp hindurch bis zur anderen Öffnung. Die Module sind also stärker verbunden als bei der „Zonierung“. Das Raumgefüge wirkt in der Mitte, aufgrund des Einschubes von oben her, stark gedrückt. Die Belichtung der Räume ist wesentlich besser, da die Modulverschiebung auf den Lichteinfall reagiert.
199
Abtreppung
44 Abtreppung Innenraum
45 Abtreppung Raumschnitt
Ausgehend von einem Modul gliedern sich zwei weitere Module, jeweils um die Hälfte nach oben versetzt, an. Jeder Raum liegt damit auf einer anderen Höhe und die Beziehungen zwischen den Räumen sind unterschiedlicher als bei der „Zonierung“. Die seitlichen Räume haben eine grossflächige Öffnung und folglich einen starken Bezug nach aussen. Der Ausblick ist aufgrund der unterschiedlichen Höhen der Räume differenziert. Während man aus dem unteren Raum vielleicht in die Stadt sieht, blickt man beim oberen bereits darüber hinweg. Gegen Innen entsteht ein Durchblick, welcher entweder nach oben gegen den Himmel oder nach unten gegen die Stadt gerichtet ist. Die Raumwirkung beim Blick nach innen scheint im Modell weniger gedrängt als zum Beispiel bei der „Zonierung“, da dieser gerichteter durch alle Räume geführt wird. Der mittlere Raum ist etwas weniger dunkel als in der „Zonierung“. Die Verbindungen von den äusseren Räumen zum inneren liegen auf der einen Seite unten auf der anderen oben, was unterschiedliche Bezüge erzeugt. Der mittlere Raum ist dabei der Introvertierteste. 200
Streckung
46 Streckung Innenraum
47 Streckung Raumschnitt
Die „Streckung“ enthält zwei Räume, welche sich aus drei Modulen zusammensetzen. Es gibt einen kurzen Raum im oberen Teil und einen langgezogenen, gestreckten Raum unten. Die Öffnungen der beiden Räume sind in horizontaler Richtung angesetzt. Was die Belichtung anbelangt, profitiert der untere Raum vom oberen, da durch diesen der hintere Teil des Raumes ebenfalls belichtet wird. Da die vertikale Verbindung über eine ganze Modulhöhe führt sind die beiden Räume nicht sonderlich gut verknüpft. Steht man im oberen Modul ist kein Bezug zur unteren Öffnung möglich. Hält man sich unten auf, hat es nur wenige Standorte die einen Blick auf die obere Öffnung gewährleisten. In der oberen Öffnung wird von unten her immer nur der Himmel sichtbar sein.
201
48 Modelle „Raster horizontal versetzt“
49 Modelle „Raster symmetrisch“
50 Modelle „Raster vertikal versetzt“
51 Zonierung
202
52 Vertiefung
Modulkombination
Um nun die einzelnen Grundtypen miteinander zu verbinden, werden exemplarisch Kombinationsmöglichkeiten untersucht. Dabei kann festgestellt werden, dass die Grundtypen untereinander am Einfachsten mit solchen aus demselben Rastersystem zu kombinieren sind. Dies hat mit der einheitlichen Auflagefläche zu tun. So haben die Grundtypen aus dem „Raster horizontal versetzt“, im Gegensatz zu den beiden anderen, eine Auflagefläche die nur einer halben Modullänge entspricht. Einfacher für die Gruppierung von Grundtypen scheinen, aufgrund dieser Auflagefläche, die entstandenen Räume aus dem „Raster symmetrisch“ und dem „Raster vertikal versetzt“. Wegen der höheren räumlichen Komplexität werden Gruppierungsversuche mit den Grundtypen aus dem „Raster vertikal versetzt“ gemacht. Vorteilhaft ist sicher auch die bessere innenräumliche Verbindung in horizontaler Richtung, welche das Raumgefüge fliessender erscheinen lässt. Um die Kombinationen zu testen wurden einfache Modelle erstellt, die sich leicht zusammenfügen lassen. Für die Untersuchung der Modulkombinationen innerhalb der Raster-Variation werden folgende Prämissen gesetzt: -- Ziel sind zwei Varianten von Modulkombinationen die genauer geprüft werden. -- Entsprechend dem Thema des Hochhauses werden die Grundtypen in die Höhe gestapelt, dabei beträgt die Grundfläche der Modulkombination nicht mehr als 3x3 Module. -- Bei der exemplarischen Untersuchung werden nur zwei Grundtypen benutzt um den Vergleich zu vereinfachen. -- Die Grundtypen stammen aus demselben Rastersystem und sind sich ähnlich. -- Bei der Stapelung ist wichtig, dass die Module zueinander Verbindungen aufbauen können. Für die exemplarische Untersuchung werden die Grundtypen „Vertiefung“ und „Zonierung“ ausgewählt. Sie erfüllen sämtliche Prämissen, welche für die Untersuchung aufgestellt wurden. Besonders interessant sind die beiden, weil die räumlichen Unterschiede trotz der hohen Ähnlichkeit sehr gross sind. Da die Grundtypen aus jeweils drei Modulen bestehen, kann angenommen werden, dass die Variationsmöglichkeiten höher sind, als wenn es nur je zwei Module wären. Bei den nun folgenden Modulkombinationen wird versucht, die Unterschiede in der Art der Stapelung klein zu halten, damit ersichtlich ist, wie schnell sich die innenräumlichen Gegebenheiten verändern können.
203
53 Modulkombination 01 - Schritt 01
54 Modulkombination 01 - Schritt 02
204
55 Modulkombination 01 - Schritt 03
56 Modulkombination 01 - Schritt 04
205
57 Modulkombination 01 - Abschluss
Modulkombination 01
Bei der ersten Modulkombination bildet der Grundtyp „Vertiefung“ die Basis. Darauf werden anschliessend abwechslungsweise zuerst drei Grundtypen der „Zonierung“ und anschliessend drei der „Vertiefung“ gestapelt. Diese Stapelung kann in der Höhe weitergeführt werden. Eine Variation der Stapelung ist dabei jederzeit möglich. Anhand der Öffnungen ist nicht eindeutig ablesbar, wie die Module im Innern miteinander verbunden sind. Natürlich zeigt das gewählte Öffnungsverhalten nur eine mögliche Variante, wie diese gesetzt werden können. Interessanterweise erzeugen die geschlossenen, respektive die offenen Flächen das Abbild der Grundtypen im Innern der Modulkombination. Eine Variation in der Stapelung würde diese Bild verändern. Betrachtet man den Schnitt in Abb. 58 durch die in Abb. 57 gezeigte Modellfigur, lässt sich erkennen wie die Module ineinander verschachtelt sind. Diese Verschachtelung bietet nun die Möglichkeit neue Raumverbindungen zu erzeugen. In Abb. 59 wird dargestellt wie mögliche Verbindungen aussehen könnten. Es entstehen neue Beziehungen aus den zentralen Räumen der Grundtypen entweder gegen aussen zur Fassade oder in einen zentralen Raum eines anderen Grundtyps.
206
58 Modulkombination 01 - Schnitt ohne Verbindungen
59 Modulkombination 01 - Schnitt mit Verbindungen
207
60 Modulkombination 02 - Schritt 01
61 Modulkombination 02 - Schritt 02
208
62 Modulkombination 02 - Schritt 03
63 Modulkombination 02 - Schritt 04
209
64 Modulkombination 02 - Abschluss
Modulkombination 02
Bei der zweiten Modulkombination werden drei Grundtypen als Fundament verwendet. Es handelt sich dabei um zwei „Zonierungen“ aussen und eine innenliegende „Vertiefung“. Bei jeder nachfolgenden Ebene werden immer diese drei Grundtypen in derselben Anordnung, jedoch um 90° gedreht, verwendet. Wie bei der Modulkombination 01 gibt es auch hier Möglichkeiten auf jeder Ebene die Stapelung zu variieren. Das Fassadenbild sieht ähnlich aus wie dasjenige der Modulkombination 01. Der Unterschied liegt darin, dass an der Fassade nur noch das Bild der „Zonierung“ gezeigt wird, während vorher auf zwei Fassadenseiten die „Vertiefung“ ablesbar war. Im Schnitt ist ersichtlich, dass der mittlere Grundtyp immer eine „Vertiefung“ ist, während sich die Grundtypen in der Mitte bei Modulkombination 01 abwechselten. Dies hat Einfluss auf die Verbindungen, die zwischen den Grundtypen entstehen und dadurch auf die innenräumliche Situation.
210
65 Modulkombination 02 - Schnitt ohne Verbindungen
66 Modulkombination 02 - Schnitt mit Verbindungen
211
67 Die elf mรถglichen Modulsysteme im Faktor Modul-Position. Pro Modulsystem oben zwei Grundrisse und darunter zwei Ansichten.
212
8.2. Modul-Variation
Die in Abb.16 aufgezeigte Entwurfsmöglichkeit der Modul-Variation bestehen aus drei Faktoren. Erster Faktor ist die Modul-Position, bei welchem Module gesetzt oder weggelassen werden können. Der Zweite ist die Modul-Grösse, die einen Zusammenschluss einzelner Module zu einem grösseren ermöglicht. Der Letzte und dritte Faktor ist die Modul-Verbindung, die Beziehungen zwischen den Modulen generiert. Um nun die einzelnen Faktoren anzuwenden, kommen diese nacheinander zum Einsatz. Dies bedeutet, dass für jeden Faktor bestimmte Prämissen gesetzt werden. Evolutionär werden dadurch einzelne Entwürfe weiterentwickelt, während andere aufgrund der Prämissen aussterben. 8.2.1. untersuchung Schema Modul-Position
Aufgrund der Stapelung der Module beim Hochhaus müssen klare Prämissen gesetzt werden, wo Module weggelassen werden können. Eine relativ freie Form, wie es bei Aldo van Eyck‘s Waisenhaus im Grundriss gibt, ist im Hochhaus ungünstig. Damit der Entwurf der Modul-Variation different zu dem der Raster-Variation ist, wird bei der Modul-Position das subtraktive Verfahren angewendet. Es werden also aus einem System von Modulen einzelne Module entfernt. Somit steht es im Kontrast zum additiven Verfahren der RasterVariation, welches einzelne Grundtypen zusammenführt. Diese Subtraktion von Modulen hat Einfluss auf das Bild der Fassade und die Aussenform des Gebäudes. Um später einen Vergleich mit der Raster-Variation zu ermöglichen, werden die Prämissen teilweise darauf ausgelegt. Bei den Untersuchungen der Modul-Position innerhalb der Modul-Variation werden folgende Prämissen eingeführt: -- Das zugrunde liegende System besteht aus drei mal drei Modulen im Grundriss und neun Modulen in der Höhe. Der Raster ist wieder quadratisch. -- Das mittlere Modul im System geht durch alle Ebenen durch. -- Pro Etage darf es nur zwei bis drei leere Modulen haben. -- Die vollen Module müssen im Grundriss immer über eine Seitenkante miteinander verbunden sein. -- In der Vertikalen sind nie mehr als zwei leere Module miteinander verbunden. -- Von einer Ebene zur nächsten wird der Grundriss immer um 90° gedreht. Dies führt dazu, dass seltener mehr als zwei leere Module übereinander liegen.
213
68 Modulsystem 01 im Faktor Modul-Grรถsse
69 Modulsystem 02 im Faktor Modul-Grรถsse
70 Modulsystem 03 im Faktor Modul-Grรถsse
68-70 Oben vier mรถgliche Grundrisse und darunter vier Ansichten.
214
In Abb. 67 sind die elf Modulsysteme aufgezeigt, welche aufgrund der gestellten Prämissen beim Faktor Modul-Position möglich sind. Oben sind jeweils die Grundrisse des ersten und zweiten Geschosses, unten zwei Fassaden abgebildet. Es gibt in der Grundrissdisposition noch weitere Varianten, welche jedoch nur aufgrund von Spiegelungen der aufgeführten Modulsysteme entstehen und daher sehr ähnliche Systeme ergeben würden. Von den elf Resultaten beinhalten sechs Grundrisse drei leere Module und fünf Grundrisse beschränken sich auf zwei leere Module pro Etage. Sechs Systeme haben in der Fassade zwei leere Module übereinander. Für die vertikalen Leerstellen ist es nicht von Bedeutung ob es im Grundrisse zwei oder drei leere Module pro Ebene hat. Die restlichen fünf Ergebnisse weisen keine Überlagerung von zwei Modulen in der Fassade auf. Die verschiedenen Fassadenbilder haben ganz unterschiedliche Ordnungen. Während in einzelnen die Drehung der Grundrisse um 90° nicht ablesbar ist, erkennt man dies in anderen sehr gut, da die leeren Module als eine Art Treppe in Erscheinung treten. Modul-Grösse
Eine Variation, die Aldo van Eyck bei seinem Waisenhaus anwendete, war die Platzierung von grösseren Modulen im Raster. Die Form der grossen Module ist jener der kleinen Module sehr ähnlich. Es handelt sich dabei um den Zusammenschluss von neun kleinen Modulen zu einem grossen. Bei diesen grossen Modulen, gibt es teilweise eine Erhöhung des Volumens. Anders als beim Waisenhaus werden, aufgrund der Fokussierung der Arbeit auf das Hochhaus, Zusammenschlüsse von Modulen vorwiegend im Schnitt gedacht. In einem nächsten Schritt werden die elf Modulsysteme mit neuen Prämissen bezüglich der Modul-Grösse konfrontiert. Gewisse Systeme werden dabei aus der Betrachtung ausgeschlossen, da sie nicht alle Bedingungen erfüllen. Bei den Untersuchungen der Modul-Grösse innerhalb der Modul-Variation werden folgende Prämissen eingeführt: -- Vier kleine Module, die alle an der Fassade liegen, werden zu einem grossen Modul zusammengeführt (zwei nebeneinander und zwei übereinander). -- Zwei grosse Module dürfen nicht nebeneinander liegen. -- Das Verhältnis von grossen zu kleinen Modulen an der Fassade sollte 1/5 nicht überschreiten.
215
71 Modulsystem 04 im Faktor Modul-Grรถsse
72 Modulsystem 05 im Faktor Modul-Grรถsse
73 Modulsystem 06 im Faktor Modul-Grรถsse
71-73 Oben vier mรถgliche Grundrisse und darunter vier Ansichten.
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Von den elf Modulsystemen die aus dem Faktor der Modul-Position übernommen werden konnten, sind fünf aufgrund der neu gesetzten Prämissen direkt entfallen. Sechs der Modulsysteme konnten folglich weiterentwickelt werden und haben eine nächste Stufe der Evolution durchgemacht. Dabei sind drei der Systeme mit zwei leeren Modulen im Grundriss und die anderen drei Systeme mit drei Leerstellen zu erkennen. In den Abb. 68 bis 73 sind oben alle Varianten der Grundrisse, die im Turm vorkommen aufgezeigt, während unten alle vier Fassaden zu sehen sind. An unterschiedlichen Stellen in den Systemen wurden kleine Module zu grossen zusammengeschlossen. Aufgrund der Grundrissanordnung von drei mal drei Modulen liegen die Grossmodule automatisch an einer Ecke, können sich aber aufgrund ihrer eingeschränkten Dimensionen nie auf zwei Fassadenseiten ausdehnen. Der obere und untere Abschluss bildet immer eine Ausnahme im System. Bei den Beschreibungen der Modulsysteme werden diese nicht in die Betrachtung miteinbezogen. Wird in den Untersuchungen der Schemas von Leerstellen oder leeren Modulen gesprochen, so müssen diese nicht zwingend Aussenraum darstellen sondern können auch eine spezifische Nutzung bilden. Modulsystem 01
Dieses Modulsystem hat pro Geschoss drei leere Module, die nebeneinander angeordnet sind. An der Fassade zeichnet sich aufgrund der Drehung der Grundrisse um 90° eine Helix aus leeren Modulen ab. In den Ecken entstehen dabei Leerstellen mit doppelter Modulhöhe. Jedes Geschoss weist zwei überhohe Räume auf, wobei einer gegen unten und einer gegen oben gerichtet ist. Hinzu kommt noch eine Leerstelle, welche nur ein Modul hoch ist und zwischen den überhohen Leerstellen liegt. An den Fassaden dieses Systems liegen fünf Grossmodule und 25 Kleinmodule. Dieses Verhältnis entspricht exakt der gesetzten Prämisse. Es sind also verhältnismässig viele Grossmodule in dem System vorhanden. Die Grossmodule lassen sich in zwei Arten der Einbettung ins System unterteilen. Die eine Art hat unter sich zwei leere und über sich ein leeres Modul. Auf der linken Seite schliesst es an keine Leerstelle an, auf der rechten nur an eine. Bei der anderen Art ist die Anzahl der vollen und leeren Module jeweils gespiegelt angeordnet. Der Zugang zu den Grossmodulen ist unterschiedlich. Gewisse Geschosse haben nur Eintritt in ein Grossmodule, während andere sogar zwei erschliessen, dabei ist eines von unten und eines von oben her zugänglich. Modulsystem 02 Die drei leeren Module im Grundriss teilen sich in zwei zusammenhängende und in ein einzelnes Modul. An der Fassade entstehen durch diese Anordnung L-förmige Leerstellen, welche mit der hohen Seite jeweils an der Ecke liegen. Gleich wie beim Modulsystem 01 hat jedes Geschoss drei Leerräume an der Fassade. Einer ist gegen unten und einer gegen oben orientiert während der dritte Leerraum, immer in der Mitte der Fassade, niedriger ist. Das System beinhaltet an den Fassaden vier Grossmodule und 29 Kleinmodule. Jedes der Grossmodule hat im System oben und unten eine L-förmige Leerstelle. Oben sind es jeweils zwei leere Module nebeneinander, während unten nur eines liegt. Auf der rechten und linken Seite schliesst je eine Leerstelle an. Es ist also erkennbar, dass es bezüglich
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Einbettung der Grossmodule nur die eben beschriebene Art gibt. Jedes Geschoss hat Zugang zu einem Grossmodul. Die Anordnung der grossen Module ist sehr regelmässig.
Modulsystem 03 Das dritte Modulsystem mit drei leeren Modulen pro Geschoss ordnet diese über die Ecke an. Auch hier entsteht ein Helix an der Fassade. Anders als noch beim Modulsystem 01 liegt der Höhensprung jedoch in der Mitte der Fassade und nicht an der Ecke. Wie jedes der Modulsysteme mit drei Leerstellen hat auch dieses drei Formen von Leerstellen pro Geschoss. Es gibt zwei hohe und eine niedrige Leerstelle. Die niedrige Leerstelle liegt, im Gegensatz zu Modulsystem 01 und 02, an der Ecke und die beiden hohen befinden sich in der Mitte. Es stehen an der Fassade in diesem System vier Grossmodule zu 28 Kleinmodulen. Aufgrund der Abstände zwischen den grösseren Modulen wären mehr von ihnen möglich gewesen, das Verhältnis jedoch liess nicht mehr zu. Dadurch entfiel das Grossmodul ganz unten. Abwechselnd haben die Grossmodule entweder oben zwei und unten eine Leerstelle oder umgekehrt. Seitlich ist immer nur ein leeres Modul möglich. Liegt es oben ist es immer links, liegt es unten steht es auf der rechten Seite. Jedes Geschoss hat hier Zugang zu mindestens einem Grossmodul. Eine Etage hat Zugang zu zwei. Ohne die Prämisse des Verhältnisses von Gross- zu Kleinmodulen wären auf jedem zweiten Geschoss Zugänge zu zwei Grossmodulen möglich.
Modulsystem 04 Dieses System beherbergt nur zwei leere Module pro Geschoss, welche direkt nebeneinander liegen. Dies führt dazu, dass auch an der Fassade wesentlich weniger Leerstellen erkennbar sind. Die leeren Module sind auch hier in einer Art Helix angelegt, obwohl diese an jeder Fassade unterbrochen wird. Es gibt in diesem System keine doppelt hohen Leerstellen, was diese auf jeweils ein Geschoss beschränkt. Zu den 38 kleinen Modulen an der Fassade kommen vier grosse. Die vier Grossmodule werden auf zwei gegenüberliegende Fassaden verteilt, wobei sie in der Seitenansicht in den anderen beiden Fassaden auch sichtbar sind. Pro Geschoss gibt es dadurch nur Zugang zu einem Grossmodul. Theoretisch wäre in diesem System ein weiteres Grossmodul möglich gewesen. Jedes der grossen Module hat oben, unten und rechts ein leeres Modul. Auf der linken Seite sind sie eingebettet in volle Module.
Modulsystem 05 Die beiden leeren Module liegen auf den Stockwerken nicht direkt nebeneinander. Eines befindet sich in der Ecke und das zweite steht in der Mitte der Fassade. In der Ansicht wird dadurch ein eher aufgelöstes Bild von leeren Modulen erzeugt. Es entstehen wie beim Modulsystem 04 keine doppelt hohen Leerstellen. Auch in diesem System gibt es 38 Kleinmodule zu vier Grossmodulen. Die Verteilung dieser grossen Module ist gleich wie bei Modulsystem 04. Die grossen Flächen befinden sich auf zwei gegenüberliegenden Seiten während die anderen Fassaden nur die Stirnseiten beinhalten. Jedes der Grossmodule hat auf allen vier Seiten ein direkt anschliessendes leeres Modul. In diesem System ist aufgrund des vorgeschriebenen Abstandes zwischen den Grossmodulen und der starken Streuung der Leerstellen kein weiteres grosses Modul platzierbar. Jede Etage hat ein Grossmodul, welches erschliessbar ist.
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Modulsystem 06 Die zwei Leerstellen sind im Grundriss jeweils in den Ecken auf der gleichen Seite positioniert und haben dadurch keinen Kontakt zueinander. An der Fassade gibt es aufgrund dieser Platzierung nur doppelt hohe Leerstellen die entsprechend in den Ecken stehen. Jedes Geschoss hat Zugang zu zwei dieser überhohen Räume, wobei einer nach unten und einer nach oben gerichtet ist. Zu den sechs Grossmodulen kommen nur 30 Kleinmodule. Die grossen Module verteilen sich über alle vier Fassaden. Zwei Fassaden haben zwei grosse Flächen. Jedes der Grossmodule hat oben und unten Kontakt zu einer überhohen Leerstelle. Seitlich steht entweder rechts oder abwechselnd links eine solche Leerstelle. Die in der Fassade mittig liegenden, vollen Kleinmodule bilden eine Art durchlaufendes Rückgrat, welches nur von den Grossmodulen unterbrochen wird. Jedes Geschoss kann ein Grossmodul erschliessen. Auf jeder dritten Etage gibt es Zugang zu zwei grossen Modulen. Die ganze Fassade erscheint aufgrund der paarweise auftretenden leeren Module sehr aufgeräumt.
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74 Modulsystem 01 im Faktor Modul-Verbindung
75 Modulsystem 04 im Faktor Modul-Verbindung
76 Modulsystem 05 im Faktor Modul-Verbindung
74-76 Oben jeweils vier Grundrisse ab der ersten Etage und darunter vier Ansichten.
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Modul-verbindung
Beim Waisenhaus in Amsterdam werden die Module im Innern vielfach miteinander verbunden. So entsteht etwa eine grosse Strasse mitten durch das Gebäude, welche aus einer grossen Zahl von Modulen besteht. Das heisst die Räume sind zwar gebunden an die Module, dabei bildet jedoch nicht jedes Modul einen Raum. Um nun die verbliebenen sechs Modulsysteme weiterzuentwickeln und anschliessend mit der Raster-Variation vergleichen zu können, werden neue Prämissen gesetzt. Dabei soll das Gesamtsystem auf Grundtypen heruntergebrochen werden. Somit gibt es eine Entwicklung vom Ganzen zu seinen Einzelteilen. Im Gegensatz zum Waisenhaus korrespondieren, gleich wie bei der Raster-Variation, die Module mit den Innenräumen, die nun miteinander verknüpft werden. Bei den Untersuchungen der Modul-Verbindung innerhalb der Modul-Variation werden folgende Prämissen eingeführt: -- Jedes volle Kleinmodul muss an der Fassade eine Verbindung zu einem anderen vollen Kleinmodul aufbauen können. -- Einzelne Module ohne Verbindung sind nur ganz oben oder ganz unten im System erlaubt. -- Die Grundtypen (System-Bausteine) müssen eine vertikale Modul-Verbindung aufweisen. -- Die Grundtypen bestehen entweder aus drei oder vier Modulen. -- Pro System werden möglichst wenig verschiedene Grundtypen verwendet. -- Die Module im Kern werden bei diesem Faktor aus der Betrachtung ausgeschlossen. Aufgrund der Prämissen beim Faktor Modul-Verbindung wurden drei der sechs Modulsysteme eliminiert. Somit bleiben drei Systeme übrig, welche erneut überarbeitet werden. Eines der Modulsysteme hat drei leere Module im Grundriss, die anderen beiden jeweils zwei. Bei den Prämissen für die Modul-Verbindung ist es eindeutig von Vorteil weniger Leerstellen zu haben, weil dadurch mehr Module vorhanden sind, welche untereinander verknüpft werden können. Insgesamt sind in den drei Modulsystemen fünf unterschiedliche Grundtypen entstanden, von welchen ein Grundtyp in zwei Systemen vorkommt. Ausgangslage für alle bilden gemäss einer Prämisse drei oder vier Module. Der Anstoss dafür ist die Annäherung an die Grundtypen der Raster-Variation. Diese haben zwar nur zwei bis drei Module pro Grundtyp, ergeben aber aufgrund der Verschiebung des Rasters spannendere Räume. Da der Raster bei der Modul-Variation starr ist, werden drei bis vier Module verwendet um ähnlich Räume zu generieren.
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77 Grundtypen aus Modulsystem 01
78 Grundtypen aus Modulsystem 04
79 Grundtypen aus Modulsystem 05
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Modulsystem 01
Durch die Verbindung von Kleinmodulen sind zwei Grundtypen entstanden. Der eine besteht aus drei Modulen die vertikal gestapelt werden. Er kommt im System zweimal vor und liegt in der Mitte, hat also keinen Kontakt zu den Ecken. Dieser Grundtyp schliesst sowohl links als auch rechts an ein Grossmodul an. Diese Grossmodule sind um ein Modul in der Höhe versetzt, wodurch sie oben und unten bündig mit dem Grundtyp sind. Dieser erste Grundtyp hat keine direkte Berührung mit dem anderen. Der zweite Grundtyp ist zusammengesetzt aus vier Modulen. Es gibt zwei Module oben und zwei unten. Der untere und der obere Teil sind horizontal um ein Modul verschoben. An dem Punkt wo zwei Module übereinanderliegen, geht das Modul um die Ecke. Auch dieser Grundtyp hat Kontakt zu zwei Grossmodulen. Es zeichnet sich an der Fassade also ein System von Grossmodulen ab, die durch die beiden Grundtypen miteinander verknüpft werden. Die Grundtypen können also als horizontale und vertikale Brücke gedacht werden, nicht aber als Brücken zueinander. Modulsystem 04 Auch Modulsystem 04 hat zwei Grundtypen. Beide bestehen aus vier Modulen und sind sich in ihrer Erscheinung sehr ähnlich. Der eine Grundtyp ist lediglich eine 180° Drehung des anderen. Es hat jeweils drei vertikale Module und ein zusätzliches zur Seite, welches ganz unten respektive ganz oben andockt. Der eine Grundtyp hat die drei vertikalen Module direkt an der Ecke, während sie beim anderen in der Mitte liegen. Beide Typen fassen in der Ansicht mit ihrer L-Form ein Grossmodul. Beide Grundtypen haben Verbindung zueinander und zu jeweils einer Grossform.
Modulsystem 05 Gleich wie beim Modulsystem 04 sind die zwei Grundtypen in diesem System sehr ähnlich. Im Schema erscheinen beide wie der zweite Grundtyp der beim Modulsystem 01 beschrieben wurde. Zwei Module oben und zwei unten, welche horizontal um ein Modul zueinander verschoben sind. Der Unterschied zwischen den Typen liegt in der Lage. Einer steht mit den zwei überlagernden Modulen auf der Ecke und der andere mittig in der Fassade. Das heisst der eine Grundtyp geht um die Ecke, während der zweite gerade von einer Fassade zur anderen verläuft. Beide bilden, wie schon beim Modulsystem 01, eine Verbindung zwischen zwei Grossmodulen. Anders als beim Modulsystem 01 haben die Grundtypen aber auch Kontakt zueinander und erscheinen in der Fassade wie eine gestapelte Grundform.
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80 Modulsystem 05 - Modellansicht 1
81 Modulsystem 05 - Modellansicht 2
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8.2.2. untersuchung modell
Das Modulsystem 05 wird in einer nächsten Untersuchung mit dem Modell genauer betrachtet. Das System wurde ausgewählt, weil sich die beiden Grundtypen im Schema zwar sehr ähnlich sind, aufgrund ihrer Lage innerhalb des Systems jedoch innenräumlich erkennbare Unterschiede aufweisen. Grundtypen
Die Grundtypen werden aus dem Modulsystem 05 herausgelöst und hinsichtlich des Öffnungsverhaltens und der daraus resultierenden räumlichen Situation weiterentwickelt. Dabei ist wichtig, welche Position die Grundtypen im Gesamtsystem haben und in welcher Beziehung sie zu den Grossmodulen und den Leerstellen stehen. Die Platzierung der Öffnungen wird dadurch beeinflusst. Anschliessend werden sie wieder in das Modulsystem integriert um zu sehen, welchen Einfluss das neue Öffnungsverhalten auf die Erscheinung hat. Bei den Untersuchungen der Modelle für die Grundtypen werden folgende Prämissen gesetzt: -- Jeder Grundtyp hat Zugang zu einer Leerstelle. -- Auf beiden horizontalen Ebenen der Grundtypen sind Öffnungen vorhanden. -- Die Anzahl der Öffnungen ist auf drei beschränkt. -- Die Anordnung der Öffnungen nimmt Bezug auf die räumliche Situation.
82 Grundtyp 01
83 Grundtyp 02
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GRUNDTYP 01
84 Grundtyp 01 Innenraum
85 Grundtyp 01 Aussenansicht
Der Grundtyp 01 besteht aus vier Modulen. Zwei befinden sich auf der oberen und zwei auf der unteren ebene. Diese zwei ebenen sind horizontal um ein Modul verschoben. es ergeben sich dadurch zwei gleich grosse räume, die über eine vertikale Öffnung innenräumlich miteinander verbunden sind. Das gewählte Öffnungsverhalten bezieht sich auf die Lage im hochhaus und die gesetzten Prämissen. Zwei der Öffnungen liegen an der Fassade des Modulsystems und eine hat direkten Zugang zu einer Leerstelle. Die Platzierung geht auf die gerichtete räumliche situation des grundtyps ein. Während oben der raum beidseitig geöffnet wird, entsteht unten ein gefasster raum, welcher nur einseitig eine Öffnung gegen aussen aufweist. Befindet man sich auf der unteren Ebene des Grundtyps ist vor allem die Lichtsituation interessant. Von hinten fällt durch die obere und die untere Öffnung Licht in den raum. gleichzeitig sieht man durch die Öffnung vorne nach aussen. Der blick von der oberen ebene in die andere richtung, zeigt hingegen einen maximalen ausblick durch zwei Öffnungen. 226
GRUNDTYP 02
86 Grundtyp 02 Innenraum
87 Grundtyp 01 Aussenansicht
auch der grundtyp 02 besteht aus vier Modulen. Die anordnung auf zwei ebene ist identisch. Der unterschied besteht darin, dass die ebene nicht horizontal verschoben ist, sondern um 90° gedreht. Dadurch entsteht ein grundtyp, der als eckmodul eingesetzt werden kann. gleich wie beim grundtyp 01 gibt es zwei gleich dimensionierte räume, die über eine vertikale Verbindung verfügen. es gibt drei Öffnungen, wobei sich zwei zur Fassade orientieren und sich die andere Öffnung auf die benachbarte Leerstelle bezieht. Die anordnung der Öffnungen geht auf die eckplatzierung des grundtyps im Modulsystem ein, indem jeder ausblick anders gerichtet ist. auch beim grundtyp hat man auf der unteren ebene eine Verdopplung der Lichtquelle. einerseits von hinten und andererseits seitlich von oben. Das spannende an diesem grundtyp sind vor allem die unterschiedlich gerichteten ausblicke.
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88 Modulsystem 05 - Ă–ffnungsverhalten Modellansicht 1
89 Modulsystem 05 - Ă–ffnungsverhalten Modellansicht 2
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Öffnungen im Modulsystem
Das in den extrahierten Grundtypen definierte Öffnungsverhalten wird nun in der Gesamtansicht des Modulsystems 05 erkenntlich. Es fällt auf, dass gewisse Fassaden eine höhere Anzahl Öffnungen gegen aussen haben, während andere dafür mehr Öffnungen zu den Leerstellen aufweisen. In Abb. 88 ist der Grundtyp 02, welcher sich um die Ecke der Figur legt, gut sichtbar. In dieser Ansicht sind keine Öffnungen zu Leerstellen, sondern nur solche mit Ausblick erkennbar. Abb. 89 zeigt eine 90° Drehung des Modulsystems gegen den Uhrzeigersinn. Bei dieser Blickrichtung sind sowohl bei Grundtyp 01 als auch beim Grundtyp 02 die Öffnungen zu den Leerstellen einsehbar. Es fällt auf, dass immer zwei Öffnungen im Gesamtsystem übereinanderliegen und der Abstand dazwischen drei Module beträgt. Dasselbe Phänomen ist bereits bei den Leerstellen zu erkennen. Dies hat damit zu tun, dass jede vierte Etage, aufgrund der um geschossweise 90° gedrehten Grundrisse, identisch ist. Jeder der Grundtypen verfügt über eine eigene Leerstelle, welche für den jeweils anderen nicht zugänglich ist. Bei den Grossmodulen wird bewusst auf die Untersuchung der Öffnungen verzichtet, um ein klareres Bild der Fassade mit dem Öffnungsverhalten der Grundtypen zu erhalten. Die Untersuchung weiterer Verbindungen zwischen den Grundtypen hat wesentlich weniger Potenzial als bei der Raster-Variation. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Verbindungen zwischen den Grundtypen, aufgrund ihrer Anordnung im Modulsystem, nur in vertikaler Richtung durch den Boden respektive die Decke gesetzt werden können. Aus diesem Grund wird auf eine Schnittdarstellung verzichtet. Die Beziehungen zum Aussenraum sind bei der Modul-Variation als stärker zu gewichten.
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9. Konklusion
Die Entwurfshaltung der Raster-Variation und diejenige der Modul-Variation zeigen im Vergleich zwei unterschiedliche Wege, wie entworfen werden kann. Dabei sind nicht nur die Methoden sondern auch die Resultate verschieden. In der abschliessenden Konklusion werden sowohl die Methoden als auch die Resultate miteinander verglichen. Es wird auch aufgezeigt, wie die Erkenntnisse aus dieser Vertiefungsarbeit Einfluss auf den Entwurf im Fokusprojekt hatte. Zum Schluss gibt es eine kritische Analyse der Ergebnisse und es wird auf die am Anfang gesetzten Ziele eingegangen. Entwurfsmethoden
Die Entwurfsmethode der Raster-Variation hat unterschiedliche Raster als Grundlage. Mit Hilfe dieser Raster werden 19 Grundtypen erzeugt, welche als Bausteine genutzt werden können um Modulkombinationen zu erstellen. Diese Vorgehensweise ist als induktiv zu deklarieren. Ausgehend vom Entwurf der Einzelteile entsteht ein Gesamtsystem. Diese additive Arbeitsweise entspricht eher derjenigen der Funktionalisten, wie in „3. Probleme der Modularität“ geschildert. Dabei muss beachtet werden, dass die Art und Weise wie die Grundtypen gefügt werden, nicht zu monoton erscheint. Grundsätzlich kann das Fügungsprinzip bei den gezeigten Modulkombinationen variiert werden, um einer solchen Monotonie entgegen zu wirken. Aus der Modul-Variation hat sich eine völlig andere Entwurfsmethode herauskristallisiert. Basis ist ein System von Modulen, welches mittels der drei Faktoren Modul-Position, Modul-Grösse und Modul-Verbindung verändert wird. Dieser Ablauf führt zu einer Evolution der Entwürfe, wobei einzelne Varianten aufgrund der Prämissen nicht die nächste Stufe erreichen. Bei dem letzten Schritt der Modul-Verbindung entstehen schlussendlich Grundtypen als Grundbausteine der Systeme. Somit zeigt die Methode der Modul-Variation die umgekehrte Strategie wie diejenige der Raster-Variation und hat deduktiven Charakter. Sie geht vom Ganzen aus und generiert daraus die Einzelteile. Diese subtraktive Herangehensweise liegt näher an den Vorstellungen der Strukturalisten, da aus ihrer Sicht die Probleme der Modularität dadurch besser zu bewältigen sind. Bei beiden Entwurfsmethoden werden während des Prozesses fortlaufend Prämissen gesetzt um Leitplanken zu legen, welche die Möglichkeiten des Entwurfs und die Zahl der Resultate einschränken. Diese Vorgehensweise erinnert an parametrisches Entwerfen, welches Entwürfe aufgrund präzise formulierter Parameter erstellt. Aufgrund der Parameter entstehen unzählige Varianten, aus welchen die Besten ausgewählt werden können.
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Resultate
Der Vergleich der Resultate aus den beiden Entwurfshaltungen beginnt bei den Grundtypen, welche bei der Raster-Variation am Anfang und bei der Modul-Variation am Ende des Entwurfsprozesses stehen. Ein erster Unterschied liegt darin, dass bei der Raster-Variation eine grössere Anzahl von Grundtypen erzeugt wird. Einen entscheidenden Einfluss darauf hat die Anzahl der Arbeitsschritte die zu ihrem Entwurf nötig sind. So sind die Grundtypen der Raster-Variation bestimmt durch einen Arbeitsschritt und demnach einer geringen Anzahl von Prämissen unterworfen. Hingegen sind die Grundtypen der Modul-Variation das Ergebnis einer Vielzahl von gesetzten Prämissen, was die Menge der möglichen Grundtypen stärker einschränkt. Ein Vorteil der Raster-Variation gegenüber der Modul-Variation ist der Versatz um ein halbes Modul in der Höhe anstelle eines ganzen, welcher bei einigen Grundtypen vorhanden ist. Dadurch sind die einzelnen Module stärker miteinander verbunden und es entsteht ein fliessenderer Raum. Ausserdem sind direkte Bezüge zu mehreren Öffnungen eher möglich. Demgegenüber sind die Grundtypen der Modul-Variation bezüglich Einpassung ins Gesamtsystem und Möglichkeiten im Öffnungsverhalten vorteilhafter, da diese direkt Bezug aufs Modulsystem nehmen können. Wird der Vergleich nun ausgeweitet auf die entstandenen Gesamtsysteme, zeigen sich gänzlich unterschiedliche Bilder. So liegen die Qualitäten der resultierten Strukturen an unterschiedlichen Orten. Bei den Modulkombinationen der Raster-Variation zeigt sich im Äusseren ein klarer Rhythmus in der Gliederung von offenen und geschlossenen Flächen. Das Potenzial liegt aber viel mehr im Innern. Aufgrund der Verknüpfung einzelner Grundtypen, können geschossübergreifende Verbindungen erzeugt werden, die das Thema der Vertikalität des Hochhauses gut transportieren. Die Verzahnung der Grundtypen ermöglicht ein hohes Mass an Kommunikation, die einen grossen Mehrwert schafft und der schlichten Stapelung von Geschossen entgegen wirkt. Die Möglichkeiten, wie die Grundtypen gestapelt werden können, sind zahlreich und zeigen den Vorteil dieser Entwurfshaltung. Die Modulsysteme der Modul-Variation zeigen ihre Vorzüge vor allem in der Vielfalt des Ausdrucks. Es gibt neben den Grundtypen auch Grossmodule und Leerstellen. Die Logik der Anordnung dieser Elemente ist nicht auf Anhieb erkennbar. Die Bezüge zwischen den einzelnen Elementen sind aufgrund der Anordnung vielfältig. Im Gegensatz zur Raster-Variation gibt es keinen Versuch die einzelnen Grundtypen des Modulsystems 05 zusätzlich miteinander zu verbinden, da diese nur Kontakt in direkt vertikaler Richtung haben, was durch das Modulsystem und dessen Prämissen vorgegeben ist. Die Analyse der Resultate lässt den Schluss zu, dass die Ergebnisse der Modul-Variation Vorteile im Bereich des Ausdrucks des Gesamtsystems haben, die Entwurfshaltung der Raster-Variation hingegen bessere innenräumliche Qualitäten erzeugt.
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90 Entwurfsmethode der Raster-Variation
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91 Entwurfsmethode der Modul-Variation
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92 Entwurf Fokusprojekt - Grundriss 3. Obergeschoss
93 Entwurf Fokusprojekt - Schnitt
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Entwurf Fokusprojekt
Um die gewonnenen Erkenntnisse aus der Vertiefungsarbeit „praktisch“ anzuwenden, wurde ein Austausch zwischen der Vertiefung und dem Fokusprojekt angestrebt. Die Schwierigkeit dabei war, die Arbeiten parallel zu entwickeln. Schliesslich ist es gelungen anhand der entworfenen Grundtypen in der Raster-Variation eine Überführung der Erkenntnisse aus der Vertiefung ins Entwurfsprojekt zu gewährleisten. Die durch Raster-Variation erzeugten einzelnen Grundtypen, können als Sporträume genutzt werden. Die Modularität ermöglichte es, diese einfacher zu kombinieren und verschiedene Verknüpfungen zwischen den einzelnen Grundtypen aufzubauen. Anhand der Beschriebe wurde den jeweiligen Sportarten der passende Grundtyp zugeteilt. Mittels Stapelung der Grundtypen ergab sich eine Sportskulptur, welche im Innern des entworfenen Hochhauses liegt. Durch den Versatz um eine halbe Modulhöhe entstand bei der Stapelung eine Verzahnung, an deren Schnittstellen Öffnungen gesetzt werden konnten. Diese Öffnungen ermöglichen geschossund sportübergreifende Blickbeziehungen.
94 Entwurf Fokusprojekt - Sportskulptur
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Kritik Die vergleichende Gegenüberstellung der Entwurfshaltungen hat die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Vorgehensweisen aufgezeigt. Generell kann gesagt werden, dass die gewonnenen Erkenntnisse eine hohe Relevanz für den Entwurf räumlicher Vielfalt im Hochhaus haben. Dies wurde belegt anhand der Umsetzung, der in der Vertiefungsarbeit gewonnenen Erkenntnisse, im Entwurf des Fokusprojekts. Besonders in der Arbeit mit dem Schnitt liegt bei Hochhäusern ein hohes Potenzial, da sich durch die hohe Anzahl der Geschosse, die Schaffung von vertikalen Bezügen anbietet. Hier kann verwiesen werden auf Rem Koolhaas, welcher in seinem Buch Delirious New York vom vertikalen Schisma spricht: „Die jeweilige Symbolik darf nicht auf die anderen Etagen übergreifen. Tatsächlich impliziert die schizoide Unterteilung in thematische Ebenen eine architektonische Strategie für das - durch die Lobotomie befreite - Innere des Wolkenkratzers: das vertikale Schisma, die systematische Ausnutzung der bewussten Entkoppelung der Stockwerke“.14) Sowohl diese Vertiefungsarbeit, als auch das Fokusprojekt hatten zum Ziel, das vertikale Schisma zu überwinden, Beziehungen zwischen den Geschossen zu fördern und somit das Hochhaus als Ganzes und nicht als Summe einzelner Stockwerke zu betrachten. Die Methode des nutzungsneutralen Entwurfs birgt neben seinen Potenzialen natürlich auch Gefahren. Werden Räume ohne eine Funktion, also nutzungsneutral, oder sogar dimensionslos geplant, sind diese unter Umständen nur bedingt für den späteren Gebrauch geeignet. An dieser Stelle sei nochmals auf Aldo van Eyck‘s Aussage verwiesen: „Extreme Flexibilität dieser Art hätte zu falscher Neutralität geführt wie ein Handschuh, der sich für niemanden eignet, weil er allen passt“.15) Der Strukturalismus machte auf die Problematik der Wiederholung, aufgrund der im Funktionalismus aufgekommenen Serienproduktionen aufmerksam. Dies kann verursacht werden durch die Ausformulierung der Einzelteile aber auch die Art wie diese gefügt werden. Beide erarbeiteten Entwurfshaltungen bieten die Möglichkeit die Anzahl der unterschiedlichen Elemente zu reduzieren und aufgrund der Kombinationsmethodik einer monotonen Wiederholung vorzubeugen. Generell scheint die deduktive Entwurfshaltung der Modul-Variation, bei welcher vom Ganzen und nicht dem Einzelteil ausgegangen wird, besser geeignet für die Planung von grossen Gebäudemassen, wie es bei Hochhäusern der Fall ist. Dabei kann spezifischer auf die Thematik von Differenzierung und Einheit durch Rhythmus und Subrhythmus eingegangen werden, wie es Aldo van Eyck einst gefordert hatte.
14) Koolhaas 1999, S. 106 15) Ligtelijn 1999, S. 88
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Bibliografie Alexander, Christopher: „A City is not a Tree“. In: The Architectural Forum. Vol. 162, April, 1965. S. 58-62 Gerber, Andri/Unruh, Tina/Geissbühler, Dieter: Forschende Architektur. Luzern: Quart Verlag, 2010 Koolhaas, Rem: Delirious New York. Ein retroaktives Manifest für Manhattan, 3. Auflage. Aachen: Arch+ Verlag, 2006 Kuhnert, Nikolaus/Ngo, Anh-Linh: „Entwurfsmuster-Editorial“. In: Arch+ Zeitschrift für Architektur und Städtebau. Ausgabe 189, Oktober, 2008. S. 6-9 Ligtelijn, Vincent: Aldo van Eyck-Werke. Basel: Birkhäuser, 1999 Lüchinger, Arnulf: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart: Krämer, 1981 Picon, Antoine: „Das Projekt. Von der Poesie der Kunst zur Entwurfsmethode“. In: Arch+ Zeitschrift für Architektur und Städtebau. Ausgabe 189, Oktober, 2008. S. 12-17 Steadman, J.P.: Architectural Morphology. London: Pion Limited, 1983 Tausch, Gunnar: „Der Idealismus der Verknüpfung und der Realismus der Masse“. In: Arch+ Zeitschrift für Architektur und Städtebau. Ausgabe 189, Oktober, 2008. S. 38-45 Wilkens, Michael: Architektur als Komposition. Zehn Lektionen zum Entwerfen. Berlin: Birkhäuser, 2010
Abbildungsnachweis 1 http://historiadearquitecturamoderna.blogspot.ch/2012/04/dialectica-de-lo-moderno-la-vivienda.html (15.01.2013) 2 http://afbeeldingen.gahetna.nl/naa/thumb/1280x1280/dabaac6d-6cb8-9ea7-f706-f0cbce56be3b.jpg (15.01.2013) 3 http://www.archdaily.com/151566/ad-classics-amsterdam-orphanage-aldo-van-eyck/2-519/ (15.01.2013) 4 http://www.archdaily.com/151566/ad-classics-amsterdam-orphanage-aldo-van-eyck/11-219/ (15.01.2013) 5 Ligtelijn, Vincent: Aldo van Eyck-Werke. Basel: Birkhäuser, 1999. S. 94 7 Ligtelijn, Vincent: Aldo van Eyck-Werke. Basel: Birkhäuser, 1999. S. 95 9 http://www.e-architect.co.uk/images/jpgs/holland/centraal_beheer_apeldoorn_r061211_a.jpg (15.01.2013) 10 http://www.dezeen.com/2011/12/06/key-projects-by-herman-hertzberger/ (15.01.2013) 11 http://www.dbz.de/imgs/8369647_8eb74b1949.jpg (15.01.2013) 14 http://8late.wordpress.com/2012/11/27/adolescence/ (15.01.2013) 15 http://www.tumblr.com/tagged/centraal+beheer (15.01.2013) 17 Picon, Antoine: „Das Projekt. Von der Poesie der Kunst zur Entwurfsmethode“. In: Arch+. Ausgabe 189, Oktober, 2008. S. 15 18 Tausch, Gunnar: „Der Idealismus der Verknüpfung und der Realismus der Masse“. In: Arch+. Ausgabe 189, Oktober, 2008. S. 41 6, 8, 12, 13, 16, 19 - 94 Stefan Kunz
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ThemenĂźbersicht der weiteren Arbeiten
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Die RĂźckkehr der HĂźlle Schnittstelle zwischen innen und aussen
Markus Abegg Vertiefungsarbeit Master in Architektur Fokus Struktur Herbstsemester 2012/2013 Begleitung: Oliver Dufner Natalie Plagaro Cowee Luzern, Januar 2013 242
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Abstract
Struktur bildet das Regelwerk eines Ganzen, dessen Einzelteile in Abhängigkeit zueinander systematisch gefügt sind. Strukturen in Architektur werden in Abhängigkeit von Material und Funktion generiert. Material und Funktion bedingen dabei das Regelwerk der räumlichen und statischen Struktur. Die Erscheinung dieses Regelwerks wurde seit der Urhütte nach Vitruv auf eine natürliche Art wiedergegeben. Dabei wurde die Struktur zur Einheit der inneren Raumsystematik und der äusseren Erscheinung. In zeitgenössischer Architektur geht diese Abhängigkeit der inneren Logik mit der äusseren Erscheinung immer mehr verloren. Durch die Schichtentrennung werden zwei autonome Teile generiert: Die innere Kernform und die äussere Hülle. Dabei stimmen die Erscheinung und das Wesen des Gebäudes nicht mehr überein. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich damit, wie in zeitgenössischer Architektur diese Abhängigkeit wiederhergestellt werden kann. Auf der Suche nach möglichen Lösungsansätzen bedingt es den Sprung in die Vergangenheit. Verschiedene Theoretiker haben sich geäussert, wie das Innere mit dem Äusseren ein unzertrennbares Ganzes ergeben kann. Fernab der Theorien von Laugier, Bötticher, Semper und Co., scheint das Unterwaldner Bauernhaus eine erste mögliche Konklusion auf das Thema von Hülle und Kernform zu geben. Die Vorstösse des Strickbaus verschmelzen das Innere mit dem Äusseren. Sie lassen den Betrachter erahnen, was sich dahinter für einen Raum befindet. Strukturen wie beim Unterwaldner Bauernhaus können heute nicht mehr so gebaut werden. Die Anforderungen an ein Gebäude sind rasant gestiegen. In zeitgenössischen Bauaufgaben müssen die Gebäude gegen hohe Wärmeverluste gedämmt werden. Die zusätzliche Schicht der Wärmedämmung soll jedoch nicht als Einschränkung gesehen werden. Vielmehr können daraus Qualitäten entwickelt werden, die dem Gebäude wieder einen Ausdruck verleihen. In der Schlussfolgerung wird aufgezeigt, mit welchen Elementen die verloren gegangenen Abhängigkeiten wiederhergestellt werden können, damit Hülle und Kernform wieder ein unzertrennbares Ganzes ergeben.
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Bekleidung in der Gegenwartsarchitektur Die Bedeutung der Bekleidungstheorie von Gottfried Semper im Kontext zeitgemässer Konstruktionen
Bekleidung in der Gegenwartsarchitektur Die Bedeutung der Bekleidungstheorie von Gottfried Semper im Kontext zeitgemässer Konstruktionen
Hochschule Luzern – Technik und Architektur MA Vertiefungsarbeit HS 12 Horw, Hochschule Luzern – T&A, 21. Januar 2013 Dozenten: Oliver Dufner Natalie Plagaro Cowee Vorgelegt von: Matthias Blumer Neustadtstrasse 25 6003 Luzern matthias.blumer@stud.hslu.ch
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Abstract Die Bekleidungstheorie von Gottfried Semper aus dem 19. Jahrhundert geniesst auch in der zeitgenössischen Architekturtheorie grosse Anerkennung. Der Frage, inwiefern seine theoretischen Ansätze auch auf die aktuelle Architektur anwendbar sind, nimmt sich die vorliegende Arbeit an. Aufgrund der theoretischen Grundlage von Gottfried Semper werden fünf zeitgemässe Bauten analysiert und geprüft.
Es zeigt sich, dass in der gegenwärtigen Architektur die Gedanken und Grundsätze von Semper noch immer eine bedeutende Rolle einnehmen. Die vielschichtigen technischen Weiterentwicklungen und die Veränderung des Baustils haben das Bauwesen massgeblich geprägt. Die Theorie der Bekleidung muss also bezüglich den zeitgemässen Konstruktionen differenziert betrachtet werden.
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Faltwerke Ein starker Wille.
Vertiefungsarbeit Herbstsemester 2012 I 13
Vertiefungsarbeit von Franziska Furger Hochschule Luzern, Master of Arts in Architecture
Autorin Dozierende Thema Institution Studiengang Datum Tel. e-mail
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Franziska Furger Oliver Dufner, Natalie Plagaro Cowee Struktur Hochschule Luzern | Technik und Architektur Master of Arts in Architecture 21. Januar 2013 | HS12 I 13 +41 78 882 86 35 franziska.furger@stud.hslu.ch
Abstract Ein Faltwerk ist nicht alt, nur weil es tiefe Falten hat. Um so ausgeprägter die Falten sind, um so efzienter ist das Faltwerk. Die Falten zeigen keine Schwäche, im Gegenteil, sie stabilisieren das Faltwerk. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit Faltwerken, von der Idee und dem Konzept bis zur Umsetzung in die Realität. Nach einem Überblick der Grundbegriffe Struktur und Faltwerk wird das Faltwerksystem zusätzlich anhand der Tragwerkstheorie erklärt. Die Frage, was ein Faltwerk ist, ist Teil der Arbeit. Demzufolge werden drei Architektur Beispiele behandelt. Die Analyse konzentriert sich auf die Struktur, die Konstruktion und die Materialität in Verbindung mit der Atmosphäre. Die Beispiele werden dann untereinander verglichen. Anhand der analysierten Beispiele werden nachfolgende Fragen geklärt. Wann legt man sich auf eine Faltwerkkonstruktion fest, bereits bei der Idee, dem Konzept oder erst bei der Umsetzung? Bestimmt das Faltwerk das Konzept oder ist es das Konzept, das nach einem Faltwerk fragt? Wie stark ist ein Faltwerk wirklich? Ist es stark im Sinne der Statik? Ist es stark im Erscheinungsbild? Bei der Reexion stellt sich heraus, dass bei den untersuchten Beispielen die Ideen und Konzepte im Vordergrund standen. Um die Bilder der Architekten in Architektur umzusetzen, wählten sie das Faltwerksystem.
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High-rise Courtyard Arnold Gamborino
HSLU / Master / HS12 / Vertiefungsarbeit Dozierende: Oliver Dufner, Natalie Plagaro Cowee 248
High-rise Courtyard Arnold Gamborino Abstract The evolution of the cities and the need for additional space made necessary the creation of high-rise buildings. Most of the time this type of building present certain problems related to the quality of life for the occupants. The implementation of Courtyards is an important concept that can be applied to improve the space quality in these buildings. A series of historical examples as well as modern examples have been analyzed in order to be able to understand the different qualities that these spaces can bring to the buildings. The result of this study is a series of proposals of new typologies of High-rise buildings that include the qualities of Courtyard spaces, a High-rise Courtyard. Keywords: High-rise building; Courtyard; Space quality; Improvement
Introduction How to include courtyards in high-rise buildings without losing the original functions and qualities? The use of the courtyard started with the need of having an exterior space
vantages and disadvantages on how courtyards in high-rise buildings are currently implemented. At the end, proposal models of how courtyards could be implemented in high-rise buildings, so that they recover their
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Von der tragenden Wand zur StĂźtze Ein Weg
Vertiefungsarbeit | Natascia Minder Master Architektur | Hochschule Luzern
Autor: Natascia Minder Dozendierende: Oliver Dufner, Natalie Plagaro Cowee Modul: MA Vertiefungsmodul HS12 Thema: Struktur Institution: Hochschule Luzern | Technik und Architektur Studiengang: Master in Architektur Datum: 21. Januar 2013 Tel.: +41 78 716 86 26 Email: natascia.minder@stud.hslu.ch
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Abstract Das Ziel dieser Arbeit ist es, bezugnehmend auf Entwurf, Struktur, Material und deren Entwicklung im Laufe der Jahrzehnte, die grosse Spannbreite Mies‘ Architektur aufzuzeigen. Die Analyse der Umsetzung fortlaufender neuer Ideen und Aspekte, zeigt zunehmend die Konsequenz, mit der Mies seine Objekte verwirklichte. Seine Fähigkeit zur Erfüllung der gestellten Anforderungen und Bedürfnisse der jeweiligen Zeit werden sichtbar und aufgezeigt. Anhand der ausgewählten Bauten ist die Möglichkeit gegeben, Struktur und Konstruktion zu analysieren, die Ideen Mies’ nachzuvollziehen, die wichtigsten Einflüsse zu erkennen und einzuordnen. Nach einem kurzen Überblick über den Architekten selbst, wird der Fokus auf 5 Bauten gelenkt, welcher den Reifungsprozess während der Entwicklungsphase erkennen lassen. Deutlich wird, wie jede einzelne Zeitspanne Einfluss auf Mies Arbeiten nimmt und wie Mies im Gegenzug seine Umwelt intelektuell und praktisch fordert und beeinflusst. Im Zusammenspiel von Anforderung und Genialität entstehen neue produktive Prozesse, welche durch ihre gradlinige Weiterführung, Höchstleistungen hervorbringen. In dieser Arbeit zeigt sich vor allem, wie Mies seinem Credo folgend, stufenweise die Ansprüche an sich selbst steigert, um diese dann schliesslich in Meisterleistungen im architektonischen Ausdruck zu präsentieren. 3
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Strukturelle Kathedralen Strukturelle Verbindungen von gotischen Kathedralen und den Kathedralen ab Mitte des 19. Jahrhunderts
Strukturelle Kathedralen Modulthema Dozierende Institution Datum Name Tel. Nr. E-Mail Actual period in studies of Architecture
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In-depth Study, Struktur Oliver Dufner, Natalie Plagaro Cowee Lucerne University of Applied Sciences and Arts 21.01.2013 Noemi Schumacher 079 729 70 57 noemi.schumacher@stud.hslu.ch Master, 3. Semester
Abstract Die gotischen Kathedrahlen sind bis heute in ihrem strukturellen Aufbau und der damit verbundenen Wirkung und Präsenz einmalig. Hendrik Petrus Berlage erkannte das Potential der gotischen Architektur, als er das Schriftstück „Gedanken über Stil in der Baukunst“ 1905 verfasste. Aus diesem Schriftstück wurden für die vorliegende Arbeit Untersuchungskriterien verfasst, welche die wichtigsten Kernaussagen aus Berlages Werk umschreiben. Die abgeleiteten Untersuchungskriterien lassen sich in die Themen Struktur, Element, Tektonik und Bekleidung unterteilen. Diese Kriterien werden im Hauptteil anhand von drei Fallbeispielen ab Mitte des 19. Jahrhunderts untersucht. Die Fallbeispiele sind der Crystal Palace von Joseph Paxton, das Seagram Building von Mies van der Rohe und der Swiss Re Tower von Norman Foster. Sie stellen ähnliche Anforderungen an die Repräsentativität und die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit wie die früheren gotischen Kirchen. Die Hypothese, welche anhand der Untersuchung beantwortet wird, lautet wie folgt: „Weisen die sogenannten Kathedralen ab Mitte des 19. Jahrhunderts den gleichen Umgang mit der Struktur auf, wie die gotische Kathedralen?“ Die Untersuchung ergibt, dass die repräsentativen Gebäude ab Mitte des 19. Jahrhunderts Parallelen zu der Gotik in Bezug auf den Umgang mit der Struktur aufweisen. Alle Fallbeispiele weisen in gewissen Punkten eine direkte oder umgewandelte Form der von Berlage erkannten Merkmale auf. Die Struktur anhand einer Ordnung oder eines Rasters aufzubauen, führt zur Beruhigung und Klärung des gesamten Baukörpers. Die Grundordnung sollte auf den gesamten Baukörper angewendet werden, um einen unverständlichen Bruch in der Struktur des Gebäudes zu vermeiden. Das Element stellte sich als das einflussreichste Kriterium in Bezug auf die Grundstruktur heraus. Die Wahl des Materials und die Form des Elementes bilden die Ausgangslage der gesamten Struktur. Durch das Element kann die Proportionierung und die Wirkung des Gebäudes beeinflusst werden. Die Fügung der Elemente kann eine Baustruktur zusätzlich in seiner Wirkung stärken und den strukturellen Aufbau des Baukörpers erläutern. Wird die Fügung verwischt, führt dies beim Betrachter zur Verunklarung der Struktur. Durch die Verwischung der Struktur wird der Fokus von der Struktur auf den Baukörper gelenkt. Diese Möglichkeit den Fokus weg von der Struktur und auf den Baukörper zu lenken, ist bei der Bekleidung auch möglich. Die strukturelle Anpassung der Bekleidung an die Grundordnung der Struktur bewirkt eine Verschmelzung von Tragstruktur und Bekleidung. Dadurch wird der Baukörper als Einheit gelesen und von aussen wird die innere strukturelle Logik verdeutlicht.
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Elemente der Vergangenheit in der Architektur der Gegenwart
Elemente der Vergangenheit in der Architektur der Gegenwart 5
These: Die Theorie der Permanenz nach Aldo Rossi, die primär im Rahmen der Auseinandersetzung mit Fragen des Städtebaus formuliert wurde, lässt sich ausserhalb dieses urbanen Kontextes in analoger Weise auf das einzelne Bauwerk anwenden. Hochschule Technik und Architektur Luzern Master Architektur Vertiefungsarbeit Fokus Struktur Herbstsemeste 2012
Modulverantwortung: Oliver Dufner Dozierende: Natalie Plagaro Cowee Student: Raphael Wicky
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Abstract Aldo Rossis Theorie der Permanenz, mit der sich der erste Teil dieser Arbeit auseinandersetzt, lässt sich nicht nur in einem urbanen Kontext anwenden, sondern sie hat auch Gültigkeit in Bezug auf das einzelne Gebäude. So ist es möglich, sowohl im urbanen Kontext (Städtebau) als auch im Bereiche einzelner Bauwerke die Vergangenheit anhand von bewahrten Strukturelementen in der Gegenwart zu erleben. Insofern gibt es Parallelen zwischen dem strukturellen Organismus eines einzelnen Gebäudes und der Grundkonzeption eines historischen Stadtplans. Beide, Stadtplan und struktureller Organismus, beinhalten fundamentale Elemente, welche die Zeit überdauern und so die Vergangenheit in der Gegenwart ablesbar machen. Dabei muss immer auch das Problem der selektiven Wahrnehmung mitberücksichtigt werden. So beeinflusst diese auf Grund des individuellen fachlichen, historischen und gesellschaftlichen Hintergrunds des Betrachters die Erfassung und Interpretation von möglichen Elementen der Permanenz. Anhand von drei konkreten Beispielen (Kunst(Zeug)Haus Rapperswil, Lokremise St. Gallen, Neues Museum Berlin) wird dargelegt, wie sich die Permanenztheorie von Aldo Rossi auf einzelne Bauwerke anwenden lässt.
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Über die Zusammenhänge von vertikaler Erschliessung und Tragstruktur Vertiefungsarbeit Struktur im Herbstsemer 2012, HSLU
Über die Zusammenhänge von vertikaler Erschliessung und Tragstruktur Modul
Vertiefungsarbeit, Struktur Dozenten
Oliver Dufner, Natalie Plagaro- Cowee Institution
Hochschule Luzern - Technik & Architektur Datum
21.01.2013 Student
Raphael Wiprächtiger (077 442 55 84) E-Mail
raphael.wipraechtiger@stud.hlsu.ch Studiengang
Master in Architektur
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Abstract In dieser Arbeit wird der Frage nachgegangen, inwiefern die Tragstruktur eines Gebäudes von dessen Erschliessung abhängig ist und umgekehrt. In einem ersten Teil werden die Grundlagen der Zirkulation und deren Kombination mit dem Tragwerk behandelt. Aus dieser Auseinandersetzung hat sich eine Matrix herauskristallisiert. Jene zeigt auf, in welchen vier Stufen Tragwerk und vertikale Erschliessung voneinander abhängig sein können. Parallel dazu wird die These aufgestellt, dass Tragwerk und Erschliessung in jedem Fall voneinander abhängig sind. Der Hauptteil befasst sich mit Beispielbauten. Diese wurden so ausgewählt, dass zu jeder Stufe der Abhängigkeit ein Gebäude analysiert wird. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf den Beweggründen, welche für die finale Beziehung von Tragwerk und vertikaler Erschliessung der jeweiligen Gebäude verantwortlich waren. Die Beweggründe fangen jeweils bei den Umständen an, unter welchen ein Gebäude entworfen wird, führen über die Haltung des Architekten und dessen Lebenslauf zur Treppe und enden mit der Untersuchung der Beziehung zwischen Treppe bzw. Rampe und Tragwerk. Der folgende Text hat zum Ziel, den Leser für die Zusammenhänge von Tragwerk und Erschliessung zu sensibilisieren. Es wird versucht, ein Licht auf das faszinierende und grosse Feld von Statik und Zirkulation zu werfen. Mit der Absicht, dass durch die Lektüre einige Fragen geklärt, oder noch besser, neu gestellt werden.
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Struktur - Regel und Ausnahme Die Ausnahme der Regel als Qualität des architektonischen Ausdrucks.
Master Architektur Modul Vertiefungsarbeit Fokus Struktur Herbstsemester 2012 Begleitung: Dufner Oliver Plagaro Cowee Natalie Student: Murer AndrĂŠ Luzern, Januar 2013
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Abstract
In der vorliegenden Arbeit wird der Zusammenhang zwischen Regel und der darin enthaltene Ausnahme in der Architektur untersucht. Die Problematik liegt in der Unterscheidung von der Ausnahme als qualitatives architektonisches Gestaltungsmittel oder einfach als Erscheinung eines belanglosen Zufalls. Wo und in welcher Art zeigen sich Ausnahmen in Regeln von architektonischen Strukturen? Als Einstieg ins Thema wird zu Beginn herausgestellt, was die Regel von der Ausnahme voneinander differenziert. Dabei wird ihre gegenseitige Wechselbeziehung sichtbar gemacht. Die Untersuchung stützt sich dabei auf verschiedene Standpunkte und Aussagen einzelner Theoretiker, die sich mit dem Thema der Ordnung und dem Bruch der Regel auseinandergesetzt haben. Die Erkenntnis der Arbeit bleibt somit eine theoretische Betrachtungsweise. Der Verfasser stellt zu Beginn folgende These auf: «Die Ausnahme der Regel schafft eine grundlegende Qualität des architektonischen Ausdrucks.»
Um eine systematische Vorgehensweise zu erreichen, analysiert der Autor die These an Hand zweier bekannten Beispiele. So bildet der Dorische Tempel wie auch das World Trade Center in NY auf Grund der einzigartigen gestalterische Ausführung, der Kombination von Regelwerk und Ausnahmen zwei bewusst gewählte Fallbeispiele mit anhaltender Aktualität. Die Arbeit übernimmt dabei die Aufgabe die Ausnahme und die Regel mit Architektur zu konfrontieren und dabei eine mögliche Ebene zu schaffen, die erlaubt durch die Begriffe eine architektonische Absicht oder einen Zusammenhang verständlich zu machen. Dieses Verständnis kann als Qualität des architektonischen Ausdrucks verstanden werden.
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Die Nutzungsmerkmale der räumlichen Fassaden Eine Auseinandersetzung mit der Typologie von Peter Stephan
Modul Vertiefungsarbeit, Struktur Dozenten Oliver Dufner, Natalie Plagaro- Cowee Institution Hochschule Luzern - Technik & Architektur Datum 21.01.2013 Student Markus Tschannen E-Mail markus.tschannen@stud.hlsu.ch Aktueller Studiengang Master in Architektur
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Abstract In der Architekturgeschichte spielten räumliche Fassaden immer eine grosse Rolle. Neben den repräsentativen Eigenschaften besitzen sie aber auch funktionale Aspekte. Der Arbeit liegt eine Habilitationsschrift des Kunsthistorikers Peter Stephan zugrunde, der damit typologische Merkmale für räumliche Fassaden beschrieben hat. Somit stellt sich die Frage, wie heute mit der Räumlichkeit von Fassaden umgegangen wird, und ob sie sich weiter entwickelt hat. In dieser Arbeit werden acht Beispiele aus aktueller Architektur gemäss der Typologie von Stephan zugeordnet und auf ihre Nutzungsmerkmale hin untersucht und beschrieben. Dabei soll aufgezeigt werden, dass räumliche Fassaden nicht nur in der Vergangenheit eine Relevanz besassen, sondern auch heute noch von Aktualität sind. Neben der Relevanz zeigt sich auch, dass die fünf Typen funktionale Merkmale besitzen, die eine Tendenz zur spezifischen Verwendung aufzeigen.
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