Textsammlung Energie

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LUZERN

Textsammlung Energie Kurs HTA - Wintersemster 2007/08


Master Fokus Energie Professor: Christian Hรถnger Unterrichtsassistent: Daniel Tschuppert wissenschaftlicher Mitarbeiter: Roman Brunner

Bild: RBF in der Bibliothek seines Home Dome in Carbondale, Ilinois, um 1960. Foto Liebermann. BFA


Textbuch Das Textbuch beinhaltet aktuelle Zeitungs- und Buchausschnitte im nahen und weiteren Umkreis der Thematik Energie. Die Texte zeigen die Aktualität und Brisanz des Themas. Die am Semesterbeginn vorliegende Fassung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, es handelt sich um ein offenes Gefäss, welches während und nach dem Semester laufend ergänzt, aktualisiert und systematisiert wird. Die Sammlung dient dem Lehrkörper als Gedächtnis und Fundus zur Erarbeitung möglicher Forschungsthemen. Am Ende der Textsammlung ist eine ebenfalls wachsende Liste von Literatur zum Thema aufgeführt. Gerne nehmen wir auch Anregungen und Texte/Literaturhinweise der Studierenden in die Sammlung/Literaturliste auf. Christian Hönger


Inhaltsverzeichnis:

S. 6

Reyner Banham, „Die Architektur der Wohl-temperierten Umwelt“, in: Arch+

S. 15

Klaus Daniels, Bauen in der Informationsgesellschaft. Nachhaltig Bauen, Bei-

S. 17

Klaus Daniels, Bauen in der Informationsgesellschaft. Nachhaltig Bauen,

S. 19

Alois Diethelm, Andrea Deplazes, „Strukturfragen. Vom Verhältinis

Februar, 1988, S. 20.

spiele und Ideen, Basel Boston Berlin: Birkhäuser Verlag, 2001, S. 76.

Beispiele und Ideen, Basel Boston Berlin: Birkhäuser Verlag, 2001, S. 76.

Raumstruktur - Baustruktur – Infrastruktur“, in: Konzept und Konstrukt, Das

Handbuch zum Grundkurs „Architektur + Konstruieren I/II“ an der ETH Zürich, 2003, S. 357-364.

S. 29

Hassan Fathy, „Natürliche Energie und vernakuläre Architektur“, in: Arch+

S. 50

Soheir Farid, Rami El Daha, „islamische Architekur und die Arbeiten von Has-

S.55

Max Gschwend, Bauernhäuser der Schweiz. Handwerker-Architektur,

S.57

Dominic Marti, „Archaische Formen“, in: Tec 21 Nr. 36, 3. September,

S.61

Dennis Meadows, Die Grenzen des Wachstums, Bericht des Club of

Februar, übers. Barbara Engel, Wolfgang Wagener, 1987, S. 34-49.

san Fathy“, in: Arch+ Februar, übers.: Barbara Engel, Sabine Kraft, 1987, S. 67.

[1. Auflage], Schweizer Baudokumentation, 1988, S. 15.

2007, S. 18.

Rome zur Lage der Menschheit. Technologie und die Grenzen des


Wachstums, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1972, S. 116-120.� S. 64

Karl H. Metz, Ursprünge der Zukunft, die Geschichte der Technik in der west-

lichen Zivilisation. Perspektiven: Nachhaltigkeit als technologisches Prinzip, Paderborn: Ferdinand Schöningh GmbH &Co, 2006, S. 501-516.

S. 80

Werner Nachtigall, Bau-Bionik, Natur < Analogien > Technik.

Klimaangemessene Bauweisen in ursprünglichen Kulturen und in der Moderne, Berlin: Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York, 2003, S. 75-92.

S. 90

Dietrich Schwarz, „Nachhaltiges Bauen“, in: Detail 2007 6, S. 600-605.

S. 97

Jean-Philipp Vassal, „Séjourner sur L`herbe, Zum Technologietransfer von La-

caton & Vassal“, in: Werk, bauen + wohnen 04, Andreas Ruby Gesprächsleitung, 2002, S. 10-15.

S. 104

Vitruv [Marcus Vitruvius Pollio], Zehn Bücher über die Architektur. Wie man

bei der Anlage der einzelnen Räume auf die Himmelsrichtungen Rücksicht

nehmen muß,� ������� übers. Dr. ���� ����� Curt �������������� Fensterbusch, ����������������������� [Dritte Auflage 1964], ����������� Darmstadt: wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1981, S. 145. S. 105

Tesuro Yoshida, Das japanische Wohnhaus. Lüftung, Heizung, Belichtung, Was-

serversorgung und Entwässerung, Berlin: Ernst Wasmuth GmbH, 1935, S. 145-150.

ab S. 109

Tagespresse

S. 141

Literaturverzeichnis

S. 143

Weiterführende Literatur


Reyner Banham,

„Die Architektur der Wohl-temperierten Umwelt“, in: Arch+ Februar, 1988, S.20.

Die archäologischen Funde, die die Zeit überdauert haben, lassen annehmen, daß die

Menschheit, außer in den ganz trockenen und kalten Gebieten der Erde, in nahezu allen

derzeit bewohnten Teilen der Welt ohne Hilfsmittel existieren kann. Das entscheidende Wort

ist „existieren“: denn ein nackter, nur mit Zähnen, Händen, Füßen und angeborenem Verstand bewaffne­ter Mensch erscheint zwar überall auf dem Lande als lebensfähi­ger Organismus (vielleicht nur nicht in der Wüste und im Schnee). Aber um sich wirklich entwickeln zu

können und nicht bloß zu überleben, braucht der Mensch mehr Behaglichkeit und Muße als der schutzlose, nackte Einzelkampf ums Überleben ihm zugestehen würde.

Ein großer Teil dieser Behaglichkeit und Muße wird ihm durch den Aufbau technischer Hilfsmittel und sozialer Organisationen ermöglicht, die für die direkte Regulierung der Umwelteinflüsse entwickelt wurden: für Trockenheit im Regen, Wärme im Winter und

Kühle im Sommer, um akustischen und visuellen Schutz ge­nießen zu können und um einen

geeigneten Platz zu erhalten, sei­ne eigenen Sachen aufzubewahren sowie gesellige Aktivitäten

zu organisieren. Außer in den letzten zwölf Jahrzehnten verfügte die Menschheit nur über eine überzeugende Methode, diese Umweltverbesserungen zu erreichen, nämlich die Errichtung massi­ver und scheinbar dauerhafter Konstruktionen.

Für Teillösungen dieser Probleme haben sich immer Alternati­ven angeboten, wie zum Beispiel das Tragen eines Mantels im Regen, das Schutzsuchen in einem Zelt vor der Sonne oder das

Versammeln um ein Lagerfeuer an kalten Abenden. Aber ein Mantel ist nur eine individuelle Lösung und ein Zelt bietet kaum akkustischen Schutz, wenn es auch ausreichend ist, um neugieri­ge Blicke fernzuhalten. Und ein Lagerfeuer bietet keinerlei Pri­vatsphäre und ist

überhaupt kein Schutz gegen Regen, dagegen sorgt es für genügend Wärme und Licht, um einen Ort bewohn­bar zu machen.

Aber über Betrachtungen dieser Art hinaus sollte man einen grundsätzlichen Unterschied

zwischen umwelttechnischen Hilfs­mitteln des konstruktiven Typs (dazu gehört auch Kleidung) und solchen machen, für die das Lagerfeuer der Archetyp ist. Dieser Unterschied soll durch eine Art Parabel verdeutlicht werden, in der ein wilder Stamm (von der Art, wie sie nur

in Parabeln vor­kommen) abends an einer Lagerstätte ankommt, und sie gut mit Bauholz


ausgestattet vorfindet. Es gibt zwei grundsätzliche Mög­lichkeiten mit dem Umwelt-Potential Holz umzugehen: es könn­te entweder zur Errichtung eines Wind- oder Regenschutzes ge­

nutzt werden - die konstruktive Lösung - oder um ein Feuer zu machen - die energiegestützte

Lösung. Ein idealer Stamm“ aus wohlüberlegt handelnden Rationalisten würde die verfügbare Menge Holz abschätzen, eine Wettervorhersage für die Nacht treffen - naß, windig oder kalt

- und dementsprechend über den Holzvorrat verfügen. Ein echter Stamm würde, als Erbe einer langen kulturellen Tradition, natürlich nichts dergleichen tun, sondern würde, gemäß seiner

überlieferten Gewohnheit, entwe­der ein Feuer machen oder ein Obdach bauen. Und das ist es, so wird diese Untersuchung zeigen, was zivilisierte, westliche Natio­nen in den meisten Fällen heute immer noch tun.

Das Erlernen dieser überlieferten kulturellen Gebräuche hängt offenbar von vorangegangenen Erfahrungen des Stammes oder der Kultur ab, und diese können oft bitter gewesen sein. Be­ denkt man den Aufwand, so ist eine konstruktive Lösung norma­lerweise mit einem großen

und wahrscheinlich harten individuel­len Einsatz verbunden, während die energie-gesteuerte

Lösung mit einer stetigen und sich möglicherweise verringernden Aus­nutzung der natürlichen Vorkommen verbunden ist, welche schwer oder gar nicht regenerierbar sind. Die meisten vortechno­logischen Gesellschaften haben in diesem Bereich nur wenig Möglichkeiten

gehabt, da sie kaum Brennmaterial oder andere Formen nutzbarer Energie zu ihrer Verfügung hatten. Aus die­sem Grund haben sich alle nachgewiesenen Hochkulturen, die Weltarchitektur geschaffen haben, beweisbar und überzeugend auf die Konstruktion massiver Gebäude

verlassen, um sowohl ih­re physischen als auch ihre psychologischen Bedürfnisse bezüg­lich einer gestalteten Umwelt zu befriedigen.

Konsequenz daraus ist, daß es Architekten, Kritikern, Histori­kern und auch allen anderen, die

sich mit dem Problem des Um­gangs mit der Umwelt beschäftigen, hierzu an räumlichen Erfah­ rungen und kulturellen Antworten fehlt, welche die Nomaden­völker noch besessen haben.

Kulturen, die ihre Umwelt mit Hilfe von massiven Konstruktionen organisieren, neigen auch dazu, Raum so zu sehen, wie sie ihn erleben, also begrenzt und abge­schlossen durch Wände,

Fußboden und Decke.‘ Es gibt sicher Vorbehalte und Ausflüchte gegen diese Darstellung, aber ihre allgemeine Gültigkeit wird in vielen Dingen deutlich, zum Bei­spiel in der beharrlichen

Art und Weise, wie Architekten und De­signer an der rechtwinkligen Form ummauerter Räume festhal­ten, wenn sie versuchen, „offenen“ oder „unbegrenzten“ Raum zu visualisieren. Frederick Kiesler‘s Cite dans l`Espace von 1924 ist ein gutes Beispiel hierfür.

Demgegenüber neigen Gesellschaften, die keine massiven Konstruktionen kennen, eher dazu, ihre Aktivitäten um einen zentralen Focus zu gruppieren - ein Wasserloch, ein

schatten­spendender Baum, ein Feuer, ein bedeutender Lehrer - und be­wohnen so einen nach

funktionalen Bedürfnissen differenzierten Raum, dessen äußere Grenzen eher vage und daher


selten regel­mäßig sind. Die Ausnutzung von Wärme und Licht zoniert sich am wirksamsten in

konzentrischen Kreisen, sie sind am heißesten und hellsten in den Nähen des Feuers und kälter und dunkler, je weiter sie davon entfernt sind; so daß im äußeren Ring geschlafen wird, und

sich Tätigkeiten, die Licht benötigen, in dem innersten Ring abspielen. Aber gleichzeitig ist die

Wärmeausdehnung vom Wind abhängig, und durch den Rauch wird die im Wind liegen­de Seite unattraktive die konzentrische Zonierung noch durch andere Bedürfnisse und Überlegungen zum Komfort durchbrochen wird.

Ohne jetzt diese Erfahrungen weiter zu verfolgen, welche mehr als die geringen

anthropologischen Informationen eine Be­stätigung ihrer grundsätzlichen Relevanz für die

Bildung einer energie-gesteuerten Umwelt bringen würden, kann man auf alle Fälle feststellen, daß diese Erfahrungen keinen Einlaß in die Trad­dition der Architektur gefunden haben, noch nicht einmal in die der modernen Architektur, obwohl sich doch die moderne Archi­tektur im weitesten Sinne mit der Schaffung einer energie-gesteu­erten Umwelt beschäftigt. Die

Geschichte der Architektur, wie wir sie im allgemeinen verstehen, ist in Gesellschaften und Kultu­ren geprägt worden, die sich der massiv-konstruktiven Methode verpflichtet fühlten.

Weiterhin hat die Akkumulation von Kapi­tal und Ausrüstung, um wenigstens eine geringe Stufe zivilisierter Kultur zu erreichen, dazu geführt, daß Baumaterial als etwas sehr Kostbares und

Dauerhaftes behandelt wurde. Es wurde also nicht nur notwendig, bewohnbare Umgebungen zu schaffen, son­dern auch, sie zu erhalten. Selten fehlte es an physisch oder kul­turell notwendigen

Funktionen, die darauf warteten, in den ver­fügbaren Räumen untergebracht zu werden. Gebäude wurden also gebaut, um zu überdauern, und mußten auch erst einmal über Jahre ihre Funktion erfüllen, um die Kosten und den Auf­wand an Material und Arbeit zu rechtfertigen.

Die Architektur entwickelte sich so zur Kunst, die dauerhafte und massive Konstruktionen

schafft, und sie begann, sich auch selber nur noch als diese Kunst zu betrachten, was einer der

Gründe für ihre heutigen Probleme und Unsicherheiten ist. Die Gesellschaft schreibt - durch ein Organ, welches sie dazu bevoll­mächtigt hat, wie zum Beispiel den Staat oder den Markt - die Schaffung passender Hüllen für menschliche Aktivitäten vor, und die Architekten antworten

darauf mit dem Vorschlag eines von starren Konstruktionen umschlossenen Raumes, weil es das ist, was sie, gelernt haben, und, was die Gesellschaft gelernt hat, von den Architekten zu erwarten.

Aber solche Konstruktionen sind aus einer Anzahl von Grün­den heraus angreifbar. Sie sind

kulturell mit Bedeutung zu über­laden, sie sind wirtschaftlich zu teuer, funktional erweisen sie sich als zu starr für Veränderungen und, in Bezug auf die Umwelt, sind sie unfähig, das zu

leisten, was die Gesellschaft von ihnen er­wartet. Alle diese Bedenken haben an Bedeutung

gewonnen, umsomehr sich die technologischen Gesellschaften auf der nörd­lichen Halbkugel

etabliert haben und versuchten, sich in Rich­tung Äquator auszudehnen. Aber die Architekten


hatten kaum etwas anderes als weitere Variationen statischer Konstruktionen anzubieten, und antworteten meistens auf die Probleme so, als seien dies die einzigen und unumgänglichen

Techniken, um mit Umweltproblemen umgehen zu können. In Wahrheit war dies nie die einzige und unumgängliche Tech­nik. Eine geeignete Konstruktion wird den Menschen im Som­mer

kühlen, aber keine Konstruktion wird ihn im Winter wär­men. Eine geeignete Konstruktion kann ihn vor blendendem Sonnenlicht schützen, aber keine Konstruktion hilft ihm, im Dunkeln zu

sehen. Während die Architekturtheorie, die Ge­schichte und die Lehre immer bei der scheinbaren Annahme ge­blieben sind, daß die Konstruktion für den notwendigen Umgang mit der Umwelt

ausreichend ist, hat die Menschheit selbst im gro­ßen und ganzen aus Erfahrung immer gewußt, daß die bloße Kon­struktion allein nicht genügt.

In einigen Jahres- und Tageszeiten wurde immer Energie ver­braucht: Im Winter mußte Feuer

gemacht und abends Lampen angezündet werden, Ventilatoren brauchten Muskelkraft, und in der Hitze des Tages brauchten Fontänen Wasserkraft.

Entwurfszeichnungen für ein Gebäude mußten in Grundriß und Schnitt immer einige

Vorkehrungen für marginale Verwen­dungen von Versorgungsenergie treffen: Schornsteine für den Rauch und Leitungen für das Wasser. Manche Architekten, wie zum Beispiel die

Gebrüder Adam, machten im Grundriß sinnvol­len Gebrauch von diesen Leerräumen, indem sie versteckte Zu­gänge für die Bediensteten zum Anzünden der Lampen und Ker­zen vorsahen. Im

Allgemeinen allerdings hatten solche Vorkeh­rungen nur geringen Einfluß auf die Größe oder das Aussehen ei­nes Gebäudes. Architektur konnte also getrost fortfahren, diese Dinge weiterhin als eine Art Fußnote zu betrachten (ausgenom­men vielleicht Albertis großartige Abhandlung über Schornstei­ne) und auf der massiven Struktur der Wände und Dächer als ihr wahres Geschäft weiterhin zu beharren.

Der Begriff „massiv“ verdient es näher beleuchtet zu werden: In der Tradition des

Mittelmeerraums, von der sich die westliche Architektur herleitet, wurde das Bedürfnis nach

dauerhaftem Schutz oder wenigstens temporärem Schutz normalerweise da­durch befriedigt, die Architektur möglichst massiv auszuführen. Dicke und schwere Konstruktionen halten besser

Stürmen oder Erdbeben Stand und sind weniger angreifbar durch Feuer und Wasser. Aber solche Konstruktionen sind mit ihren umwelttech­nischen Vorteilen mittlerweile in drei Jahrtausenden europäi­scher Zivilisation so sehr selbstverständlich geworden, daß fäl­schlicher Weise

angenommen wird, daß sie allen konstruktiven Techniken eigen wären, so daß es verwirrte

Klagen gab, als sich herausstellte. daß sie für Leichtbaukonstruktionen untauglich waren, die sich aus dem futuristischen Enthusiasmus für das Ma­schinenzeitalter entwickelt hatten.

Ihre herausragenden Vorteile waren akkustischer und wärme­technischer Art. Eine dicke,

schwere Konstruktion bietet einen besseren Schallschutz, einen besseren Wärmeschutz und hat ­was mindestens ebenso wichtig ist -, eine bessere Wärmespei­cherfähigkeit. Diese letzte


Eigenschaft massiver Konstruktionen hat wahrscheinlich mehr dazu beigetragen, europäische Archi­tektur bewohnbar zu machen, als allgemein angenommen wird. Ihre Fähigkeit, die ihr zugeführte Wärme zu absorbieren und zu speichern und diese‘Wärme dann wieder an die

Umgebung abzu­geben, wenn die Wärmequelle längst verloschen ist, hat der euro­päischen

Architektur in jeder Hinsicht gut gedient: die Mau­erwerksmasse eines-Kallins, Kaminaufsatzes und Schornsteins hatte am Tagedie Aufgabe, die Hitze des Feuers aufzunehmen, wenn es

brannte und sie im Laufe der kühlen Nacht wieder an das Haus abzugeben, wenn das Feuer nicht mehr brannte.

Andererseits halten in heißen Gegenden die dicken Wände ei­nes Hauses am Tage die Wärme

der Sonne ab und verlangsamen so eine Erwärmung der Innenräume, um dann, nach Sonnenun­

tergang durch die Strahlung dieser Wärme in das Haus eine plötz­liche Abkühlung zu verhindern. Ähnliche Effekte der Wärme­speicherung, nur in verfeinerter Form mit Glas als Filter, werden in Gewächshäusern genutzt, um Lichtenergie, die hindurchdarf, und Wärmeenergie, der

der Durchgang verwehrt werden soll, zu trennen. Diese Technik könnte man sehr gut als

die „Konservati­ve Methode“ im Umgang mit der Umwelt bezeichnen, als Hom­mage an die von dem Meister auf dem Gebiet der Umwelttechnik Sir Joseph Paxton 1846 entworfene „Conservative wall“ in Chats­worth.

Die „Konservative Methode“, welche ein Haus buchstäblich als Summe von vier Wänden und Dach definiert, ist die festgefüg­te Norm in der europäischen Kultur. Sie muß aber immer, und ganz besonders drastisch in feuchten und tropischen Gegenden um die „Selektive Methode“

ergänzt werden. Letztere Methode arbeitet, wie der Name besagt, damit, unerwünschte Einflüsse vom Inneren fernzuhalten und die wünschenswerten Umweltfak­toren hereinzulassen; so wie ein geöffnetes Fenster frische Luft herein und verbrauchte Luft heraus läßt und das geschlossene Fenster zwar Licht aber weder Wind noch Regen.

Traditionelle Bauweisen haben beide Methoden immer zu­sammen verwandt (tatsächlich ist es erst eine moderne Errungen­schaft, sie zu trennen) und darüberhinaus noch mit der

„Regene­rativen Methode“ angewandter Energie abgestimmt, entweder durch Verbrennung von Kraftstoffen oder durch Ausnutzung menschlicher oder tierischer Muskelkraft. Die

sprichwörtliche Redewendung „Heim und Herd“ bezeichnet diese Verbindung. Auch wenn diese drei Methoden in traditionellen Gebäuden nicht streng voneinander getrennt werden können, so gibt es doch ausschlaggebende klimatische Bedingungen, die dazu ver­anlassen, eher mit

der „Konservativen Methode“ oder eher mit der „Selektiven Methode“ zu arbeiten, und es gibt

ebenso histori­sche Gründe, unsere Zeit von allen vorangegangenen Zeiten zu unterscheiden, da sie die Wahlfreiheit besitzt, hauptsächlich „re­generativ“ arbeiten zu können.

Die „Konservative Methode“ wird hauptsächlich in trockenen Klimazonen, heiß oder kalt

angewandt und die „Selektive Me­thode“ herrscht dort vor, wo Feuchtigkeit ein Problem ist, wie 10


zum Beispiel in der Architektur des „Weißen Mannes“ in Ost-In­dien oder in den heißen und

feuchten Gegenden der Vereinigten Staaten. Nach James Marston Fitch gehört dort folgendes zur tra­ditionellen Hausform: 1.

Vom Erdboden abgehobene Fußböden... um so dem vorbeistreichen­den Wind die

2.

Riesige, leichte, schirmartige Dächer, um so die subtropische Sonne und den Regen

3.

Umlaufende Veranden und Balkone, um so die Wände vor schrägen Sonnenstrahlen und

4.

Große, vom Fußboden bis zur Decke reichende Türen und Fenster, um so maximale

5.

Hohe Räume, innenliegende Hallen und durchlüftete Dächer, um auch bei warmem

6.

Eine mit Lüftungsschlitzen versehene Sonnenschutzjalousie, welche jede Kombination

größtmögliche Angriffsfläche zu bieten.

abzuhalten.

Schlagregen zu schützen.

Lüftungsmöglichkeiten zu gewährleisten.

Wetter kühle Räume zu haben.

von Ventilation und Privatheit zuläßt.

Dies ist eine klassische Charakterisierung der „Selektiven Me­thode“. Sie befaßt sich damit, aus der Gesamtheit der Umweltbe­dingungen einen Aspekt zuzulassen (in diesem Fall die sich be­

wegende Luft), während alle anderen ausgeschlossen werden. Für die „Konservative Methode“, die als Bauform in den eben­falls heißen, aber trockenen südwestlichen Staaten der USA vor­

herrscht, muß eine solch treffende Beschreibung erst noch ge­schrieben werden, aber durch die

Arbeit von Ralph Knowles an der University of South California beginnen ihre Merkmale stär­ ker in den Blickpunkt zu rücke! Anhand großangelegter Mo­dellversuche klassischer Indianer Pueblos wie etwa dem Pueblo Bonito zeigt er nicht nur, daß die massiven Lehmwände die

Son­nenwärme im Laufe des Tages mit bemerkenswerter Effektivität absorbieren und speichern, sondern auch, daß die Gebäudeauf­bauten mit Terrassen und Flachdächern anscheinend darauf aus­gerichtet sind, im Winter einen höheren Prozentsatz an Sonnen­wärme aufzunehmen,

wenn sie gebraucht wird, als im Sommer, wenn sie nicht gebraucht wird. Obwohl sie so

einfach aussehen, gehören diese Pueblos wohl zu den beachtlichsten Anstrengun­gen, die eine bodenständige Gesellschaft je in Bezug auf ihre Um­welt unternommen hat. Sie mußten aber

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auch nicht mit dem wohl größten Problem, der Feuchtigkeit, fertigwerden, denn diese ist lästig, fein und unkontrollierbar. 4) Während mangelnde Feuch­tigkeit in sehr trockenen Gegenden

durch Wasserzufuhr ausge­glichen werden kann, um Verdunstungsverluste zu vermindern, hat überschüssiges Wasser aus der Atmosphäre bisher wirkungs­voll allen vortechnologischen

Anstrengungen getrotzt, es vom Gebäude fernzuhalten, daß es für diejenigen, die es sich leisten konnten, sinnvoller war, diese Gegend zu verlassen. In Indien zo­gen sich die Briten in Bergorte

wie Simla zurück, und New Yor­ker Geschäftsleute mit Lungenbeschwerden gingen nach Colora­ do.

Nur die „Regenerative Methode“ hat sich bisher mit dem Verbrauch von Energie als wirksames Mittel gegen über­mäßige Feuchtigkeit erwiesen. Daher gibt es auch eher eine zeit­liche als

geographische Unterscheidung zwischen den zwei. Hauptmethoden im Umgang mit feuchtem Klima. Konstruktive Lösungen wie der oben beschriebene Haustyp aus Louisiana konnten

erst ersetzt werden, nachdem entscheidende Fortschrit­te in der Energietechnologie und deren Regulierung erzielt wor­den waren.

Diese Errungenschaften waren Teil einer allgemeinen Revolu­tion in der Umwelttechnologie, von denen der Feuchtigkeits­schutz einer späteren Entwicklung angehört. Wenn es für diese

Revolution einen Stichtag gibt, dann ist es das Jahr 1882, in dem die Elektrizität ihren Einzug in die Gebäude gehalten hat. Es war diese Revolution, die das erste Mal die Frage nach

einer Alterna­tive zur Konstruktion als einziger Kontrolleur der Umwelt auf­warf und die die

„Regenerative Methode“ nicht nur zur Unter­stützung, sondern als ernst zu nehmenden Rivalen neben die „Konservative Methode“ und „Selektive Methode“ stellte.

Es ist eine Tatsache - wenn auch schwer zu erklären - daß die meisten Fortschritte der

„Regenerativen Methode“ in einer Ge­gend der europäischen Architektur gemacht wurden, die sich am wenigsten der massiven Konstruktion verschrieben hatte, näm­lich in Nord-

Amerika. Das mag darin begründet liegen, daß das reichlich vorhandene Holz, aus dem die leichtgewichtigen ameri­kanischen Häuser gebaut wurden, gleichzeitig noch ausreichend

Brennstoff für die hochqualifizierten Franklin-Öfen und Rum­ford-Kamine abwarf, die diese

Häuser beheizten. Vielleicht hat es aber auch einen direkten kausalen Zusammenhang gegeben und die wärmetechnisch vollkommen ungenügende Ausführung der Holzhäuser hat die

Entwicklung von hochqualifizierten, schnellheizenden Öfen umwelttechnisch einfach dringend gefor­dert.

Was auch immer passiert sein mag, es ist klar, daß sich die Nord-Amerikaner zum Ende des 19. Jahrhunderts Gewohnhei­ten und Fähigkeiten in der Anwendung regenerativer Hilfsmittel für

den Umgang mit der Umwelt angeeignet hatten, daß sich eine neue Tradition entwickeln konnte. Die Bedeutung dieser regene­rativen Tradition kann man im Laufe des Jahrhunderts an dem sich

verschiebenden Zeitraum für umwelttechnische Erfindun­gen erkennen. Kohlegas war als Quelle 12


der häuslichen Energie­versorgung für Wärme und Licht noch eine rein europäische Er­findung, deren Väter in Frankreich Ph. Lebon, in Deutschland und England F.A. Winzer und nur in

England W. Murdock wa­ren. Aber zum Ende des 19. Jahrhunderts gibt es keinen Zweifel mehr,

daß Edison der wirkliche Vater des elektrischen Lichts und Carrier Ber Vater der Klimatisierung war. Natürlich haben viele europäische Erfinder zu ihrer Entwicklung mit Schlüsselerfin­dungen

beigetragen, aber deren Umsetzung und Weiterentwick­lung zu einem gebrauchsfertigen System war in bei den Fällen ei­ne rein amerikanische Angelegenheit.

Daß das Fehlen einer großen Kultur für neue Entwicklungen eher förderlich als hemmend ist, ist wohl bei all diesen Überlegungen der springende Punkt. Es ist erstaunlich, wie oft

Entwicklungen in den USA technisch solchen in Europa nicht sehr weit voraus wa­ren, aber

Amerikaner gingen mit der Anwendung von Erfin­dungen viel sorgloser um. In Vorwegnahme eines Vergleichs aus einemspäteren Kapitel dieses Buches soll hier schon das Meister­werk

der Architektur einer wohl-temperierten Umwelt: das Lar­kin Gebäude, herangezogen werden. Weder in physischer noch in intellektueller Hinsicht ist es weiterentwickelter, als das Roval

Victoria Hospital in Belfast, welches sogar zwei Jahre früher fer­tiggestellt wurde, aber die im

RVH erzielten Fortschritte erschei­nen eher zufällig, und seine Qualität als Architektur darf wohl kaum in einem Atemzug mit der des Larkin Gebäudes genannt werden.

Zweifellos hat dieser Qualitätsunterschied viel mit Wrights Genius zu tun, aber dieser Genius konnte sich auf viel größere Er­fahrungen im Umgang mit regenerativen Mitteln stützen als ir­gendeiner seiner europäischen Zeitgenossen, und das innerhalb einer Kultur, die für neue

Technologien viel aufgeschlossener war als die europäische Kultur. Ungezwungenheit ist ohne

Zwei­fel der Schlüssel. Meistens gibt es einen time-lack - manchmal von Jahrzehnten - zwischen dem Zeitpunkt, von dem eine me­chanische Erfindung verfügbar ist, bis zu ihrem vollständigen Einsatz in der Architektur.

Das hat direkt wenig mit Problemen bei der Entwicklung sel­ber zu tun, als vielmehr mit dem nichtvorhandenen Bedürfnis der Architekten, sich diese zu nutze zu machen.

Auf diese Weise rennt die technologische Entwicklung der ar­chitektonischen immer vorweg. In der Zwischenzeit werden die­se Errungenschaften in Bereichen ausprobiert, die gemeinhin

nicht zur Architektur gerechnet werden: Gewächshäuser, Fabri­ken oder Transportsysteme. Zum Beispiel trennen fast vier Jahr­zehnte die erste industrielle Anwendung der Klimaanlage von ih­ rem Gebrauch in der Architektur, wie sie von berühmten Archi­tekten entworfen wird. In diese

lange Zeitspanne fallen aber nicht nur direkte Experimente, sondern es ist auch viel Spekula­tion, Nachdenken und brain-storming notwendig, um ein Klima für die architektonische Nutzung der neuen Technologie erst ein­mal zu schaffen.

Diese Spekulationen finden nicht in einem philosophischen oder professionellen Vakuum statt. Kommerzielle und persönli­che Interessen spielen in diesen Prozeß hinein und politische In­

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teressen sind mindestens ebenso wichtig wie private. Deshalb ist der größte Teil der technischen Literatur verkaufsfördernder Na­tur und das meiste, was Architekten hierzu schreiben, an die

Klienten gerichtete Propaganda, oder berufliche Selbstkritik oder es sind Versuche, die weitere Entwicklung der Kunst in eine bestimmte Richtung zu lenken.

Selbst, wenn ein Visionär wie Paul Scheerbarth mit seinem Buch Glasarchitektur ohne

berufliches Interesse auftritt, ver­folgt er immer klare propagandistische Ziele, nämlich die

Welt nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen verändern zu wollen. Denn der Mensch trifft immer nur dann mit der Umwelt zusammen, wenn sie ihm schadet - und sie schadete

Scheerbarth sehr-, so daß auch die Literatur zu diesem Thema sehr eng in die Praxis verwickelt ist. Keines der folgenden Kapitel wird sich also nur mit der Theorie oder nur mit der Praxis

beschäftigen. Das ge­schriebene.Wort ist, wie das errichtete Gebäude, Ausdrucksmit­tel in dem

engen Dialog zwischen Architektur und Technik, es ist ein Dialog, der im Zeitraum, den dieses Buch untersucht, immer dichter und enger wird, und in dem zum ersten Mal in der Ge­schichte der Menschheit die Möglichkeit existiert, daß eine rein regenerative Architektur Wirklichkeit werden kann.

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Klaus Daniels,

Bauen in der Informationsgesellschaft. Nachhaltig Bauen, Beispiele und Ideen, Basel Boston Berlin: Birkhäuser Verlag, 2001, S. 76.

Kreative Umgebung

Die ökologische Verantwortung gegenüber der Natur und den zukünftigen Generationen

erfordert eine Begrenzung des rigiden Individualismus, die für das Bauen zu vielfältigen

Herausforderungen führen könnte. Die neuen Informationstechnologien verspre­chen eine

Entgrenzung der bisherigen Kommunikati­onsmöglichkeiten; in ihren radikalen Visionen lösen sich Architektur und Städtebau gar in »Cyberspace« und »Virtual Cities« auf. Wie kann das Bauen beiden Entwicklungen, die für seine Zukunft ja von funda­mentaler Bedeutung sind,

gleichermaßen gerecht wer­den? Welche Chancen bestehen heute für die Archi­tektur, den Weg in die Informationsgesellschaft mit­zugehen und zugleich nicht zu vergessen, daß auch diese Informationsgesellschaft nur als eine nachhalti­ge (baulichen) Bestand haben kann?

Befragt man die Erkenntnisse der Trendforscher, wei­che Trends für die nächste Zukunft

bestehen, so läßt sich mit einer gewissen Plausibilität begründen, daß wir uns zur Zeit in der letzten von drei Phasen be­finden: Phase 1

Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs

Phase 2

Ego-Ära

Phase 3

Soft-Individualismus, Erfahrung, Engagement, Gelassenheit, Freundschaft,

Ehrlichkeit, Spiritualität, Vergangenheit

Für den Bereich des Wohnens, auch zum Teil für den Bereich des Arbeitens, sind für diese dritte Phase eini­ge Merkmale zu finden, die sich weiter ausbauen las­sen, diese sind: Engagement,

Ehrlichkeit und Verant­wortung. Interessant dabei ist, das derzeitige Waren­angebot bekannter

Hersteller zu betrachten. Es baut gerade auf der Ehrlichkeit auf. Das Warenkonzept der Zukunft wird auch umschrieben mit »New-Basic­Waren«. Diese sind vernünftig, solide, notwendig,

schlicht, klassisch, dauerhaft aber trotzdem modisch und preiswert (nicht billig). Die zuvor aufgeführten Fakten gelten nicht nur für die Dinge des täglichen Lebens, sondern auch für

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Wohnungsausstatter und Einrichter.

In vorausgegangenen Kapiteln wurde darauf hinge­wiesen, daß sich die Industriestaaten immer

mehr von Warenproduzenten zu Wissenproduzenten umorgani­sieren werden, dies nicht zuletzt unter Zuhilfenahme der modernsten Technologien, insbesondere der elek­tronischen Medien. Die Einrichtung entsprechender Arbeitsbereiche muß in kreativitätsfördernder Umge­bung

stattfinden, in Räumen, die eine stärkere Kon­zentration und höhere intellektuelle Produktivität erlauben. Bereits zuvor wurde auf Beispiele bei japa­nischen Firmen hingewiesen, die in

Erholungsgebie­ten arbeiten. Dies gilt aber nicht nur für Büroberei­che, sondern auch für das Arbeiten zuhause, für die Wissensproduktion in Heimarbeit.

Aufgrund der Ölkrise von 1973 wurde in den USA ernsthaft die Rentabilität von Tele-

Heimarbeit unter­sucht. Ergebnis war, daß Populär-Futurologen sich für diese Form der Arbeit

stark machten, und ihr wesent­liches Argument war, den Arbeitnehmern die Zeit und die Kosten des Pendelns und den Arbeitgebern die Kosten für Räume zu ersparen. Einen weiteren Anstoß

in dieser Richtung gaben Vorschriften des amerikani­schen Bundesgesetzes zur Luftreinhaltung, das Unter­nehmen mit mehr als 100 Mitarbeitern dazu ver­pflichtet, zur Verringerung des Berufsverkehrs mit dem Auto beizutragen.

Lebenswerte Städte sind solche, in denen Wohnen und Arbeiten dicht beieinander liegen,

kompakte, gut durchgrünte Stadteinheiten, die durch angenehme Umweltbedingungen eben und gerade die erhöhte Aktivität steigern. Insofern dürfen wir davon ausge­hen, daß die Standardund Komfortansprüche in der Zukunft für Gebäude in der Informationsgesellschaft nicht

gesenkt, sondern beibehalten oder gar noch gesteigert werden. Solche Erwartungen können

lang­fristig allerdings nur durch ein nachhaltiges Bauen eingelöst werden, das ebenso flexibel, anspruchsvoll und kontextuell wie ressourcenschonend und effizi­ent ist, und das zudem als Voraussetzung die Kompe­tenz des Architekten zum ökologischen Urteilen und Planen hat.

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Klaus Daniels,

Bauen in der Informationsgesellschaft. Nachhaltig Bauen, Beispiele und Ideen, Basel Boston Berlin: Birkhäuser Verlag, 2001, S. 76.

Arbeiten in der Informationsgesellschaft und in den Industrieländern wird in Zukunft geprägt durch:

Arbeitsteilung und Umschichtung bei geringeren Arbeitsmengen.

Einbezug und Überlagerung der Tätigkeiten durch Computer und Vernetzung.

Erfüllung von Forderungen aus dem ökologischen und ökonomischen Bereich (Sichern der Umwelt, Ressourcenschonung, Recycling).

Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes (Time Sha­ring) wird sich zwangsläufig einstellen müssen, wenn die Arbeitsmenge weiterhin in andere Länder abwan­dert bzw. eine

»Vollbeschäftigung auf mehr Schul­tern« erreicht werden soll. In Zeiten einer immer stär­

keren Globalisierung der Wirtschaft hilft es nicht, Arbeitsplatz-Inhaber mit Wohltaten und

Arbeitslose mit staatlichen Almosen zu bedienen, die kaum noch zu finanzieren sind. Dabei sind Lohnzuwächse nur dort zu erwarten, wo überdurchschnittliche Leistun­gen erbracht

werden. Löhne und Gehälter werden auf breiter Basis stagnieren, u. U. gar zurückgehen.

Vielleicht trifft somit zu, was O. Giarini und P. M. Liedtke in ihrem Bericht an den Club of

Rome (1998) „Wie wir arbeiten werden« beschreiben. Nach deren Aussage wird es notwendig sein, ein „Mehrschichtmodell von Arbeit« zu entwickeln, will man eine neue Politik der

Vollbeschäftigung errei­chen. Bei diesem Mehrschichtmodell ist die erste Schicht produktiver Tätigkeit so gestaltet, daß jedes erwerbsfähige Mitglied der Gesellschaft ein Minimum an bezahlter produktiver Arbeit zugewiesen bekommt (ca. 20 Arbeitsstunden/Woche = existenzsicherndes Minimum).

Die zweite Schicht produktiver Tätigkeit (Erwerbsar­beit) ist flexibel gestaltet und die

erwerbsfähigen Per­sonen entscheiden selbst, ob und in welchem Umfan­ge sie tätig werden wollen.

Die dritte Schicht umfaßt Tätigkeiten ohne meßbaren Marktwert, z. B. ehrenamtliche Arbeiten (Bildung, Gesundheitswesen, Sozialdienste usw.).

Wesentlich bei diesem Modell ist, daß es keine Bezah­lung mehr für das Untätigbleiben

geben soll, sondern vielmehr eine Unterstützung des Tätigbleibens erfolgt (Sozialpolitik = 17


Beschäftigungspolitik).

Teilen sich mehrere Personen eine Aufgabe, wird Arbeiten an »festen« Arbeitsplätzen

gleichermaßen unsicher: Time-Sharing bringt es mit sich, daß entwe­der Arbeiten z. T. in den

häuslichen Bereich verlagert werden oder mehrere Arbeitnehmer sich einen Arbeitsplatz teilen. Folgt man darüber hinaus W. J. MitcheII, so werden Räume und Gebäude in Zukunft Orte, wo Körper mit Bits zusammentreffen, wo digitale Informationen in visuelle, auditorische, taktile

oder sonstige wahr­nehmbare Formen übersetzt und umgekehrt körperli­che Aktionen erfaßt und in digitale Informationen verwandelt werden. Diese programmierbaren Orte zu bauen heißt

nicht einfach, Kabel in Wänden und elek­tronische Geräte in Räumen unterzubringen, sondern

infolge der Miniaturisierung, diese im Gebäude quasi verschwinden zu lassen. Überall befinden sich Senso­ren, Gebäude werden zu Computerschnittstellen und Computerschnittstellen zu Gebäuden.

Architekten werden in Zukunft zwar weiterhin Räume (reale und virtuelle) gestalten, um die menschlichen Bedürfnisse zu erfüllen: Sie müssen sich jedoch zu­nehmend mit den Eigenschaften der visuellen und räumlichen Umgebung unter neuen Gesichtspunkten

(verschiedene Formen der Verdichtung von Wohnen und Arbeiten) beschäftigen. Funktionalität, Stabilität, Ressourcenschonung und Ästhetik werden weiterhin gefragt sein. Die Funktionalität wird genauso von der Softwarefunktion und der Schnittstellenkonstruktion abhängen wie von

Grundrissen und Baumaterialien. Stabilität wird sich nicht nur auf die physikalische Festigkeit

der tragenden Systeme beziehen, sondern ebenso auf die logische Integrität der Computersyste­ me. Alle zuvor aufgeführten Faktoren werden auf das Bauen und die Ästhetik Einfluß nehmen und so mög­licherweise neue Dimensionen eröffnen.

18


Alois Diethelm, Andrea Deplazes,

„Strukturfragen. Vom Verhältinis Raumstruktur - Baustruktur – Infrastruktur“,

in: Konzept und Konstrukt, Das Handbuch zum Grundkurs „Architektur + Konstruieren I/II“ an

der ETH Zürich, 2003, S. 357-364.

Raum Trag- und Infrastrukturen sind entwurfsrelevante Faktoren, die sich je nach

Raumprogramm (Nutzungs­struktur) gegenseitig verschieden stark beeinflussen resp.

unterschiedliche Abhängigkeiten auslösen. Wäh­rend Raum- und Tragstruktur ein Begriffspaar

bilden, das auf die primitive Hütte ebenso anwendbar ist wie auf ein zeitgenössisches Gebäude, ist die Infrastruktur - womit grundsätzlich Einrichtungen zur Zirkulation von Men­schen und Medien gemeint sind, hier aber vor allem im Zusammenhang mit der Gebäudetechnologie Ver­wendung findet - für vernakuläre Bauten bedeutungslos, weil sie wie bei den meisten

vorindustriellen Bauten nicht oder nur temporär, z. B. in Form eines offenen Feuers, existiert. Es ist aber bekannt, dass bereits die Römer über hoch entwickelte Versorgungsstrukturen wie

Hypo­kaustenheizungen und Trinkwasserleitungen verfügten. Bis zur Industrialisierung blieben

diese Errungenschaften für die allgemeine Bauproduktion jedoch nahezu bedeu­tungslos. Seither beeinflussen sie - aufgrund der nun­mehr möglichen Massenproduktion und nicht zuletzt auch getrieben vom Bemühen, die in den Städten des 19. Jahrhunderts unhaltbaren hygienischen Verhältnisse zu verbessern - den Entwurf in einem immer grösser wer­denden Ausmass. Bauherr und Architekt sehen sich fortan damit kon­frontiert, den Grad resp. Umfang

von Installationen und damit verbunden eine bestimmte Nutzung festzulegen. Sind die

Komfortansprüche gering, erfüllt ein altes, vor dem 20. Jahrhundert entstandenes Haus nach

wie vor die Bedürfnisse unterschiedlichster Nutzer. Ein Umbau, falls überhaupt erforderlich, gestaltet sich verhältnismäs­sig einfach, da die Leitungen selten im Mauerwerk oder in der

Decke verborgen sind und nur in geringem Umfang vorkommen. Aber schon 1942 erkannte Bernoulli, dass «den Neubauten von heute gerade ihre für ganz bestimm­te Verhältnisse

ausgetüftelte Anlage und Durchführung zum Verhängnis werden muss, sie muss ihre Leben ver­ kürzen, umso mehr, als ein komplizierter Bau sich nicht so leicht wie eine einfache Anlage den

veränderten Verhältnissen durch Umbauen anpassen lässt». 1 Seither nehmen die Installationen das Ausrnass eines immer dichter werdenden, nahezu alle Bauteile überspannenden

Nervensystems an. Sie erfüllen Aufgaben, die heute kaum mehr wegzudenken sind. In

Einzelfällen mag eine Vereinfachung möglich sein, grundsätzlich muss aber hingenommen 19


werden, dass zeitgenössische Gebäude im Sinne Bernoullis kompliziert sind. Die Frage

nach Anpassungsfähigkeit ist nicht mehr länger nur eine Frage der Tragstruktur, sondern in

gleichem Masse auch eine der Infrastruktur. Und dass Anpassungsfähigkeit gefragt ist, belegt

die Entwurfspraxis immer wieder - und in den unterschiedlichsten Phasen - von neuem. Nicht umsonst stellte Marcel Meili in einem Interview kürzlich die Frage, wie sich Gebrauch im

Raum verdinglichen solle, «wenn es gar kein Programm mehr gibt, weil das Haus danach auf den Investorenmarkt geht».

Vor diesem Hintergrund ist der Strukturbegriff auf drei Perioden hin zu durchleuchten: a) vor dem Baubeginn

b) nach der Bauvollendung (kurz-, mittel- oder langfristig) c) während des Baus

Differenzierte Flexibilitäten

Es interessiert hier nicht die absolute Flexibilität, die jeden denkbaren Veränderungswunsch

erfüllt, sondern Entwurfsstrategien, die den Bedingungen einer auf Öko­nomie bedachten Praxis standhalten, die aber auch Antworten auf mögliche mittel- oder längerfristige Bedürfnisse zu

liefern vermögen. Diese Absicht läuft zum Teil jener, im gegenwärtigen (bau-)wirtschaftlichen

Umfeld weit verbreiteten Mentalität entgegen, die Investitionskosten tief zu halten, im Wissen,

dass die Folgekosten nach der Fertigstellung von einer anderen Kostensteile zu begleichen sind. Natürlich geht es auch immer wieder darum abzuwägen, ob, wann und in weI­chem Umfang Eingriffe notwendig werden. Denn je mehr Zeit bis zur ersten Intervention vergeht, desto

unbedeu­tender wird eine einfach hand bare Wandelbarkeit des Gebäudes. Gerade wenn es seiner angestammten Funktion enthoben wird - exemplarisch sind Industrie­brachen, wo aus Fabriken Wohnungen, Büros, Schulen und dergleichen mehr werden -, wird häufig der Rückbau bis auf

den Rohbau gewählt, weil alle anderen Komponenten obsolet wurden: Infrastrukturen sind nach 30 bis 50 Jahren überholt, die Fassade erfüllt die wär­metechnischen Anforderungen nicht mehr, und einzelne Baustoffe haben sich als gesundheitsschädigend erwie­sen. Die einzige Konstante

ist demnach die Tragstruktur, die sich - je nach Koppelung mit der Raumstruktur - als für neue Nutzungen unterschiedlich flexibel erweist.

Wird Flexibilität im Raumprogramm gefordert, ist damit in der Regel die Möglichkeit gemeint, innerhalb der gleichen Nutzung verschieden grosse Räume oder Raum­abschnitte zu schaffen.

Klassisch sind die schaltbaren Zimmer im Wohnungsbau oder die Rastermasse beim Bürobau. Die Rede ist hier von einer Nutzungsflexibilität, die erst nach Bauvollendung zum Tragen kommt. 20


Auf der anderen Seite gibt es die so genannte plane­risehe Flexibilität, die darauf beruht, dass

bestimmte Komponenten, wie z. B. die vertikale Erschliessung, von Anfang an als unverrückbar erklärt werden, während andere Teile, die nach Baubeginn genauso fixiert sind, anfänglich - bis zu einem gewissen «point of no return» - noch beeinflusst werden können; im Wohnungsbau z. B. die Grösse der Nasszellen und ganz selten sogar ihre Lage. Sind die inneren Wände tragend, unterliegt die allenfalls noch bestimmbare Raumstruktur einer als wirt­schaftlich

festgelegten Spannweite der Decke und dem Öffnungsverhalten der Fassade. Die Möglichkeiten pla­nerischer Flexibilität weitgehend ausgelotet hatten Burkard Meyer & Partner beim Bau

der Mehrfamilien­häuser an der Martinsbergstrasse in Baden (1998/99). Der Grundriss basiert auf einer tragenden Fassade und einem zentralen Erschliessungskern, während das weite­

re Raumdispositiv, das auch Bäder und Küchen ein­schloss, von den Käufern der einzelnen Wohnungen fest­gelegt werden konnte. Ungewohnt war, dass selbst die Lage und Grösse

der geschosshohen Fenster im Einflussbereich der Käuferschaft lag. Waren aber einzel­ne

Wohnungen bei Baubeginn noch nicht verkauft, redu­zierte sich die Flexibilität schlagartig, weil die Grundrisse durch das Setzen der Öffnungen und das Verorten der Haustechnikkomponenten - namentlich der sanitären Installationen - schon weitestgehend konfiguriert wur­den. Die

Unverrückbarkeit von Installationen resultiert aus dem heute, vor allem im Wohnungsbau, nach

wie vor gängigen, aber eigentlich unsinnigen Einbetonieren von Leitungen. Damit reduziert sich die Möglichkeit der Anpassungen während des Baus, und der altersbedingte Austausch wird erschwert. Ganz zu schweigen von eigentlichen Nutzungsänderungen. Raumhaltige «Stützen» - dünne Decken

Angenommen, aus einem Mehrfamilienhaus soll eine Pension oder ein Hotel werden, wirft das eine Reihe von Fragen auf. Die bisherige - unter Umständen räuml:ch vage gefasste -

Horizontalerschliessung innerhalb der Wohnung muss nun zum Korridor werden und einen

eigenen Brandabschnitt bilden. Die dichtere Belegung erfordert möglicherweise eine zusätzliche Fluchttreppe, und die grössere Anzahl von dezentralen Nasszellen stellt die Tauglichkeit eines zentralen Ver- und Entsorgungs­kernes in Frage. Strukturalisten wie Kenzo Tange suchten

darauf Antworten, indem sie die vertikalen Er­schliessungen, sowohl für die Medien wie auch

für die Menschen (Treppen, Aufzüge), mit der ohnehin erforder­lichen Tragstruktur koppelten. Die dünnen Stützen klassi­scher Stützen-Platten-Systeme wurden zu raumhaitigen Schächten transformiert. Vorläufer für die Mehrfach­funktion einzelner Bauteile finden sich bereits im Industriebau des späten 19. Jahrhunderts, wo vertikale Leitungen zwischen Stützenpaaren geführt werden.

21


Ähnlich ist die Bündelung von Kaminzügen entlang der Brandmauern mehrgeschossiger

Wohnhäuser des 19, und frühen 20, Jahrhunderts zu lesen, Die dezentra­lisierte Anordnung der

Stränge reduziert die horizontalen Installationskomponenten auf ein Minimum oder lässt sie im Idealfall gänzlich überflüssig werden, Frei von horizon­talen Leitungen, wird die konstruktive

Beschaffenheit der Decken nur noch von statischen und schallschutztechni­schen Anforderungen bestimmt. Vor der Einführung der Flachdecke in Stahlbeton und der damit verbundenen

Möglichkeit, Leitungen einzulegen, war die rein vertikale Medienführung (im Wohnungsbau) das Naheliegendste.

Obwohl die Strukturalisten das Gegenteil suchten, sind auch bei Tange die Nutzungen in einem gewissen Grad determiniert, weil die scheinbar nutzungsneutralen Schächte einmal einen

Aufzug, dann Treppen und schliesslich auch Nasszellen und Lüftungskanäle aufneh­men - mit anderen Worten: Die Struktur ist nicht mehr in jenem Mass frei bespielbar, wie sie auf den

ersten Blick suggeriert. Die Grundrissorganisation ist einerseits abhängig vom Vorhandensein der entsprechenden Infrastrukturkomponente an der gewünschten Stelle, und andererseits setzen ihr die körperhaften Kerne einen Rahmen, der nicht mehr von Fassade zu Fassade

reicht, sondern zwischen den Kernen einzelne Raumfelder absteckt. Würde jeder Kern über

eine Treppe, einen Aufzug, Nasszellen und Installationsschächte verfügen, führte dies in der

Konsequenz jedoch zu einem infra­strukturell «überbestimmten System», das zudem, auf­grund

der zu grösseren Einheiten angewachsenen Kerne, die Flexibilität drastisch einschränken würde, Im Beispiel Tange - wie auch beim Bürohaus der ÖKK in Landquart von Bearth & Deplazes

- gibt es keine Hierarchie unter den Kernen, Sie bilden Kammern, in denen die erschlossenen Nutzungen, z, B, Toiletten, nach innen gekehrt sind, Den umgekehrten Weg beschreiben

Beispiele, wo sich das geschossübergreifende Element auf einen Schacht reduziert, der gerade mal so gross ist, dass er die anfallenden Leitungen und Kanäle aufnehmen kann, Die Schächte bilden hier den Ausgangspunkt ­

oder das Rückgrat - für eine räumliche Entwicklung, die auf jedem Geschoss anders sein kann, Interessant ist, dass in der Frage, ob die vertikale Ver- und Entsorgung zentral mit intensiver oder dezentral mit geringer Horizontalverteilung zu führen sei, die vertikale

Erschlies­sung mit Aufzügen und Treppen davon nicht betroffen ist. Standort und Anzahl dieser Vertikalerschliessungen wer­den in beiden Fällen von den maximal zulässigen Fluchtwegdistanzen - also von feuerpolizeilichen Be­dingungen - bestimmt. Dünne stützen - raumhaltige Decken

Ein mehr oder weniger dichtes Netz von durchlaufenden, vertikalen Komponenten - seien

es Teile der Infra- oder der Tragstruktur - hat zur Folge, dass Nutzungen, die von Geschoss

zu Geschoss andere Raumstrukturen verlan­gen, nur dann realisiert werden können, wenn sie 22


klein­teiliger werden, In umgekehrter Richtung schränken Sanitärstränge, Lüftungskanäle und Stützen die Nutzbar­keit der Räume ein, Eine weitestgehend freie Bespielbarkeit einzelner

Geschosse setzt deshalb für die Infrastrukturen eine zen­trale Vertikalerschliessung voraus, die in Doppelböden, abgehängten Decken oder raumhaitigen Decken­konstruktionen horizontal feinverteilt werden, Die Höhe solcher Hohlräume entscheidet sich an jenen Punkten, wo

sich mindestens zwei Medien kreuzen, z, B, ein Kabelkanal und ein Lüftungsrohr. Neben

Aspekten wie leichter Erreichbarkeit für Montage und Unterhalt ist es gerade die Absicht,

das Kreuzen von Medien zu verhin­dern, die zur gleichzeitigen Anwendung von Doppelböden und abgehängten Decken führen, In Kombination mit einer Stahlbetondecke weisen solche Konstruktionen eine Gesamtstärke von 70 bis 80 cm auf; statisch wirksam sind davon

allerdings nur 25 bis 30 cm, Hier liegt ein Potenzial brach, weil die einzelnen Schichten der funk­tionsgeteilten Decke nicht voneinander profitieren, Dabei wäre bei gleich bleibender

Gesamtstärke durchaus eine Verdoppelung der statischen Höhe möglich (vgl. raumhal­tige

Tragwerke in Stahl, Beton oder Holz; z, B, Fritz Haller mit den Systemen mini, midi und maxi), Daraus würden grössere Spannweiten und folglich vielfältigere Nutzungs­dispositive resultieren, Wurde vorher einzig das Kreuzen der Leitungen für die Bestimmung der Hohlraumhöhe

erwähnt, ist das Gefälle von Abwasserleitungen minde­stens so massgebend. Dies kommt zum Tragen, wenn die einzelnen Geschosse unterschiedlich viele und an unter­schiedlichen Stellen liegende Nasszellen aufweisen. Der grössere Hohlraum von raumhaitigen Tragwerken wirkt sich auch hier für die horizontale Installationsführung positiv aus.

Beim Salk Institute von Louis Kahn wurden die Decken der Laboratorien zu eigentlichen

Geschossen, die für die Wartung und Nachrüstung der zahlreichen Installationen begehbar sind. Virendeel-Träger, geschlos­sene Wandscheiben und Decken aus Stahlbeton, formen

einen biegesteifen Hohlkasten, der die darunter liegenden Räume stützenfrei überspannt. Installationsgeschosse sind auch von Hochhäusern (z. B. PSFS-Building, 1932, Howe

& Lescaze) bekannt, um die Transportwege der auf­bereiteten Medien (Luft und Wasser)

zu verringern, Gleich mehrere geschosshohe Decken zeigt Louis Parnes‘ Entwurf für ein Warenhaus, bei dem die weitgespannten Decken die Lagerräume für die jeweils darüber liegenden Verkaufsflächen bergen, Komfort und Technik

Die menschliche Behausung dient im Wesentlichen dem Schutz vor Witterung und vor anderen Lebewesen. Dabei kommt in vielen Regionen dem Kälteschutz ein zentraler Stellenwert zu.

Das offene Feuer ist die primitivste Form, dieses Ansinnen zu erfüllen, und vereint als Wesens­ merkmal Wärmeerzeugung und Wärmeabgabe am glei­chen Ort. Diesem Prinzip folgen Herd

und Ofen, die als einzige Wärmequelle im Zentrum des Hauses oder auf mehrere Räume verteilt 23


stehen können. Die restlose Autarkie, welche die Funktionseinheit von Wärme­erzeugung und Wärmeabgabe suggeriert, ist einzig durch die dazugehörigen, vertikal geführten Kaminzüge gestört (anders verhält es sich bei abgasfreien Energiequellen wie z. B. Elektroöfen). Die Kamine dienen der Fortführung des Rauches und geben bei mehrgeschossigen Bauten

auch noch den tangierten Räumen Wärme ab. Ein ande­rer Entwicklungsstrang geht von

der römischen Hypo­kausten-Luftheizung aus, bei welcher die Feuerstelle ausserhalb des zu

beheizenden Raumes liegt, weil das offene Feuerbecken als gefährlich angesehen wurde. Die erwärmte Luft wurde über eine Art Doppelboden zu Rauchröhren geführt, die den Mauern

auf der Innenseite eingelassen oder vorgelagert waren. Dadurch wurden Boden und Wände

gleichermassen erwärmt. Diese Konzeption nimmt zu gleichen Teilen die Zentralheizung, die

Bodenheizung und das Prinzip, die Wärme dort abzu­geben, wo der Wärmeverlust am grössten

ist, vorweg. Als reine Strahlungsheizung ist die Wärmeabgabe der Hypo­kaustenheizung zudem effizienter als heutige Radiatoren oder Konvektoren und auch frei von Staub aufwirbelnder Konvektion (eine zeitgenössische Neuinterpretation der Hypokaustenheizung ist in der

Wandheizung der Galerie für zeitgenössische Kunst in Marktoberdorf (2000) von Bearth & Deplazes zu finden). Rayner Banham sah in der technischen Möglichkeit, die Räume oder

einzelne Bauteile gezielt zu beheizen, die Grundvoraussetzung für die Umsetzung der neuen Raumvorstellungen der Moderne. 3 Der kritische Punkt der verminderten Behaglichkeit,

welche grosse Fenster auslösen, konnte nunmehr mit der Heizung kompensiert werden. Als

Beispiel nennt Banham die Nordfenster in den Zeichensälen von Mackintoshs School of Art in Glasgow (1896-1899). Für Frank Lloyd Wright bot die Heisswasserheizung mit zentraler Wärmeerzeugung und dezentraler Verteilung die Möglichkeit, komplexere Volumetrien zu

realisieren: «Hierdurch können die Formen der Gebäude in ihren verschiedenen Teilen voll­ ständiger entwickelt werden, sie werden Licht und Luft von mehreren Seiten erhalten.»4

Schlechte Dämmeigen­schatten von Baumaterialien, namentlich des Glases, konnten nun mit

der Haustechnik kompensiert werden sei es mittels der Heizung im Winter oder der Kühlung im Sommer. Erst die Erdölkrise um 1 970 und das in den achtziger Jahren gewachsene

Umweltbewusstsein haben auf materialtechnologischer Ebene zu Anstrengungen geführt, die es ermöglichen, den Einsatz von Technik zu reduzieren. Isoliergläser, die mit Wärmeschutzfolien beschichtet sind und in den Zwischenräumen Edelgas enthalten, sind zwar seit den fünfziger

Jahren bekannt, haben seither aber eine phänomenale Entwicklung erfah­ren, wodurch das Glas nicht mehr länger als Synonym für einen hohen Energieverlust stehen muss.

Das Aufkommen der Zentralheizung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeutete, dass die Gebäudeteile vermehrt zum Träger von Installationen wurden, die ent­weder hinzugefügt

oder integriert sind und der Wärme­verteilung oder der Wärmeabgabe dienen. Beschränkten sich 24


im Wohnungsbau die bis dahin etablierten Installationen wie sanitäre Einrichtungen auf einzelne Räume, die zudem in repräsentativer Sicht als unterge­ordnet anzusehen sind, hielt nunmehr die Haustechnik im ganzen Haus Einzug. Der Umgang, den die Architekten damit pflegten, spannt den Bogen vom pragmatischen Ansatz, die Installationen ohne weitere Ansprüche sicht­bar

zu führen, bis hin zum gegenteiligen Verfahren, bei welchem die Leitungen und Heizkörper -

meist durch Verkleidung - dem Sichtfeld entzogen wurden, Einen drit­ten Weg wurde von jenen Architekten beschritten, welche die heizungstechnischen Komponenten als Gestaltungs­mittel

nutzten, sei es durch spezielle Auszeichnung (Farbe, Anordnung etc.) oder durch Funktionsüber ­lagerung (Geländer).

Bei Bruno Taut stellen die unprätentiös gesetzten, aber mit einem farbigen Anstrich versehenen Radiatoren und Leitungen kontrastierende Elemente einer den gan­zen Raum umgreifenden

Polychromie dar. In Form meh­rerer, parallel zueinander angeordneter Rohre, die den Verlauf des darüber liegenden Bandfensters nachzeich­nen, wird die Heizung bei der Villa Kenwin in

Vevey (1929) von Hermann Henselmann zur horizontal profilierten Fläche, während Ludwig Wittgenstein beim Haus Kundmanngasse in Wien (1928) in den repräsentativen Räumen des Erdgeschosses auf eine unsichtbare Bodenheizung setzte und vor den französischen

Fenstern eine vom Kellergeschoss gespiesene Bodenlüftung instal­lieren liess. Dass Radiatoren von Architekten zuweilen als störend empfunden werden, zeigte Christoph Bürkle mit der

Gegenüberstellung zweier Innenraumaufnahmen vom Haus am Rupenhorn in Berlin (1928) der Gebrüder Frei von technischen Komponenten im Raum treten in der weiteren Entwicklung an

die Stelle von Radiatoren ver­mehrt Konvektoren, die im Boden eingelassen eine unge­minderte Transparenz gewähren. Gleiches lässt sich von der Decken- respektive Bodenheizung sagen, bei der die unsichtbare Leitungsführung nicht mehr länger eine Frage des Verkleidens ist,

sondern bei welcher der ummantelnde Beton bzw. Mörtel zum System zählt. Interessant ist,

dass die Bodenheizung vordergründig eine gleichmässige, nutzungsneutrale Heizfläche dar­

stellt, jedoch über Abstand und Lage der Rohre sowie die Aufteilung in einzelne Raumzonen

genauso auf die kon­kreten räumlichen Verhältnisse ausgerichtet ist wie eine Radiatorenheizung mit punktuell angeordneten Heiz­körpern. So werden entlang raumhoher Fenster so genannte Randzonenverstärkungen vorgenommen ­womit eine engere Verlegung der Heizschlaufen

gemeint ist -, und tiefe Räume werden aufgrund der unterschied­lichen Sonnenbestrahlung in Zonen mit je eigener Temperaturregelung unterteilt. Die Fassade als Infrastrukturträger

War bis zu Beginn der sechziger Jahre die Haustechnik für den Ausdruck der Fassade eher

bedeutungslos und zeichnete sie sich - weil bis dahin auf der Innenseite angebracht - höchstens

hinter dem Schleier einer mehr oder weniger durchlässigen Glashaut ab, wurde die Infrastruktur 25


danach vermehrt zum formprägenden Motiv verarbeitet. Bei den Brutalisten ummanteln

massive, meist aus Beton gefertigte Kanäle ein Bündel von Leitungen und Röhren, wobei die Haustechnik in Vermengung mit Treppen und anderen «nutzungsbeding­ten» Ausstülpungen der skulpturalen Formung des Baukörpers dient. Umgekehrt schöpfen Vertreter der High-

Tech-Architektur - und zuvor die Metabolisten ­ihre Ästhetik daraus, dass die Installationen

unverkleidet bleiben respektive wesentliche Funktionseinheiten auto­nom auftreten, Allerdings bedeuten die nach aussen gekehrten Komponeten ein Durchdringen der Klima­grenze, was

aufgrund der seither stets gestiegenen Anforderungen an den winterlichen Wärmeschutz auf­ wendige Dämmarbeiten nach sich zieht und deshalb kaum noch Verbreitung findet.

Zwischen diesen Extrempolen, bei denen die Haustechnik auf der einen Seite die Bedeutung

des Formgenerators einnimmt und auf der anderen Seite als unsichtbare Notwendigkeit fungiert - und als deren gemeinsamer Nenner eine deutliche Entkoppelung von der Tragstruktur zu

nennen ist -, sind diejenigen Konzepte angesiedelt, bei denen im Sinne von Mehrfachfunktionen Tragwerk, Haustechnik und Ausbauelemente miteinander ver­schmelzen, Beispielhaft ist

das Blue-Cross-Gebäude in Boston (1958) von Paul Rudolph und Anderson, Beckwith &

Haible. Der 13-geschossige Bürobau in der Innenstadt Bostons basiert auf einer tragenden Fassade, deren vor­geblendetes, vertikales Relief im Abstand von 1,53 m die Tragstruktur

abzubilden scheint. Tatsächlich sind aber diejenigen «Stützen», die im freien Erdgeschoss

keine Fortsetzung finden, nicht tragend, Jedes dritte Glied ist somit als Hohlkörper ausgebildet und birgt innerhalb des ganzen Querschnittes einen Abluftkanal, und selbst den angrenzenden Tragstützen sind kleiner bemessene, nur die halbe Stützentiefe beanspruchende Zuluftrohre

vor­angestellt. Zusammen mit den Brüstungen, die als Mischkammern fungieren, ziehen sich

die Lüftungsinstal­lationen somit wie ein Netz über die Fassade - ein Prin­zip, das demjenigen

der offenen Leitungsführung einer High-Tech-Architektur nicht unähnlich ist, sich aber darin unterscheidet, dass die Überlagerung hier rnit der Trag­und Raumstruktur deckungsgleich

ist. Dadurch dient der Lüftungskanal in Form einer Stütze gleichermassen dem Anschluss von Trennwänden, wie er auch den Fensteran­schlag erlaubt. Das sichtbare Fassadenrelief konstituiert sich aus vorfabrizierten, nur wenige Zentimeter dicken Betonelernenten, die

aufgrund ihrer Art der Fügung als Verkleidung erscheinen. Stellen diese Verkleidungen bei den (schweizerischen) Rasterfassaden der fünfziger Jahre eine Oberflächenveredelung dar, welche

unmittel­bar auf dern Untergrund angebracht ist, bilden sie bei Rudolph eine raurnhaltige Kulisse - es drängt sich aller­dings die Frage auf, ob Kunststein dafür das richtige Material ist, denn die Knicke in den Brüstungen erinnern an die aussteifende Faltung von Blechpaneelen.

Bilden bei Rudolph Tragwerk, Haustechnik und Fenster ein Netz, das sich allseitig um die

Fassade win­det, sind bei der Arnerican Republic Insurance Company in des Moines (1965) 26


von Skidmore Owing & Merrills die Fassaden nach Funktionen getrennt: an den Längsseiten tragende, installationshaltige Betonscheiben ohne Öff­nungen und an den Stirnseiten

geschosshohe Vergla­sungen. Das Thema der raumhaitigen Konstruktion, wei­che für die Fassade charakteristisch ist, wiederholt sich nochmals an der Decke, wo T-förmige, 1,36 m hohe Träger aus Beton den Grundriss ohne Stützen auf einer Breite von 30 m überspannen. Die Balken

bilden ein kastenartiges Relief, in dessen Zwischenräumen Lüftungsrohre angebracht sind. Auf diesen Rohren liegen Fluoreszenzleuchten, denen die Rippendecke wiederurn als Reflektor

dient. Über die Funktion des Infrastruktur­trägers hinaus dienen die geschlossenen Wandscheiben als Überzüge, welche im Übergang zum Boden den Wechsel auf je vier Stützen ermöglichen.

Im Querschnitt nimmt sich das Gebäude dadurch wie eine Brücke aus, der ein zweigeschossiger Körper derart untergeschoben ist, dass ein allseitig verglastes, von tragenden Teilen befreites

Cafeteria- und Mensageschoss entsteht. Damit ist jener Strukturwechsel angesprochen, von dem auf­grund unterschiedlicher Raumbedürfnisse zwischen Erdgeschoss und Obergeschossen jedes grössere Bau­werk betroffen ist. Strukturwechsel

Vor allem im innerstädtischen Raum weisen selbst mono­funktionale Gebäude im Parterre häufig eine andere Nutzung auf. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die direkte Beziehung zum

öffentlichen Raurn legt gewinn­bringende Nutzungen wie Läden, Restaurants und der­gleichen

nahe, und die Ebenerdigkeit ermöglicht sogar das Befahren (vgl. Brandwache Zürich), Geradezu klas­sisch sind die gusseisernen Stützen, die im Erdgeschoss von Gründerzeithäusern Unterzüge von Balkendecken tragen. Dass es sich dabei um einen Strukturwechsel handelt, tritt kaurn

ins Bewusstsein. Gänzlich anders ist es um Tischkonstruktionen bestellt, die mit expressiver

Kraft den Wechsel der Tragstruktur nachzeichnen. Beispielhaft ist das Hochhaus «Zur Palme» (1961-64) von Haefeli Moser Steiger in Zürich. Der Windmühlen­grundriss des Hochhauses ruht in 12 m Höhe auf einem von keilförmigen Stützen getragenen Betontisch, unter dem

ein zweigeschossiger Flachbau mit eigenständigem Tragwerk untergeschoben wurde. Den

umgekehrten Weg beschritt Lina Bo Bardi mit dern Museo de Arte Moderno (1957-68) in Säo

Paulo, wo die Geschosse nicht aufge­ständert, sondern abgehängt sind, Zumindest vermittelt der umlaufende Betonrahmen mit einer Spannweite von 50 m dieses Bild; tatsächlich befindet sich noch ein wei­teres Trägerpaar innerhalb des eingespannten Glas­körpers, sodass nur der unterste Boden wirklich abge­hängt ist. Auf jeden Fall bleibt die ganze Fläche unter dem Gebäude im Sinne eines gedeckten Platzes zur Be­nutzung frei.

Dass Strukturwechsel auch ohne Zurschaustellung ihrer statischen Bedingungen erfolgen

können, belegen Bauten wie das Volta-Schulhaus der Architekten Miller & Maranta. Das in 27


Zusammenarbeit mit dem Ingenieurbüro Conzett Bronzini Gartmann entwickelte Tragwerk aus Ortbeton basiert in den Obergeschossen auf Wand­scheiben, die rnit den Geschossdecken einen festen Ver­bund eingehen, und überspannt damit als monolithisches Konstrukt eine 28 m tiefe

Turnhalle überspannt und weist auf der Zugangsseite eine Auskragung von 12 m auf. Liegen die Wandscheiben - die übrigens nicht als durch­gehende Elemente von Fassade zu Fassade reichen, son­dern aus zwei getrennten Teilen bestehen - beim Volta­Schulhaus auf allen Geschossen übereinander, erklärte Jürg Conzett in einem Artikel, dass es genüge, «wenn sich die

[übereinander liegenden] Wandscheiben in einem beliebigen Punkt berühren».5 Dieses Prinzip erlaubt demnach von Geschoss zu Geschoss unter­schiedlich beschaffene Raurnstrukturen, die

jedoch wie schon beim Volta-Schulhaus erst durch den ergänzenden Einsatz von nicht tragenden Wänden konkret werden. Es dürfte spannend sein zu untersuchen, in welchen Phasen (vor

Baubeginn, während des Baues und nach Bauvollendung) welcher Grad von Flexibilität rnit diesem System zu erreichen ist. Alternativen

Es wurde eingangs gesagt, dass die Kompliziertheit zeit­genössischer Gebäude hingenornmen

werden rnüsse ­natürlich stimmt das nur bedingt. Gerade im Bereiche der Gebäudetechnologie sind verrnehrt intelligente Low­Tech-Konzepte anzutreffen, die auf jahrhundert alten Er­

kenntnissen beruhen und «nur» wieder aufgegriffen resp. neu interpretiert wurden. Der so

genannte Kamineffekt (Thermik), der heute genutzt wird, um z. B. irn Bürohaus­bau einen natürlichen Luftwechsel zu erzielen, wurde schon im Indien des 15, Jahrhunderts mittels Innenhöfen und einsm offenen Erdgeschosses zur Kühlung der Ge­bäude verwandt. Man

nutzte physikalische Effekte mit den ohnehin zu bauenden Gebäudeelementen und Räumen. Die Haustechnik ist in den traditionellen Bauten also nicht ein installationsreiches Additiv,

sondern ein integraler Teil der Raum- und Tragstruktur, Überdies ­oder allem voran - dient der «Luftschacht» in einer sinn­fälligen Mehrfachfunktion auch der Belichtung der angrenzenden Räume!

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Hassan Fathy,

„Natürliche Energie und vernakuläre Architektur“,

in: Arch+ Februar, übers. Barbara Engel, Wolfgang Wagener, 1987, S. 34-49.

UMWELT UND ARCHITEKTUR Wenn ein Ingenieur eine Maschine, eine Brücke oder einen Regler entwirft, resultiert jede Linie, die er zeichnet, aus sehr vielen Geset­zen und Prinzipien der unterschiedlichsten

Ingenieurwissenschaf­ten. Der Techniker entwickelt die Maschine, um genau definierten

Anforderungen zu genügen und um eine spezialisierte Arbeit zu verrichten. In beiden Fällen muß er sich auf alles das beziehen, was er auf den Gebieten der Physik, der Dynamik, dem Bauingenieur­wesen und der Baustoffkunde gelernt hat.

Durch dieselbe Gruppe von Ingenieurgesetzen ist jeder Strich festgelegt, den ein Architekt zeichnet, wenn er ein Gebäude oder eine Stadt entwirft - jedoch mit dem Zusatz einer

ganzen Samm­lung anderer Wissenschaften, deren Gebiete weniger genau defi­niert sind: die

Wissenschaften, die sich mit dem Menschen und sei­ner Beziehung zur Umwelt und Gesellschaft befassen. Diese Diszi­plinen - Soziologie, Ökonomie, Klimatologie, Architekturtheorie, Ästhetik und das Studium der Kultur im allgemeinen - sind nicht weniger wichtig für den Architekten

als die anderen Ingenieurwis­senschaften. Denn sie beschäftigen sich unmittelbar mit dem Men­ schen, und es ist der Mensch, für den die Architektur existiert.

Die technische Seite der Architekturarbeit - sie garantiert, daß ein Gebäude halten und Schutz gegen die Naturkräfte bieten wird, oder ein Straßenraster einer Stadt effektiv funktionieren

kann - ist nicht mehr als eine selbstverständliche Vorbereitung für den wirkli­chen Entwurf: Der Architekt gleicht dabei einem Pianisten, der nur mit der Interpretation eines Stücks beginnen

kann, nachdem er die Technik des Klavierspiels gemeistert hat. Eine Maschine ist unab­hängig von ihrer Umwelt, sie wird ein wenig durch das Klima beein­flußt, aber nicht im geringsten durch die Gesellschaft. Ein Mensch dagegen ist ein Teil eines lebenden Organismuses, der

permanent auf seine Umwelt reagiert, sie verändert und durch sie verändert wird. Auch ein Gebäude wird so durch die Umwelt beeinflußt. Das Klima des Ortes und die umgebenden

Gebäude formen das Haus. Diese Faktoren bestimmen sehr die Gestalt eines Hauses, obwohl auch der soziale, kulturelle und ökonomische Aspekt wichtig sind.

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KLIMA UND ARCHITEKTONISCHE FORM Das Klima beeinflußt leicht erkennbar, die architektonische Form. Beispielsweise wird das Verhältnis von Fenster- zu Wandfläche klei­ner, je weiter man sich dem Äquator nähert. In

warmen Gebieten meiden die Menschen die Helligkeit und die Hitze der Sonne; das zeigt sich

an der abnehmenden Größe der Fenster. In den subtropi­schen und tropischen Regionen wird das Problem, der übermäßi­gen Hitze zu begegnen, immer charakteristischer für die architekto­nische Form. In Ägypten, Irak, Indien und Pakistan findet man tiefe Loggien, schützende Balkone und Dachüberstände, die lange Schatten auf die Gebäudewand werfen. Holz- oder Marmorgitter­

werk füllen große Öffnungen, um die Sonnenstrahlen abzuhalten und gleichzeitig einen leichten Windzug zu ermöglichen. Solche Elemente charakterisieren die Architektur heißer Gebiete

und er­zeugen sowohl Komfort als auch ästhetische Befriedigung. Heutzu­tage gibt es sehr viele

moderne Vorrichtungen, die dem Architek­turvokabular dieser Gebiete hinzugefügt wurden, wie

zum Beispiel Sonnenbrecher oder brise-soleils. So lange die Menschen in den feucht-tropischen Gebieten ihre Hütten aus Gras und Bambus bau­ten, ermöglichten diese Materialien, daß Luft durch die Wände zie­hen konnte; und das steile Satteldach war eine sinnvolle Erfindung. Als die Bewohner begannen, höher entwickelte Materialien zu be­nutzen - Zementblöcke für die Wand und Wellblech für das Dach wurden die Häuser unerträglich heiß und stickig. Denn

das Well­blechdach verhinderte die Lüftung genau an der Stelle, wo sie am nötigsten wäre; und die massiven Wände verhinderten den Luft­zug. Ein anderes Beispiel ist die mit der

Niederschlagsmenge ab­nehmende Dachneigung. In Nordeuropa und in den meisten Ge­bieten,

in denen man mit schwerem Schneefall zu tun hat, sind die Giebeldächer steil. Dagegen sinkt in sonnigen Gegenden im Süden die Dachneigung immer weiter. In den heißen Regionen an der

nordafrikanischen Küste werden die Dächer ziemlich flach. In einigen sehr heißen Gebieten sind die Dächer bequeme Schlafplätze. Je­doch weiter südlich, in den tropischen Regengebieten, sind die Dä­cher wieder steil, um vor den sintflutartigen Regenfällen Schutz zu bieten.

Das traditionelle Flachdach und die modernen brise-soleils heu­tiger tropischer Architektur beeinflußten mit ihrer modernen Aus­strahlung die Phantasie der Architekten aus kälteren

Gebieten, die ständig auf der Suche sind nach etwas Besonderem und Exoti­schem. So gibt es in einigen nordeuropäischen Städten eine völlig unpassende Architektur, die in ein fremdes Klima gehört. Die Ar­chitekten schafften es, ihre eigene, traditionelle Bebauung altmo­disch aussehen zu lassen, ohne auf die Bedürfnisse der Menschen in einem bestimmten Klima einzugehen.

Dieses Verlangen, das den Architekten überfällt, um ein up-to-date-Design zu schaffen, hin­dert ihn daran, das wichtigste Ziel von Architektur zu erreichen: funktional zu sein. Der Architekt

vergißt die Umwelt, in die er seine neuen Gebäude hineinpflanzt, da er zu sehr versessen ist auf 30


modi­sche Innovationen, Tricks und Kniffe. Er ist nicht in der Lage zu rea­lisieren, daß Form nur eine Bedeutung hat im Kontext ihrer jeweili­gen Umgebung.

UMWELT Die Technik, die dem Architekten heutzutage verfügbar ist, befreit ihn von fast allen

Materialzwängen; er kann Entwürfe nach allen Stilen der Jahrhunderte und von allen

Kontinenten der Erde aus­wählen. Aber der Architekt muß sich daran erinnern, daß er nicht

in einem Vakuum baut und Häuser nicht in den leeren Raum setzt als bloße Pläne auf einem

blanken Stück Papier. Vielmehr fügt er ein neues Element in eine Umgebung ein, die für sehr lange Zeit im Gleichgewicht war. Der Architekt ist verantwortlich dem gegen­über, was sein

Grundstück umgibt; wenn er seiner Umwelt Gewalt antut, indem er ohne Bezug zu ihr baut, begeht der Architekt ein Verbrechen an der Architektur und der Menschheit.

Was aber konstituiert die Umwelt eines Gebäudes? Kurz gesagt, es ist alles, was das Grundstück auf einem besonderen Gebiet der Erde umgibt - einschließlich der Landschaft, sei es Wüste, Tal, Berg, Wald, Küste oder Flußufer - und was oberhalb der Erdober­fläche ist - die Atmosphäre, die auch das menschliche Leben beein­flußt; diese Zone reicht bis zu einer durchschnittlichen Höhe von 10, in den Tropen bis 20 Kilometer. Sie enthält die Feuchtigkeit, auf die Menschen, Tiere

und das pflanzliche Leben angewiesen sind. In den sechs Schichten über der Atmosphäre sind

Oxygen, Ozon und Hydrogen in unterschiedlichen Konzentrationen vorhanden - sie beeinflussen die kosmische Strahlung, die die Erdoberfläche er­reicht. In der natürlichen, in der Umwelt

vorherrschenden Ordnung hat es immer einen anhaltenden Fluß kosmischer Strahlung gege­ben, durch den alle lebenden Organismen und sogar Mineralien ge­schaffen und entwickelt wurden. Einige Materialien sind durchläs­sig, andere nicht für die unterschiedlichen Bestandteile der

kosmi­schen Strahlung. Man sollte aufpassen, das natürliche, elektro­magnetische Gleichgewicht nicht durch eine falsche Baustoffwahl zu zerstören. So ist Holz Stahlbeton in der Umgebung des Men­schen vorzuziehen. Auch ästhetisch scheinen die Menschen Holz in ihrer näheren

Umgebung zu bevorzugen, in Form von Möbeln und Baumaterialien. Holz wird oft als warm empfunden im Gegensatz zu Stahl und anderen Metallen. Dieser psychologische Effekt kann erklärt werden - zum Teil wissenschaftlich - durch die physikali­schen Eigenschaften beider Materialien, ihre Wärmeleitfähigkeit und ihre Isolierungseigenschaften.

Diese Einzelheiten zeigen, daß der Architekt eine moralische Verantwortung hat bezüglich dem, was die Wirkung eines Gebäu­des betrifft und gegenüber dem Wohlbefinden der Menschen, die

in ihm leben. Neben den meßbaren Teilen der Umwelt existieren in ihr nicht faßbare Elemente, die aber durch unzureichende For­schung nicht für die Stadtplanung und Architekturentwürfe

31


genutzt werden können. Daher ist die Diskussion reduziert auf die meßba­ren Teile der Umwelt - hauptsächlich das Klima. Die Wichtigkeit des Klimas ist offensichtlich. Alle Lebewesen sind

in großem Maße abhängig vom Klima, um zu existieren; und sie richten sich selbst nach diesem Umwelteinfluß. Pflanzen, die in den Tropen wachsen, können nicht in der Arktis gedeihen;

dagegen können Pflanzen der Arktis nicht in den Tropen leben, es sei denn aufgrund besonderer örtlicher Bedingungen - dem Mikroklima beispielsweise eines ho­hen äquatorialen Bergs. Die meisten Lebewesen sind de facto ein­geschränkt auf einen bestimmten klimatischen Standort.

HAUS-MIKROKLIMA Bis jetzt sind nicht alle Lebewesen näher eingegrenzt. Viele Tiere können ihre eigene, innere Körpertemperatur regulieren und sie so auf einem gleichmäßigen Niveau halten, selbst bei großen äußeren Temperaturschwankungen. Der Mensch hat einen sehr hoch ent­wickelten

und sensiblen Mechanismus, mit dem er durch Schweiß­abgabe oder stärkerer Blutzirkulation

seine Körpertemperatur auf 37°C reguliert. Im allgemeinen halten Warmblüter größere Tempe­ raturschwankungen aus als Kaltblüter. Manche Arten können ihre Umgebung beeinflussen, um so ein angenehmes Mikroklima zu er­zeugen: die Schildkröte macht das während ihres

Winterschlafes. Der Mensch handelt auf unterschiedliche Art und Weise auch so: er kann sein Mikroklima verändern, indem er seine Kleidung wech­selt, ein Haus baut, Benzin verbrennt, Bäume pflanzt, künstliche Seen gräbt und Maschinen benutzt, die wärmen, kühlen, die Luft befeuchten oder trocknen.

Eine grundlegende Aufgabe eines Gebäudes ist die Veränderung des Mikroklimas. Der

prähistorische Mensch baute seine Häuser, um die Naturkräfte abzuhalten - Regen, Wind, Sonne und Schnee. Die Aufgabe der Häuser war es, eine Umgebung zu schaffen, die für

Komfort und selbst für das Überleben wichtig war. Das Mikroklima jedes Grundstücks wird durch den Hausbau in mehrere, unter­schiedliche Mikroklimate verändert: das Mikroklima, das an der Südwand herrscht, ist sehr verschieden von dem der Nord-, der West- und der

Ostwand. Innerhalb des Gebäudes besitzt jeder Raum sein eigenes Mikroklima, das jeweils

mehr oder weniger eine Veränderung des äußeren Klimas ist. Vor der industriellen Revolu­tion war der Mensch angewiesen auf natürliche Energiequellen und örtlich verfügbare Materialien um seine, physiologisch einwand­freie Behausung zu schaffen. Über viele Jahrhunderte, so

scheint es, lernten die Menschen überall, auf ihr Klima zu reagieren. Das Klima bestimmte

den Lebensrhythmus, ihre Häuser und ihre Klei­dung. Daher bauten sie Häuser mit mehr oder weniger befriedigen­den Mikroklimaten. In den warm-schwülen Gebieten in Ost-Asien leben

die Einwohner in Hütten mit locker gewebten Wänden, die es erlauben, daß die leichteste Brise 32


durchwehen kann. Die Men­schen, die unter der grellen Wüstensonne leben, bauen ihre Häuser

mit dicken Wänden, um sich vor der Hitze zu schützen, und mit sehr kleinen Öffnungen, um die heiße Luft und die Helligkeit der Sonne abzuhalten.

Diese erfolgreichen Lösungen von Klimaproblemen entstanden nicht mit wissenschaftlichen Begründungen; sie entwickelten sich aus unzähligen Experimenten, Zufällen und der

Erfahrung von Handwerkergenerationen. Sie setzen fort, was funktionierte und lehnten ab,

was nicht funktionierte. Diese Lösungen wurden wei­tergereicht durch traditionelle, strenge

und scheinbar zufällige Re­geln, nach denen man die Grundstücke, die Gebäudeausrichtung,

die Baumaterialien, die Konstruktion und die Gestaltung auswähl­te. Bei jedem traditionellen Vorgehen ist es unbedingt notwendig, daß jede Vorgabe durch die Tradition genau befolgt

wird. Denn wenn ein traditionelles Bauelement geändert wird, kann diese Ver­änderung, sei sie auch noch so klein, den gesamten Wert des Ge­bäudes als befriedigende Lösung klimatischer Probleme zerstören. In diesem Sinne ist beides, das Material und die Art, wie es ge­braucht

wird, sehr wichtig. Zum Beispiel, wenn eine Mattenwand ersetzt wird durch Wellblech oder

ein anderes massives Wandmate­rial, wird das Innere eines Hauses unerträglich heiß und stickig durch den Verlust der Ventilation, obwohl das Gebäude nach Au­ßen hin viel gehaltvoller

aussieht. Moderne Architekten versuch­ten, dieses Problem mit zeitgenössischer Technologie zu lösen; sie ersetzten die unzureichende Massivwand durch eine belüftete Glasfassade

mit vorgestelltem CIaustra-Elementen aus unbeschat­tetem Beton oder Ziegel - wie es die unterschiedlichsten Ansichten moderner Bauten in den Tropen zeigen. Obwohl so eine

Lösung eine offensichtliche Verbesserung gegenüber der Massivwand ist, ergeben genauere

Untersuchungen, daß sie nicht so wirkungsvoll ist wie eine einfache Mattenwand. Denn wenn

die Sonnenbrecher oder die Brise-soleils der Claustra-Elemente nicht beschattet sind, heizen sie sich auf und geben dann die Hitze an die Luft weiter, die durch die CIaustra-Elemente in das Gebäude einfließt; und sie re­flektieren die wärmenden Sonnenstrahlen in das Innere.

TENDENZEN INTERNATIONALER ARCHITEKTUR Ändert man einen einzigen Teil traditioneller Bauweisen grund­sätzlich, verbessert die moderne Lösung nicht die Antwort auf die Umwelt; im Gegenteil, sie ist nicht einmal gleichwertig.

Obwohl sich die traditionelle Architektur immer weiter entwickelt und neue Baumaterialien

und Gestaltungskonzepte aufnimmt, wie es in der Geschichte immer war, sollten alle modernen Ersatz-Materialien und -Formen vor ihrem Gebrauch wissenschaftlich untersucht wer­den. Oft ist der Reiz moderner Formen und Materialien nur auf kur­ze Sicht attraktiv. Im Verlangen,

modern zu sein, verdrängten viele Menschen der Tropen ihre traditionellen, Generationen alten 33


Bau­weisen, die aus dem lokalen Klima heraus entstanden; heute übernehmen sie, was man als „Internationale Architektur“ bezeichnet; diese Architektur verwendet High-Tech-Materialien

wie den Stahl­betonrahmen, die vorgehängte Glasfassade oder die Klimaanlage. Aber die große Mehrheit der Tropenbewohner ist industriell unter­entwickelt und kann sich den High-Tech-

Luxus nicht leisten. Für die Masse der Menschen in den Entwicklungsländern sind die kon­

ventionellen Energiesysteme der Industrieländer nicht zu akzep­tablen Preisen erhältlich. Es gibt deshalb ein echtes Bedürfnis, die traditionellen, auf natürlichen Quellen basierenden Systeme

wei­terzuentwickeln. Die traditionellen Konzepte sollten so verändert werden, daß sie modernen Bedürfnissen genügen.

Obwohl sich die traditionelle Architektur intuitiv, über lange Zeiträume entwickelte,

basiert sie zuerst auf wissenschaftlich richti­gen Theorien. Die moderne, akademische

Architekturwelt betont nicht die Werte der Forschung und hinterfragt ihre eigenen Ansätze

nicht wissenschaftlich. Daher hat die heutige Architektenwelt kei­nen Respekt vor vernakulärer Architektur. Jetzt ist die Zeit gekom­men, die Gräben zwischen den unterschiedlichen Architekturansät­zen zu überbrücken.

Alle traditionellen Lösungen sollten wissenschaftlich bewertet werden, bevor man sie aufgibt

und ersetzt. Das Phänomen des Mi­kroklimas, die Baumaterialien, die Konstruktionsmethoden und die Gestaltung müssen analysiert und getestet werden, bis die kom­plexe Beziehung zwischen Gebäude, Mikroklima und menschli­chen Leben völlig verstanden ist.

Glücklicherweise ist die Landwirt­schaft unmittelbarer vom Mikroklima beeinflußt. Agrarwissen­ schaftler beobachten seit langem das Klima in Erdbodennähe. Ihre Ergebnisse sind für alle verfügbar, die sich für tropische und sub­tropische Architektur interessieren. Eine andere

Wissenschaft, mit der die Architektur verbunden ist, ist die Aerodynamik. Ihre Versu­che

können genutzt werden für das Studium der Luftbewegung über und um ein Gebäude herum. Maßstäbliche und 1:1-Modelle können in Windtunneln getestet werden, um den Einfluß von Grö­ße, Lage und Anordnung der Öffnungen und der Windkräfte zwi­schen Gebäudegruppen auf den Luftfluß festzustellen. Heute wird schon mehr Aufmerksamkeit auf die Beziehung

zwischen Klima und Architektur gelegt; unterschiedliche wissenschaftliche Diszi­plinen bieten

eine eindrucksvolle Menge von Fakten, die für die Ar­chitektur sehr nützlich sind. Der Architekt ist verantwortlich dafür, diese Fakten zu untersuchen und in die Gestaltung mit einfließen zu lassen.

34


SONNE In heißen Klimazonen ist die Sonne die bestimmende Hitzequelle. Für die Planung eines

Bauvorhabens müssen sowohl der Sonnen­stand für jede Tages- und Jahreszeit als auch die Richtungen der vorherrschenden Winde ermittelt werden, besonders während der heißen Jahreszeit. Für die direkten Sonnenstrahlen reicht es, die Neigungs- und Höhenwinkel der Sommer- und Wintersonnenwen­de (21. Juni und 21. Dezember), sowie die Tages-

und Nachtgleiche im Herbst und Frühjahr (21. September und 21. März) zu kennen; von

diesen Daten ist der Sonnenstand zu jeder beliebigen Zeit ableitbar. Diese Eckdaten, nicht die Mittelwerte, muß der Architekt berücksichtigen - Tabellen sind für jede Stadt bei den

örtlichen Wetterämtern erhältlich. Für eine Gebäudeansammlung, die ein Gebiet formt, gibt

es zusätzlich das Moment der Reflektion von an­grenzenden Gebäuden und Windschutz durch

Gebäudeballungen, welche zu einem besonderen Mikroklima an jeder Stelle in diesem Gebiet

beitragen. Windbewegungen und Luftfeuchtigkeit sind ebenfalls wichtig und sollten gleichzeitig mit den direkten und indi­rekten Auswirkungen der Sonne berücksichtigt werden.

Wichtigstes Entwurfsziel ist es, eine optimale Ausrichtung zur Sonne und den vorherrschenden Winden zu erreichen. Dies ist ein komplexes Problem; und es ist sinnvoll, zunächst vom

einfachsten Fall auszugehen: dem aus einer einzigen Häuserzeile bestehenden Block. Auf dieser Grundlage lassen sich dann auch komplexere Fäl­le verstehen. Für Kairo beispielsweise, ist die optimale Ausrichtung eines Gebäudes nach der Sonne die von Osten nach Westen. In die­sem

Fall ist zum Zeitpunkt der Sommersonnenwende die Nordfas­sade von 5.00 Uhr früh bis 9.00

Uhr früh den Sonnenstrahlen ausge­setzt. Um 5.00 Uhr haben die Strahlen einen Höhenwinkel von 0°, um 9.00 Uhr jedoch von 49°30‘; die Strahlen treffen in einem Win­kel von nur 1°03‘ auf die Fassade. Bei der Südfassade beträgt der Hö­henwinkel zur Mittagszeit 83°36‘; die

Sonnenstrahlung dringt nicht in die Öffnungen der Südfassade, und durch einen leichten,

richtig plazierten Überhang können die Öffnungen und die Wandoberflä­che gut verschattet

werden. Die Ost- und Westfassade bilden die je­weiligen Enden der Häuserzeile und erhalten keine Öffnungen. Im Winter beträgt der Höhenwinkel zur Mittagszeit 36°34‘; so können

die Sonnenstrahlen ins Haus eindringen und das Innere aufwär­men. Aus meteorologischen

Aufzeichnungen geht hervor, daß in Kairo der kalte Wind aus Nordwesten weht. Daraus ergibt

sich eine optimale Ausrichtung zum Wind, wenn die lange Seite der Häuser­zeile von Nordosten nach Südosten gerichtet ist, so daß der Wind so lange wie möglich auf der langen Oberfläche stehen kann.

Auf den ersten Blick liegt die offensichtliche Lösung für beide Faktoren darin, die Zeile von Nordost-Ost nach Südwest-West aus­zurichten, indem man den Winkel zwischen den beiden

optimalen Ausrichtungen teilt. Diese Lösung wäre nur dann richtig, wenn die Öffnungen als 35


Windein- und -auslässe dienten, so daß im Haus Luftbewegungen gewährleistet sind. Die

Menschen in den heiß­trockenen und feucht-warmen Klimazonen entwickelten aber den Malqaf oder „Windfänger“, mit dem Wind hoch über einem Gebäu­de eingefangen und durch das

Gebäudeinnere gelenkt werden kann. Mit der Lösung des Windproblems durch den Malqaf kann die Häuserzeile in ost-westlicher Richtung angelegt werden, was für die Sonnenausrichtung optimal ist.

Die Erfindung des Malqafs ermöglicht Flexibilität in der Gestal­tung hinsichtlich des Winds

und erlaubt dem Entwerfer, sich ganz auf die Ausrichtung seiner Gebäude zur Sonne hin zu konzentrie­ren.

NORDFASSADE Die Nordfassade ist am wenigsten der Sonne ausgesetzt. Nur in den frühen oder späten Stunden im Sommer steht die Sonne auf dieser Seite; dann verlaufen die Sonnenstrahlen fast tangential zur Wand­oberfläche. Ein Vorteil von Räumen, die diese Lage haben, ist der, daß sie immer

gleichmäßig ausgeleuchtet sind, wodurch sie sich ideal als Operationsräume in Krankenhäusern oder als Klassenräu­me eignen.

SÜDFASSADE In den Tropen und Subtropen hat die Südlage den Vorteil, daß die Sonne im Sommer sehr hoch über dem Horizont steht und durch einen relativ kleinen Überhang genug Schatten entstehen

kann. Im Winter steht sie tief, so daß die Sonnenstrahlen dann, wenn sie am nötigsten sind, auch in das Haus eindringen können. Ein Nachteil liegt jedoch darin, daß auf der südlichen Seite kein Wind weht, da die kühlen Winde im allgemeinen in der nördlichen Hemisphäre aus nördlichen Richtungen wehen. Sonnenstrahlen können nicht willkürlich manipuliert werden, aber ein

Luftstrom: entweder durch den entsprechenden Entwurf, den Malqaf, den Windauslaß oder

durch innenliegende Mashrabiyas, wie sie in einigen traditio­nellen Häusern Saudi Arabiens zu sehen sind.

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SCHATTEN Obwohl die optimale Ausrichtung einzelner Gebäude und Blöcke von Reihenhäusern die mit der langen Seite von Osten nach Westen ist, kann dieses Prinzip aus vielen Gründen nicht einfach auf eine ganze Stadt oder ein größeres Gebiet übertragen werden. Einige Häuser oder Reihenhäuser stehen an Straßen oder Plätzen, die in einem beliebigen Winkel nach

Norden liegen; jeder dieser Fälle er­fordert die ihm angemessenen, von seiner Ausrichtung

abhängigen Mittel zur Verschattung. Grundsätzlich gilt ein Haus, dessen Fassa­de nach Westen geöffnet ist, als der schlimmste Fall, da es während des Tages der Hitze ausgesetzt ist und die Sonnenstrahlen ins Haus­innere eindringen können. Trotzdem ist es auch im Falle einer Re­

gion, dessen lange Seiten nach Westen und Osten liegen, möglich, daß Gebäudeblöcke sich

gegenseitig Schatten geben können. Um dies zu gewährleisten, muß die Höhe der Blöcke in

Abhängigkeit von der Straßenbreite und dem Höhenwinkel der Sonne bestimmt werden; dieses kann aus Daten für jeden geographischen Ort abge­leitet werden. Auf diese Art und Weise

können Gebiete, die der Sonne ausgesetzt sind, definiert werden, hinsichtlich ihrer Fassa­den, dem Straßenprofil und der Sonnendauer.

OST- WESTFASSADE Nur von Sonnenaufgang bis Mittag steht die Sonne auf der Ost-Fas­sade. Bis zum Abend kühlen sich die Wände ab; diese Lage eignet sich für Schlafräume. Eine Verschattung der Fassaden entsteht durch Überdachung der Straßen, so wie es in älteren Städten und Oasendörfern

Westasiens und Nordafrikas zu sehen ist. Im Falle ei­nes einzelnen Gebäudes wird Schatten

durch architektonische Ele­mente wie Balkone, überdachte Loggien oder offene Galerien und

Veranden erzeugt, oder die Öffnungen werden durch Blendfenster, Sonnengitter, Brise-Soleils

oder Mashrabiyas abgeschirmt. Im Irak werden die Wände dadurch abgekühlt und belüftet, daß die Räume mit außenliegenden Korridoren, Arkaden und Kolonaden umge­ben werden.

ÖFFNUNGEN Fensteröffnungen erfüllen drei Funktionen: Sie lassen Luft herein, direktes und indirektes Licht und sie gewähren Ausblick. In gemä­ßigten Klimazonen sind die drei Funktionen miteinander in einem Fenster, seiner Größe und Plazierung in Abhängigkeit örtlicher Kli­mabedingungen

zusammengefaßt. In den heiß-trockenen Zonen ist es jedoch kaum möglich noch ratsam, diese 37


drei Funktionen in einer einzigen architektonischen Lösung zu vereinen; so wurden mehrere Lösungen entwickelt, die sich auf jeweils eine Aufgabe be­ziehen.

VENETIANISCHE BLENDFENSTER Venetianische Blendfenster können direkt an den Fenstern ange­bracht werden. Sie bestehen aus

ungefähr 4-5 cm breiten Stäben, die dicht, in einem Sonnenstrahlen brechenden Winkel in einen Holzrahmen eingepaßt sind. Die Stäbe sind häufig beweglich, um die Sonnenstahlen und den

Luftstrom zu regulieren. Sie ermögli­chen, die Sonne, aber nicht den Wind auszuschließen, der

in den meisten heiß-trockenen Zonen, einschließlich Ägypten, dem Irak und Nordafrika aus dem Nordwesten weht. Venetianische Blend­fenster haben folgende Nachteile: sind sie geschlossen,

schotten sie vollständig den Blick nach draußen ab und dämmen erheblich das hineinströmende Licht; im Sommer können die Blendfenster so verstellt werden, daß der Wind nach unten, auf die Bewohner, gelei­tet wird - nur scheint dann auch die Sonne direkt in den Raum; schottet

aber das Blendfenster das Sonnenlicht ab, weht der Wind nutzlos über die Köpfe der Bewohner hinweg; besteht es aus Me­tall, absorbiert es die Strahlung und reflektiert sie als Hitze in den Raum.

BRISE-SO LEIL Der Brise-Soleil oder Sonnenlichtbrecher ist eine neuartige Ver­schattungseinrichtung, die eine sehr ausgearbeitete Halterung er­fordert. Normalerweise wird er eingesetzt, um den

Treibhauseffekt in Skelettbauten mit vorgehängter Glasfassade zu reduzieren. Ein richtig

entworfener Brise-Soleil, der die Sonnenstrahlen bricht, re­duziert die Hitze im Gebäude auf ungefähr ein Drittel. Das ist zwar eine Verbesserung, reicht aber dennoch nicht aus. Auch

behindert der Brise-Soleil den Ausblick, der ursprünglich Grund für den Ein­bau der Glaswände war. Tatsächlich ist der Brise-Soleil eine Weiter­entwicklung des Blendfensters, in der die

Stabbreite von vier auf rund 40 cm erweitert wird, um sich dem Maß einer ganzen Fassade

und nicht nur einer Fensteröffnung in einer massiven Wand anzu­passen. Der Nachteil ist ein

Ausblick, zerrissen von langen dunklen Streifen und unterbrochen von aggressiver Helligkeit. Aus diesem Grund werden Photos von Brise-Soleils immer von Außen aufge­nommen. Das Konzept des Brise-Soleils muß dennoch nicht ver­worfen werden; in einigen Beispielen moderner Architektur wurde er vorteilhaft angewandt. 38


MASHRABIYA Der Begriff Mashrabiya leitet sich von dem arabischen Wort für „trinken“ ab und bezeichnete ursprünglich „einen Ort zum Trin­ken“. Dies war ein freistehender Raum mit einer

Gitteröffnung, in dem kleine Wassergefäße zur Kühlung durch den Verdunstungsef­fekt, der durch die durch die Öffnung dringende Luft entsteht, ge­stellt wurden. Heute bezeichnet

der Begriff eine Öffnung mit einem Holzgitterschirm, der aus kleinen, runden Holzstäben

besteht, die häufig in dekorativen und komplizierten geometrischen Mustern, Sahrigi genannt, zusammengesetzt sind. Der Mashrabiya erfüllt fünf Funktionen: Kontrolle des Lichtdurchflusses, Kontrolle des Luftstroms, Reduktion der Temperatur des Luftstroms, Erhöhung der Feuchtigkeit des Luftstroms, Sicherung der Privatsphäre. Jedes Mashrabiya-Design ist so gewählt, daß es einige oder alle Funktionen erfüllt.

Das Tageslicht, das in einen Raum mit Öffnungen zum Süden einfallt, besteht aus zwei Komponenten: aus dem hochintensiven Sonnenlicht, das in einem sehr großen Winkel

zur Fläche der Öff­nung einfallt, und der nicht so intensiv reflektierten Helligkeit, die fast

ungebrochen durch die Öffnung eindringt. Da Sonnenlicht, das durch die Öffnung eindringt, die Oberflächen im Raum aufheizt, muß diese Strahlung blockiert werden. Die reflektierte

Helligkeit heizt zwar nicht den Raum auf, produziert aber unangenehmes Licht. Die Größe

der Zwischenräume und der Stäbe eines Mashra­biyas sind so eingestellt, daß sie die direkte

Sonnenstrahlung bre­chen. Hierzu wird ein Gitter mit kleinen Zwischenräumen benötigt. Die im Querschnitt runden Stäbe stufen das Licht auf ihren Ober­flächen ab, und dämpfen so den

Kontrast zwischen der Dunkelheit der undurchlässigen Stäbe und der blendenden Helligkeit, die durch die Zwischenräume gelangt. Die charakteristische Gestalt des Gitters erzeugt

eine Silhouette, die das Auge von einem Stab zum nächsten führt. Dieses Design hebt den

zerrissenen Effekt, der durch die flachen Stäbe des Brise-Soleils erzeugt wird, auf und ver­teilt in harmonischer Art und Weise den Ausblick über die gesamte Fläche der Öffnung, quasi den Ausblick über das dekorative Muster des Mashrabiya überblendend, so daß man an dunkles

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Glas erin­nert wird. Um den dämmenden Begleiteffekt auszugleichen sind die Zwischenräume

im oberen Teil des Mashrabiya größer ge­wählt. Durch diese Anordnung erhellt das reflektierte Licht den oberen Teil des Hauses, während ein Überhang über der Öffnung verhindert, daß

das direkte Sonnenlicht hineinströmt. So sind dann auch die Zwischenräume in den Öffnungen einer Nord-Fassade, bei der direktes Sonnenlicht kein Problem darstellt, recht groß gewählt,

um den Raum ausreichend auszuleuchten. Ein typischer Mashra­biya setzt sich immer aus zwei Teilen zusammen: aus einem unte­ren, feinmaschigen Teil mit schmalen Stäben, und aus einem obe­ren Teil mit einem großmaschigen Gitter aus gedrechseltem Holz. Die kühlenden und

feuchtigkeitsspendenden Funktionen des Mashrabiya liegen eng beieinander. Alle organischen Fasern, so auch das Holz des Mashrabiya, absorbieren, speichern und schei­den beträchtliche

Mengen an Wasser aus. Pflanzen regeln ihre Oberflächentemperatur durch Verdunstung: Der Saft fließt durch die Fasern zu den Pflanzenoberflächen, wo er verdunstet und da­durch die

Oberfläche kühlt. Holzfasern behalten diese Fähigkeit auch nach dem Abschlagen und Einbau im Gebäude, vorausge­setzt die Poren werden nicht durch versiegelnde Anstriche ver­stopft.

Wind, der durch die Zwischenräume des durchlässig-hölzer­nen Mashrabiya weht, gibt einen Teil seiner Feuchtigkeit an die Luft ab, die durch die Zwischenräume strömt. Diese Technik wird genutzt, um eher trockene Luft während der Hitze des Tages anzu­feuchten.

Zusätzlich zu diesen physikalischen Funktionen besitzt der Mashrabiya aber auch eine wichtige

soziale Funktion: Er gewährlei­stet die Privatsphäre der Bewohner, läßt aber den Blick nach drau­ ßen frei. Ein Mashrabiya hat daher im gesamten unteren Teil, bis auf den hoch über Augenhöhe befindlichen, kleine Zwischen­räume.

DACH Sobald die Außentemperatur höher als die Innentemperatur ist, wird die Dachoberfläche durch die Sonne aufgeheizt. Das Dach überträgt diese Hitze auf den Innenraum, was verhindert werden soll. Das geschieht durch ein doppeltes Dach mit einer dazwischen­ liegenden

Luftschicht, oder durch eine Dachdeckung mit Hohlzie­geln. Oft verwendet werden isolierende

Materialien wie Fieberglas, Styropor oder Hohlblocksteine, was sich die meisten Bewohner der heiß-trockenen Zonen finanziell nicht leisten können. Eine Idee der Dachnutzung mit leichter

Deckung als Lebensraum ist der Dach­garten mit Spalierdach. Erde ist eine gute Hitzeisolierung, und Pflanzen geben Schatten. Auch dunsten Pflanzen aus und kühlen die mit dem Dach in

Berührung kommende Luft. Diese Lösung er­fordert ein sicheres und wasserundurchlässiges Dach, was zu teuer ist für die meisten Bewohner dieser Regionen. Aus psychologi­schen

und ästhetischen Gründen scheinen Menschen es eher zu be­vorzugen, auf einer Ebene mit 40


Baumstämmen, Zweigen, Blättern und Pflanzen zu leben, als das Gefühl zu haben, unter Wurzeln zu leben. Es bietet sich an, das Dach natürlicher, der landläufigen Tra­ditionen

entsprechend zu verschatten. In heiß-trockenen Ländern, in denen die Temperatur während der Nacht um einiges absinkt, wurden die Dächer von ihren Bewohnern zu Loggien oder offenen

Galerien mit leichten Dachbedeckungen umstrukturiert. Diese Loggien und Dachbedeckungen haben die zweifache Funktion, ei­nerseits das Dach während des Tages zu verschatten und anderer­seits angenehm temperierte Wohn- und Schlafräume für nachts zu schaffen. Auch

die Form eines Daches ist von Wichtigkeit in sonni­gen Gebieten. Ein flaches Dach steht den

ganzen Tag über unter ständiger Sonnenbestrahlung, die morgens ansteigt und sich wäh­rend des Nachmittags vermindert gemäß‘ der Veränderung der In­tensität und des Winkels der Sonne.

Geneigte oder gewölbte Dächer haben gegenüber Flachdächern Vorteile: die Raumhöhe wird teilweise vergrößert, so daß erstens warme Luft hochsteigen oder durchs Dach gelangen

kann, die ge­samte Dachoberfläche wird zweitens vergrößert, so daß sich die In­tensität der Sonnenstrahlung über eine größere Fläche verteilt, da­durch sinkt der durchschnittliche

Temperaturanstieg des Dachs und die Hitzeleitung ins Innere; drittens ist ein Teil des Daches

während des Tages vor der Sonne geschützt, so daß es als eine Art Kühler dient, der die Hitze

des sonnenbeschienenen Teils und der inneren Luft absorbiert, und der die Hitze zur kühleren Außenluft im Dachschatten leitet. Dieser letztere Effekt ist besonders wirksam bei Dächern, die halb-zylindrisch gewölbt oder die Form einer he­misphärischen Kuppel haben, da hier

immer, außer während der Mittagszeit, Teile des Daches im Schatten liegen. Kuppel- bzw. ge­

wölbte Dächer erhöhen auch die Luftgeschwindigkeit über den Wölbungen; sie erzeugen somit kühlende Winde, die die Tempera­tur der Dächer herabsetzen.

LUFTBEWEGUNG IM HAUS Wenn Schweiß auf der Haut mit Luft in Berührung kommt, deren Taupunkt unter der

Hauttemperatur liegt, verdunstet der Schweiß. Die Hauttemperatur wird dadurch gesenkt, daß Energie aufge­wandt werden muß, den Schweiß in Dunst umzuwandeln. Die Luft ist jedoch schon bald gesättigt und der Verdunstungsvorgang endet. Soll dieser Vorgang fortgesetzt werden, muß die Luft ausgetauscht werden durch Luftbewegungen, Luftzug oder einen

Fächer. Solche natürlichen Luftbewegungen können durch den architektonischen Entwurf bei

Beachtung von zwei Prinzipien gewährleistet werden. Zum einen produzieren unterschiedliche

Windgeschwindigkeiten ein Druckgefälle, welches dazu führt, daß die Luft von der höheren zur tieferen Luftdruckzone fließt. Zweitens wird die Luft erhitzt; dieses führt zur Konvektion: Die

warme Luft steigt auf und wird durch kühlere Luft ersetzt. Zwischen dem warmen Bereich und 41


der Kaltluft-Einzugsöffnung entsteht ein Luftzug. Die Luftflußrate, die durch die Konvektion erzeugt wird, hängt von den Höhenunter­schieden ab, in der sich die Öffnungen befinden; der Luftfluß wird größer, je größer der Höhenunterschied der Öffnungen ist. Dieses Prinzip ist

besonders wichtig, wenn die Luft draußen steht und das Innere belüftet werden soll. Die beiden genannten Prinzipien wur­den auf vielfältige Art und mit vielen Verbesserungen in der Archi­ tektur und der Stadtplanung angewandt.

Bei Luftbewegungen im Haus, die durch Druckgefälle entstehen, ist der Luftstrom bei

niedrigem Luftdruck gleichmäßiger. So ist es klar, daß ein Fenster oder eine Öffnung nur dann die gewünschte Luftbewegung in einem Raum erzeugt, wenn auch ein Windauslaß vorhanden ist. Die Erfahrung lehrte, daß die Luftbewegung schnel­ler und gleichmäßiger sind, wenn die

Fläche der Öffnungen auf der Windschattenseite größer ist als die Einlässe auf der windzuge­ wandten Seite. Auch an unangenehm heißen Tagen weht durch den schattigen Bereich der

Loggia eine kühle und erfrischende Bri­se. Die Loggia öffnet sich zu einem Innenhof an der windabgewand­ten Seite, beinahe vollständig vom vorherrschenden Wind ge­schützt durch eine Wand, in die zwei Reihen kleiner Öffnungen ge­brochen sind. Der Luftfluß über und

um das Gebäude herum pro­duziert eine Niedrigdruckzone auf der Leeseite dadurch auch im

Loggiabereich. Dies gewährleistet einen stetigen Luftstrom bedingt durch den Sog durch die kleinen Öffnungen.

CLAUSTRUM Oft sind viele kleine Öffnungen wenigen großen Öffnungen vorzu­ziehen - aus Gründen der Privatsphäre, der Sicherheit, der einheit­lichen Verteilung des Luftflusses, der Blockierung

direkter Sonnen­einstrahlung oder der Dekoration. Große Öffnungen, die haupt­sächlich der Belüftung und Beleuchtung dienen, und die an bestimmten Orten in Gebäuden eingebaut

werden, können mit ei­nem Gitterwerk in Form einer durchlöcherten Schirmwand verklei­det

werden. Diese Gitter, Claustra genannt, wurden ursprünglich in große Öffnungen hoch oben

in Römischen Bädern eingesetzt. In der vernakulären Architektur bestehen sie normalerweise aus ge­meißelten Stuckplatten mit verschiedenen dekorativen Mustern, die nicht, wie die

Mashrabiya, aus Holz sind. Claustra dienen hauptsächlich dazu, heiße Luft, die sich in den

oberen Raumteilen ansammelt, abzuführen; sie werden auch in Brüstungswände oder niedrige Wände um Flachdächer herum eingebaut; so entstehen Luftzüge für die im Sommer auf den

Dächern Schlafenden. In der modernen Architektur werden diese Claustra manchmal als Brise­

Soleils mißbraucht, die ganze Fassaden eines Gebäudes bedecken. Tatsächlich ist das Claustrum ein Schirm, der in eine Öffnung genü­gender Größe eingesetzt wird und sollte nicht als 42


tragende Wand verstanden werden. Dadurch, daß es überdimensioniert eingesetzt wird, bricht das Claustrum die strukturellen Maßstäbe und ästheti­schen Regeln der Architektur. Darüber

hinaus irritiert es das Auge durch die blendenden Kontraste von Licht und Schatten. Wird das

Claustrum als Brise-Soleil verwendet, hat es dieselben Nachteile wie der Sonnenbrecher. Das

Claustrum ist auf Augenhöhe in den Fällen wirksam, in denen es in selten benutzte Innenräume, beispielsweise eine Treppenhauswand, oder außen, in Innenhöfen oder auf Dächern, eingebaut wird; dort kann das Spiel von Licht und Schatten das Auge nicht beim Ausblick irritieren.

WINDAUSLASS Der Windauslaß hat das Ziel, Luftbewegungen zu beschleunigen und Zugluft an Orten zu produzieren, die keine Öffnung nach drau­ßen haben, wie zum Beispiel Keller.

Ein interessantes Beispiel entstand durch Zufall beim Entwurf eines Pumpenraumes für einen Artesischen Brunnen in Alexandria in Ägypten. Der Pumpenraum sollte in sechs

Meter Tiefe unter der Erdoberfläche gebaut werden, da sich der Grundwasserspiegel in 12 Meter Tiefe befand. Der Raum hatte eine Öffnung, um den Brun­nen auf der Länge seiner

Rohre überwachen und um Inspektionsar­beiten vornehmen zu können; er war überdacht mit einem geneig­ten Gewölbedach, dessen höheres Ende zur Leeseite gerichtet war. Es wurde befürchtet, daß die Pumpenabgase die Luft in diesem sehr kleinen Raum verschmutzen

würden. Dieses Gewölbedach je­doch schuf einen so starken Luftstrom, daß die Luft auf

Bodenhöhe durch die Brunnenschacht Öffnung abzog. Vorteilhafte Anwendung findet dieses

Konzept bei überirdischen Entwürfen. Der Windaus­laß kann eine wirksame Belüftung und die Luftzirkulation be­schleunigen, wenn er zusammen mit anderen Einrichtungen zur Erzeugung von Luftbewegungen eingesetzt wird - mit Fenstern, Türen oder, dem Malqaf.

MALQAF Um eine gute Belüftung zu gewährleisten, wurde der Malqaf oder „Windfänger“ entwickelt.

Er ist ein hoch über das Gebäude hinaus­reichender Schacht mit einer Öffnung in Richtung des vorherr­schenden Windes. Er fängt so stärker und kühleren Wind und kana­lisiert ihn hinunter ins Gebäudeinnere. Der Malqaf macht damit den Einbau von gewöhnlichen Fenstern zum

Lüften überflüssig. Außerdem reduziert er den Staub- und Sandgehalt des Windes; denn der Wind, den er über dem Gebäude einfängt, enthält weniger Partikel als Wind in Bodennähe,

und die Partikel, die er dennoch miteinfängt, werden am Boden des Schachtes abgelagert. Der 43


Wert eines Malqaf wird in dicht bebauten Städten warm-feuchter Zonen offensichtlich: da

Gebäudegruppen die Windgeschwindigkeit auf Straßenhöhe reduzieren und sich gegenseitig vor dem Wind ab­schirmen, reicht das gewöhnliche Fenster zur Belüftung nicht aus. Die Situation kann durch einen Malqaf verbessert werden. Ein Mal­qaf ist viel kleiner als die Fassade eines Gebäudes und hat daher auch eine kleinere Oberfläche, mit der er die im Windschatten lie­ genden Malqafs abschirmt. In Pakistan finden Malqafs überall An­wendung und ragen wie

den Wind fangende Segel über den Dä­chern. In Ägypten ist der Malqaf weit entwickelt und seit langem Bestandteil der vernakulären Architektur. Das excellente Beispiel der Qa‘a des

Muhib Ad-Din Ash-Schari AI Muwaqqi, bekannt als Othman Katkhuda, stammt aus dem 14. Jahrhundert.

Der Qa‘a ist ein zentraler obergeschossiger Raum zum Empfang von Gästen, normalerweise ein Wohnraum in einer Villa oder ein Besprechungsraum in einem öffentlichen Gebäude. Traditionell setzt er sich aus drei zusammenhängenden Räumen zusammen: aus einem

zentralen Teil, Durqa‘a genannt, ein hoher Raum ohne Teppichbelag, der zur Beleuchtung und Belüftung dient - und aus zwei geschlossenen, höher gelegenen und mit Teppichen ausgeleg­

ten Nischen, Iwan genannt. Die sehr hohen Wände des Qa‘a sind mit Strebepfeilern versteift, um Standfestigkeit mit struktureller Leichtigkeit zu gewährleisten. Die Zwischenräume zwischen die­sen Pfeilern dienen als Sitzalkoven, Kunja genannt. Die Böden der Kunja

liegen normalerweise höher als die angrenzenden Durqa‘a und Iwan. Den Zugang zum Qa‘a findet man durch den Durqa‘a, der tatsächlich eine Art überdachter Innenhof oder Sahn ist

und in dem sich die für einen offenen Innenhof charakteristischen gepfla­sterten Böden und Marmormosaiken bewahrt haben.

Der Malqaf ist ein Teil eines kompletten Klimatisierungssystems, wie es das Beispiel eines Qa‘a verdeutIicht: das Dach eines Durqa‘as ist erheblich höher als die Dächer der Iwanat, und im

oberen Teil sind mit Mashrabiyas verkleidete Fenster eingelassen. Zusätzlich zur gebrochenen und angenehmen Beleuchtung, gewährleisten diese Öffnungen auch den gewünschten

Luftauslaß. Daher kanali­siert der Malqafim nördlichen Iwan-Teil die kühle Luft aus dem Norden in den Qa‘a aufgrund des durch den Wind gestiegenen Luftdrucks am Eingang des Malqafs. Im Iwan angelangt, wird die Luft langsamer, strömt durch den Iwan, steigt in den oberen Teil des Durqa‘as hoch und entweicht durch den Mashrabiya. Wind, der außerhalb über dem Durqa‘a weht wird durch die Form des Dur­qa‘a-Daches beschleunigt. Luft aus der Umgebung des

Durqa‘as entweicht in den Wind und wird ständig durch innere Luft ersetzt. Daraus ergibt sich ein geschlossener Kreislauf durch den Qa‘a.

Auch Konvektion spielt eine wichtige Rolle, da die warme Luft in der Qa‘a selbstverständlich in den oberen Teil der Durqa‘a steigt. Diese Luftbewegung wird beschleunigt, da der flache

Teil der Qa‘a der Sonne ausgesetzt ist. Die sich im Innern befindliche obere Luft­schicht heizt 44


sich weiter auf, steigt noch schneller in den oberen Teil des Durqa‘a hoch und entweicht somit durch die Mashrabiya-Öff­nungen. Luft wird von unten und aus dem Malqaf, der damit zur

Gesamtluftbewegung beiträgt, nachgezogen. Tatsächlich gewähr­leistet diese Anordnung von Öffnungen den Luftkreislauf im In­nern, auch wenn außerhalb die Luft stillsteht. Aus diesem Grunde ist es wichtig, daß der Qa‘a in der Mitte des Gebäudes gelegen und von Räumen

umgeben ist, die seine Wände vor der Hitze schützen. Das Konzept des Malqafs reicht bis in die graue Vorzeit zurück. Es wurde von den alten Ägyptern in den Häusern von Tal-Amarna

angewendet und ist in den Wandgemälden Thebanischer Grab­kammern dargestellt. Ein Beispiel

ist das Haus des Pharaos Neb­Amun, abgebildet auf seinem Grabmal, welches aus der 19. Dyna­ stie (1300 v. Chr.) stammt. Es hat zwei Öffnungen, eine windwärts gerichtet, die andere im

Windschatten, um die Luft durch Sogkraft zu evakuieren. Es ist sehr interessant, das gleiche

Prinzip in einem modernen Entwurf eines Workshops an der Universität für Wissen­schaft und Technik in Kumasi, Ghana, angewandt zu sehen; hier wurde ein Y-Strahlsystem zur Führung der Luftzirkulation einge­setzt. Die ästhetische Integration eines Malqafs in moderne Gebäu­ de zeigen die Vorentwürfe des Architekten Paul Rudolph für das Gebäude der School of

Architecture der Yale-Universität. Einige der von ihm gewählten Anordnungen zur Belüftung können erfolg­reich als Malqafs eingesetzt werden. So sehen wir, daß einige tradi­tionelle,

funktionale Elemente vernakulärer Architektur die sonst kahlen Produkte moderner Architektur bereichern können.

Die Größe eines Malqafs wird bestimmt durch die äußere Luft­temperatur. Er muß größer sein, wenn die Lufttemperatur am Ein­laß niedrig ist; er muß kleiner sein, wenn die umgebende

Lufttem­peratur höher ist als noch als annehmbar empfunden, vorausge­setzt, daß die Luft, die durch den Malqaf strömt, abgekühlt ist bevor sie ins Innere einläuft. Im Irak, wo im Sommer die Temperatur bis auf 45°C steigt, ist der typische Malqaf-Schacht sehr eng. Er ist in die

Nordwand eingelassen, mit einem kleinen Einlaß, der bewirkt, daß sich die Luft abkühlt, bevor sie ins Innere strömt. Dieses Prinzip erinnert in der Gestalt an menschliche Nasenlöcher, die

in kalten Gegenden enger ausgebildet sind, so daß die kalte Luft nicht in die Lungen gelangen kann, wenn sie nicht vorher durch Kontakt mit der Luftröhre aufgeheizt wurde. In manchen

Entwürfen wird die Zugluft aus dem Malqafauslaß dadurch gekühlt, daß sie über Was­ser im

Keller geführt wird. Aber diese Methode ist nicht sehr effek­tiv. Durch Vergrößern des Malqafs

und durch Aufhängen von nas­sen Matten kann die Luftflußrate erhöht und gleichzeitig wirksam gekühlt werden. Im Irak hängen die Menschen nasse Matten vor die Fenster, um den in den

Raum gelangenden Wind durch Verdun­stung abzukühlen. Die Matten können ersetzt werden durch Lagen nasser Holzkohle die zwischen Hühnerdrahtplatten gehalten werden.

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INNENHOF-HAUS Wegen des relativ statischen Kühlungssystems eines Innenhof-Hau­ses lassen sich solche

Verbesserungen verstehen, mit denen Luftbe­wegungen durch Konvektion erzeugt werden

können. In heiß-trockenen Zonen sinkt die Lufttemperatur nach Sonnenuntergang er­heblich durch Hitze-Rückstrahlung in den Nachthimmel. Die Luft ist frei von Wasserdunst, der die

Hitze oder Infrarotstrahlung auf den Boden reflektieren könnte, wie es in warm-feuchten Zonen ge­schieht. Die Natur ist in diesen Zonen in Bodennähe, vor allen Din­gen in der Wüste, dem

Menschen feindlich gesinnt. Die Menschen lernten daher, ihre Häuser vor dem unwirtlichen Draußen zu ver­schließen, und öffneten sie im Innern zu Innenhöfen, Sahn ge­nannt, die zum

Himmel hin offen sind. Dies ermöglicht ein Tempe­raturgefälle während der Nacht von 10-20°C und mag als Erklärung dafür dienen, warum der Halbmond als Symbol des Nachthimmels für Araber und für fast alle Moslems eine solche Bedeutung besitzt, daß er auf den Fahnen von

acht, vornehmlich islamischen Nationen erscheint. Im Verlauf des Abends steigt die warme Luft im Innen­hof, die direkt durch die Sonne und indirekt durch die Wärme der Gebäude aufgeheizt wurde, hoch und wird nach und nach durch die bereits abgekühlte Nachtluft von oben ersetzt.

Diese kühle Luft sinkt in die umliegenden Räume. Morgens heizt sich die Luft im In­nenhof, der durch die ihn umgebenden vier Wände und Räume ge­schützt ist, bis zu dem Zeitpunkt langsam auf, in dem die Sonne di­rekt in den Innenhof scheint. Das Innenhof-Konzept findet allge­meine Verbreitung in der traditionellen Architektur heiß-trockener Regionen, vom Iran im Osten bis zur Küste des Atlantischen Ozeans im Westen, in städtischer wie auch ländlicher Architektur.

BADGIR Im Iran und in den Golfstaaten wurde ein besonderer Typus des Malqafs, der Badgir, entwickelt. Er besteht aus einem Schacht, des­sen obere Öffnung sich auf vier Seiten befindet; zwei

Abtrennun­gen sind diagonal über die gesamte Länge des Schachtes hin so an­geordnet, daß sie

jede Brise ungeachtet ihrer Richtung einfangen können. Der Schacht reicht hinunter bis auf eine Ebene, auf der die dort Sitzenden oder Schlafenden direkt mit der Luft in Berührung kommen können. Gewöhnlich ist der Badgir ein dekoratives archi­tektonisches Element. Des weiteren kann der Badgir paarweise oder in Viererkombination zur Kühlung von unterirdischen Was­ sertanks eingesetzt werden.

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TAKHTABUSH Es wurden Verbesserungen des Innenhof-Konzeptes entwickelt, um den steten Luftfluß durch Konvektion zu gewährleisten: die ver­nakuläre Architektur des arabischen Hauses enthält

ein Element, den Takhtabush, der eine Art Loggia darstellt. Er ist ein äußerer Sitzbereich in Bodenhöhe, zwischen dem Innenhof und dem hinte­ren Garten gelegen, der zum Innenhof

völlig offen und zum Hinter­garten mit einem Mashrabiya verkleidet ist. Da der Hintergarten

er­heblich größer ist als der Innenhof und daher auch weniger ver­schattet, heizt sich die Luft dort wesentlich stärker auf als im Innen­hof. Die aufgeheizte, hochsteigende Luft im Hintergarten

zieht kühle Luft aus dem Innenhof durch den Takhtabush hindurch nach sich und erzeugt auf diese Weise einen Luftzug. Eine sehr ähnliche Einrichtung ist das „Tablinum“ der antiken

römischen Villen in Pompeii. Dieses Prinzip kann auf Stadtpläne oder Wohnviertel, in denen

der Autoverkehr ausgeschlossen wurde, angewandt werden, um einen kühlen und angenehmen Treffpunkt für die Bewohner zu schaffen. In diesem Fall wird der Takhtabush zwischen

zwei Plätzen angeordnet, von denen einer größer ist. Dieser größere liegt auf der Leeseite,

wodurch die Zugluftbildung aufgrund von Druckdifferen­tialen unterstützt wird. Die Bewohner eines Dorfes oder eines Wohnviertels versammeln sich oft an angenehmen Orten, die sich

zufälligerweise aus der Anordnung der Gebäude ergaben. Einige dieser Orte sind wohlplaziert

zur Sonne und gegen den Wind ge­schützt, und werden damit zu Orten, die von alten Menschen

im Winter geschätzt werden. Andere Bereiche sind wiederum vor der Sonne geschützt, enthalten Einrichtungen wie den Takhtabush, und werden aus diesem Grunde im Sommer bevorzugt. Ein Archi­tekt muß demnach diese Bedürfnisse in seine Planung einbeziehen, und auf Grundlage

eines wissenschaftlichen Verständnisses dieser Situation, bewußt solch angenehme öffentliche Treffpunkte schaf­fen, die dem Stadtbild wieder einen menschlichen und ästhetischen Anstrich geben.

TRADITIONELLE STADTPLANUNG UND KLIMA Da das Klima der dominante Faktor in der traditionellen Gestal­tung einer Stadt ist, resultiert daraus eine bemerkenswerte Unifor­mität der Urbanisierung in heiß-trockenen Zonen. Die

Anlagen fast aller traditioneller Städte sind durch zwei Eigenheiten gekennzeich­net: durch enge, gewundene Straßen und große offene Innenhöfe und innen liegende Gärten. Typischerweise dominieren große In­nenhöfe, die als Reservoirs für kühle, frische Luft dienen, einen

Stadtplan, so zu sehen am Beispiel von Marrakesh in Marokko, von Tunis in Tunesien und

von Damaskus in Syrien. Auf den ersten Blick erscheint eine Anordnung der rasterförmigen 47


Anlage von Washington D.C. mit seinen großzügigen Boulevards weit überle­gen, so daß es

häufig als Modell moderner Stadtplanung, selbst in heiß-trockenen Regionen gilt. - Die engen, gewundenen Straßen mit geschlossenen Fronten erfüllen aber die gleiche Funktionen wie ein Innenhof. Sie bewahren jede kühle Luft, die sich dort wäh­rend der Nacht ablagerte, vor dem

Davontragen durch den ersten Windstoß, wie es bei rasterförmigen Anlagen mit breiten Boule­ vards der Fall ist. Um diesen Umstand aber gerecht beurteilen zu können, ist ein umfassender Vergleich dieser beiden Planungskon­zepte notwendig auf der Grundlage von Messungen

in den offenen Innenhöfen, den inneren Gärten und äußeren Straßen und Plätzen, und ihren entsprechenden Luftqualitäten und Temperaturen.

Im Falle eines rasterförmigen Stadtplanes beeinflussen die im Stadtkern versammelten Gebäude die Windbewegung in diesem Viertel; sie schaffen Wirbel und senken die Windgeschwindigkeit durch Reibung und Richtungswechsel. Untersuchungen in der Bundesrepublik zeigten,

daß die mittlere Windgeschwindigkeit in einer Stadt von 5.1 auf 3.1 m/s sank, als diese

expandierte. In Detroit, im US-Staat Michigan, sank über einen Zeitraum von 20 Jahren

die Windgeschwindigkeit von 6.5 auf 3.8 m/s. Und in Stutt­gart erhöhte sich die Zahl einer windstillen Tage von 1% im Jahre 1894 auf 20% im Jahre 1923. Daraus kann geschlossen

werden, daß sich die Windgeschwindigkeit erheblich verringert, wenn eine kleine Fläche mit Gebäuden verbaut wird. Der Wind über einer Stadt wird durch drei Faktoren beeinflußt:

Hohe Winde mikroklimatische Winde, die durch die Topographie und die Konfiguration der Stadt beeinflußt sind, Windbewegungen, die durch die Stadt selbst geschaffen werden.

Da der solare Aufwärmprozeß im Zentrum der Stadt am intensiv­sten ist, steigt die warme Luft dieses Sektors aufgrund von Konvek­tion hoch und wird durch Luft aus den anderen

Vierteln ersetzt. Im Falle der rasterförmigen Anlage einer Stadt mit breiten, geraden Straßen, sammelt sich warme Luft, angereichert mit Staub und Au­toabgasen der umliegenden Viertel

und mit Abgasen der Industrie­gebiete, und formt eine Glocke mit verschmutzter Luft über dem Stadtzentrum. Dieses Phänomen kann des Nachts beobachtet wer­den an der Reflektion der

Lichter an den in der Luft treibenden Staubpartikeln, die die Farbe von Reklamebeleuchtungen

anneh­men. Muß ein Architekt jedoch mit einer rasterförmig angelegten Stadt mit breiten Straßen arbeiten, sollten ausreichend Grünflä­chen über die Stadt verteilt werden, damit sich die Hitze in der Stadt gleichmäßig verteilen und sich nicht im Zentrum konzentrieren kann.

Wasser ist rar in Wüstenländern, und die Menschen der heiß-troc­kenen Regionen schätzten schon immer Wasser und versuchten es so lange wie möglich festzuhalten. Neben seiner erfrischenden Wir­kung im physikalischen Sinn, besaß es auch immer einen erfreuli­chen

psychologischen Effekt. Darüber hinaus ist Wasser notwen­dig, die Luftfeuchtigkeit zu erhöhen. Im arabischen Haus spielt der Brunnen eine ähnliche Rolle wie der Kamin in gemäßigten

Breiten, obgleich der eine der Kühlung, der andere zum Heizen dient. Der Brunnen wird somit 48


zu einem charakteristischen Merkmal des Hauses und nimmt in ihm einen privilegierten Platz ein.

BRUNNEN Ursprünglich stand der Brunnen inmitten des Innenhofes, umge­ben von sich zu ihm öffnenden Iwanat oder Wohnräumen. Er hatte immer eine symbolische Form, im Umriß quadratisch,

das innere Becken in Form eines Oktagons oder eines Hexadekagons. Aus den in den Ecken entstehenden Dreiecken werden Halbkreise ausge­schnitten, so daß das ganze Becken als

geometrische Projektion ei­ner Kuppel auf Bogenpfeilern ruhend, den Himmel symbolisierend erscheint. Somit wird der richtige Himmel durch die Wiedergabe des symbolischen

Himmels in Form des Wasserbeckens in engen Kontakt mit den Iwanat gebracht. Nach der

Weiterentwicklung des arabischen Hauses, verwandelte sich das Konzept des Innenhofes mit mehreren Iwanat in das Konzept der Qa‘a. Auch in dieser Anordnung ist der Brunnen in der

Mitte, sein Wasser spendend und mit Luft vermengend, um so die Luftfeuchtigkeit zu erhöhen.

SALSABIL In Bereichen, in denen nicht genug Druck erzeugt werden konnte, das Wasser durch den

Brunnerkopf speien zu lassen, ersetzten Architekten den Brunnen häufig durch einen Salsabil. Der Salsabil besteht aus einer Marmorplatte, dekoriert mit wogenden Mustern, die Wasser und Wind symbolisieren; sie ist gegenüber den Iwanat oder Sitzplätzen in einer Nische an

der Wand angebracht. Der Salsabil wird in einem Winkel aufgestellt, der es ermöglicht, daß

das Wasser über die Oberfläche tröpfeln kann und somit den Verdunstungsvor­gang erleichtert und die Feuchtigkeit der Luft erhöht. Das Wasser mündet in einen Marmorkanal, durch den es in den Brunnen in der Mitte des Dur-qa‘a gelangt. Der Salsabil kann als Verlagerung des

Brunnenkopfes außerhalb eines Brunnens interpretiert werden; dies ist ein Zeichen für geistige

Beweglichkeit, Freiheit und Erfin­dungsreichtum des Entwurfs. Es ermöglicht dem Architekten, sei­ne Kreativität und Empfindungsgabe beim Ausdruck seiner Gefüh­le durch die Architektur

einzusetzen. Sie sind der greifbare Beweis für Goethes Ausspruch: „Architektur ist gefrorene Musik“.

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Soheir Farid, Rami El Daha,

„islamische Architekur und die Arbeiten von Hassan Fathy“,

in: Arch+ Februar, übers.: Barbara Engel, Sabine Kraft, 1987, S. 67.

ISLAMISCHE ARCHITEKTUR UND DIE ARBEITEN VON HASSAN FATHY Seit 40 Jahren kämpft Hassan Fathy um angemessene Unterkünfte und eine würdige und

lebenswerte Umwelt für die Armen Ägyp­tens. Er versucht, die verlorene architektonische Identität des nord­afrikanischen Landes wieder zu beleben. Denn Ägypten leidet seit 200 Jahren an Überfremdung: ftihrende Kräfte wollten aus dem arabischen Staat einen „Teil

Europas“ machen. Die Häuser des frü­hen 19. Jahrhunderts sind Imitationen europäischer

Architektur­konzepte, deren Fassaden mit arabischen Details dekoriert wurden. Die Tradition der hochentwickelten ägyptischen Baukunst wird durch den europäischen Einfluß völlig ignoriert. Später, mit der rapiden Verstädterung um die Jahrhundertwen­de, mußte Wohnraum für sehr viele Menschen geschaffen werden. Private Unternehmer und die ägyptische Regierung

investierten in Wohnbauprojekte für die breiten Massen, individuelle Bedürfnisse mißachtend

und sie als bloße Quantitäten betrachtend. Hassan Fathy ist heute der Erste, der sich wieder auf

die alte, islamische Bautradition bezieht. An ägyptischen Hochschulen dagegen wird islamische Architektur nur noch als Stil, als Frage der Historie ge­lehrt. Islamische Architektur beinhaltet jedoch mehr: sie bietet auch heute lebendige und funktionierende Lösungen und Baufor­men - das zeigt die tiefgehende Untersuchung noch vorhandener Gebäude.

Es gibt verschiedene Bautypen islamischer Architektur, die Has­san Fathy in ihrer Substanz -

nicht als beliebiges Musterbuch - auf­gegriffen hat. Die Introversion der Häuser, ein Resultat des

Klimas dieser Region, unterscheidet die arabische Architektur grundsätz­lich von der westlichen. Der Innenhof, der unglücklicherweise aus modernen ägyptischen Häusern verschwunden ist,

charakterisiert das traditionelle Haus: er schirmt das Gebäude von der lauten und geschäftigen

Straße ab und er speichert die kühle Luft. Obwohl sich diese Innenhöfe in ihren Ausmaßen und

Proportionen unterschei­den, haben sie eins gemeinsam: sie geben dem Haus den Anstrich einer friedvollen und heiteren Ruhe.

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VERNAKULÄRE ARCHITEKTUR Die vernakuläre Architektur, vor allem Oberägyptens und der Oasen, zeigt mit vielen

Beispielen, wie sich die Menschen ihren eigenen Wohnraum schafften. Ohne Unterstützung durch Archi­tekten oder Regierungen bildete sich ihre Architektur. Sie ist gelei­tet durch

Tradition und die Lebensweise der Gemeinschaft - ange­fangen bei alltäglichen Bräuchen bis

hin zu Bauweisen. Diese Tra­dition wurde nicht durch die moderne Zivilisation beeinflußt, da über lange Jahre kaum eine Verbindung zwischen Kairo und diesen Regionen bestand. Die

Pläne dieser Häuser sind sehr einfach und wurden direkt an Ort und Stelle durch den Besitzer

entworfen. Er war der einzige, der seine Bedürfnisse, seine Lebensweise und seine Ansprüche

genau kannte. So wie in den Stadthäusern Alt-Kairos, ist auch hier der Innenhof das lebendige

Element des Hauses. In ihm wird gekocht, gegessen und sogar - in heißen Sommernächten - ge­ schlafen. Alle Räume des Hauses sind einfach um ihn herum ange­legt und zu ihm hin geöffnet. Die Bewohner dieser Region sind mit den traditionellen Bau­techniken vertraut. Um ihre

Häuser zu bauen, verwenden sie Lehm und Palmen - alles Materialien, die in ihrer Umwelt zu finden sind. Der Lehm wird mit Stroh angemengt und ein paar Tage zur Fer­mentierung

liegengelasssen. Diese leichte und feste Mischung kann dann weiter zu Lehmziegeln verarbeitet oder als Verputz­material verwendet werden. Aus den Palmstämmen werden die Dächer

gezimmert und mit den Palmwedeln gedeckt. Hierauf kommt noch eine Lage Lehm zur besseren Isolierung. In einigen Dörfern wird immer noch die alte Kuppel- und Gewölbetechnik an­

gewandt. Für ihre Konstruktion müssen die Lehm-Ziegel, die be­stimmte Abmessungen haben, mehr Stroh als gewöhnlich enthal­ten, damit sie leichter und stabiler sind. Ohne die Hilfe einer

Holz­schalung umreißt der Maurer die parabolische Form des (Ton­nen-) Gewölbes in Lehm auf die Giebelwand‘ des Raumes, die höher als die beiden Seitenwände gezogen wird. Dann legt er die Ziegel Stück für Stück an diese Wand. Nach fünf bis sechs Schichten formen sie einen geneigten, parabolischen Bogen, der an die Gie­belwand gelehnt und von den Seitenwänden gestützt ist. Dieser Bo­gen wird langsam vervollständigt, bis der ganze Raum bedeckt ist.

Lehmziegel-Kuppeln werden bei quadratischen Räumen ver­wandt. Die Wände des Raumes werden bis zu einer bestimmten Höhe errichtet; dann legt der Maurer die Ziegel in Runden

Schicht auf Schicht, bis die Kuppel geschlossen ist. Ein im Mittelpunkt der Kuppel drehbarer Richtstab ermöglicht es ihm, den jeweiligen Ab­stand der einzelnen Ziegelschichten zum

Mittelpunkt einzuhalten. Einige, durch ihre Bewohner erbauten Gemeinden zeichnen sich neben der architektonischen auch aus durch eine soziale Qualität:

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die Art und Weise, wie gemeinschaftlich und ohne Geld gebaut wird. So erzählt Hassan

Fathy immer wieder die Geschichte von Djenah, einem Dorfin der Oase von Kharga. Das alte Djenah wurde unter Flugsand begraben und daher erbauten die Bewohner ein neues Djenah, wohin auch alle zogen, bis auf einen alten Mann. Er weigerte sich sein Haus, an dem er sehr

hing, zu verlassen, obwohl nur noch zwei Räume bewohnbar waren. Hassan Fathy fragte den

Bürgermeister, was passieren werde, wenn das ganze Haus zuge­weht sei. Dieser beruhigte ihn damit, daß die Bewohner für den Alten bereits ein Haus in dem neuen Dorf errichtet hätten.

So etwas war nur in einem gemeinschaftlichen System möglich. Hassan Fathy sagt, daß ein Mann nicht in der Lage ist, ein Haus zu bauen, daß aber 10 Männer leicht 10 Häuser bauen können. Dieses Beispiel zeigt, daß ein Architekt, der für die Armen bauen will, die Vorteile gemeinschaftlicher Zusammenarbeit bedenken muß. Sie erlaubt die Lösung. individueller Probleme auf der Ebene der Gemein­schaft.

MODERNE TRADITION Eines der wichtigsten und erfolgreichsten Gebäude Hassan Fathys ist die Schule in Fares. Fares ist ein einsames, schwer zugängliches Dorf am Westufer des Nils. Als kein anderer

bereit war, diesen schwierigen Auftrag zu übernehmen, trat die Abteilung für Schul­bau im

Erziehungsministerium an Hassan Fathy heran. Er schlug vor, die Schule aus Lehmziegeln zu

errichten mit Hilfe der Bewoh­ner und der ortsansässigen Maurer, die die Technik der Kuppel­und Gewölbekonstruktionen beherrschten. Alles was er brauchte waren Gerüste und einige einfache Werkzeuge. Die Schule wurde dann mit zehn großzügigen Klassenräumen erbaut, die alle mit einem „Windfanger“ ausgestattet wurden. Des weiteren hatte die Schule eine Bibliothek, eine Mehrzweckhalle, eine kleine Moschee sowie ein Freilichttheater im Innenhof.

Zu Beginn lehnten die Bewohner die Idee ab, eine Schule aus Lehm zu bauen; sie wollten

eine aus Beton, wie die Schulen in den Städten. Als jedoch die Schule schließlich erbaut war,

waren sie sehr stolz auf sie. Einer der Lehrer, der auch an dieser Schule gelernt hat­te, erzählte uns, daß er sehr unglücklich darüber war, daß er seine Ausbildung an einer Vorschule in der

Stadt Komambo fortführen mußte. Er hatte die Atmosphäre dieser Schule genossen und auch die Temperaturunterschiede zwischen den neuen Beton-Klassen­zimmern und den alten, aus Lehmziegeln erbauten und mit „Wind­fängern“ ausgestatteten Klassenzimmern festgestellt.

Die Schule in Fares war ein Beweis für die Durchführbarkeit des gemeinschaftli­chen Bauens

als einer Alternative zudem Unternehmer-System für ländliches Bauen in Ägypten. In Gourna am Westufer des Nils ge­genüber von Luxor, erhielt Hassan Fathy den Auftrag, ein neues Dorf zu planen. Dieses Dorf war zur Wiederansiedlung der Men­schen gedacht, die inmitten der 52


antiken Grabstätten lebten. In sei­ner Herangehensweise setzte er sich von den Architekten ab, die behaupten, daß eine bäuerliche Gemeinde einer professionellen Betrachtung nicht wert

sei. Hassan Fathy sagt immer, daß ein Ar­chitekt ein fürstliches Haus nur so planen kann, als wäre er der Fürst, und ein Bauernhaus nur so, als wäre er der Bauer. Für Hassan Fathy war

das Gourna-Projekt der erste Versuch, ästhetische Quali­täten in der ländlichen Gemeinschaft

wieder aufleben zu lassen. Der Grundriß des neuen Dorfes bestand aus vier Hauptvierteln. Diese Viertel entstanden mit Rücksicht auf den physischen Unter­schied zwischen den Volksstämmen, die die Bevölkerung von Alt­Gourna ausmachten. Die Viertel werden durch recht große Straßen getrennt, die alle .zu dem zentralen Platz führen. Um den Platz her­um gruppieren sich die

Moschee, die Dorfhalle und die meisten öffentlichen Gebäude. Die Schulen und der Marktplatz befinden sich an den jeweiligen Enden des Dorfes. Von den Hauptstraßen ge­langt man in

kleinere Straßen, die zu halb-öffentlichen Wohnplät­zen führen. Diese Plätze werden von einer

Anzahl Häuser um­schlossen, in der Regel von verwandten Familien bewohnt. Jedes Haus wurde individuell entworfen, damit die Familie die gleiche Fläche und die gleiche Anzahl Räume

erhielt wie vormals in Alt­Gourna. Hinzugefügt wurden Annehmlichkeiten, die in ihren alten

Häusern fehlten. Hassan Fathy bereicherte die Pläne dadurch, daß er sie mit einigen traditionell städtischen Elementen versah. Er ver­arbeitete z. B. das Konzept der Qa‘a arabischer Häuser in seinem Entwurf.

Das zweite große Projekt nach Gourna war der Entwurf eines neuen Dorfes in Bariz in

der Oase Kharga. Einer der interessante­sten Aspekte dieses Projektes liegt im Prozeß der

Besiedlung und im gemeinschaftlichen System beim Wohnviertelbau. Hassan Fathy vertrat den Standpunkt, der beste Weg zukünftige Bewohner anzuwerben, sei der, Familiengruppen aus

überbevölkerten Dör­fern zu nehmen, die nach Altersverteilung und Berufen ausgegli­chen sind.

Auf diese Weise bliebe ihre Bindung an die Gemein­schaft in ihrem neuen Dorf erhalten und sie könnten sich weiterhin auf ihre gemeinschaftlichen Leistungen verlassen. Um dieses Kon­zept wirkungsvoll in die Tat umzusetzen, entwickelte Hassan Fathy sogar ein Verwaltungssystem und ein Schulungsprogramm. Un­glücklicherweise mußte das Projekt wegen mangelnder

finanzieller Mittel eingestellt werden, bevor die Wohnviertel begonnen wur­den. Trotzdem,

die öffentlichen Gebäude, die gebaut wurden, ins­besondere der Marktplatz, zeigten deutlich,

daß das, was zu Zeiten der Pharaos funktionierte, auch heute noch funktioniert, und daß diese Architektur am geeignetsten für eine Wüstenumgebung ist, in der die Temperaturen über 48°

C im Schatten steigen. Der Markt­platz, wie die anderen Gebäude in Lehm gebaut, wurde mit einer Reihe von Doppelgewölben überdacht zum besseren Schutz vor der Hitze. Über den

Lagerräumen wurden hohe überwölbte nach Norden orientierte Windfänger errichtet, um die

kühle Luft ins Erd­geschoß hinunterzubringen. Dadurch konnte die Temperatur um mehr als 17° C reduziert werden. Hassan Fathy wandte beim Bariz­ Projekt die moderne Wissenschaft der

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Bodenmechanik und des Bo­denaufbaues auf Lehm als Baumaterial an. Mehr noch, er benutzte diese Wissenschaft auf eine sehr kluge und verfeinerte Art. Dieses Projekt kann also als der Höhepunkt seiner Erd-Architektur be­zeichnet werden. In ihm vollendet er, was er 20 Jahre früher in Gourna begann.

Ungeachtet der Ignoranz seitens der Bauindustrie und der Regie­rung baute Hassan Fathy

weiter und verbreitete seine Ideen und Theorien innerhalb und außerhalb Ägyptens. 1980

wurde er beauf­tragt, für eine amerikanische moslemische Gemeinschaft in Neu­ Mexico „Dar

Al Islam“, ein Erziehungszentrum, zu entwerfen. Im September desselben Jahres besuchte er mit zwei Maurermeistern aus Assuan das Baugelände. Zum ersten Mal in den USA zeigte er, wie Gewölbe und Kuppeln ohne Hilfe einer Holzschalung zu bauen sind. Er begann dieses

wichtige Projekt mit dem Bau einer kleinen Moschee. Zu diesem Projekt soll eventuell noch

ein Handwerks­zentrum, Schulen, Wohnviertel sowie eine große Moschee hinzu­kommen. Das Projekt wird von ortsansässigen Maurern vollendet, die in einem Workshop vor Ort geschult

wurden. Hassan Fathy bau­te auch viele Privathäuser für einzelne Familien: Auch hier respek­ tierte er das Wesen und die Konzepte arabischer Architektur, und jedes einzelne Haus besitzt einen eigenen Charakter. Das früheste dieser Häuser wurde 1945 für einen Künstler, Hamed Said, in Lehm erbaut. Das Haus wurde in U-Form um die Palmen herumgebaut, um zu

vermeiden, daß auch nur eine gefällt werden mußte. Andere Häuser, so die von Fouad Riad und

Mit Rihan, sind aus Stein. Zur Konstruktion der Gewölbe und Kuppeln wird der Stein in densel­ ben Maßen wie die Lehmziegel geschnitten. Ein anderes Haus, das von Akil Sami, wurde mit

rotgebrannten Ziegeln auf Lehm-Mörtel gedeckt. Anschließend wurde es innen und außen weiß gekälkt.

Hassan Fathy ist in einem ganz besonderen Sinn von der westli­chen Architektur beeinflußt. Das

folgende Zitat ist seinem Buch „Architecture for the Poor“ entnommen: „Es wäre ungeheuerlich von einem Architekten, dessen Phantasie vom Liebreiz Siennas oder Veronas oder der

„Cathedral Close of We1ls“ bereichert wurde, seine Arbeit schludrig zu verrichten und seine

Klienten mit weniger abzuspeisen als der schönsten Architektur, die er schaffen kann.“ Hassan Fathy baut nicht viel, doch er legt in seine Arbeiten eine in­tensive aber bescheidene Liebe und Hingabe. Das Ergebnis ist in der Tat beeindruckend.

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Max Gschwend,

Bauernhäuser der Schweiz. Handwerker-Architektur,

1. Auflage, Schweizer Baudokumentation, 1988, S.15.

Zweifellos haben in früherer Zeit bei uns jene Menschen, die später das Haus bewohnten,

dieses auch selbst gebaut. Seit dem hohen Mittelalter betätigten sich jedoch auf dem Lande

begabte Männer mit dem Bau von Häu­sern. Stets aber war ihre handwerkliche Tätig­keit nicht

ihr Hauptberuf. Dies wurde für ein­zelne Handwerkerfamilien erst etwa seit dem 17. Jahrhundert der Fall. Auf dem Lande woh­nend, betrieben sie nebenher ihre ange­stammte Landwirtschaft. So waren sie eng verbunden mit ihren Dorfgenossen, bestens vertraut mit den raummässigen

und wirt­schaftlichen Bedürfnissen und eingebettet in die traditionelle, überlieferte Kultur. Sie hatten kaum je eine eigentliche handwerkliche Be­rufslehre durchlaufen, wie dies im späten Mit­telalter und in der beginnenden Neuzeit für die städtischen Handwerker in ihrer zünfti­

schen Organisation vorgeschrieben war. Landhandwerker übermittelten ihre Erfahrun­gen und ihre Kenntnisse meist vom Vater auf den Sohn. Berechnungen oder Pläne benutz­ten sie nicht. Aus Überlieferung wussten sie, wie dick oder wie lang ein Balken sein muss­te. Hier darf

eingeflochten werden, dass genaue Messungen ergeben haben, dass diese Erfahrungswerte ziemlich gut mit den heutigen statischen Berechnungen über­einstimmen.

Neuere Forschungen haben ganze Dynastien von solchen Familien bekannt gemacht. Insbe­

sondere Zimmerleute, unter denen es wahre Künstler gab, legten ihren Stolz darein, sich zu­ sammen mit dem Bauherrn in Schriftbändern zu verewigen und der Nachwelt mitzuteilen,

wer diesen prächtigen Bau erstellt hatte. Nicht selten waren sie auch ausserhalb ihres engeren Wohngebiets tätig. Manchmal zog sogar ein junger Geselle weit von der Heimat weg und

brachte bei seiner Rückkehr viele Anregungen oder Neuerungen mit, die er mit erstaunlichem Können in den heimischen Bauformen integrierte.

Aus Erfahrung hatte man gelernt, das für ei­nen bestimmten Zweck am besten geeignete Holz im Wald auszuwählen. Sorgsam beach­tete man die alten Regeln für die günstigste Schlagzeit der Bäume, bevor der Saft im Stamm wieder aufzusteigen begann. Es ist er­staunlich, mit

welch gutem Blick die früheren Handwerker einem Holzstück ansahen, wo man es mit Vorteil einsetzen konnte.

Ein selbstverständliches Gefühl für eine gute Form und für saubere, bewährte Proportionen gab

den Landhandwerkern die Möglichkeit, Bauten zu errichten, die uns durch ihre Ausge­wogenheit 55


und Zweckmässigkeit heute noch beeindrucken. Gleichzeitig aber konnten sie ihre Phantasie

spielen lassen, indem sie Zier­formen anbrachten, die das Haus aus den um­gebenden Häusern heraushoben und das Bedürfnis des Bauherrn nach Repräsentation befriedigten. Man spürt

oftmals wirklich, wenn man vor einem solchen Haus steht, mit welchem Können, aber auch mit welcher Lie­be zur Sache der Handwerker an seine Arbeit gegangen war.

Beim Aufrichten eines grossen Hauses im Mittelland beteiligten sich neben den eigentli­chen Handwerkern auch 30-50 Männer aus dem Dorf. Diese Nachbarschaftshilfe wurde meist

gegen Essen und Trinken geleistet. Je­der machte mit, denn ein andermal kam sie ihm wieder zugute. Die Handwerker leiteten den ganzen Aufbau und besorgten die heikel­sten Arbeiten

selbst. Durch ihre Mithilfe lern­ten die Bauern, wie man dies oder jenes ma­chen musste, und

merkten sich manchen Kunstgriff. So waren sie später in der Lage, selbst kleinere Reparaturen

auszuführen und bescheidene oder behelfsmässige Bauten zu erstellen. Ohne Übertreibung kann man festhalten, dass in unserem Land, mit Ausnahme von klei­neren Nebenbauten, die heute

noch vorhan­denen typischen Wohn- und Wirtschaftsbau­ten von Handwerkern errichtet wurden. Es handelt sich demnach beim historischen länd­lichen Baubestand um eine ausgesprochene

Landhandwerker-Architektur, je nach Region in mehr oder weniger hervorragender Form. Da

wir häufig den Zimmermann oder den Mei­ster kennen, darf man auch nicht von der oft zitierten «anonymen» Architektur sprechen. Dies steht im Gegensatz zu vielen Gebieten in Osteuropa,

wo heute noch die Bauern sogar Wohnhäuser selber bauen. Dort werden sie auch etwa bemalt, und die Bäuerinnen, von denen die hübschen Kunstwerke stammen, wetteifern, wer auf den

weissen Verputz die schönsten Blumen und elegantesten Ornamente malen kann. So etwas war

möglicherweise bei uns vor vielen hundert Jahren auch vorhanden, leider fehlen uns die Belege dafür.

56


Dominic Marti,

„Archaische Formen“,

in: Tec 21 Nr. 36, 3. September, 2007, S. 18.

An der Wand hinter Antoine Predocks Arbeitstisch hängen zwei grosse Schwarzweissfotos

von Chaco Canyon und Pueblo Bonito, Bauten der Ana­sazi-Indianer aus der Hochblüte ihrer

Kultur zwischen 850 und 1150. Es ist diese Architektur, die auf sein Schaffen grossen Einfluss ausübt und auf die er seine Arbeiten bezieht. Predock ist Träger zahlreicher renom­mierter

Auszeichnungen und erhält diesen Herbst den Design-Award 2007 des Smithsonian CooperHewitt National Museum.

Predocks zeitgenössische Werke weisen den Bauten der Anasazi-Indianer ähnliche

architektonische «DNA-Spuren» auf. Es sind archaische Formen, die die Erd­kruste durchstossen - Bauwerk und Landschaft verschmelzen dabei zu einer Einheit: schlichte, fensterlose

Gebäudeformen, die als Teil der Landschaft wahrgenommen wer­den. Predock arbeitet mit

nackten Materialien, die der Kargheit der Landschaft entspre­chen. Seine Bauten integrieren

sich in einen Kontext, sind aber als eigenständige, moderne Zeichen lesbar. Sie sind mit der

Tradition und dem Wesen des Ortes verbunden. Predock: «Die Grundlage meiner Entwürfe ist

immer der Ort, der Ausdruck des Geistes eines Ortes. Hinter diesem universalen Anspruch steht die Frage nach dem Wesentlichen, dem Tief­gründigen, Unsichtbaren.»

Zwanzig Jahre baute Predock in der Landschaft, die seine Heimat geworden war, im Süd­westen der USA. Seine Bauten dort sind dem Wüstenklima angepasst, sie gelten als gute Beispiele

eines zeitgenössischen Regionalismus. Sein Hauptbüro ist in Albuquerque an der Route 66, weitere Ateliers befinden sich in Los Angeles und Taiwan. Seit Mitte der 1980er-Jahre ist

Predock über den regionalen Rahmen hinausgewachsen, Projekte in Florida, Texas, Taiwan, Minnesota, Wyoming, Winnipeg, Los Angeles, Paris, Kopenhagen, Sevilla, San Diego und Agadir liegen auf den Tischen.

WER IN DER WÜSTE BAUT, MUSS WISSEN, WOHER DER WIND WEHT 1936 geboren in einer Kleinstadt in Missouri, zog Predock Mitte der 1950er-Jahre nach Al­

buquerque zum Studium an der UNM University of New Mexico. Sein Lehrer Don Schlegel 57


erkannte bald seine Begabung zum Zeichnen. Nach dem Diplom und Arbeiten in Architek­ turbüros in Texas realisierte Predock seinen Erstling, die Wohnsiedlung La Luz (Bilder 1-

3) am Stadtrand von Albuquerque an den Ufern des Rio Grande (1967-74). Lehmziegel zu

Blocksteinen geformt und luftgetrocknet (Adobe), so bauten bereits die Pueblo-Indianer und

die Spanier. La Luz ist alt und zugleich neu. Predock hat der Lehmarchitektur ihren Platz in der

Modernen Architektur geschaffen. Dicke Mauern schützen vor glühender Ta­geshitze und geben die im Lehm gespeicherte Wärme in den kühlen Nächten an die Räume ab. «Wer in der Wüste baut, muss wissen, woher der Wind weht.» (Predock)

Nach Südwesten, der Richtung, aus der die jährlichen Sandstürme kommen, zeigen sich nur fensterlose Mauern. Mit äusserster Sorgfalt ist die Mauer bearbeitet. Sie ist das schützende

Element, wächst tief aus dem Erdinnern zum Himmel, trennt Licht von Schat­ten, verbindet Himmel und Erde. Die Farben der Wände stehen im Einklang mit der Wüs­tenlandschaft.

Antoine Predock: «New Mexico hat mein Denken, meine Entwürfe geprägt, New Mexico ist eine Herausforderung, die ich angenommen habe, New Mexico ist eine Schule, die mich die

richtige Verhaltensweise gelehrt hat; diese Erfahrungen haben auch anderswo ihre Gültigkeit.»

BEWUSSTERE WAHRNEHMUNG UNERWARTETER RÄUME Der Mythos der Goldenen Städte von Cibola, in New Mexico vermutet, bewahrte die India­ner New Mexicos vor grösseren Massakern. Etwas von diesem Mythos lebt weiter im Werk von Antoine Predock: die geheime Öffnung, durch die Energie des Kosmos in die mensch­liche, kulturelle Manifestation strömt (Campbell). Der Zugang zum Raum will entdeckt werden.

Predocks Bauten offenbaren sich nicht auf den ersten Blick. Wo geht es hinein, wie komme ich

wieder heraus? Der Betrachter wird verführt zum bewussten Wahrnehmen unerwarteter Räume. Zur bewussten Wahrnehmung gehört auch eine gewisse Desorientierung. Der Weg führt

durch Schleusen, an jeder Schleuse gibt der Besucher ein Stück Erinnerung ab an den Lärm, an die Gluthitze. Das grelle Licht wird gebrochen, filtriert. Der Besucher wird erfasst vom geheimnisvollen Innenraum mit seinem Wechselspiel von Licht und Schatten - ein Kino-

Effekt. Architektur erfahren ist eine physische und intellektuelle «Reise» - ins Uner­wartete.

Die Choreografie muss stimmen wie bei Tanz und Ballet (während seiner Studien­zeit hatte sich Predock intensiv mit Tanz und Ballet, mit der Bewegung des Körpers im Raum befasst). Der Bewegungsablauf bringt ständigen Wechsel der Gegensätze: Span­nung - Entspannung, Licht - Schatten, wechselnde Raumhöhen.

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BAUEN MIT PHANTASIE UND DISZIPLIN Nebst dem musischen Talent verfügt Antoine Predock über die Doppelbegabung Phantasie und Disziplin. Phantasievoll und zugleich diszipliniert ist sein erster grösserer Bau - ein

Auftrag aus einem Wettbewerb -, das Nelson Fine Arts Museum (1989, Bild 4): ein kühner Bau, dynamisch. Der Besucher wird auf eine Entdeckungsreise geführt, langsam wandert

das Auge vom Licht ins Dunkel. Der Bau auf dem Universitätsgelände beinhaltet ein Kunst­ museum, eine Schauspielschule, ein Tanzstudio, ein Theater und mehrere Skulpturen­gärten.

Wesensverwandt und doch anders: das Spencer Theater for the Performing Arts, auf einer Mesa (Tafelberg) in der Wüste von New Mexico geLegen (Bilder 5 und 6). Lage und Form sind

abgeleitet vom majestätischen Bergmassiv der Sierra Blanca: ein weisser Bau­körper (Kalkstein), der die Erdkruste durchdrungen hat, um dem Berg die Reverenz zu erweisen. Im Innern des

Theaters, im Foyer, schweift der Blick weit über die Mesa. Überraschend ist der Zugang zum Besucherzentrum im Rio-Grande-Naturreservat (Bilder 7 und 8). Durch einen langen Tunnel

betreten die Besucher das Naturreservat und finden sich am Ausgang in der üppigen Natur des Rio-Grande-Ufers wieder. Eine akustisch gelun­gene Ergänzung ist die Übertragung der vielen Vogelstimmen in den Raum der Beobach­tungsstation (1982).

In den Wohnhäusern Lazarus und Shadow House zeigt sich die Fähigkeit zur Abstraktion. Beide Bauten gehen weit über das übliche Adobe-Haus hinaus. Der Raum ist fliessend, die Übergänge sind rund, es gibt keine spitzen Kanten und rechten Winkel. «Lazarus» ist ein Zeichen in der Wüste.

Ebenso durch ein klares Zeichen gut sichtbar ist die Mesa Pub/ic Library (inneres Titelbild) an der Kante der Mesa (1994). Sie besteht aus Bibliothek, Lesesälen, Büchermagazin und Verwaltung. Der Bau wählt einen Mittelweg zwischen einer abstrakten Skulptur und der stilistischen Anpassung an die Umgebung der Forschungsstation Los Alamos.

In diesen Tagen wird Predocks neustes Werk, die Architekturschule von New Mexico, ein­

geweiht: Die New School of Architecture and Planning UNM ist ein gemeinsames Werk von Antoine Predock und Jon Anderson. Der Bau will den Studierenden das Potenzial vermit­

teln, das in guter Architektur und Raumgestaltung liegt, er soll Lehrstück sein für wer­dende

Architekten, Ansporn, es noch besser machen zu wollen. Die UNM ist landesweit die einzige Architekturschule direkt an der legendären Route 66.

59


IDENTIFIKATION MIT DEM ORT Letztes Jahr durfte Predock für sein Gesamtwerk den AIA Gold Medal Award entgegenneh­ men, und In diesem Herbst wird er anlässlich der National-Design-Woche auch den Preis

des Smithsonian Cooper-Hewitt National Design Museum erhalten. 1980 bereits hatte die

Zeitschrift «Forbes» Antoine Predock als einen der Erneurer der amerikanischen Architek­

tur aufgeführt, mit ihm damals I. M Pei, Philip Johnson, Ezra Ehrenkranz, Bennie Gonzales, Charles Moore, John Rauch, Oenise Scott Brown und Robert Venturi. Robert Venturi über

seinen Kollegen Predock: «Es ist genial und zeugt von grosser Kunst, wie Antoine sich mit dem Ort, wo er baut, identifiziert. Diese Qualität macht ihn zur Weltklasse.»

Das Werk von Antoine Predock passt in kein Schema und keine Schule. Er ist Einzelgänger, ohne Paten und Sponsoren. Gerade diese Stellung macht ihn in Amerika so populär. Dem

Betrachter in Europa sind wohl das Hotel Santa Fe bei Paris, das Projekt für den Amerika­

nischen Pavillon an der Weltausstellung in Sevilla oder jenes für das Dänische Nationalar­chiv bekannt - im Übrigen muss ihn Europa aber noch entdecken. Dominic Marti, dipl. Arch. ETH/SIA, damar@muri-be.ch Literatur:

Antaine Predack: Architect (val. 4). Hg.: Brad Callins. 256 S. Rizzali, 2006. ISBN 13978-

0-B478-2849-4. Online-Zeitschrift Architectural Recard, Ausgabe 6/2006, http://archrecord. constructian.com/features/ aiaAwards/06gold.asp

60


Dennis Meadows,

Die Grenzen des Wachstums, Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Technologie und die Grenzen des Wachstums,

Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1972, S.116-120.�

„Zu welchem Endziel führt der technische Fortschritt die Menschheit? In welchem Zustand wird sie sich befinden, wenn der Prozeß zu Ende ist?“ John Stuart Mill, 1857

Die Geschichte der Menschheit kennt viele Fälle fehlerhaften Verhaltens bei dem Versuch, im

Rahmen der naturgegebenen Grenzen zu leben. Dennoch ist heute der Erfolg beim Überwinden gesetzter Grenzen traditionelles kulturelles Leitziel vieler führen­der Persönlichkeiten. Während der letzten drei Jahrhunderte war der Mensch erfolgreich bemüht, serienweise durch technische Neuerungen die ehemals dem Wachstum von Bevölkerung und Wirtschaft gesetzten Grenzen

zu durchbrechen. Ein großer Teil der Menschheit hatte so in der jüngsten Geschichte beständig Erfolge errungen, daß es nur natürlich scheint, wenn viele erwar­ten, daß der technologische Fortschritt die Grenzen bis ins Unendliche ausdehnen werde. Diese Leute blicken mit unerschüt­terlichem Vertrauen auf die Technik in die Zukunft:

»Wir sehen keine Grenzen, weder in der Beschaffung von Roh­stoffen noch in der

Energieerzeugung, die nicht durch Verände­rungen der Preisstruktur, durch Ersatzmaterialien, technischen Fortschritt und Kontrollmaßnahmen der Umweltverschmutzung überwunden

werden könnten. Bei der gegebenen Kapazität der Erde, Nahrungsmittel zu erzeu­gen, und

der Möglichkeit, zusätzliche Nährstoffe durch stärkeres Heranziehen moderner technischer

Methoden bereitzustellen, be­sitzt die menschliche Rasse eindeutig die Fähigkeit, den Hunger von der Erde in einem oder in zwei Jahrzehnten zu verbannen. Die menschliche Fähigkeit, reiche und unausschöpfliche Energie­quellen zu beherrschen und noch weit mehr mit einer geringeren Beanspruchung des Wassers, der Luft und mit den Mitteln der Raumfahrt zu erreichen, haben erwiesen, daß die Lehre von Malthus falsch war. Weitreichender

physikalischer und wirt­schaftlicher Fortschritt kann nun innerhalb eines Vierteljahrhun­derts erreicht werden.

Lassen sich diese Äußerungen mit den aufgezeigten Grenzen des Wachstums in Einklang

bringen? Können neue technische Ent­wicklungen die Tendenz unseres Weltsystems, bis zum 61


Zusam­menbruch weiterzuwachsen, verändern? Ehe man derartigen opti­mistischen Ansichten über eine Zukunft auf der Grundlage techni­scher Lösungen entstehende Probleme zustimmt oder sie ablehnt, sollte man Genaueres über die globale Wirkung neuer technologischer

Entwicklungen über kürzere und längere Zeitab­stände und über jeden der grundlegenden Faktoren im System aus Bevölkerung und Kapital wissen.

TECHNOLOGIE IM WELTMODELL In unserem Weltmodell gibt es keine variable Größe Technik oder Technologie. Wir sahen keine Möglichkeit, die dynamischen Wirkungen technologischer Entwicklungen generell

zu formulie­ren und festzulegen, da die verschiedenen Entwicklungen in sehr verschiedenen Sektoren des Modells entstehen und auch sehr verschiedenartig wirken.

Technologische Entwicklungen sind die Anti-Baby-Pille, beson­ders-ertragreiche Feldfrüchte, das Farbfernsehen und Erdölbohr­türme in tiefen Küstengewässern. Sie alle verändern in verschieden­artiger Form das Verhalten des Weltmodells. Deshalb mußte jede technisch

mögliche Entwicklung gesondert in das Modell aufge­nommen werden, wobei sehr sorgfältig abzuwägen war, wie sie die getroffenen und sich ergebenden Annahmen beeinflussen

können. Wir veranschaulichen diese Vorgänge anhand einiger Beispiele für weltweite Langzeitwirkungen.

ENERGIE UND ROHSTOFFE Die Technik der Energiefreisetzung durch gesteuerte Kernspal­tung hat bereits die Grenzen, die durch die beschränkten Vorräte an natürlichen Brennstoffen gesetzt sind, erweitert. Es

ist auch möglich, daß die Entwicklung Schneller Brüter und vielleicht sogar von FusionsKernkraftwerken die Nutzungsdauer spaltba­rer Substanzen wie etwa Uran beträchtlich erhöht. Bedeutet das nun, daß der Mensch reiche und unerschöpfliche Energiequellen

beherrscht? Welche Auswirkung hat die ständig zunehmende Nutzung von Kernenergie auf die Rohstoffvorräte?

Einige Experten sind der Ansicht, große Energiemengen würden es ermöglichen, bisher nicht zugängliche Rohstoffe zu entdecken und nutzbar zu machen, zum Beispiel Materialien vom

Grund der Ozeane, magere Erze, sogar normales Gestein zu verarbeiten und aus dem Abfall die Metalle zurückzugewinnen. Dieser Glaube ist zwar weit verbreitet, aber keineswegs allgemein anerkannt, wie die Ausführungen des Geologen Thomas Lovering darlegen: 62


»Billige Energie würde faktisch die Unkosten bei der Rohstoffge­winnung aus Gestein kaum senken. Die enormen Mengen un­brauchbaren Abfalls, die pro Einheit Metall aus normalem Granit gewonnen werden (bestenfalls 2000 Einheiten Abfall auf 1 Einheit Metall), sind im

Planungsbüro theoretisch leichter zu beseitigen als im Gelände. Zur Metallgewinnung muß der Fels abgesprengt werden, man muß ihn brechen und mahlen und mit speziellen chemischen

Lösungsmitteln für die Metalle flotieren. Vorkehrun­gen müssen getroffen werden, damit von den Lösungsmitteln nichts verlorengeht und Grund- wie Oberflächenwasser nicht verseucht

werden. Kernenergie kann diese Maßnahmen nicht er­leichtern. Wir wollen jedoch annehmen, daß die Optimisten unter den Technologen recht haben und die Kernenergie die Rohstoffpro­

bleme auf dieser Erde lösen kann. Das Ergebnis dieser Annahme zeigt Abbildung 37. Wie bei Abbildung 36 haben wir die Menge der zur Verfügung stehenden Rohstoffe verdoppelt und

die Nut­zung von wenig ergiebigen Erzen und den Abbau des Meeresbo­dens berücksichtigt. Außerdem haben wir die Annahme getroffen, ab 1975 führe die Wiedergewinnung von Rohstoffen aus Abfällen.

Um das Problem der zur Neige gehenden Rohstoffvorräte auszuschalten, wurde im Weltmodell simuliert, daß erstens mit Hilfe der Kernenergie vorhandene Vorräte doppelt so gut ausgenutzt

würden und daß zweitens mit Hilfe der Kernenergie die Wiederverwendung und Ersetzung der Rohstoffe möglich würden. Wenn in diesem System nur diese Veränderungen vorgenommen werden, wird das Bevölkerungs­wachstum durch steigende Umweltverschmutzung gestoppt

(siehe Abb. 36). dazu, daß man pro Einheit an Industrieprodukten nur noch ein Viertel der aus Lagerstätten gewonnenen Rohstoffmengen benö­tige. Diese beiden Annahmen sind sehr viel optimistischer, als sie der Wirklichkeit entsprechen.

Es kommt jetzt zu keiner Rohstoffverknappung mehr. Das Wachstum wird wie in Abbildung 36

durch eine recht plötzlich einsetzende Umweltverschmutzung gestoppt. Infolge der im Über­fluß vorrätigen Rohstoffmengen steigt die Produktion der Indu­strie und an Nahrungsmitteln sowie der Grad der Dienstleistun­gen zunächst etwas weiter als in Abbildung 36. Die Bevölkerung

erreicht etwa dieselbe Maximalhöhe, aber fällt rascher und weiter ab: Die Katastrophe tritt noch verschärft auf.

Rohstoffe in unbeschränkten Mengen sind offensichtlich nicht geeignet, das Wachstum

im System unserer Erde auf­rechtzuerhalten. Sie stimulieren zunächst die wirtschaftliche

Ent­wicklung, müssen aber mit Maßnahmen zur Verhinderung der Umweltverschmutzung kombiniert werden, wenn sie nicht zu einem Bevölkerungskollaps führen sollen.

63


Karl H. Metz,

Ursprünge der Zukunft, die Geschichte der Technik in der westlichen Zivilisation. Perspektiven: Nachhaltigkeit als technologisches Prinzip,

Paderborn: Ferdinand Schöningh GmbH &Co, 2006, S. 501-516.

DAS ENDE DES FOSSILEN ZEITALTERS Arbeit ist die materielle Dynamik des sozialen Daseins, die aus Stoffen für den Menschen

nutzbare Güter entstehen lässt. Je ungleichmäßiger dabei der Zugriff auf die energetischen Ressourcen ist, desto ausgeprägter ist das Hie­rarchiegefälle einer Gesellschaft. Weltbilder

entstehen daher im Kontext der Energiebedingungen. Der Zyklus als kosmologisches Bild deutet die Ener­giesituation von Kulturen mit langsamem Wachstum auf der Basis regene­

rativer Energien, so wie der Begriff des Fortschritts als anthropozentrischer Geste erst mit der Industrialisierung der Energie inhaltlich geworden ist. Die Industrialisierung erzeugt Energie

nicht nur massenweise, sie macht sie auch mobil durch ein Netzwerk der Verteilung, durch die Umwandlung der Energieformen. Denn der zweifache Knoten einer zyklischen Energienut­ zung bestand in der generellen Begrenztheit wie schwankenden Verfügbar­keit von Energie

ebenso wie in der äußersten Schwierigkeit, sie zu transpor­tieren. Die Knappheit an Energie

war daher für die Alte Gesellschaft ebenso kennzeichnend wie die an Nahrungsmitteln: Die drehbare Finalität fossiler Brennstoffe hingegen sprengte den Zyklus: ein BewusstseinsEreignis nicht minder als eines der materiellen Bedingungen.

Doch diese Drehbarkeit, d.h. die Substituierbarkeit zu Ende gehender Res­sourcen, beseitigte nicht das Problem endlicher Erschöpfbarkeit nicht er­neuerbarer Stoffe. Es ist bezeichnend, dass seit der zunehmenden Nutzung der Kohle als Energieträger ständig Bedenken laut wurden, die verfügbaren Lagerstätten könnten in absehbarer Zeit erschöpft sein. Im

Gegensatz zur lange beherrschenden alchimistischen Auffassung, wonach Mineralien und

Metalle nachwachsen würden, zeigte die Erfahrung des Bergbaus, dass Mi­neralien Vorräten vergleichbar waren, die durch Nutzung aufgebraucht wur­den. Nicht zufällig wurden solche

Warnungen zuerst in Großbritannien ge­äußert, wo die Kohle erstmals zu einer wesentlichen

Energiequelle geworden war. So mahnte bereits 1789 der schottische Geologe John Williams, ein zu rascher Abbau dieser endlichen Ressourcen bedrohe das Land mit wirt­schaftlichem 64


Kollaps. Doch erst in den 1830er Jahren gewann das Argument öffentliche Aufmerksamkeit, als sich das Industriesystem durch zu setzen be­gann. Das System verzehrte sozusagen in seinem Wachstum zugleich seine Voraussetzungen. Der englische Nationalökonom W.S. Jevons zog 1865 daraus die Konse­quenz, dass die industrielle Zivilisation lediglich eine

kurze Zwischenphase der menschlichen Kulturgeschichte darstellte. Es gebe „Grenzen des

Wachs­tums«, die zwar verschiebbar, nicht aber überwindbar seien. Der Verzicht Kohleexporte und der Import von Energie, Verbesserungen des Wir­kungsgrades und vor allem eine

Erhöhung des Energiepreises konnten hilf­reich sein. Allerdings wies Jevons am Beispiel der

Dampfmaschinen nach, dass die verbesserten Wirkungsgraden die Nachfrage nach Dampfkraft ge­stiegen war und also der Gesamtverbrauch an Kohle. Alternativen sah er nicht, hielt er doch das Erdöl als eben entdeckte Ressource für noch begrenz­ter als die Kohle. Eine Ersetzung der Kohle durch den nachwachsenden Roh­stoff Holz war unmöglich, da bereits zu seiner Zeit

hierfür das Zweieinhalb­fache der ganzen Landfläche Großbritanniens nötig gewesen wäre.

Am Ende des Fortschritts drohte der Absturz, denn weder die rapide gewachsene Be­völkerung noch der rapide gewachsene Lebensstandard waren ohne mas­senhaften Verbrauch fossiler Energie zu erhalten.

Für die liberale Wirtschaftslehre bedeutete dies eine Provokation, da hier das regulierende Spiel der Marktkräfte zu versagen schien, wenn es nicht gar den Absturz noch beschleunigte. Doch eine durch die Elektrizität er­möglichte neuerliche Nutzung der Wasserkraft, die Erschließung immer grö­ßerer Erdölvorräte in nahezu allen Weltteilen, die Atomenergie schließlich als

Vision »endloser« Energie realisierten den technologischen Optimismus für ein weiteres Jahrhundert, an dessen Ende erneut die Frage nach den Grenzen des Wachstums linearer Energiegesellschaften steht.

Zwei Antworten sind verfügbar und zwei Weltbilder. Die eine, wie sie et­wa von dem Kernphysiker Edward Teller gegeben worden ist (1979), setzt auf eine Vielfalt der

Energieträger, von der Kohle über Kernenergie bis zur Kernfusion, mit den regenerativen

Energiequellen als unwesentlichen Er­gänzungen. Die Sicherung der industriellen Zivilisation in ihrer politischen Gestalt einer kapitalistischen Demokratie gilt dabei als Ziel.

Die andere Antwort, wie sie z.B. von E.F. Schumacher im selben Jahr vor­getragen wurde, fordert hingegen das Ende des Industriesystems und den Beginn eines zweiten, allerdings hoch technisierten »Solarzeitalters« als Be­dingung für die Abwendung einer ansonsten

unabwendbaren Katastrophe. Das Industriesystem mit seiner Massenproduktion und seinen Großstädten ist ein System der Konzentration und es gründet auf der Konzentration von

Energie. Eine Technik der Solarenergie hingegen zielt auf die Nutzung dif­fuser, über weite

Flächen verteilter Energie, die nicht willkürlich und in beliebigen Mengen abrufbar ist und

eher geeignet, kleine Einheiten von Ver­brauchern zu versorgen. Die anthropozentrische Geste 65


beliebiger Naturver­fügung, wie sie sich mit der Abrufbarkeit hochkonzentrierter Energien

ver­bindet, versagt hier. Eine Ethik der Bescheidenheit in der Minderung des Verbrauchs auf Grundbedürfnisse, die Aufwertung der Arbeit als wesentli­che Tätigkeit, die Abkehr vom

Leitbild der Produktivität und die Rückkehr zu vorspezialisierten Tätigkeiten, zur »ganzen« Arbeit in dezentraler Klein­produktion auf der Basis genossenschaftlicher Selbstverwaltung:

das ist das Ziel. Es erinnert an frühsozialistische Utopien aus der Zeit, als das Indust­riesystem die lebendige Arbeit proletarisierte, gegen den erbitterten Wider­stand der Kleinhandwerker. Transformiert wurde dieser Widerstand in eine Apologie der Industrie über die immer

umfassendere Entlastung der Mus­kelanstrengung durch fossil betriebene Motoren und die damit ermöglich­te verteilbare Massenproduktion.

Ein neues Verständnis von »Nachhaltigkeit« wird erforderlich: Hatte »Nachhaltigkeit« in

einer Ökonomie des knappen Überlebens das Anlegen von Vorräten für Notzeiten bedeutet

und seit dem 18. Jahrhundert, als die expandierende Wirtschaft die Energieressource Holz mit Erschöpfung zu bedrohen schien, den Grundsatz begründet, nur soviel Wald abzuholzen, als

nachwachsen konnte, so wird im anbrechenden postfossilen Zeitalter die »Nachhaltigkeit« zur Maxime knapper Nutzung begrenzter Vorräte und zum - zumindest teilweisen - Übergang zu erneuerbaren Ressourcen. In ei­nem solcherart erreichten »sustainable development« sollen,

wie es 1992 auf der Umweltkonferenz von Rio de Janeiro als Leitbild für das 21. Jahrhun­dert

formuliert worden ist, die Bedürfnisse auch der künftigen Generatio­nen berücksichtigt werden, wie bereits in der Holzökonomik des Hochmit­telalters.

REGENERATIVE ENERGIEN: WIND Die Energieversorgung des neuen Jahrhunderts wird eine pluralistische sein: Weil nur so

der Übergang zu neuen Energiequellen möglich ist, aber auch, weil nur so ein hohes Maß an stetigem Energiefluss erreichbar bleibt. Während die Kraft des fließenden Wassers

weitgehend ausgenutzt worden ist und in einigen Ländern mit günstigen geographischen

Bedingungen, wie in Schweden mit 45 Prozent oder in Österreich mit 71,9 Prozent, wesentlich zur Stromerzeugung beiträgt, befinden sich die anderen regenerativen Ener­giequellen:

Wind, Biomasse, Solarkraft, noch in den Anfangsstadien. Am fortgeschrittensten ist die Windtechnologie, die, wie vorher die elektrische Nutzung des strömenden Wassers, an

die Energietechnik der Alten Gesell­schaft anschließt und einem bereits abgeschriebenen Energieträger neue Be­deutung zukommen lässt.

Dabei zeigt sich, dass der ökologische Gedanke durchaus uneinheitlich ist, denn das Prinzip

regenerativer Energie steht gegen die Idee des Natur­schutzes. Die Verbauung auch der letzten 66


Wildgewässer, die Bestückung der Landschaft mit Windrädern führt die Technisierung der

Natur, ihre Zurich­tung als Ressource, in ein weiteres Extrem. Zudem sind die gewinnbaren Energien beschränkt. In Deutschland etwa würde ein weiterer Ausbau den Anteil der

Wasserkraft an der Stromerzeugung von 4,8 Prozent um knapp zwei Prozent erhöhen, das

entspräche der Leistung zweier Wärmekraftwer­ke. Nur 10 Prozent der deutschen Flussläufe sind nach einem Jahrhundert des hydroelektrischen Ausbaus noch in naturnahem Zustand

und also Schutzräume für Tier- und Pflanzenwelt. Das Ziel der deutschen Regierung etwa, bis zum Jahr 2020 den Anteil regenerativer Energien am Primären er­gieverbrauch auf 14

Prozent zu steigern, bis 2050 sogar auf 50 Prozent, bei gleichzeitiger drastischer Verminderung klimaschädlicher Emissionen und bei Verzicht auf die weitere Nutzung der Kernkraft, bleibt mit der Wasser­kraft unerreichbar.

Hingegen ist das Potential der Windkraft, das mit der Industrialisierung völlig aufgegeben wurde, weithin ungenutzt. Gab es doch um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland

neben den 30.000 Wassermühlen immer­hin rund 20.000 Windmühlen. Dass das Potential der Windkraft zur Strom­erzeugung vor allem in den Küstengebieten beträchtlich ist, zeigt das

Bei­spiel Dänemarks, des Pioniers der Windenergie, das 1998 bereits 8 Prozent des Stroms

auf diese Weise erzeugte und bis 2030 einen Anteil von 50 Pro­zent anstrebt. In Deutschland wurde 1998 erstmals die Marke von 1 Prozent überschritten (mit 6113 Megawatt Leistung, zum Vergleich: USA mit 2554 Megawatt) und Prognosen sprechen von einem Windanteil

von einem Drit­tel an der nationalen Stromerzeugung als langfristig erreichbar. Rotoren, die

aus Faserverbundwerkstoffen gefertigt und in ihrer Form nach aerody­namischen Prinzipien

entworfen worden sind und elektronisch gesteuert werden, zudem im Verbundnetz mit anderen Energieträgern stehen, trans­formieren das alte technische Prinzip der Windnutzung in die

Hochtechn0­logie des 21.Jahrhunderts. Auf diese Weise war es möglich, in wenigen Jah­ren

den Stromertrag pro Rotorenfläche zu verdoppeln und zugleich die zur Herstellung der Anlage nötigen Energiemengen innerhalb weniger Mona­te zurück zu gewinnen.

Allerdings bleiben das Problem konstanter Energieleistung oder gar die Steuerung der

Energieabgabe entsprechend der veränderlichen Nachfrage weiter ungelöst. Hier könnte allein eine wirkungsvolle Technik der Speiche­rung von Energie weiter helfen, insbesondere als

direkte Herstellung von Wasserstoff oder auch durch eine neue Pressluft-Technologie, bei der mit überschüssiger Elektrizität Pressluft in unterirdischen Höhlen gespeichert und dann bei

steigender Nachfrage durch Turbinen abgelassen wird, die Generatoren treiben. Dennoch bleibt das Problem der Grundlast-Versor­gung ohne konventionelle Kraftwerke unlösbar.

Die Windkraft erzielt die günstigste Energiebilanz aller erneuerbaren Energiesysteme und

auch in der finanziell bilanzierten Wirtschaftlichkeit lie­gen die anderen weit hinter ihr, die Wasserkraft ausgenommen. Das gilt ins­besondere für die Solartechnik. Während sich die

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fossilen Energien unter Marktbedingungen durchsetzten, bleiben alternative Energien ohne staatliche Förderung chancenlos, solange auf dem Markt Energie zu deutlich ge­ringeren Preisen angeboten wird. Paradoxerweise war es die Kernkraft, zu deren Förderung aus

politischen Gründen der Staat in vielen kapitalisti­schen Ländern erstmals massiv in den

Energiemarkt eingegriffen hat, so wie es dann die um sich greifende Kritik der Kernkraft

gewesen ist, die zur staat­lichen Förderung regenerativer Energien führte. Damit einher ging

eine neue Form der Bilanzierung von Energiekosten über den Marktpreis hinaus, bei der die externen Kosten, die Belastungen von Umwelt und Gesundheit also, in die Kostenrechnung

einbezogen werden sollen. Modellrechnungen für Westeuropa (1997) zeigen, dass die externen Kosten bei Kohlekraftwer­ken etwa zehnmal so hoch sind wie bei Atom- und Gaskraftwerken, dass aber diese Kosten bei der Windenergie zu vernachlässigen sind.

Die Überfülle an billiger Energie, wie sie deren Industrialisierung mit sich gebracht hat,

gründet demnach auf der Vernachlässigung solcher Kosten und sie gründet weiterhin auf der

Vernutzung nicht erneuerbarer Ressour­cen. Auch hier funktioniert der Markt nur unvollständig, weil sein enger Zeit­horizont dem Problem finaler Ressourcen nicht entsprechen kann, weil

er die Interessen späterer Generationen nicht in der Preisbildung zu berück­sichtigen vermag. Zudem würde eine fossilenergetische Entwicklung von Schwellenländern wie China oder Indien bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts zum Kollaps der meisten Ressourcen und zu unvorhersehbaren Klimazustän­den führen.

Die Energiestruktur, auf der die wirtschaftliche Entwicklung basiert, muss demnach

grundlegend verändert werden: Vernetzung unterschiedlicher Energieträger zum Ausgleich von Leistungsschwankungen, Energiesparen durch Passivhäuser, Fahrzeuge mit geringem

Kraftstoffverbrauch, intelligen­te Steuerung energienutzender Geräte durch Mikroprozessoren sowie eben die Pluralität von Energieträgern, wären dann die Antworten.

REGENERATIVE ENERGIEN: SOLARTECHNIK Solartechnik und Brennstoffzellen bilden dabei die zentralen Momente beim Übergang in

eine nachhaltige Wirtschaftsweise, die über lange Zeit­räume aufrecht erhalten werden kann,

ohne die natürlichen Lebensgrund­lagen der Menschen durch Erschöpfung der Ressourcen und

Klimaverän­derung als Folge extremer Emissionen von Kohlendioxid zu bedrohen. Schätzungen sehen Einsparungsmöglichkeiten von 70 Prozent bei der Hei­zung, 40 Prozent beim Strom und 50 Prozent beim Verkehr als möglich an, massive Investitionen vorausgesetzt, und, im Falle

des Verkehrs, durch den Abbau individueller Mobilität. Dennoch ist mit einer Verdoppelung

der Energiepreise zu rechnen. Im nachfossilen Zeitalter wird Energie wieder zu dem, was es 68


vor ihm gewesen ist: Eine begrenzte, kostbare Ressource, die al­lerdings nicht mehr an jene

Grenzen stoßen muss, an denen Knappheit Not und Hunger assoziiert. Die Technik macht den Unterschied.

Eine passive Nutzung der Sonneneinstrahlung nun ist in den mittelmee­rischen Ländern,

in denen es schon früh an Brennholz mangelte, bereits in der Antike üblich gewesen. Die solare Architektur versuchte durch Ausnut­zung des Sonnenstandes in den verschiedenen

Jahreszeiten über die Bau­form und die Ausrichtung des Gebäudes im Winter ein Höchstmaß, im Som­mer ein Mindestmaß an Wärmeeinstrahlung zu erreichen. Die Römer nutzten

dann das von ihnen erfundene, mit einem Roller ausgewalzte Flach­glas (ca. 50 n.Chr.) zur

Fertigung von Fensterscheiben und Glashäusern. Die Konzentration von Sonnenstrahlen durch Spiegelreflektoren war bereits im 3. Jahrhundert v. Chr. den Griechen bekannt, die damit

Feuer entzündeten und mit Archimedes solche Spiegel auch als Waffe eingesetzt haben sollen.

Heran von Alexandria experimentierte mit einer Vorrichtung, bei der durch Sonneneinstrahlung in einer Kugel erhitzte Luft expandierte und Wasser aus der Kugel herauspresste. In der

Renaissance nahm Leonardo diese Über­legungen wieder auf, so in seinen Skizzen zur Nutzung von Parabolspiegeln für die Erhitzung von Wasser (1515).

In den folgenden jahrhunderten wurden solche Gedanken mehrfach er­örtert. Erste praktische Ergebnisse des neuen Interesses an der direkten Nut­zung der Sonne zeigten sich im

zunehmenden Bau von Gewächshäusern, zuerst in Flandern, zur Zucht tropischer Pflanzen,

wobei das gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich entwickelte Verfahren zur seriellen Her­stellung von geschliffenem Flachglas die materielle Basis lieferte. Das klare Glas lässt

die Sonneneinstrahlung als Wärme einfallen und verhindert gleich­zeitig dessen Ausstrahlung. Erste werkzeughafte Vorrichtungen zur Sonnen­nutzung konstruierten dann im späteren 18.

jahrhundert Horace de Saus­sure, der mit drei separaten Glasscheiben vor einem schwarzen Holzkasten Wasser zum Sieden brachte, und Peter Hoesen aus Dresden, der mit einem Brennspiegel aus Messingplatten Metalle zum Schmelzen bringen konnte. Die fossile Energierevolution der Industrialisierung ließ jedoch Versuche dieser Art als überholt erscheinen, bis die in den sechziger Jahren aufkom­mende Besorgnis einer baldigen

Erschöpfung der Kohlevorräte, wie ganz speziell der Mangel an größeren Kohlevorkommen in Frankreich, solaren Konstruktionen wieder eine gewisse Bedeutsamkeit zukommen ließ.

1861 erhielt der Mathematiklehrer Augustin Mouchot das Patent für den ersten Sonnenmotor. Dieser verband die bislang separaten Grundlinien des Brenn­spiegels und des Kollektors zu

einem neuartigen Gerät: Ein Spiegel konzent­riert die Sonnenstrahlen auf einen geschwärzten Kupferzylinder mit Was­ser. Der dabei entstehende Dampfwird in eine Dampfmaschine

eingeleitet. Die von der französischen Regierung finanzierten Entwicklungsarbeiten führten

1874 zur ersten praktisch nutzbaren Solardampfmaschine, sechs mal sechs Meter groß und mit 69


einer Leistung von einem halben PS: Wenig Leis­tung bei großen Ausmaßen.

1877 baute Mouchot im damals energiearmen Algerien einen Sonnenmo­tor als Pumpenantrieb, 1878 stellte er eine verbesserte Konstruktion auf der Pariser Weltausstellung vor: In der Mitte

eines trichterförmigen Reflektors, der nach der Sonne ausgerichtet werden konnte, befand sich

ein wasserge­füllter Kollektor, mit dessen Dampf Maschinen betrieben werden konnten, z.B. ein Kühlschrank, später eine Druckerpresse. In den USA konstruierte der Ingenieur John Ericsson zu Beginn der siebziger Jahre ebenfalls einen Sonnenmotor aus Spiegelreflektor, Boiler und

Dampfmaschine sowie einen sonnenenergetisch betriebenen Heißluftmotor, in dem der Kolben durch die abwechselnde Zuführung von heißer und kalter Luft in den Zylinder be­wegt wird.

Letztlich jedoch blieben all diese Geräte folgenlos. Die Sonnen­einstrahlung war allein bei Tag und auch dann nur in jahreszeitlichen Schwankungen verfügbar, der Energieertrag blieb bei hohem apparativem Aufwand und hohen Kosten gering.

Eine Vorrichtung musste gefunden werden, die mit niedrigeren Tempe­raturen zu betreiben war, wozu einfache Kollektoren genügten, die auch oh­ne stete Ausrichtung nach dem Sonnenstand und auch bei wolkigem Him­mel Energie zu liefern vermochte. Der französische Ingenieur

Charles Tellier nutzte seine Erfahrungen in der Entwicklung der Kältetechnik und entwarf eine Kollektorenanlage aus zwei Platten mit röhrenähnlichen Ril­len, in denen flüssiges Ammoniak

floss, das in der Hitze verdampfte und mit seinem Expansionsdruck eine Pumpe in Bewegung

setzte, um dann in ei­nem Kondensator erneut verflüssigt und in die Kollektoren zurück geführt zu werden. Gedacht war diese Vorrichtung zur Energieerzeugung in tropi­schen Kolonien. Telliers 1890 veröffentlichte Abhandlung begründete mit Mouchots Veröffentlichungen die Theorie der Solarenergie. 1904 nahm man im amerikanischen St. Louis das erste Solarkraftwerk der Welt in Be­trieb, das auf Telliers Vorschlägen beruhte.

Die Vorstellung eines nahenden Endes fossiler Ressourcen beflügelte auch Frank Schumann, einen Deutschamerikaner, der 1912 mit britischem Kapi­tal in Ägypten das bis dahin größte

Sonnenkraftwerk errichtete. Zwischen einer Glasschicht und einer schwarzen Bodenschicht lagerten Röhren, die mit Wasser gefüllt waren, das erhitzt und verdampft wurde und einen eigens für Niederdruck- Dampf entwickelten Motor bewegte, mit dem Pumpen ge­trieben

werden sollten. Spiegelkollektoren und ein Nachtspeicher mit Heiß­wasser vervollständigten die Anlage, die bei einer Gesamtleistung von 55 PS und einem Flächenverbrauch von 180

qm pro PS zwar technisch funktio­nierte,jedoch nach 1918 zugunsten des im Nahen Osten in großen Mengen entdeckten Erdöls aufgegeben worden ist.

Erfolgversprechender erschien die Nutzung der Sonnenwärme für die Er­zeugung von

Heißwasser. Vor allem die 1909 von W. Bailey in Kalifornien konstruierte Vorrichtung

bewährte sich, in der eine Röhrenschlange zwi­schen einer schwarzen Grundplatte und einer Glasschicht angebracht war. Die erhitzte Flüssigkeit, eine nicht frierende Mischung aus 70


Wasser und Al­kohol, wurde in Röhren durch einen Wassertank geleitet, gab dabei Wärme ab und floss dann zu den Kollektoren auf dem Dach zurück. Das System Bai­leys ließ sich auch zu Heizzwecken nutzen. Seit 1938 gab es zudem am MIT ein Programm zur Entwicklung von »Solarhäusern«, die ausschließlich von Sonnenenergie geheizt werden sollten und

Sonnenkollektoren, Doppel­glasscheiben und »heliotropische« Bauweise zu einer Einheit

fügten. Die Er­schließung großer Erdgasvorkommen in Kalifornien, niedrige Öl- und Strom preise führten allerdings bereits in den dreißiger Jahren zum Ver­schwinden der Relevanz

alternativer Energien. 1941 wurde Baileys Firma, der erste größere Betrieb der Solartechnik, aufgelöst.

Mit dem Siegeszug der Elektrizität, gegründet auf konventionellen Wär­mekraftwerken, dann auch auf der Kernkraft, verschwand das ohnehin ge­ringe Interesse an der Solarenergie, die

nun endgültig als überholt erschien. Immerhin hatte bereits 1839 der französische Physiker

Edmond Becquerel mit seiner Entdeckung des photovoltaischen bzw. lichtelektrischen Effekts das technische Bindeglied zwischen Sonneneinstrahlung und Elektrizitäts­erzeugung fixiert:

Zwischen zwei zuvor in eine Säurelösung getauchten Elektroden kam es zu einem Stromfluss, wenn eine davon dem Licht ausge­setzt wurde. 1887 stellte H. Hertz fest, dass zwischen zwei Elektroden eines Funkinduktors der elektrische Funke leichter übersprang, wenn eine Elekt­

rode mit ultraviolettem Licht angestrahlt wurde. Sein Schüler Hallwachs schließlich bemerkte, dass eine mit ultraviolettem Licht bestrahlte Zinkplat­te einen schwachen Strom erzeugte.

Dieser Effekt war mit der Wellentheo­rie des Lichtes, wie sie 1865 von James C. Maxwell

entwickelt worden war, unvereinbar. Erst A. Einstein lieferte dann die physikalische Erklärung, in­dem er der Deutung des Lichts als elektromagnetischer Schwingung die Auf­fassung zur

Seite stellte, Licht könne auch als Abfolge energiereicher Teil­chen, der Photonen, verstanden

werden. Treffen diese auf einen Stoff, lösen sie in ihm Elektronen aus ihrer atomaren Bindung. Es entsteht eine elektri­sche Ladung, die abgenommen werden kann.

Ein zweiter Entwicklungsstrang kam hinzu: Die Entdeckung der Halblei­ter. 1873 hatte

der englische Ingenieur Willoughly bemerkt, dass Selen bei Änderungen der einfallenden

Helligkeit seinen elektrischen Widerstand ver­ändert. Als Fotozelle verwandt fanden solche

Halbleiter dann in Belichtungs­messern, in Nipkowschen Fernsehgeräten, zur Steuerung von

Lichtschran­ken und zum Abtasten der Tonlichtspur auf Filmstreifen und deren Umwandlung

in Töne vielfach Verwendung, doch da ihre Fähigkeit, Licht in Strom um zu wandeln, bei unter einem Prozent lag, blieb eine Energie­nutzung außer Betracht.

Das änderte sich erst, als drei Wissenschaftler der Bell Laboratories, Dar­ryl Chapin, Calvin Fuller und Gordon Pearson, 1954 feststellten, dass ein dünnes Siliziumplättchen, das mit einer noch dünneren, mit Bor versetzten Siliziumschicht verbunden war, Sonnenlicht in

Elektrizität umwandelte. Mit der Entdeckung der gezielten »Dotierung«, d.h. der Zuführung 71


geringer Mengen bestimmter Materialien in den reinen Halbleiter, lässt sich der Wir­kungsgrad wesentlich steigern, auf vier, dann 6 Prozent bereits bei den ers­ten Solarzellen des Jahres 1954. Bringt man die beiden Schichten zusam­men und setzt man sie dem Licht aus, so

verursachen die auftreffenden Photonen einen Uberschuss bzw. Mangel in den entsprechenden Schichten. Da die Kontaktfläche zwischen der negativen und der positiven Halbleiter­schicht

als Sperre wirkt, kommt es zu keinem Ausgleich der unterschiedli­chen elektrischen Ladungen. Verbindet man sie hingegen mit Kontakten, kann der Ausgleich der Ladungen als Gleichstrom abgenommen werden.

Technologisch war damit das Problem der Umwandlung von Sonnen- in elektrische Energie

gelöst, nicht jedoch ökonomisch. Eine erste praktische Anwendung fand die Solartechnik fÜr die Stromversorgung eines ländlichen Telefonnetzes, und eben die Suche nach einer solchen

alternativen Strom­quelle für Telefonverbindungen in abgelegenen Landstrichen hatte die Ex­

perimente mit Halbleitern bei Bell ausgelöst. Doch die Kosten der Herstel­lung reinen Siliziums waren so hoch, dass die neue Erfindung nicht mehr zu sein schien als eine interessante

Erweiterung des Grundlagenwissens, hät­te nicht die seit den späten fünfziger Jahren sich

schubartig entwickelnde Raumfahrt in den Solarzellen die ideale Energiequelle zur Versorgung von Satelliten und Raumgefahrten erkannt.

Im März 1958 starteten die USA mit „Vanguard I“ den ersten Satelliten mit einer solaren

Energieversorgung. In der Raumfahrt wirkten die beiden Effekte des Siliziums, nämlich einmal einfallendes Licht in eine Elektronen­bewegung um zu setzen, andererseits eine Riesenzahl von Transistoren auf zu nehmen, in entscheidender Weise zusammen. Für Hans Ziegler,

der als Mitarbeiter Wernher von Brauns die Solartechnik für Satelliten entwickel­te, war die

Solarenergie bereits damals die Energiequelle der Zukunft, auch wenn angesichts der hohen Preise für Solarzellen solche Prognosen noch absurd erschienen. Durch die Nachfrage nach

Solarzellen infolge der Raum­fahrtprogramme entstand dann die erste industrielle Produktion solcher Zellen.

Mit der Ölkrise von 1973 und der damit einsetzenden Diskussion um ei­ne Verringerung der Energieabhängigkeit der Industriestaaten begann dann auch die Photovoltaik als mögliche

Energiequelle für die Gesellschaft Beachtung zu finden. Bei ausführlichen Untersuchungen verschiedener Halbleitermaterialien erwies sich Silizium sowohl in wirtschaftlicher wie

technischer Hinsicht als das geeignetste Material. Eine Steigerung der Wir­kungsgrade auf 10

bis 15 Prozent, bei hochreinen, einkristallinen Silizium­zellen bis zu 25 Prozent, bei komplexen Vielschichtzellen aus verschiedenen Halbleitern bis zu 40 Prozent, sowie eine drastische

Verminderung der Di­cke der Silizium-Scheiben von 0,45 mm auf 0,2 mm binnen 20 Jahren er­laubten es, Energieaufwand wie Produktionskosten nachhaltig zu senken.

Doch bleibt der Energieaufwand hoch, höher als bei anderen alternati­ven Energiesystemen, 72


weil etwa für die Herstellung hochreinen Halbleiter­materials aus Silizium Temperaturen von über 1000 Grad erforderlich sind. Liegt daher die energetische Amortisation bei

Sonnenkollektoren für Brauchwasser in Mitteleuropa zwischen 6 Monaten und 2 Jahren, so beträgt sie bei Solarzellen zwei bis sechs Jahre.

Noch schwieriger steht es um die Wirtschaftlichkeit der Solartechnik. Zwar würde eine die

Produktionskapazitäten durch Massennachfrage auslasten­de Herstellung den Energieaufwand

dritteln und die Preise massiv vermin­dern, doch selbst dann wären die niedrigen Energiepreise noch massenhaft verfügbarer fossiler Energieträger nicht erreichbar, wie sie um die Wende zum 21.Jahrhundert üblich waren. Steigende Preise als Folge einer Verknap­pung der

Primärenergien, wie vor allem beim Erdöl absehbar, und zugleich neue Techniken in der

Herstellung kostengünstigerer Solarzellen können jedoch die solare Stromerzeugung durchaus

wirtschaftlich werden lassen. Dünnschichtzellen, bei denen das Halbleitermaterial in Schichten von we­nigen Mikrometern direkt auf Glas oder Metall aufgedampft wird, vermei­den den

EnergieaufWand der Herstellung und den Materialverlust beim Zerschneiden der kristallinen

Siliziumstämme zu dünnen Scheiben. Halb­leiter-Legierungen oder Solarzellen aus Kunststoff als neue Materialbasis, Fertigung durch Roboter und serielle Produktion werden die Zukunft der Photovoltaik bestimmen und ihr den Aufstieg zu einem bedeutenden Ener­gieträger

ermöglichen, von dem bis 2060 ein Anteil von 15 Prozent an der weltweiten Stromerzeugung für möglich gehalten wird. Jede Umstellung auf Solarenergie erfordert allerdings enorme Mengen an nicht erneuerbarer Energie und Rohstoffen (Eisenerz, Bauxit, Kupfer) zur

Herstellung entspre­chender Vorrichtungen. Zudem wären große Bodenflächen erforderlich, et­ wa für 1,2 Mw rund 10.000 Quadratmeter.

REGENERATIVE ENERGIEN: BRENNSTOFFZELLEN Das faszinierendste Projekt im Kontext der Solarenergie jedoch ist die Was­serstoff-Technik. Das wesentliche Problem photovoltaisch erzeugten Stroms besteht bekanntlich darin, dass er nur phasenweise zur Verfügung steht. Dies könnte man ausgleichen, indem man den

bei Sonneneinstrahlung gewon­nenen Strom für sonnenlose Phasen teilweise speichert. Bei größeren Strom­mengen stößt die Speichermöglichkeit von Batterien jedoch rasch an wirt­

schaftliche Grenzen. Hier bietet die elektrolytische Umwandlung in Wasserstoff eine technische Alternative.

Das Prinzip der Elektrolyse wurde bereits 1807 von dem englischen Che­miker Humphrey

Davy erkannt: Da chemische Verbindungen offenkundig durch elektrische Kräfte zusammen gehalten werden, muss es auch möglich sein, sie auf elektrischem Wege zu zerlegen. Um

73


nun die Elektrolyse um zu kehren, d.h. eine Brennstoffzelle herzustellen, ist allerdings ein besonderer Elektrolyt erforderlich, damit die chemische Energie, die entsteht, wenn der

Kathode Sauerstoff, der Anode Wasserstoff zugeführt wird, sich nicht von selbst durch eine

Verbrennung entlädt, sondern als elektrische Spannung durch einen äußeren Stromkreis, der

die beiden Elektroden verbindet, ab­genommen werden kann. Die Ionen, die den Elektrolyten jeweils durchwan­dert haben, verbinden sich mit den Ionen der anderen Elektrode zu Was­ser, das abgeführt wird.

Die Konstruktion der ersten Brennstoffzelle gelang 1839 Sir William Gro­ve: Wenn durch Energie die Bestandteile des Wassers getrennt werden konn­ten, dann musste durch deren

erneute Zusammenführung wieder Energie frei gesetzt werden. In der Tat entstand aus der Vermischung beider Gase das explosive „Knallgas«. Eine energetische Nutzung musste

die explosions­artige Verbrennung vermeiden. Dazu nutzte Grove ein Elektrolyt aus ver­

dünnter Schwefelsäure, in das die bei den Elektroden, Platindrähte in Glas­röhrchen, mit

ihrem unteren Ende eintauchten, während im oberen Teil des Röhrchens Wasserstoff bzw.

Sauerstoff gegeben wurde. Verband man bei­de, so entstand eine Spannung von einem Volt. Groves Apparatur, in der Hochzeit der Dampfmaschine entwickelt, blieb allerdings nur

eine Versuchsanordnung ohne praktische Bedeutung. Erst die schubartige Entwicklung der

Raumfahrt lenkte das technische Interesse auf die Brennstoffzelle, die in den Raumschiffen des amerikanischen Apollo­Programms den Strom lieferten und mit ihrem »Abfall« Trinkwasser

für die Astronauten. Die Verbindung von Photovoltaik und Elektrochemie in Solar­WasserstoffAnlagen, wie der 1990 im bayerischen Neunburg gebauten, er­gibt dann die Möglichkeit,

Sonnenenergie in Brennstoffzellen zu speichern, sei es, um Reserven für Schwankungen in

Angebot und Nachfrage nach Elektrizität zu bilden, sei es, um Fahrzeuge zu betreiben. Denn

eine nach­haltige Technologie vermag die Wasserstoff-Technik nur zu werden, wenn sie den zur

Herstellung des Wasserstoffs erforderlichen Strom aus erneuer­baren Quellen bezieht.Allerdings besitzt selbst verflüssigter Wasserstoff weniger als ein Drittel der Energiedichte von Benzin.

Im Kraftfahrzeugbereich erscheint jedoch an gesichts schwindender Erdölvorräte der Übergang zur Wasserstoff-Technik als unvermeidbar, sei es durch die Verbrennung von Wasserstoff in einem an­gepassten Otto-Motor, wie das der Auto-Hersteller BMW seit 1978 in einer Reihe

experimenteller Fahrzeuge versucht, sei es durch eigentliche Brenn­stoffzellen-Autos, in denen mehrere hundert Brennstoffzellen einen Elekt­romotor mit Strom versorgen, wie das Daimler,

Ford oder General Motors anstreben, zusammen mit der Lastwagen und Busse produzierenden MAN. Zwar liegt der Wirkungsgrad von Brennstoffzellen unter Laborbedingungen bei bis zu 70 Prozent, beim Antrieb von Fahrzeugen ist er mit angestrebten 30 Prozent nur um 5

Prozent über dem moderner Verbrennungsmotoren. Andererseits sind die technologischen

Fortschritte beim Bau von Brennstoff­zellen beträchtlich. So konnte die von dem kanadischen 74


Physiker Geoffrey Ballard 1979 gegründete Firma, die erste weltw‘eit zur Entwicklung und Her­stellung solcher Zellen, binnen zwölf Jahren die Leistungsdichte um das Zwanzigfache

erhöhen und zugleich das Einbauvolumen des Antriebs, der ursprünglich die Ladefläche eines

Kleinlastwagens benötigt hatte, so redu­zieren, dass er in einen Pkw passt, ohne Platzverlust für die Fahrgäste.

Den entschiedensten Schritt hin zur Verwendung als Antriebsenergie wür­de jedoch ein

Feststoffspeicher für Wasserstoff bedeuten, bei dem Wasser­stoff als Gas in ein poröses Material gepumpt werden würde, der nicht schwe­rer wäre als ein normaler Benzintank. Doch nicht nur als Fahrzeugantrieb wäre die Brennstoffzelle nutzbar. Ihre stationäre Verwendung als

Kraftwerk erscheint noch vielversprechender, weil der Zwang zur Miniaturisierung ent­fällt und die Energieausbeute besser ist, mit möglichen Wirkungsgraden von 80 Prozent und mehr, auch im Vergleich zu Großkraftwerken mit 35 Prozent Brennstoffausbeute, kann doch die Wärme,

die beim Betrieb von Zellen ent­steht, für Heizzwecke genutzt werden. Solche Kleinkraftwerke könnten de­zentral zur Heizung und Stromerzeugung eingesetzt werden, als kleine Block­

kraftwerke für die Versorgung größerer Einheiten wie Wohnsiedlungen oder Geschäftszentren.

Für die Elektrizitätswirtschaft mit ihrer Tradition hoher Konzentration in Großkraftwerken und kapitalintensiver Uberlandleitungen wäre eine derartige Entwicklung nichts weniger als eine Revolution.

Die wichtigste Energiequelle des 21.Jahrhunderts, darin sind sich die Be­obachter einig, muss das Energiesparen sein. Denn die Nachfrage nach Ener­gie wird weltweit noch

zunehmen, von 14 Milliarden Steinkohleeinheiten (2000) auf 20 Milliarden (2001), als

Folge des wirtschaftlichen Wachstums der Schwellenländer und einer weiter steigenden

Weltbevölkerung. Wenn die Überwindung der Energiearmut durch die Technik das zentrale Moment der allgemeinen Überwindung von Armutsknappheit ist, wie sie die indust­rielle

Technik geleistet hat, so ist die Verhinderung ihrer Wiederkehr die Bedingung, die Wohlstand von Armut trennt. Eine solche Verhinderung ist nur durch technologische Weiterentwicklung möglich.

Betrachtet man die Erfolge in Optimierung und Miniaturisierung bei Pho­tovoltaik und

Brennstoffzellen im Laufe der zwei Jahrzehnte vor der Wen­de zum 21. Jahrhundert und zielt man etwa die Parallele zur Entwicklung der Computer von den Großrechenanlagen zum

Personalcomputer binnen zweier Jahrzehnte als möglicher technischer Zukunft, so erweisen sich die­se neuen Energiekonzepte durchaus als mittelfristige Alternative. Der Ein­wand,

die Photovoltaik beanspruche zu große Flächen, relativiert sich, folgt man dem Argument, selbst in Deutschland ließe sich etwa 20 Prozent des Stroms auf diese Weise erzeugen,

sofern man dazu alle solartauglichen Haus­dächer nutzen würde. Das eigentliche Problem

ist gesellschaftlicher und öko­nomischer Art: Es liegt im Preis, denn um etwa ein Gigawatt 75


installierter Stromleistung auf Basis konventioneller Kraftwerke zu erzeugen, wären ein bis

zwei Milliarden Mark erforderlich, bei der Photovoltaik jedoch 15 bis 20 Milliarden (1997).

Ohne den Preis als Nutzungsschwelle bleibt Energie ei­ne Wegwerf-Ressource wie die anderen

Güter des Massenkonsums auch. Ei­ne Preisgestaltung, die über die kommerzielle Bilanzierung von Rohstoffen und Anlagekosten hinaus die Faktoren Natur, d.h. Naturverbrauch bzw. Um­

weltverschmutzung, und Zukunft bzw. Nachhaltigkeit des Wirtschaftens in Hinblick auf spätere Generationen mit einbezieht, bildet die gesellschaftli­che Voraussetzung einer energetischen Zukunft des Genug auch im neuen Jahrhundert.

Eine weitere, für die feuchteren Länder Mittel- und Nordeuropas relevan­te Energiequelle besteht auch in der organisierten Nutzung nachwachsen­der Rohstoffe, insbesondere von

Holz. Noch um 1900 wurde etwa in Deutsch­land ein Viertel des eingeschlagenen Holzes für Brennzwecke verwandt, doch mit der massenhaften Nutzung des Heizöls seit den sechziger

Jahren verlor das Holz seine Bedeutung als Energieträger, die es Jahrtausende lang besessen hatte: So wächst in den Wäldern etwa ein Viertel mehr nach, als benötigt wird. Zudem

gibt es vor allem im Pionierland energetischer Holz­nutzung, in Österreich, Versuche, in

»Energiewäldern« die Erzeugung von reinem Brennholz zu organisieren. Energiewälder sind

landwirtschaftliche Flächen, meist Grenzertragsböden, die mit rasch nachwachenden Gehölzen bebaut werden, vor allem Weiden, Erlen und Pappeln. Bei richtiger Verbren­nung unter hohen

Temperaturen ist der Anteil giftiger Gase nahezu zu ver­nachlässigen, der Wirkungsgrad erreicht 80 bis 95 Prozent. Ähnliches gilt auch für die Holzvergasung bzw. Holzgasverbrennung. In

der Zeit des Zwei­ten Weltkriegs wurde Holzgas vielfach zum Motorenantrieb von Fahrzeugen benutzt, heute könnte man sich die energetische Nutzung von Holz neben der reinen

Wärmeerzeugung auch zur Stromherstellung bzw. zur Herstel­lung von Wasserstoff vorstellen.

Eindeutig ist jedenfalls, dass das Holz als re­generativer Energieträger ähnlich wie Wind, Wasser und Sonne erneut be­deutsam wird, soll das nachfossile Zeitalter Wirklichkeit werden.

76


TECHNOLOGIE: FUSIONSREAKTOR Technologisch ist neben den genannten Quellen erneuerbarer Energie der Fusionsreaktor

die große Perspektive, wenn es um die Verfügbarmachung großer Energiemengen bzw. die

Sicherung einer Grundlast-Stromversor­gung anstelle konventioneller oder atomarer Kraftwerke geht. Auch hier bil­det der im Prinzip unerschöpfliche Wasserstoff die Energiebasis. Bei der

Ver­schmelzung der Atomkerne dieses Elements zu Helium werden enorme Energiemengen

frei gesetzt, noch größere als bei der Spaltung von Uran­kernen. Mit solchen thermonuklearen

Reaktionen erzeugen die Sonne bzw. die Fixsterne ihre Energie. Unter irdischen Bedingungen gelingt das da­durch, dass man die Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium miteinan­der

reagieren lässt. Ein Kilogramm Deuterium entspräche dann dem Ener­giewert von 3 Millionen Tonnen Steinkohle bzw. einer Leistung von 24 Millionen Kwh. Um allerdings zu einer

kontrollierten Fusion zu gelangen, d.h. eine explosionsartige Energiefreisetzung in Sekunden bruchteilen wie bei der Wasserstoffbombe zu vermeiden, ist es nötig, die Geschwindigkeit

zu vermindern, um den Ablaufzu kontrollieren. Das geschieht dadurch, dass die Dichte des

Kernbrennstoffs radikal herabgesetzt wird. Bei einer Zünd­temperatur von 100 Millionen Grad

zerfallen die Atome in positive Ionen und Elektronen: das Plasma, in dem die elektrostatischen

Abstoßungskräf­te überwunden, eine Verschmelzung möglich geworden ist. Aus Deuterium und Tritium wird Helium, die dabei freiwerdende Masse wird zu Energie.

Nicht nur die Erzeugung derart hoher Temperaturen bleibt jedoch schwierig, mehr noch die

Vermeidung eines Kontakts des Plasmas mit den Reaktorwänden. Um das zu verhindern, wird in einer gebogenen Vakuum­röhre, in der sich das Plasma befindet, ein starkes, kreisförmiges Magnet­feld aufgebaut, in dem das Plasma eingeschlossen ist. Das Magnetfeld erfüllt damit technisch die Funktion, die in der Sonne durch deren riesige Masse bzw. die Schwerkraft

verwirklicht wird. Wesentlich ist es, dieses »Einklem­men« für einige Sekunden aufrecht zu erhalten, was bisher nur ein einziges Mal und nur für kurze Zeit gelungen ist: 1997 in der

Forschungsanlage im englischen Abington. Ziel ist es, in einem neuen Forschungsreaktor bei ei­ner Fusionsleistung von 500 Megawatt für eine Zeit von fünf Minuten ener­gielieferndes Plasma zu erzeugen, um bis Mitte des 21. Jahrhunderts zur wirt­schaftlich arbeitenden Fusionskraftwerken zu gelangen.

Die enormen Schwierigkeiten, die dabei zu überwinden sind, werden auch daran deutlich,

dass bereits kurz nach der Explosion der ersten Wasserstoff­bombe am 1. November 1952 in

den USA mit der Entwicklung einer kon­trollierten Kernfusion begonnen worden ist. Edward Teller, der bei der Ent­wicklung der Bombe die Forschung geleitet hatte und nun mit dem zivilen Projekt beauftragt wurde, hielt die Erwartung einer kurzfristigen Realisierung für

fragwürdig, wie sie damals im Kontext des Übergangs zur zivilen Nutzung der Kernenergie 77


gehegt wurde. Doch auch seine skeptische Voraus­sage von fünf Jahren trog: Selbst fünfzig

Jahre später ist ein nutzbarer Fusi­onsreaktor noch in weiter Ferne. Allerdings soll ab 2006 mit dem Bau eines Fusionsreaktors durch eine internationale Vereinigung (Iter aus USA, Russ­

land, EU, China, japan u.a.) begonnen werden, der ab 2015 Energie liefern und mit den dabei

gewonnenen physikalisch-technischen Erfahrungen die Grundlage bereiten soll für eine spätere kommerzielle Nutzung zur Strom­erzeugung. Im übrigen erzeugt auch dieser Reaktortyp

radioaktiven Abfall, denn das radioaktive Tritium verseucht die Wände des Plasmagefäßes,

das bei einem Abbau für etwa hundert Jahre Abklingzeit sicherungsgelagert wer­den müsste. Allerdings ist ein »Durchgehen« des Reaktors bzw. eine Kern­schmelze hier nicht möglich.

TECHNOLOGIE: SUPRALEITER Die Elektrizität ist das energetische Medium der modernen Gesellschaft. Bil­det nun ihre

Erzeugung und Verwendung den einen Bezug technologischer Optimierungskunst, so stellt ihr möglichst verlustloser Ferntransport den an­deren Bezugspunkt dar. Bei der üblichen Übertragung hochgespannten Stroms über Freileitungen kommt es infolge des dabei zu

überwindenden Widerstands zu beträchtlichen Energieverlusten und zur unerwünschten

Freisetzung von Wärme. So verliert eine Hochspannungsleitung über 200 km 15 Prozent, über

1000 km 40 Prozent der elektrischen Energie. Hier wä­re ein Leiter ideal, der keinen Widerstand entgegen setzt.

Die theoretische Voraussetzung hierzu bot der 1906 von Walter Nernst auf­gestellte Dritte

Hauptsatz der Thermodynamik, wonach am absoluten Null­punkt die Enthropie eines Stoffes gleich Null ist. Verringert man also die Enthropie eines Stoffes, so sinkt zugleich seine

Temperatur. Einen ersten wi­derstandsfreien Leiter fand der niederländische Physiker Heike

Kamerling­ Onnes schon 1911, als er das Verhalten von Stoffen bei sehr niederen Tem­peraturen

untersuchte: Quecksilber verliert unterhalb einer Temperatur von Minus 269 Grad Celsius, d.h.

nahe dem absoluten Nullpunkt von Minus 273 Grad, plötzlich den elektrischen Widerstand und leitet Strom verlustfrei. Lei­der war dieser Effekt der Supraleitung über das Experiment hinaus nicht verwendbar, weil eine derartig extreme Abkühlung technisch große Schwie­rigkeiten bereitete und unwirtschaftlich blieb.

Die Entdeckung, dass bestimmte keramische Metalle schon bei Minus 238 Grad supraleitend wurden, wie sie 1986 den Physikern Georg Bednorz und Alex Müller gelang und die daran

anschließende Verminderung der Kühl­temperaturen auf Minus 196 Grad hingegen ließ dann

eine wirtschaftliche Verwendung erstmals als möglich erscheinen, da nun eine Kühlung mit ver­

flüssigtem Stickstoff anstatt mit teurem Flüssighelium möglich wurde. Sup­raleiter funktionieren 78


dadurch, dass, wie 1957 gezeigt wurde, freie Elektro­nen sich in einer Vielzahl von Materialien bei tiefen Temperaturen zu Zweierpaaren bündeln und sich dann ohne Berührung mit dem Ionengit­ter, d.h. ohne Abgabe von Energie, bewegen. Versuche mit neuen Legierun­gen

konnten die Kühltemperaturen auf bis zu 133 Grad senken, Experimen­te mit der Dotierung der keramischen Drähte deren Leitfähigkeit erhöhen.

Im Jahr 2001 wurden dann in Detroit erstmals Supraleiter zur Stromver­sorgung kommerzieller Abnehmer verwandt. Dort ersetzen drei mit Stick­stoff gekühlte Halbleiterkabel mit 900

Pfund Gewicht neun Kupferkabel, die 25.000 Pfund wiegen. Supraleitende magnetische

Energiespeicher, in denen der Strom verlustfrei und sofort abrufbar kreist, und SupraleiterElektromo­toren, um die Hälfte kleiner im Volumen als herkömmliche Motoren und mit

einem um 50 Prozent höheren Nutzungsgrad der Energie gehören zu den Perspektiven dieser Technologie, deren Wirtschaftlichkeit allerdings von einer drastischen Verminderung der Herstellungskosten keramischer Hochtemperatur-Supraleiter abhängt.

Wie bei jedem Strukturwandel der technischen Weltaneignung sind zwar die Wege in die

Zukunft erkennbar und wohl auch, dass sehr langfristig die fossile durch eine vorrangig solare Technologie abgelöst werden wird, die allerdings nur plural und keineswegs total vorgestellt

werden kann. Dabei spielen Fortentwicklungen scheinbar überholter Techniken durchaus eine Rolle, nicht nur des Windes, womöglich auch einer neuen Form der Dampf­maschine, die statt

einer offenen Flamme einen Porenbrenner benutzt, in dessen Hohlräumen ein Kraftstoff-Luft-

Gemisch chemische Reaktionen ver­ursacht, deren freigesetzte Wärme dann Wasser verdampfen lässt, das wie­derum über einen Kolben in Bewegungsenergie umgesetzt wird. Hoher Wir­

kungsgrad, geringe Abgasemission und die mögliche Verwendung flüssiger wie gasförmiger

Kraftstoffe sowie geringe Größe sind die Vorzüge dieser fas­zinierenden Fortentwicklung der Dampfmaschine, die im Mai 2000 von deutschen Technikern erstmals öffentlich vorgestellt

worden ist. Entwick­lungen wie diese sind Variationstechniken zum dominierenden Paradigma totaler Energetik, die großtechnisch organisiert und auf endlichen Ressour­cen gegründet ist. Erst langsam, doch stetig, machen die klimatischen Kon­sequenzen totaler Energetik es dem technisch entfesselten Konsumismus klar, dass die lange Zeit allenfalls kurzfristig überholt werden kann: dass aber auf Dauer die Schildkröte den Läufer stets überrundet.

79


Werner Nachtigall,

Bau-Bionik, Natur < Analogien > Technik. Klimaangemessene Bauweisen in ursprünglichen Kulturen und in der Moderne,

Berlin: Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York, 2003, S. 75-92.

»Das Lüftungssystem nach dem Prinzip des Präriehundbaus wird heute gelegentlich als

Trivial-Bionik bezeichnet. Dieser Eindruck mag vielleicht auf Grundlage der konstruktiven

Einfachheit entstehen, im Bauwesen ist es jedoch nach wie vor eines der effektivsten Systeme zur Energieeinsparung. Es ist immer wieder wohltuend zu erfahren, wenn dieses System als

einfachste und kostengünstigste Lösung empfohlen wurde, wie sehr Bauherrn und Nutzer von der Wirkungsweise überrascht sind.« Nachtigall, 2003, S.89.

URSPRÜNGLICHE KULTUREN UND BIOLOGISCHE EVOLUTION. In ursprüngli­chen Kulturen - bis vor nicht allzu langer Zeit noch als »Primitivkulturen«

bezeichnet - verlaufen alle technologischen Entwicklungen nach dem Versuchs-Irrtums-

Prinzip. Damit sind sie prinzipiell ähnlich der Evolution im natürlichen Bereich. Natürliche

Konstruktionen und technische Konstruktionen dieser Art sind deshalb ohne wei­teres bionisch

vergleichbar. Es hat sich das gehalten, was nach langwierigem »He­rumspielen«, nach Prozessen des Veränderns, Verwerfens und Wiederveränderns, Bestand hatte. Im vorliegenden Fall

geht es um die möglichst effiziente Nutzung von Wind, Erdfeuchtigkeit und Erdkühle zur

Gebäudeklimatisierung. Bereits die oben angeführte Nutzung des Bernoulli-Prinzips durch Präriehunde impliziert eine solche Mehrfachnutzung. Durch die Zwangsdurchströmung

des Erdbaus wird kühle und feuchtigkeitsangereicherte Luft aus dem porösen Gangsystem

angesaugt, damit wird beispielsweise eingetragenes, strohtrockenes Material angefeuchtet.

Es kann dann durch Verdunstungskälte helfen, den Bau zu klimatisieren, kann aber auch zur Deckung des Wasserbedarfs vom Präriehund gefressen werden.

Ein besonders ausgeklügeltes System zur passiven Klimatisierung hat sich im Alten Iran herausgebildet. M. Bahadori (1978) hat darüber berichtet.

Benutzt werden hohe Windtürme aus Adobematerial, deren obere Fensterabdeckung man 80


unterschiedlich öffnen kann, und die den Wind nach dem Staudruck-Prinzip auf­fangen und

nach unten leiten. Dort durchläuft die Strömung beispielsweise einen Erd­tunnel und mündet

dann ins Kellergeschoss, von wo aus sie durch regulierbare Fenster und Türen wieder austritt. Im unteren, kühleren Teil des Windturms (der auch noch längere Zeit die Nachtkühle hält)

wird die warm eintretende Luft «1) in Abb. 43 A) konvektiv gekühlt (2). In den unterirdischen Dukten sickert Feuchtigkeit ein, die zum Teil die Luftfeuchtigkeit anhebt (3), zum Teil

verdunstet und die Luft evaporativ kühlt (ebenfalls 3). Damit kommt es zu dem angegebenen Kennlinienverlauf in dem Tempe­ratur-Feuchtigkeits-Diagramm der Abb. 43 e. In der Nacht kann sich die Strömung um­kehren, weil sich die Luft an den nun warmen Innenwänden

des Windturms erwärmt und aufsteigt; kühle Nachtluft wird dann durch Fenster und Türen nachgezogen.

Ein anderes System der Windnutzung kombiniert die genannten Effekte mit ange­saugter

Luft, die eine Zeit lang an Grundwasser führenden Schichten entlangströmt (Abb.43 B). Die

einströmende (4) und konvektiv gekühlte (5) Luft mischt sich bei (6) mit der angesaugten (7) und feuchtigkeitsangereicherten (8) Luft, wodurch es auch hier zu kombinierter konvektiver

und evaporativer Kühlung kommt (9). Auch dieser Verlauf ist in Abb. 43 e eingezeichnet. Die im Windturm aufsteigende Luft zieht wäh­rend der ersten Nachthälfte aus (8) ebenfalls stark wasserdampfangereicherte Luft hoch.

Evaporative Kühlung bedarf immer einer Fluidströmung, welche die Feuchtigkeits­grenzschicht an wasserführenden Stellen wegnimmt. Dazu wurde im Alten Iran auch das Bernoulli-Prinzip eingesetzt. An lang gestreckten Tonnendächern entsteht an der Oberkante ein Unterdruck,

der heiße Luft über obengelegene Öffnungen absaugen kann. Das System funktioniert am besten, wenn die Strömung senkrecht zur Dach­längsrichtung verläuft, sonst nach einer

Sinusabhängigkeit, ganz ähnlich wie beim Pierwurm. Kuppeldächer funktionieren nach dem

»Vulkankegel-Prinzip« windrich­tungsunabhängig, ähnlich wie beim Präriehund. Aufsätze an der höchsten Stelle der Kuppel (Dachreiter) können, wie erwähnt, nicht nur künstlerische,

sondern durchaus auch strömungsfunktionelle Bedeutung haben (Einschaltbild in Abb. 43 B).

Auch in der ursprünglichen Architektur Afrikas wird Klimatisierung durch Windnutzung groß geschrieben. So haben die Rundhütten mancher Krals, in Linien angelegt, Vorzugsrichtungen, die den Wind teils nach dem Bernoulli-, teils nach dem Staudruck-Prinzip führen. L. Hg hat dazu Details zusammengestellt. Ausgeklügeltere Bauten erinnern in ihrer klimabionischen

Raffinesse an die hochentwickelten Kon­struktion des Alten Iran (Abb. 44 A). Allein schon die Ausrichtung alter Städte zu vorgegebenen Windrichtungen war wohl überlegt, wie aus einem Lageplan der Stadt Karthum/Ägypten, etwa 2000 v.ehr., hervorgeht (Abb. 44 B). Im Versuchs-Irrtums-Prozess sind auch die hochinteressanten Windschirme der

Kanakensiedlungen in Neukaledonien entstanden. Der Architekt Renzo Piano hat bei seinem 81


Bau des Kanaken-Kulturzentrums Noumea diese löffelartigen, aus Holz­trägerstrukturen

und Geflechten bestehenden »Windschirme« mit einbezogen und ihre Funktionen durch

Windkanalversuche untersuchen lassen. Es ergab sich, dass sie angeschlossene lang gestreckte Räume effektiv durchlüften, ob der Wind nun in die konkave oder konvexe Seite des

»Windfängers« einfällt (Abb. 44 D). Die ursprüngli­chen Bewohner haben damit ihre großen Versammlungshäuser belüftet; der moderne Architekt hat nach dem gleichen Prinzip seine

Museumsräume »kostenlos belüftet«. Natürliche Lüftung und Klimatisierung, beispielsweise eines Bürogebäudes, ist nachgewiesenermaßen gesundheitsmäßig deutlich günstiger als

maschinelle Be­lüftung oder gar Vollklimatisierung. Dies hat J. Röben in einer SBS-Studie (SBS: »Sick-Building-Syndrom«) herausgefunden. Klagten beispielsweise in einem voll­ klimatisierten Gebäude 40 % der dort Tätigen über Halsbeschwerden, waren es in einem

natürlich belüfteten nur 15 %. Auffällig sind ähnliche Ergebnisse auch bei Au­genreizungen,

Kopfschmerzen und Erschöpfung, während die Werte für Erkältungen interessanterweise etwa gleich sind (Abb. 44 E).

Natürliche »Quelllüftung« (über einen Abluftkanal, versteckt in einem hohen Turm) hat der Architekt D. Boswelt bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts für das House of Commons in London vorgesehen. Der Parlaments-Saal wurde von 46 luftfressenden Gaslaternen

beleuchtet, deren Abgase auf diese Weise zwangsentlüftet wurden. Eine ähnliche Lüftung war bereits von Wallot für den ursprünglichen Reichstag in Berlin vorgesehen; sie wurde

von dem umweltbewussten Architekten des neuen Reichstags, Sir Norman Foster, im Prinzip übernommen und verbessert. Auch hier spielt im übrigen der Bernoulli-Effekt bei der Umströmung der Reichstagskuppel eine gewisse Rolle.

WEITERES ZUM BERNOULLI-PRINZIP UND ÜBERGANG ZUM STAUDRUCK-PRIN­ ZIP.

Zwei weitere Tierbauten, die mit großer Sicherheit das Venturiprinzip zur Lüftung nutzen,

sind in Abbildung 45 dargestellt. Bodentermiten der Art Hodotermesmosambicus leben mit

ihrem von außen unsichtbaren Bau zur Gänze im Boden, doch reichen »Lüftungskegel« nach Art der Präriehund- Vesuvkegel darüber hinaus (Abb. 45 A). Auch der heimische Dachs, hat

bei seinem Bau stets mindestens zwei Ausgänge, die meist auf unterschiedlicher Höhe liegen und meist auch unterschied­liche Mündungsstruktur haben, beispielsweise unter einem Baum herauskommen oder frei im Gelände liegen. Zwangslüftung ist auch hier anzunehmen, doch meines Wissens nicht nachgewiesen (Abb.45 B).

Eine effektive Nutzung des Venturi-Prinzips hat das Architekturbüro Thomas Herzog + Partner 82


für die sogenannte »Design-Halle« in Linz vorgesehen (Abb. 39). Die Abbildung 46 A, B zeigt dazu einen Querschnitt und ein Strömungsdiagramm. Ähnliche Lüftungsprinzipien wurden

beispielsweise auch in Frankreich konzipiert, so am Lycee Albert Camus, Frejus, France, wo Foster & Partners eine klimatisierte Mädchenschule gebaut haben (Abb. 46 C).

Im Prinzip ganz ähnlich wie die alten Iraner die Nutzung des Bernoulli-Prinzips und die im

nächsten Abschnitt detaillierter beschriebene Staudrucknutzung kom­biniert haben, hat Thomas Herzog für seine Halle 26 für die Deutsche Messe AG (Industriemesse Hannover und später

EXPO 2000) »natürliche Belüftungsanteile« kombiniert. Die Abbildung 47 erklärt Einzelheiten. An den höchsten Stellen wurden wiederum, wie bereits bei der Linzer »Design-Halle«, lang gestreckte Venturi-Flügel angebracht, welche die Luft heraussaugen; die durchbrochenen,

gegenüberliegenden Schrägwände wirken nun aber zusätzlich als Winddruck-Fänger nach dem Staudruck­prinzip. Insgesamt ergibt sich eine sehr effektive Zwangslüftung, die bei den großen Glasflächen auch nötig ist.

NUTZUNG DES STAUDRUCK-PRINZIPS IN TIERBAUTEN UND BAUTEN Die in einem Kubikmeter Luft der Masse m, die mit der Geschwindigkeit v strömt,

enthaltene kinetische Energie beträgt 1/2 m (lm3Luft) v2. Man kann auch sagen, die auf die Volumeneinheit V bezogene Energie beträgt 1/2 Q v2 (Q = m/V = Luftdichte). Strömt das

betrachtete Luftvolumen gegen eine senkrechte Wand und wird dabei auf v = 0 abgebremst,

so manifestiert sich seine kinetische Energie im Auftreten eines Stau­drucks Iql = 11/2 Q v21. Dieser kann unterschiedliche Effekte haben, beispielsweise ein aufgestautes Luftvolumen in Bewegung setzen oder weiterbewegen. Das nämliche gilt für Wasserströmungen.

Eine Durchströmungs-Anlage nach dem Staudruckprinzip, die den orientalischen Bag-

dir-Einrichtungen ganz erstaunlich ähnelt, haben südamerikanische Köcherflie­genlarven

(Hydropsychidae) entwickelt (vergl.Abb. 48 A mit 51 A). Diese Larven bauen eine gewölbte

Gangstruktur mit vorragenden »Staudruckfängern“, in deren unteren, U-förmigen Schenkel ein äußerst feingesponnenes Netz angebracht wird (Maschen­weise nur etwa 3.20 flm). Vor dem

Netz mündet auch der Wohngang der etwa 2 cm lan­gen Larve. Bei dieser strömungsbetriebenen Durchströmungs-Reuse dürfte auch der Bernoulli-Effekt eine Rolle spielen, doch ist dies messtechnisch nicht nachgewiesen.

Rauchfangmuscheln der Gattung Clavagella ätzen sich eine Wohnhöhle ins Kalkge­stein und

schieben ihre parallel angeordneten Ein- und Ausstromröhren weit ins freie Wasser. Sie werden mit Kalk umkleidet und beim Wachstum der Muschel stückweise verlängert. Ob die dadurch

entstehenden dachartigen Vortragungen insbesondere in der Mündungsregion (Abb. 48 B) eine 83


strömungsmechanische Funktion haben ist an­zunehmen, aber im Detail nicht nachgewiesen.

Gleiches gilt für die »windfängerarti­gen« Eingänge der Bauten der Stachellosen Biene Trigona

testacea (Abb. 48 C) und der Wespe Angiopolybia pallens (Abb. 48 D). Bei (B) bis (D) könnten auch Bau-Porösitäten die Rolle von Ausgängen übernehmen.

Lüftungs- und Klimatisierungsprinzipien werden in der Regel kombiniert ein­gesetzt, so

beispielsweise die Nutzung von Erdkühle und -feuchte und das Venturi­Prinzip. Dies wird an der Bauweise eines indischen Gartenpavillons in Isfahan aus der zweiten Hälfte des

17. Jahrhunderts (Abb. 49 A) ebenso klar wie aus italienischen Bau­ten. Der italienische

Renaissancebaumeister Palladio hat seine Rotunde bei Vicenza im Jahr 1566 ganz ähnlich

konzipiert (Abb. 49 B). Er war auch fasziniert von der Nutzung der kühlen und feuchten Luft unterirdischer Grotten und hat beispielsweise bei den Costozza- Villen bei Vicenza darauf

zurückgegriffen (Abb. 49 C). Luftfänger nach dem Staudruck-Verfahren, im Prinzip vielleicht ähnlich arbeitend wie die »Windfänger« Renzo Pianos in Noumea (s. Abb. 44 C, D) sind

sicher auch die langgezogen-vorsprin­gen den Dachkonstruktionen der Toradja im tropischen Regenwald Südsulavesis (Abb. 50), doch sind mir dazu keine Messungen bekannt.

Eine ausgedehnte Nutzung des Staudruck-Prinzips wie es bei den altpersischen WindfangTürmen beschrieben worden und in Abbildung 43 A, B eingezeichnet ist, im Prinzip in

gleicher Weise wie ein Luftkanal. Wie die Einzeichnung in Abbildung 51 C zeigt kann die Temperaturdifferenz zwischen Kellergeschoss und Dachfläche 20°C ausmachen.

In Haiderabad Sindh, westliches Pakistan, prägen diese »Klimaanlagen« die Dach­landschaft. Die Kamine belüften jeweils nur ein einziges Zimmer und reichen bis zum Kellergeschoss.

Voraussetzung für ihre Effektivität ist eine festgelegte Hauptwindrich­tung. Die Herkunft dieser

effektiven Badghir-Anlagen ist unbekannt, doch weiß man, dass sie seit mindestens 500 Jahren in Gebrauch sind.« (Praktischerweise dienen diese stockwerkverbindenden Kanäle auch als »internes Telefon«.)

UMDENKEN IN DER BAUPHYSIKALISCH-ARCHITEKTONISCHEN GESTALTUNG

EINBINDUNG BIONISCHER VORGEHENSWEISEN IN DEN PLANUNGSPROZESS Bei der Planung eines Euro-Null- und Niedrigenergiehauses (Abb. 52) sowie bei der Fassa­ dengestaltung der Stadtwerke Bochum (Abb. 53) macht der Architekt Dieter Oligmül­ler

- dessen bionischen Sichtweisen im Abschnitt 1.2.1 diskutiert worden sind - klar, dass für

die Architektur und Baukonstruktion natürliche Strukturen zu untersuchen sind um sie durch 84


Umsetzung in moderne Konstruktionen dem Menschen nutzbar zu machen. Er nennt folgende natürliche Gegebenheiten, die bei Baukonzeption von vorneherein in bionischer Übertragung einbezogen werden sollten:

1 Möglichkeiten, welche die umgebende Topographie hinsichtlich der Nutzung der vorhandenen naturbezogenen Möglichkeiten bietet sind zu bedenken.

2 Das Klima in der Stadt, Windrichtung zur Durchlüftung der Stadt, Kaminwirkung von Gassen, Thermik bei der Randbebauung usw. sind zu betrachten.

3 Maßnahmen zur Reduktion der Windbelastung des Baukörpers sind zu treffen. 4 Eine Zonierung des Baukörpers, Anordnungen von Pufferzonen, sinnvolle An­wendungen von Schichtkonstruktionen für die Außenhaut und anderes können erforderlich sein.

5 Kühlung oder Vorwärmung der Zuluft durch Nutzung der Erdwärme nach dem

Präriehundbausystem und Einbeziehung der Vorratshaltung bei der Kühlung liegt nahe. 6 Außenwandkonstruktionen im Sinne transparenter Isolationsmaterialien, ange­regt durch die Effizienz des Eisbärfells, eventuell in Kombination mit Luftkanal­steinen, sind zu überlegen. 7 Nutzung der Speicherfähigkeit der Baustoffe durch Luftzuführung für Kühlung oder

Erwärmung der Raumtemperatur in eine Kombination von passiver Solar­nutzung und Nutzung der Erdtemperatur ist anzustreben.

8 Passive Wärmerückgewinnung durch entsprechende Fensterkonstruktionen, die ohne

maschinellen Einsatz das Lüften mit gleichzeitiger Wärmerückgewinnung ermöglichen (angedeutet in Abbildung 53) werden zukünftig sehr wichtig sein.

9 Photovoltaische Architekturelemente mit Lichtlenkungselementen und thermohy­draulischer Nachführung können sinnvoll sein.

Aus dieser Liste bringt ein Entwurf des Autors für ein Null- oder Niedrigenergie-So­

larhaus (Abb. 52) drei Anregungen von natürlichen Vorbildern mit ein: Präriehundbau

(Lüftungssystem), Eisbärfell (Transparente Wärmedämmung) und Elektronentrans­port bei photosynthetischen Vorgängen (Photovoltaik).

85


PRÄRIEHUNDBAU/LÜFTUNGSSYSTEM Ein Kanalsystem, das in etwa 2,5 Meter Tiefe durch das Erdreich geführt wird, dient im Winter der Vorwärmung und im Sommer der Kühlung der Zuluft. Dabei wird nicht nur dem Raum die erforderliche Frischluftrate zugeführt; die umliegenden Bauteile werden auch über ein

Kanalsystem gekühlt oder erwärmt. Im Winter wird die im Erdreich vorgewärmte Zuluft über den Wintergarten weiter erwärmt und den Wohnräumen zugeführt. Im Sommer wird die über

das Erdreich abgekühlte Zuluft dem Raum und den ihn umgebenden Bauteilen direkt zugeführt.

EISBÄRFELL/WÄRMEDÄMMUNG Die Außenwände im Osten, Süden und Westen werden mit einer dem Eisbärfell

nachempfundenen transparenten Wärmedämmung (TWD) überzogen und mit einem

Glasputz versehen, der es ermöglicht, den Baukörper zur besseren Nutzung des Tageslichts »einzuschneiden«, ohne dass sich der Transmis­sionswärmeverlust des Baukörpers erhöht. Die Kollektoren erhalten als Abdeckung ebenfalls eine transparente Wärmedämmung, so

dass der Anteil der zur Verfügung gestellten Heiz- und Brauchwasserenergie auf solarer Basis wesentlich erhöht wird.

PHOTOSYNTHESE/PHOTOVOLTAIK Photovoltaische Elemente auf Grundlage der natürlichen Photosynthese stellen einen

Teil des benötigten Energieträgers »Strom« zur Verfügung. Die Entwicklung führt zu Nutzungsmöglichkeiten auch für mehrge­schossige Bauweise.

Die Neugestaltung der Fassade der Stadtwerke Bochum (s. Abb. 53) sollte zu einer besseren Nutzung des Tageslichts führen und gleichzeitig die klimatischen Verhält­nisse in den

Büroräumen verbessern. Die gestaffelte blattartige Anordnung der ein­zelnen Elemente an

der fast ausschließlich nach Süden gerichteten Hauptfassade des Verwaltungsgebäudes soll eine bessere Nutzung des Tageslichts und eine transparente Verschattung ermöglichen. Ein

gerichtetes Reflexionslicht wird in Ergänzung zu den photovoltaischen Verschattungselemente durch eine besondere Gestaltung der Licht­lenkungslamellen in die Innenräume geworfen. Die Ausleuchtung des Raums in der Tiefe wird damit ermöglicht.

Die Nachführung der photovoltaischen Verschattungselemente auf thermohydrau­lischer Basis ermöglicht eine jederzeit optimale Ausrichtung. 86


Wenn künstliche photovoltaische Zellen nach dem Vorbild des grünen Blatts einmal zur

Serienreife entwickelt worden sind, werden diese natürlich für derartige Fassaden eingesetzt.

Bei der Oberlichtverglasung wird wiederum das Prinzip des Eisbärfells benutzt: transparente Wärmedämmung aus Glaskapillaren wird hier in die Isolierverglasung eingebaut. Die

Glaskapillaren tragen durch ihre Lichtlenkung zur Tiefenausleuchtung des Raumes bei.

Durch die blattartige Staffelung der einzelnen Elemente wird der thermische Auf­trieb auf der Rückseite der einzelnen Konstruktionselemente erhöht und somit das Aufheizen der dahinterliegenden Fassade, insbesondere im Hochsommer, gemindert. Wie man sieht,

beinhaltet Bau- und Architekturbionik eine Sichtweise, die sich vor Grenzüberschreitungen zur Ideengewinnung nicht drückt. In ihrer Gesamtheit werden die zahlreichen einzelnen

Übertragungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zu Baukonstruktionen der Zukunft führen, die sehr viel radikaler mit dem Heutigen bre­chen, als dies nach den hier vorgestellten Überlegungen auf den ersten Blick möglich erscheint.

WEITERENTWICKLUNG VON DOPPELFASSADEN IN VERBINDUNG MIT LÜFTUNGS­UND LICHTLEITSYSTEMEN

In einem kartesischen Diagramm der Temperatur in Abhängigkeit von der relativen

Luftfeuchte kann man einen zentralen Bereich als »menschliche Behaglichkeitszone«

festlegen (s. Abb. 54). In den dieser Zone anschlie­ßenden Bereichen lässt sich die Situation durch Feuchtigkeitszufuhr, Lüftung und Schattenspendung dem Idealbereich annähern. Je

nach Topographie und Klimazone wird man für die Gebäudeplanung die eine oder die andere

Facette verstärkt berück­sichtigen, etwa durch transparente Wärmedämmung (vergl. Abschnitt 1.3).

Die Temperatur kann man durch bauökologische Maßnahmen beeinflussen, Feuchtigkeit und Lüftung beispielsweise durch Luftzufuhr über Erddukte nach dem Präriehundbau-Prinzip,

Schattenspendung nach dem Lichtschwert-Prinzip, das sein Vorbild im Ast- und Blattwerk eines Baums hat.

Zur Doppelfassaden-Lüftung mit angeschlossenen Erddukten schreibt D. Oligmül­ler: »Der Wunsch, auch höhergeschossige Bauten natürlich zu be- und entlüften, hat sich bis heute nur teilweise erfüllt. Schwachpunkte sind nach wie vor:

1 die unzureichende Trennung zwischen Be- und Entlüftung,

2 die starke Überhitzung bei durchgehenden Lufträumen und dadurch bedingt,

3 eine sehr hohe Zulufttemperatur, eine stark abgekühlte Ablufttemperatur und Zu­ gerscheinungen beim Lüften im Winter,

87


4 aufwendige Abschottungen zur Erfüllung der schalltechnischen und brand­schutz-technischen Anforderungen.

Die Energiebilanz dieser Gebäude ist bisher erschütternd. Sie entspricht in keiner Weise auch

dem erweiterten Niedrigenergiestandard. Hier gilt es anzusetzen mit den Weiterentwicklungen. Dabei sollen zwei Lösungen näher betrachtet werden:

1 eine Fassadenkonstruktion, die den Zwischenraumkorridor auch nutzbar macht

(praktisch eine mehrgeschossige Wintergarten- oder Verandenkonstruktion), 2 eine Be- und Entlüftungsfassade, die konsequent zwischen Zu- und Abluft unter­scheidet.

Beiden Lösungen soll gemeinsam sein, dass sie ihre Zuluft über das Erdreich entwe­der

vorgekühlt oder vorgewärmt, je nach Jahreszeit, erhalten. Eine zusätzliche Vor­wärmung im Winter könnte durch passive Nutzung der Sonnenenergie in der Form erfolgen, dass eine

thermohydraulische Steuerung den Luftstrom im Falle starker Sonneneinstrahlung über eine Pufferzone lenkt.

»Das Lüftungssystem nach dem Prinzip des Präriehundbaus wird heute gelegentlich als

Trivial-Bionik bezeichnet. Dieser Eindruck mag vielleicht auf Grundlage der konstruktiven

Einfachheit entstehen, im Bauwesen ist es jedoch nach wie vor eines der effektivsten Systeme zur Energieeinsparung. Es ist immer wieder wohltuend zu erfahren, wenn dieses System als

einfachste und kostengünstigste Lösung empfohlen wurde, wie sehr Bauherrn und Nutzer von der Wirkungsweise überrascht sind.«

Für die Knobelsdorffschule in Berlin haben Schüler in Eigenleistungen einen Erdkanal zu

ihrer Werkstatt errichtet, der durch eine Außenluftvorwärmung bzw. Außenluft­kühlung die

klimatischen Verhältnisse in diesem Raum wesentlich verbessert hat. So wird zum Beispiel die Innenraumtemperatur im Sommer von ca. 29°C auf 24°C abgesenkt.

Das Bürogebäude der Kreisverwaltung Bad Segeberg war umzugestalten, weil durch die starke Lärm- und Abgasbelastung der unmittelbar angrenzenden B 206 die Arbeitsbedingungen in

den einzelnen Büroräumen nicht mehr vertretbar waren. Aus konstruktiven Gründen schied der

Einbau einer Vollklimatisierung aus, so dass schon der Abbruch erwogen wurde. Die Münchner Architekten F. und W. Lichtblau haben ein Belüftungssystem über Erdkanäle vorgeschlagen. Wegen der schlechten Luftqualität in der Gebäudeumgebung wurde dieser Kanal bis zu

einem naheliegenden Park geführt (Abb. 55 A). Zur Aufrechterhaltung eines kontinuierlichen Luftstroms wird dieser mo­torisch unterstützt. Die vorgehängte Fassade dient gleichzeitig als 88


Schallschutz und als Verteilerraum für die Luftzuführung des Erdkanals. Zu den Pionieren

der hier bespro­chenen Lüftungs-Wärmeübertragungs-Systeme gehören die amerikanischen

Architek­ten B. Yanda und R. Fisher, die bereits 1980 einen generellen Entwurf für sommerund wintertaugliches Haus mit derartigen Einrichtungen gegeben haben (Abb. 56 A-C).

DAS TRANSPARENTE LICHTSCHWERT Der Begriff der transparenten Verschattung spielt heute bei der wieder im Vordergrund

stehenden Nutzung des Tageslichtes eine bedeutende Rolle. Ihre Effekte sind am stärksten bei direkter Sonnenstrahlung. Sie ha­ben ihre größte Wirkung, wenn sie vor der Fassade

montiert sind. Sie können auch im Innenraum in Kämpferhöhe zur stützenden Wirkung der Lichtlenkung weitergeführt werden. Schon bei diffuser Strahlung ändern sich die positiven Eigenschaften, weil die Verschattung unterhalb des Lichtschwertes zunimmt und diese im

fensternahen Bereich eines Raumes zu stärkerer Beeinträchtigung der Nutzung des Tageslichtes führen kann.

Dieser Mangel soll durch transparente Lichtschwerter behoben werden. Ihre Wir­kung beruht darauf, dass Verschattungselemente gestaffelt sind und keine geschlosse­nen Flächen bilden

(Abb. 55 B, C). Das Ast- und Blattwerk eines Baumes dient hierzu als Vorbild (Abb. 55 D). Die Reflektion innerhalb dieser blattartigen Lamellen führt zu einem wesentlich transparenteren Schatten, der auch bei diffuser Strahlung, immerhin 60 % des Jahres­zustandes in unseren

Breitengraden, zu keiner starken Verschattung in Fensternähe unterhalb des Lichtschwertes führt. Lichtschwerter spielen spätestens seit Le Corbu­sier, der ein Konstruktionselement

des Daches seiner Kapelle Notre-Dame-Du-Haut in Ronchamp, Frankreich (1950-55) als

Lichtschwert gestaltet hat und damit eine einmalige innere Lichtführung erreicht hat, in der Architektur eine Rolle zur Lichtlen­kung und Verschattung«.

­

89


Dietrich Schwarz,

„Nachhaltiges Bauen“,

in: Detail 2007 6, S.600-605.

Nachhaltigkeit ist ein Begriff aus der Forst­wirtschaft, erstmals definiert im frühen 18.

Jahrhundert. In vielen Regionen MitteIeuro­pas, besonders solchen mit einer ausge­prägten

Bergbau- und Montantradition, wur­den die Kapazitäten der Wälder schon im späten Mittelalter überschritten und damit deren Begrenztheit deutlich. Erst aus die­sem Kontext heraus

bildete sich regional die eigentliche Forstwirtschaft und löste die bis dahin vorherrschende

unkontrollierte Aus­beutung der Wälder ab. Erstmals wurde Nachhaltigkeit im Jahr 1713 vor

dem Hinter­grund einer zunehmenden überregionalen Holznot von Carl von Carlowitz (16451714), dem Oberberghauptmann in Kursachsen, postuliert.

Die Helsinki-Resolution von 1993 definiert in modernen Begriffen die nachhaltige Wald­ wirtschaft als „Die Behandlung und Nut­zung von Wäldern auf eine Weise und in ei­nem

Ausmaß, das deren biologische Vielfalt, Produktivität, Verjüngungsfähigkeit, Vitalität sowie deren Fähigkeit, die relevanten ökolo­gischen, wirtschaftlichen und sozialen Funk­tionen gegenwärtig und in der Zukunft auf lokaler, nationaler und globaler Ebene zu er­füllen

gewährleistet, ohne anderen Ökosys­temen Schaden zuzufügen«. Dieser Rück­blick ist aus

verschiedener Sicht interessant und ermutigend: Es wurde erkannt, dass die Menschen durch ihr Handeln die Natur, wie man sie kannte und liebte, im Begriffe wa­ren, unwiderruflich zu

zerstören. Die Holznot und die Erkenntnis, dass sich eine Misere eingestellt hatte, die sich über

Jahrhunderte hinweg als Gewohnheit und vermeintlich einzig denkbarer ökonomischer Weg dar­ stellte, führten zu einer vollkommen neuen Waldwirtschaft.

ENERGIEPROBLEMATIK Wenn wir die Energieprobleme dieses Jahr­hunderts, die sich nach zweihundert Jahren der

Industrialisierung eingeschlichen haben, lösen wollen, müssen wir mit der genau glei­chen

Konsequenz unter Einbeziehung sämt­licher gesellschaftlicher Kräfte die Weichen jetzt richtig stellen, denn Maßnahmen von heute werden erst in fünfzig Jahren greifen. 90


Für die nächsten zwei Generationen werden die Kostenfolgen des Klimawandels

gigantische Ausmaße annehmen. Zudem muss da­von ausgegangen werden, dass die meisten erdölexportierenden Länder bereits ihre ma­ximalen Fördermengen erreicht haben, der

Erdölkonsum aber gleichzeitig mit dem glo­balen Wirtschaftswachstum weiter ansteigt. Ist der Höhepunkt der weltweiten Förder­mengen erreicht - in Saudi-Arabien vermut­lich ebenfalls in den nächsten zehn Jahren ­werden sprunghaft ansteigende Ölpreise zu erwarten sein.

Zurzeit ist der Klimawandel in aller Munde. Die Schweizer Großbank UBS nimmt sich in

ihrem neuesten „UBS research focus« vom Januar 2007 diesem Thema sehr präzise und ohne zu beschönigen an. Die folgenden Abschnitte zur allgemeinen Analyse der Sachlage stützen sich auf diesen Bericht. Unter dem Titel „Vermeidung schwerwie­gender Klimaereignisse«

wird festgehalten, dass ein Anstieg der durchschnittlichen Oberflächentemperatur der Erde um mehr als zwei bis drei Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Stand schwerwiegende sozioökonomische Folgen haben wird.

Eine Folge wäre u.a. ein Anstieg der Mee­resspiegel sowie der Verlust von Lebens­raum. Sollte

sich die Erde mit der bisherigen Geschwindigkeit weiter erwärmen, würde dieser Schwellenwert noch vor dem Ende dieses Jahrhunderts erreicht werden. Um schwerwiegende Klimaereignisse

zu verhin­dern, müssen die Emissionen gesenkt und die Konzentration der Treibhausgase stabili­ siert werden. Das Szenario eines unverän­derten Anstiegs weicht stark von der Rich­tung ab, die eingeschlagen werden müsste. Der weltweit durchschnittliche Pro-Kopf­Konsum von fossilen

Brennstoffen müsste um rund zwei Drittel reduziert werden, um die Treibhauskonzentrationen zu stabilisie­ren. In den Industrieländern müsste der Ver­brauch durchschnittlich sogar um den Fak­tor zehn zurückgehen. Dieser enorme Faktor zehn gibt eine ganz klare Marschrichtung

vor. Eine Möglichkeit dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen zeigt das Modell der ,,2000 Watt-

Gesellschaft« auf. Es wurde an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich (ETHZ) entwickelt. Demnach reicht für ein Land wie die Schweiz ein konstanter Leistungsbedarf

von 2000 Watt pro Kopf aus, um ein ungestörtes Wirtschaftswachs­tum und eine gleich hohe Lebensqualität wie heute zu ermöglichen. Zum Vergleich: Der Pro-Kopf-Leistungsbedarf in Afrika be­trägt 500 Watt, in Westeuropa sind es 6000 Watt und in den USA 12000 Watt. Wir

haben drei Möglichkeiten unseren Konsum fossiler Energie zu reduzieren: die erneuerbaren

En­ergiequellen erschließen, die Effizienz der Maschinen und Gebäude erhöhen oder un­seren Komfort einschränken. Wenn wir uns nicht rechtzeitig der bei den erstgenannten Strategien annehmen, wird zwangsläufig die letztere eintreffen.

Als Ausweg wird oft die Atomenergie ge­nannt. Jedoch werden deren Vorteile bei Weitem von deren Nachteilen überwogen. Nach heutigen Schätzungen werden die be­kannten

Uranvorkommen bei gleich bleiben­der Produktion und Kraftwerkskapazität noch für 60 Jahre reichen. Damit werden zurzeit gerade mal 6 % der weltweiten Pri­märenergieversorgung

91


gedeckt. Die Atom­energie wird unser Energieproblem nicht lö­sen können. Im Gegenteil, sie

hinterlässt ra­dioaktive Abfälle, welche mindestens 100000 Jahre sicher gelagert werden müs­sen. Zum Vergleich: Vor der gleichen Zeit­spanne herrschte noch das Paläolithikum (Altsteinzeit), Europa wird vom Neandertaler besiedelt, der Homo Sapiens ist noch nicht aus Afrika

eingewandert. So ist es nicht er­staunlich, dass bislang in den meisten Län­dern die Standortfrage und die Art der La­gerung ungelöst sind. Gemäß neuen Ökobi­lanzierungen ist die Atomenergie alles an­dere als CO2-neutral - das wäre aber ihr einziger Vorteil.

Die größte Einzelursache für Treibhausgas­emissionen ist wie bereits erwähnt die Nut­

zung von Energie aus fossilen Brennstoffen. Diese ist für etwa zwei Drittel des weltweiten

Gesamtausstoßes verantwortlich. Davon wiederum sind global betrachtet die Indus­trie, der Verkehr und die Gebäude zu etwa gleichen Teilen verantwortlich.

LÖSUNGSANSÄTZE Der einzige nachhaltige Weg aus der Ener­giemisere führt über die Wiedereingliede­rung

unserer Zivilisation in die natürlichen Energiekreisläufe. Als Wissenschafter und Ingenieure sind wir dafür mitverantwortlich. Es geht nicht darum, die Zeit vor die Indus­trialisierung

zurückzudrehen. Vielmehr sol­len mit den technischen Errungenschaften erneuerbare Energien genutzt werden ­Wind-, Geo-, Sonnen-, Wasser-, Gezeiten-, Biomassen- und Abfallenergie. Derzeit de­cken diese 14 % der globalen Primärener­gieproduktion ab. Um die Ziele der

2000­Watt-Gesellschaft zu erreichen, müssten diese, ausgenommen Biomasse und Groß­

wasserkraftwerke, jährlich um 11 % wachsen und die fossilen Brennstoffe im gleichen Zeitraum um 2 % zurückgehen. Dabei ist festzuhalten, dass alle nötigen Technologien bereits heute

bekannt sind. Durch eine breite Diversifizierung und geo­grafische Streuung entsteht auch die

nöti­ge Stabilität bezüglich Schwankungen im Stromnetz. Gleichzeitig muss aber der ge­samte Energieverbrauch der westeuropäi­schen Staaten um den Faktor drei von heute 6000 Watt auf den angestrebten 2000 Watt­Pro-Kopf-Leistungsbedarf gesenkt werden. Dies erreicht man in erster Linie mit der Effi­zienzsteigerung von Maschinen, Fahrzeu­gen und Gebäuden.

Nach Angaben der Europäischen Kommis­sion entfallen auf den Bau und die Instand­haltung von Gebäuden, einschließlich Hei­zung, Klimaanlagen, Beleuchtung und elek­trische Ausstattung,

40% des Energiever­brauchs in der EU. Genau hier beginnt die Verantwortung des Architekten. Bereits heu­te werden Wohnbau- und Büroprojekte mit einer über das Jahr ausgeglichenen Ener­giebilanz realisiert. Als baukonstruktive Ba­sis dient der Passivhausstandard, in der

Schweiz ist dies der Minergie-P-Standard. Ergänzt wurde dieser durch den Minergie­Eco-

Standard, der auch die Ökobilanz der Baumaterialien berücksichtigt. Die Energie­kennzahlen 92


sind in diesen modernen Stan­dards um den Faktor sechs bis zehn tiefer als bei den staatlich geforderten Werten. Die Bauherren sind unter anderem Pensi­onskassen, Lebensversicherer

oder Konzer­ne, die ihr Corporate Image mit energieeffi­zienten, modernen Bauten nach außen sichtbar machen wollen. Die institutionellen Anleger legen größten Wert darauf, dass die

Immobilienanlagen langfristig die nötigen Renditen abwerfen. Auch in diesem Punkt bieten solche »Nullenergieprojekte« bereits heute große Vorteile bei gleicher Rendite. Angestrebt werden stabile Bruttomieten, in denen die Heiznebenkosten bereits enthal­ten sind. Daraus

profitieren in erster Linie die Mieter, weil sie vor lästigen Nebenkosten­erhöhungen gefeit sind und so ihr privates Budget besser planen können, gleichzeitig entstehen Mietwohnungen mit einem we­sentlich höheren Wohnkomfort. Dem Inves­tor gibt es den Vorteil, dass er auf dem Wohnungsmarkt mit stabileren Mieten, un­abhängig vom Öl preis, in Zukunft einen gro­ßen

Marktvorteil besitzt. Betrachtet man die Lebenszykluskosten eines Gebäudes, so fällt auf, dass für die Erstellungs- und Pla­nungskosten gerade mal 17 % anfallen, hin­gegen für Unterhalt

und Erneuerung 40 % und für die Heizenergie 40%,3% muss für den Rückbau zurückgestellt werden. Ver­gleicht man ein modernes Nullenergiepro­jekt, ist zwar mit 10% höheren

Erstellungs­kosten zu rechnen, dies sind 1,5 % der Le­benszykluskosten, hingegen können 40% der Lebenszykluskosten in Form von nicht benötigter Energie eingespart werden. In dieser Betrachtung sind die zu erwartenden steigenden Energiepreise noch nicht be­rücksichtigt. Bauten haben im Vergleich zu Fahrzeugen eine wesentlich höhere Nutzungsdauer. Mit

entsprechenden Vorschriften könnten sämt­liche motorisierten Fahrzeuge innerhalb ei­ner Dekade durch umweltfreundliche Fahr­zeuge größtenteils ersetzt werden. Bei Bau­ten ist dies nicht

möglich. Es gilt daher nicht nur die Neubauten, sondern auch den Be­stand näher zu betrachten. Es wird kein Weg daran vorbeiführen, auch diese Bauten schrittweise zum Passivhausstandard

aufzu­rüsten. Selbstverständlich wird es Ausnah­men geben, so zum Beispiel historische Bauten

mit denkmal geschützten Fassaden, oder generell Bauten, die älter als 100 Jahre alt sind. Diese machen aber einen vernach­lässig baren Anteil des Baubestands aus und könnten zum Beispiel mit CO2-neutraler Biomasse beheizt werden. Wenn die Altbau­ten in den nächsten 50 Jahren auf den ge­forderten Standard aufgerüstet werden sol­len, so ist eine staatliche Koordination un­umgänglich, die öffentliches Interesse über privates Interesse stellt. Zumindest in der

Schweiz ist uns dies aus der Vergangenheit mit großem Erfolg bekannt - einerseits durch den

Nationalstraßenbau, andererseits durch die Raumplanung, die die explosions­artige Zersiedelung der Nachkriegszeit durch kantonale Richtpläne und kommunale Nutzungspläne bremsen und

lenken konnte. In beiden Fällen wurden die entsprechen­den Ämter und Planer aktiv. Das gleiche darf von der heutigen Generation von Pla­nem, Beamten und Politikern erwartet wer­den. Dieses Thema ist in dieser Konse­quenz neu und sollte sehr schnell an den Hochschulen analysiert und für eine öffentli­che Diskussion aufbereitet werden. Eines steht bereits heute fest: Das Dogma

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„Wirt­schaftswachstum bedeutet steigender ÖI­konsum« stimmt nicht. Im Gegenteil, die Ef­

fizienzsteigerung unserer Maschinen, Fahr­zeuge und des Baubestands wird die Bin­nenwirtschaft massiv ankurbeln und gleich­zeitig den Ölkonsum entscheidend senken.

Planung eines Nullenergieprojekts Nachhaltiges Bauen versteht sich nicht als neue

Architektursprache. Vielmehr wird durch den optimalen Einsatz der Baumateri­alien ein

energieeffizientes Gebäude mit ei­ner intelligenten Hülle und ausgewogener Haustechnik konzipiert. Konstruieren rückt wieder stärker ins Zentrum architektoni­schen Schaffens. Neue Materialien generie­ren eine neue Ästhetik. In einem ausgewo­gen konstruierten, energieeffizienten Ge­bäude stehen die Sparstrategie und die Ge­winnstrategie unter

Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten im Gleichgewicht. Die Sparstrategie ist aus dem Passivhaus­standard bestens bekannt: Eine kompakte Gebäudeform und eine gute Dämmung re­duzieren die Transmissionsverluste, eine kontrolliert dichte Gebäudehülle reduziert die

Lüftungsverluste. Durch die Haustechnik werden Energiekreisläufe der Medien Luft und Wasser durch Wärmerückgewinnung geschlossen. Abluft und Abwasser wird je­weils die

Wärme entzogen und der Frischluft respektive dem Frischwasser zugeführt. Doch auch die

Gewinnstrategie wird im Pas­sivhausstandard betrachtet. Große Fenster­öffnungen erzeugen auf der Südfassade so­lare Gewinne. Eine solche vereinfachte Kon­struktionsweise ist allerdings ungenügend, weil der Komfort darin unberücksichtigt bleibt. So führen Überhitzungen des

Innen­raums in der Realität im Winter zu geringe­rem Energienutzen und im Sommer zu Kom­ fortproblemen. Ein solarthermisches System muss daher immer mit dem Zusammenspiel von vier re­levanten Komponenten konstruiert werden:

1. Die transparente Wärmedämmung: Diese kann auch ein Isolierglas sein. Das Sonnen­licht dringt in das Gebäude ein, die Wärme kann dieses nicht mehr verlassen.

2. Der Absorber: Dieser kann auch selektiv sein; das Sonnenlicht wird an einer dunklen

Oberfläche absorbiert, also in Wärme umge­wandelt, gleichzeitig wird die Wärmeab­strahlung unterdrückt.

3. Der Speicher: Die absorbierte thermische Energie wird in Form von Masse gespei­chert und zeitverzögert an den Innenraum abgegeben - etwa als Strahlungswärme.

4. Der Überhitzungsschutz: Bei überschüs­sigem solaren Energieeintrag wird die Über­hitzung des Systems unterbunden. 94


Jede dieser Komponenten kann auf völlig unterschiedliche Weise ausgebildet werden, wichtig ist nur das kontrollierte und ausge­wogene Zusammenspiel. Somit resultieren verschiedenste Spielarten, die zu völlig neu­en Materialkombinationen führen und neue Baumaterialien

generieren. Optimal einge­setzte passivsolare Gewinnsysteme führen zu einer Reduktion

der Energiekennzahl um 30 bis 50 %. Passiv- und Nullenergieprojekte lassen sich dadurch einfacher konstruieren. Die genau gleichen Grundsätze gelten für die Glasarchitektur.

Auch dort geht es um die Kontrolle von Solareinträgen und Trans­missionsverlusten. Am

elegantesten ist dies der Fall, wenn man bereits in der Fassade selbst darauf reagiert - also das Sonnen­licht, wenn nötig, absorbiert, speichert, kon­trolliert, abführt und umgekehrt die Trans­

missionsverluste kompensiert. In diesem Zusammenhang wird an der Hochschule Liechtenstein innerhalb eines Forschungs­projektes mit Partnerhochschulen und -insti­tuten am „Thema Flüssigkeitsdurchströmte Gläser mit integralem Energiemanagement“ gearbeitet. Leider

bestehen bei den Bau­materialien große Defizite bezüglich dieser passivsolaren Komponenten, weshalb inner­halb von Forschungs- und Pilotprojekten zu diesem Thema immer wieder neue

passiv­solare Komponenten entwickelt werden müssen. Bei manchen mittlerweile serien­mäßig hergestellten Produkten werden Pha­se-Change-Materialien als Speichermaterial eingesetzt.

Dieses bei Raumtemperatur schmelzende bzw. gefrierende Salzhydrat besitzt die zehnfache

Speicherkapazität von Beton und ist daher nicht nur ästhetisch, sondern auch physikalisch ein überaus inte­ressantes Basismaterial. Als Überhitzungs­schutz werden prismatisch ausgeformte Ple­xiglasplatten eingesetzt, die die steil stehen­de Sommersonne reflektieren und die flach stehende Wintersonne transmittieren. Das Produkt ist modular aufgebaut und kann den jeweiligen Bedürfnissen der Architekten oder Bauherrn angepasst werden.

Auch in der Lehre müssen ernsthafte Schrit­te unternommen werden. Dabei lässt sich feststellen, dass das Interesse der Studie­renden sehr groß ist. Aus diesem Grund er­scheint es also durchaus angemessen, an jeder Hochschule oder Universität, an der Architektur unterrichtet wird, auch mindes­tens einen Masterkurs für nachhaltiges Bau­en anzubieten - mit den Hauptfächern Ent­ werfen und Konstruieren und den projektbe­zogenen Pflichtfächern Bauphysik, Material­lehre und Haustechnik. Nur wenn aber bei jungen Architekten das Interesse und das Verständnis für nachhaltiges Bauen ge­weckt und in der akademischen Ausbildung überdies eine solide

Grundlage für das Konstruieren gelegt wird, kann es gelingen, die enormen Herausforderungen durch die Energieknappheit unseres Jahrhunderts zu meistern.

Energie ist eine physikalische Größe und lässt sich somit präzise messen. Das heißt, dass auch energieeffiziente Bauten mess­bar geworden sind, etwa durch die Energie­kennzahl und die

Ökobilanzierung der Bau­materialien, welche den Betriebsenergiebe­darf und die graue Energie des Bauwerks beziffern. Dass Architektur dadurch mess­bar, womöglich noch qualifizierbar wird, ist für viele Architekten ein schrecklicher Ge­danke. Aber genau dies wird in Zukunft

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durch den »Energiepass« der Fall sein. Architektinnen und Architekten sollten sich nicht

defensiv gegenüber dem nachhaltigen Bauen verhalten, sondern aktiv und vielfältig den Diskurs der guten Architektur unter ge­änderten Rahmenbedingungen fortführen.

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Jean-Philipp Vassal,

„Séjourner sur L`herbe, Zum Technologietransfer von Lacaton & Vassal“,

in: Werk, bauen + wohnen 04, Andreas Ruby Gesprächsleitung, 2002, S. 10-15.

«Wäre die Natur vollkommen, brauchte man keine Häuser.» Emilio Ambasz wbw: Das Gewächshaus besitzt in eurer Architektur zweifellos eine Schlüsselposition.

Kaum ein Projekt, das nicht in irgend­einer Weise seine Einflüsse trägt: ob auf der Ebene des Materi­als (Polycarbonat). der Raumtypologie (als erweiterter Winter­garten) oder selbst der

Konstruktion wie in der Maison a Coutras, die ein industrielles Standardgewächshaus tel quel

als Wohnhaus reklamiert. Woher rührt diese ausserordentliche Bedeutung des Gewächshauses für eure Architektur?

Jean-Philippe Vassal: Das Gewächshaus hat sich an einem be­stimmten Punkt unserer Arbeit

als Möglichkeit erwiesen, um eine bestimmte Vorstellung vom Wohnen architektonisch umzu­ setzen. Diese Vorstellung wurde entscheidend durch meine Erfahrung in Afrika gebildet,

wo ich von 1980-85 gelebt habe, in Niamey, der Hauptstadt des Niger. Nachdem ich gerade mein Architekturstudium in Frankreich absolviert hatte, fand ich mich hier in extremen klimatischen Bedingungen wieder, die jedes europäische Verständnis von Architektur,

Haus und Wohnen komplett in Frage stellten. Im Niger steigt die Lufttemperatur tagsüber

auf etwa 40 Grad, und selbst nachts liegt sie immer noch bei 25 bis 30 Grad. Unter diesen Bedingungen hat Archi­tektur vor allem zwei Aufgaben: Schatten und Kühle zu er­zeugen. Das Haus muss sich also der Sonne verschliessen und gleichzeitig dem Wind öffnen.

Entsprechend ist die Strohhütte der gängige Haustyp: eine sehr leichte Konstruktion aus

Ästen, mit Wänden aus Stroh und Reismatten als Dach. Interessanterweise beruht die Maison Tropicale, die Jean Prouve 1949 in Niamey gebaut hat, auf demselben Prinzip.

Der einzige Unterschied liegt in den Materialien: Das Tragwerk ist aus Stahl, das Dach aus

Aluminiumblech, während die Aussenwände aus horizontal angeordneten Brise-Soleils gebil­ det werden, die mit ihrer hellen Aluminiumhaut die Sonne re­flektieren und so das Hausinnere vor Aufwärmung schützen. Durch die verschatteten Zwischenräume der Brise-Soleils strömt der Wind ins Haus und versorgt die beiden eingestellten Wohn­räume mit frischer Luft, um

schliesslich durch eine Längsöff­nung im Dach wieder zu entweichen. Bis heute ist Prouves 97


Haus das einzige moderne Haus in Niamey, das ohne Klimatisation auskommt. Es ist, als würden die extremen Bedingungen des Orts eine Re-Definition des Komforts erzwingen,

ihn von jeder bourgeoisen Konnotation befreien und auf eine gleichsam exi­stentielle Ebene zurückführen, auf der es einzig und allein darum geht, ob die Architektur innerhalb dieses extremen Kli­mas einen Ort schaffen kann, an dem es sich leben lässt.

wbw: Der Wohnraum ist so gesehen kein wirklich abgeschlosse­ner Innenraum, man wohnt

gewissermassen im Freien. Welche Rolle spielt dann überhaupt noch das Haus, wo fängt es an und wo hört es auf?

Vassal: Das Haus stellt im Wesentlichen jenes Minimum an Innenraum zur Verfügung, das man vor allem nachts braucht, um unter der endlosen Weite des Himmels ein Stück Intimität zu

finden. Bei den Tuareg-Nomaden ist das eine Mischung aus Hütte und Zelt: Ein grosses Stück

aus Schafs- oder Kamelhaut, das wie eine Plane über einigen im Wüstensand steckenden Ästen liegt und ein etwa 1,30 m hohes Obdach formt, das aus­schliesslich zum Schlafen dient. Am

Morgen nimmt man die Kis­sen und Teppiche, auf denen man die Nacht verbracht hat, hin­aus

ins Freie, um sich in der Morgensonne etwas aufzuwärmen. Wenn nach ein, zwei Stunden die

Sonne zu heiss wird, zieht man mit seinen ganzen Liegemöbeln weiter, um an einem Platz mit Sträuchern etwas Schatten zu finden. Gegen Mittag wird es auch hier zu heiss, und man bricht erneut auf, um ein kühleres Fleckchen unter Bäumen zu finden. So geht das den ganzen Tag. Auf diese Weise legen die Tuareg (wohnend) einen Weg zu­rück, der am Morgen beim Zelt beginnt und am Abend dort en­det.

wbw: Enthält dieses nomadische Wohnen auch eine Definition von Haus? Vassal: Ich glaube ja, nur beschränkt sich dieser Begriff von Haus nicht auf das Zelt,

sondern schliesst theoretisch die gesamte Landschaft der Wüste mit ein. Denn die Aktivität des Wohnens definiert einen Raum, der grösser ist als das Haus. Dadurch ver­liert das Haus

seine Grenzen und verwandelt sich in ein Territo­rium. Letztlich trifft das auch für ein Haus in Europa zu, nur hängt man hier noch an einem traditionellen Begriff von Haus, in dem

die Mauern des Hauses auch seine Grenzen bilden - eine sicherlich psychisch motivierte

Abgrenzung. Denn sobald man nur ein Fenster öffnet, erweitert sich das Haus zwangsläufig nach draussen, die Innenwand des Wohnraums schiebt sich an den Horizont und der

Ausblick wird zu ihrer Tapete. Deswegen ist nicht nur der Garten Teil des Hauses, sondern

genauso die Strasse, auf der man zu seinem Haus gelangt, eine Art anti­chambre en plein air. Letztlich ist die Wand eines Hauses eher eine Art Haut, und damit eine Membran und keine 98


Grenze. wbw: Eher wie eine Membran funktioniert auch die Fassade ei­nes Gewächshauses. Welche Rolle spielt nun das Gewächshaus im Zusammenhang mit dieser in Afrika beobachteten Wohnvor­stellung?

Vassal: Das Gewächshaus leistet in gewisser Weise die klimati­sche Übersetzung. Denn

natürlich ist das Wohnen im Freien, das mich in Afrika so fasziniert hat, in Europa aufgrund

des kälteren Klimas nicht wirklich möglich. In dieser Situation eröffnet das Gewächshaus die Möglichkeit einer begrenzten Klimakorrektur. Denn letztlich macht das Gewächshaus nichts

anderes, als einer bestimmten Kultur an einem ihr fremden Ort die für ihr Wachs­tum nötigen Bedingungen zu geben, indem es das örtliche Klima leicht modifiziert, ohne sich dabei von

diesem völlig abzukop­peln. Analog benutzen wir das Gewächshaus in unserer Archi­tektur, um eine Wohnkultur zu ermöglichen, die in unseren Breiten eigentlich nicht existieren könnte.

wbw: Auf diese Weise wird das Know-how, das die Gewächshaus­architektur in ihrer langen

Tradition anwendungsorientierter Forschung angesammelt hat, quasi von der Seite angezapft und für eine zeitgenössische Definition des Wohnens nutzbar ge­macht, weil es seitens der Architektur kaum eine Grundlagenfor­schung gibt, auf die man sich beziehen könnte.

Vassal: Deswegen ist die Architektur zum Beispiel für Rosen ja auch mindestens zehnmal so intelligent wie die Architektur für Menschen. Es liegen Welten zwischen dem thermischen

Kom­fort, den Pflanzen in einem Gewächshaus geniessen, und den Bedingungen, unter denen

Menschen in einem normalen Wohn­haus existieren. Spätestens hier versteht man, wie sehr das Wohnhaus immer noch in einer Logik der Protektion gefangen ist und wie zutiefst defensives sich zu seiner Umgebung verhält: so wenig Fenster wie möglich, so viel Wand wie möglich

und mit möglichst starker Isolation dazu - alles festgelegt und vor­geschrieben in unzähligen

Bauvorschriften, die von einem völlig traditionellen Haus ausgehen und immun sind gegen jede Bemühung, von anderen Disziplinen zu lernen, wie sich Wohnbe­dingungen vielleicht besser gestalten lassen könnten.

Im Gegensatz dazu weisen Gewächshäuser dank der Jahrzehnte­ lang in sie investierten

Forschungsarbeit heute ein Mass an In­telligenz auf, das im Vergleich zur Architektur wie

Science-Fic­tion anmutet. Das zeigt sich unter anderem in der Zuverlässig­keit, mit der man in heutigen Gewächshäusern die klimatischen Bedingungen steuern kann: So lässt sich

die Temperatur auf ein halbes Grad, die Luftfeuchtigkeit auf einen ganzen Prozent­punkt

genau bestimmen; die Menge an einstrahlendem Son­nenlicht ist ebenso steuerbar wie die 99


Intensität der Luftzirkula­tion. Und da das Klima im Gewächshaus nicht autonom ist, son­

dern vom Aussenklima abhängt, müssen alle diese Parameter fortwährend mit den äusseren

Bedingungen wie Helligkeit, Feuchtigkeit, Temperatur und Windstärke abgeglichen werden, um im Inneren dauerhaft jenes Klima zu garantieren, das die an­gebaute Kultur benötigt.

wbw: Trotz oder vielleicht auch wegen dieser tiefen Kluft be­treibt eure Architektur seit Jahren ein „Learning from the Green House“. Welche Erfahrungen habt ihr bei diesem Typologie­ und Technologie-Transfer speziell mit Ingenieuren gemacht? Vassal: Als wir unser erstes Projekt realisierten, das Haus Lata­pie, brauchten wir die Expertise eines Haustechnikers.

Angesichts des kleinen Budgets des Projektes war es jedoch sehr schwierig, Ingenieurbüros

zu interessieren, die das norma­lerweise für Architekten machen. Schliesslich fanden wir ein besonderes Institut, die I`Agence pour les Economies d‘Ener­gie, in dem es zwei separate

Haustechnik-Abteilungen gab; die eine beschäftigte sich ausschliesslich mit Gewächshäusern, die andere nur mit Wohnhäusern. Wir präsentierten unser Pro­jekt in beiden Abteilungen und

trafen bei den Ingenieuren zu unserer Überraschung auf zwei völlig antagonistische Vorstel­ lungen von Thermik: Sprach der eine fortwährend darüber, wie man sich vor dem Draussen

schützen könnte - durch Wär­meisolation, Doppelfenster, Vermeidung von Kältebrücken etc. -

so schwärmte der andere begeistert davon, wie man sich das Draussen zunutze machen könnte - mit voll transparenten Fassaden zur Wärmegewinnung sowie mit einfachen und leich­ten

Lüftungs- und Verschattungssystemen zur Steuerung des Raumklimas. Unnötig hinzuzufügen, dass die beiden nie miteinander sprachen.

wbw: Und wo würdet ihr euch in diesem Streit der Klima-Ideolo­gien positionieren? Vassal: Wahrscheinlich irgendwo dazwischen, auch wenn unser Dazwischen dem Gewächshaus schon näher ist als der Architek­tur. Von dieser Position aus entwickeln wir unsere Projekte, um jene entgrenzte Vorstellung des Hauses zu verwirklichen, die ich bei den Nomaden im Niger erlebt hatte. Das Gewächshaus bot sich hier förmlich an, weil es aufgrund seiner

filigranen Struktur in permanenter, fast intimer Beziehung zum Aussen steht. Es ist insofern das genaue Gegenteil der „Biosphere“, de­ren Glaskuppel zwar auch die Sonnenstrahlung nutzt, um sich aufzuheizen, aber ansonsten ein Biotop bildet, das vom Aussen völlig abgeschottet ist.Im Gegensatz dazu verstehen wir Architektur eher wie die Schichten von Kleidung auf der Haut.

Ist es draussen warm, trägt man nur ein leichtes Hemd. Wenn es etwas frischer wird, zieht man

einen Pullover drüber. Später nimmt man auch noch einen Mantel, weil es kühl wird, dann noch einen Regen­mantel, weil es zu regnen anfängt, und zu guter Letzt einen Regenschirm, um seine Haare gegen Wind und Nässe zu schüt­zen. Genauso besteht auch ein Haus aus sukzessiven 100


Schichten, die das Leben bekleiden, das sich unter seinem Dach ereignet. wbw: Das ist im Wesentlichen eine programmatische Begrün­dung für eure Verwendung des

Gewächshauses. Nun sind Gewächshäuser aber auch eine ausgesprochen kostengünstige Form des Bauens, und da auch eure Architektur für ihre noto­risch geringen Baukosten bekannt ist, stellt sich unweigerlich die Frage, in wie weit das häufige Auftreten des Gewächshauses in euren Projekten auch ökonomisch motiviert ist.

Vassal: Das eine schliesst das andere nicht aus. Dass das Ge­wächshaus als industrielles

Standardprodukt billig ist, spielt für uns zweifellos eine wichtige Rolle. Doch geht es uns

nicht um die Kostengünstigkeit an sich, sondern darum, was man sich mit dem eingesparten

Geld leisten kann. Man muss sich vergegen­wärtigen, dass ein Quadratmeter Gewächshaus mit der ganzen Ausrüstung wie Verschattung, Ventilation, automatische Fen­stersteuerung sowie

einem 4-5 Meter hohen Volumen nicht mehr kostet als ein guter Fliesenboden - ca. 600-700 FF 1m2. Also begnügen wir uns beim Boden mit einem einfachen Beton­boden und bauen

mit dem frei werdenden Geld entsprechend mehr Raum - ungefähr 2-3 mal mehr als ihn ein

konventionelles Wohnhaus für dasselbe Budget bietet. Und dieses Mehr an Raum ist für uns

von zentraler Bedeutung, weil es das Haus je­ nem Begriff von Territorium annähert, von dem

wir vorhin sprachen. Die räumliche Expansion des Hauses durch Gewächs­hausstrukturen macht es möglich, das Wohnen aus der Zwangs­jacke des Grundrisses zu befreien. Anstatt in ZimmerZellen eingesperrt zu sein, können die Funktionen gewissermassen im Raum „spazieren

gehem“. Und weil sich im Gewächshaus der Übergang von innen nach aussen sehr weich

vollzieht, kann sich das Wohnen auch aus dem Haus hinaus bewegen - zum Bei­spiel, wenn das Wetter schön ist, und man sein Essen im Garten einnimmt.

wbw: Mit dem Versprechen eines Wohnens im Grünen lockt die Fertighausindustrie Jahr für

Jahr Millionen in die sich allmäh­lich entgrünenden Vororte. Disqualifiziert es sich dadurch nicht als Vision für eine zeitgenössische Forschung des Wohnens?

Vassal: Nein, weil die Fertighausindustrie dieses Versprechen

ja gar nicht einlöst, sondern nur als Klischee formuliert. Diese Klischees sind umso lebloser, je

stärker sie sich auf ländliche Vorbilder berufen. So bemüht beispielsweise eine maison land­aise, die man als Fertighaus kaufen kann, die Vorstellung eines Bauernhofs in den endlosen Wäldern des Landes im Südwesten Frankreichs. In seiner wirklichen Existenz funktioniert dieses Haus

sehr stark mit seiner direkten Umgebung im Wald. Es steht an einer Lichtung mit einem grossen einzelnen Baum in der Mitte, meistens einer Eiche. An ihrem Stamm stehen eine Bank und

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ein Tisch, und sobald es das Wetter erlaubt, gehen die Leute aus dem Haus über die Lichtung, setzen sich unter die Eiche, um dort zum Beispiel ihr Essen einzunehmen. Der Baum und die Lichtung gehören also sehr wesentlich zum Haus dazu. Wenn man eine maison landaise nun

als Fertighaus verkauft und damit auf das nackte Objekt des Hauses reduziert, hat das mit der

ursprünglichen maison landaise nichts mehr zu tun - ganz abgesehen davon, dass wenn man den Bauernhof im Wald 500-mal nebeneinander stellt, vom Wald natürlich nichts mehr übrig bleibt. Während die maison landaise einen Bezug zum Ort nur vorgibt, in Wirklichkeit aber völlig von ihm abgeschnitten ist, baut das Gewächshaus, das scheinbar völlig ortlos ist, einen ungemein intensiven Bezug zu seiner Umgebung auf.

wbw: Nun ist das Gewächshaus nicht dafür erfunden worden, um darin zu wohnen. Wie muss man es anpassen, damit es bewohn­bar wird?

Vassal: Im Grunde braucht man das Gewächshaus nur mit einer festen Hausstruktur zu

ergänzen, entweder als An- oder Einbau, wohin man sich an Tagen mit extremer Witterung, oder wann immer man es sonst benötigt, zurückziehen kann. Diese Struk­tur muss mit

Transitionsmöglichkeiten ausgestattet werden, damit sich das Wohnen bei Bedarf in einen

grösseren Raum er­weitern kann. Ein Beispiel dafür ist die grosse Faltwand im Erdgeschoss der Maison Latapie zwischen dem festen Wohn­raum und dem Gewächshausanbau. Im geöffneten Zustand er­weitert sich das Wohnzimmer aus dem festen Haus in das Gewächshaus hinaus

und verdreifacht dabei seine Grösse. Die Bewohner haben diese Kontinuität sofort genutzt,

indem sie es mit Wohnzimmermöbeln einrichteten und damit gleichsam in einen sejour d‘hiver

verwandelten, der sehr bald zum Haupt­wohnraum des Hauses wurde. In der Maison EI Coutras ist der Wohn bereich vom Winter­garten nur durch gläserne Schiebetüren getrennt, sodass

sich das Wohnen auch hier unmerklich aus dem festen Haus in den Wintergarten bewegen

kann. Im Gegensatz zur Maison La­ta pie ist der Boden des Wintergartens hier nicht befestigt, sondern besteht aus demselben Erdboden wie vor dem Haus auch. Die Bewohner benutzen

ihn als wirklichen Garten, der von einem Gewächshaus „behaust“ wird, haben Blumen und Ge­ müse gepflanzt und sogar einen Brunnen gegraben; doch dient der Wintergarten genauso zum

Wäscheaufhängen, als Abstell­raum und als Frühstücksterrasse - eine Art sejour sur I‘herbe. Und in beiden Häusern lässt sich das Gewächshaus natürlich auch zum Aussenraum öffnen, damit man bei schönem Wetter über sein Haus hinaus ins Territorium wohnen kann.

wbw: Dennoch bildet seine Fassade nach wie vor eine Grenze, die erst überwunden werden muss.

Die konsequente Entspre­chung dieses Wohnens wäre ein Gewächshaus, das diese 102


Transition von Innen-, Zwischen- und Aussenraum durch sein ei­genes Verschwinden mit vollzieht.

Vassal: Das ist genau die Richtung, in die sich die Gewächshaus­architektur derzeit entwickelt. So wird das bisher verwendete Fassadenmaterial Wellpolycarbonat zunehmend durch eine

dünne, aber stabile Plastikfolie ersetzt, die aus zwei übereinan­der liegenden Folien besteht und wie eine Luftmatratze auf­gepumpt werden kann. Das etwa 30 cm dicke Luftpolster gibt der

„Fassade“ eine sehr gute thermische Isolation, sodass die Wärme auch nachts, wenn die Sonne untergegangen ist und normale Gewächshäuser kalt werden, zumindest teilweise gehalten

werden kann. Das Verschwinden des Gewächshauses schlägt sich auch im Preis nieder: von 50

FF 1m2 (Polykarbonat) auf 5 FF 1m2. Dafür hält die Plastikfolie nur ca. zwei Jahre. Doch weil sie so billig und leicht zu installieren ist, ersetzt man sie bei Bedarf einfach durch eine neue Folie.

Vollständig entmaterialisiert wird die Fassade in dem neue­sten Gewächshaus von Filclair, dem

weltweit führenden Ge­wächshausproduzenten, „Open Sky“: Es kann seine Folie inner­halb von 3 Minuten wie einen Hemdsärmel aufrollen, übrig bleibt die nackte Metallstruktur. Auf diese

Weise existiert das Gewächshaus nur noch dann, wenn man es braucht, also vor allem während

der Winterzeit. Wird das Wetter im Sommer schön, kann man die Folie hochrollen und nur noch bei zu star­kem Regen oder Hagel herunterlassen.

In der Architektur kann man dieses Produkt nicht anwen­den, weil es die Feuerschutzrichtlinien nicht erfüllt (obwohl es im Brandfall nicht brennt, sondern sehr schnell schmilzt und dadurch

das Feuer nicht weitergeben kann). Wir bedauern das, denn in gewisser Weise repräsentiert es

unsere Idealvorstellung von Architektur. Eine Architektur, die der Natur nicht mehr hin­zufügt, als ihr zur Vollkommenheit fehlt. Jean-Philippe Vassal, * 1954

Dipl. Arch. Ecole d‘architecture de Bordeaux. 1980-85 Architekt und Städtepla­ner in Niamey, Niger. Seit 1987 eigenes Architekturbüro in Bordeaux zusammen mit Anne Lacaton. 1992-99

Professor an der Ecole d‘architecture de Bordeaux, 1994-99 Professor an der Ecole des BeauxArts, Bordeaux.

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Vitruv

[Marcus Vitruvius Pollio], Zehn Bücher über die Architektur. Wie man bei der Anlage der

einzelnen Räume auf die Himmelsrichtungen Rücksicht nehmen muß,������������������������� übers. Dr. Curt Fensterbusch, [Dritte Auflage 1964],

Darmstadt: wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1981, S. 145.

Jetzt werden wir auseinandersetzen, infolge welcher Besonder­heiten hinsichtlich ihrer

Verwendung die einzelnen Räume der Ge­bäude nach (bestimmten) Himmelsrichtungen

zweckentsprechend aus­gerichtet sein müssen. Winterspeisezimmer und Bäder sollen gegen SüdSüd-West gerichtet sein, weil man sich des Abendlichts be­dienen muß, außerdem, weil auch die Abendsonne, indem sie nach den genannten Räumen zu ihre glänzenden Strahlen ausbreitet,

Wärme ausstrahlt und die Gegend am Abend erwärmt. Schlafzimmer und Bibliotheken müssen gegen Osten gerichtet sein, denn ihre Benutzung erfordert die Morgensonne, und ferner

modern dann in den Bibliotheken die Bücher nicht. In Räumen nämlich, die nach Süden und Westen liegen, werden die Bücher von Bücherwurm und Feuchtig­keit beschädigt, weil die

von dort ankommenden feuchten Winde Bücherwürmer hervorbringen und ihre Fortpflanzung

begünstigen und dadurch, daß sie ihren feuchten Hauch (in die Bücher) eindringen lassen, durch Schimmel die Bücher verderben. 2. Die Frühlings- und Herbstspeisezimmer nach Osten: denn

den Lichtstrahlen ausgesetzt macht sie die zugewandte Sonneneinstrahlung, gegen Westen fort­

schreitend, zu der Zeit, zu der man sie gewöhnlich benutzt, mäßig warm. Sommerspeisezimmer nach Norden, weil diese Him­melsrichtung nicht wie die übrigen während der Sonnenwende

in­folge der Hitze schwül wird; weil sie vom Lauf der Sonne abge­wendet ist, gewährleistet sie

- immer kühl - Gesundheit und Annehmlichkeit bei der Benutzung. Ebenso die Gemäldesäle, die Webereien der Brokatwirker und die Werkstätten der Maler, damit die Farben wegen der immer gleichmäßigen Lichtbestrahlung immer in gleicher Nuance bei der Arbeit erscheinen.

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Tesuro Yoshida,

Das japanische Wohnhaus. Lüftung, Heizung, Belichtung, Wasserversorgung und Entwässerung, Berlin: Ernst Wasmuth GmbH, 1935, S. 145-150.

ALLGEMEINES Neben wohntechnischen, sozialwirtschaftlichen und ästhetischen Gesichtspunkten nimmt die

Hygiene beim Wohnungsbau eine außerordentlich wichtige Stellung ein. Alles, was Besonnung, Belüftung, Belichtung und Beheizung der Räume sowie Wasserversorgung und Entwässerung

anbetrifft, fällt in das Bereich der Hygiene. Die Gestaltung der Wohnung nach den Grundsätzen der Hygiene gehört also zu den ersten Erfordernissen beim Wohnungsbau. Bei der Betrach-

tung des japanischen Wohnhauses vom hygienischen Gesichtspunkt aus ist es notwendig, noch einmal einen kurzen Blick auf das Klima, die Lebensweise sowie auch das geistige Leben des Japaners zu werfen.

Das Klima in Japan ist derart, daß es kaum nötig ist, das Haus gegen Temperatur-Einwirkungen zu verschließen; man ist gewohnt, sich hier zu allen Jahreszeiten im Freien aufzuhalten. Andererseits hat der starke Einfluß des Buddhismus und die orientalische Philosophie, die die An-

sprüche der Menschen auf das äußerste beschränkt wissen wollen, dahin gewirkt, daß es dem japanischen Menschen selbstverständlich erscheint, sich mit wenigen Dingen zufrieden zu geben.

Deshalb stellt man auch keine großen Ansprüche an die Wohnung, sondern sucht im Winter wie

im Sommer ein möglichst naturverbundenes leben zu führen. In dieser Denkart und lebensweise der Japaner liegt auch der Grund, daß sich in Japan die technischen Einrichtungen nicht sonderlich entwickelt haben. In den Häusern des Mittelstandes ist man heutzutage in allererster Linie

darauf bedacht, die von der Natur gebotenen Mittel, wie Sonne, luftzug u. dgl., voll auszunutzen und die als Ersatz für die natürlichen Mittel notwendigen künstlichen Einrichtungen auf das äu-

ßerste zu beschränken. Unter dem direkten und indirekten Einfluß der europäischen Zivilisation finden aber die modernen technischen Einrichtungen, die bisher nur in öffentlichen Gebäuden verwendet wurden, nach und nach ihren Eingang auch in die Wohnhäuser.

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LÜFTUNG Aus den früher geschilderten klimatischen Verhältnissen heraus ist eine gute Belüftung des

japanischen Hauses von großer hygienischer Bedeutung und daher allererster Gesichtspunkt

bei seiner Gestaltung. Durch Luftzirkulation muß die Luftbeschaffenheit im Hause besonders im Sommer erträglich gemacht und auch der Schimmelpilzbildung entgegengewirkt werden. Der Japaner baut daher sein Haus unter Berücksichtigung des sommerlichen Klimas im we-

sentlichen im Hinblick auf guten Luftzug. Beispielsweise liegt in Tokyo die Windrichtung im

Sommer zwischen 290 und 450 von Süden nach Osten (vgl. Abb. 168). Daher sollen nach Möglichkeit alle Wohnzimmer nach Süden orientiert werden und auch von der Nordseite Offnungen

haben, damit guter Luftzug erzielt wird. Der Luftwechsel ergibt sich daneben teilweise ganz von

selber aus der Holzkonstruktion, die durch Spalten usw. weitgehend luftdurchlässig ist, wie auch durch das für Wände, Fenster und Türen ver¬wendete sehr poröse Baumaterial ; besonders das

für Shoji verwendete Papier ist sehr luftdurchlässig. Die hygienische Abteilung der Kaiserlichen Universität in Kyoto hat Untersuchungen über die Lufterneuerung in geschlossenen Räumen angestellt, sowohl in japanisch als auch in europäisch gebauten Häusern. Es wurde ermittelt, daß der Luftwechsel im japanischen Hause ca. das Vierfache gegenüber dem im europäisch

gebauten Hause beträgt. Während beim japanischen Durchschnittshaus in einer Stunde eine ca. zweimalige vollständige Lufterneuerung stattfindet, geschieht das beim europäisch gebauten

Haus nur ca. 0,5 mal. Die Nachteile einer mangelhaften Lufterneuerung für Gesundheitszustand und Sterblichkeit sind statistisch erwiesen und machen sich besonders bei stärkerer Belegung

der Schlafzimmer bemerkbar. In Japan hat zufolge der vortrefflichen Lufterneuerung eine starke Belegung der Räume nicht die ungünstige Wirkung wie in Europa. Infolgedessen ist ein geringer Unterschied in dieser Hinsicht zwischen den Wohnungen der reichen und armen Bevölkerung Japans.

Durch die weitgehende Beschränkung der festen Wände und ihren Ersatz durch verschiebbare und entfernbare Wandteile wie Türen ist die Möglichkeit geschaffen, das japanische Haus

gewissermaßen in eine einzige große Halle umzuwandeln und die Grenze zwischen Garten und Innenräumen zu beseitigen. Das geschieht im Sommer zur Tageszeit regelmäßig; wo aber auf

das Vorhandensein von Türen Wert gelegt wird, verwendet man Schilfrohrtüren oder Schilfrohrvorhänge, die den Luftzug nicht behindern. Zur Nachtzeit muß natürlich auf Einbruchsgefahr Bedacht genommen werden. Es finden daher nachts im Sommer und in den kälteren Jahres-

zeiten Lüftungsöffnungen Anwendung, die einmal in der Oberwand als Ramma (vgl. Abb. 134), sodann im Oberteil der verschiebbaren Holzladen in Gestalt von Registern als Musemado (vgl. Abb. 158, 159) und schließlich unmittelbar über dem Fußboden als Hakidashimado mit 15 cm hohen Schiebetüren angeordnet sind. 106


HEIZUNG Das winterliche Klima der wichtigsten Städte Japans, Tekye, Osaka, Kyeto usw., ist ein kälteres als das von Paris und London, aber viel wärmer als das von Berlin (vgl. Abb. 3). Im Winter gibt es oft sonnenreiche warme Tage, an denen man die Wohnungen weit öffnet und Licht und Luft

eindringen läßt. Das Bedürfnis nach Heizung der Räume ist daher nicht so groß wie in Europa.

Von alters her ist das transportable Feuerbecken, Hibachi, mit glühenden Holzkohlen in Benut-

zung, an dem sich der der Temperatur entsprechend bekleidete Japaner nur die Hände wärmt. In kälteren Gegenden und in Familien mit bejahrten Familienmitgliedern findet noch eine andere Art Feuerbecken Verwendung: es besteht aus feuerfestem Material und ist in den Fußboden

eingesenkt, es ist also ortsfest. Ober diesem Feuerbecken erhebt sich ein tischartiges Rahmen-

gestell, über das eine Decke gebreitet ist. Die japanische Familie sitzt um dieses Kohlenbecken

herum und bedeckt den unteren Körper mit der Decke, durch die die Wärme zusammengehalten wird; es ist also eine Art Heißluftbad und wird Kotatsu genannt. Heizvorrichtungen wie elek-

trische Ofen und Gasöfen und Zentralheizungen sind nur in besseren Wohnungen in Benutzung.

BELICHTUNG UND BELEUCHTUNG Durch die großen Fensterflächen und Türöffnungen dringt tagsüber das helle Licht in die Räume, das durch die überwiegende Verwendung von durchscheinendem Papier statt des Glases

eine angenehme, aber auch notwendige Dämpfung erfährt. Als künstliche Lichtquelle ist heute das elektrische Licht weit verbreitet; vordem benutzte man Kerzen, Öllampen und Petroleumlampen. Man wendet meistens direkte Beleuchtung an, mattverglaste oder mit durchschei-

nendem Papier bespannte Beleuchtungskörper von einfachster Form, die ein gedämpftes Licht verbreiten.

WASSERVERSORGUNG UND ENTWÄSSERUNG In den meisten Großstädten Japans ist die Wasserversorgung durch Wasserleitung an europä-

ischen Verhältnissen gemessen und im Verhältnis zur Einwohnerzahl noch sehr rückständig. Nur ein Siebentel der Einwohner sind an das Wasserleitungsnetz angeschlossen. Die hauptsächlichs-

te Wasserversorgung erfolgt durch Brunnen, die im Hof oder Garten, besonders nahe der Küche, manchmal auch in der Küche selbst liegen und mit Holzdeckeln versehen sind. Gefördert wird das Wasser mittels elektrischer oder Handpumpe; falls die Pumpe im Freien liegt, wird es in

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Gefäßen ins Haus getragen. Kanalisation für die Abwässer und die Aborte ist nur in wenigen

Städten und in diesen auch nur in einzelnen Teilen vorhanden. Soweit keine Kanalisation vor-

handen ist, werden die Abwässer in zementierte, offene Gossen geleitet, während die Fäkalien aufs Land abgefahren werden.

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Tagespresse:

109


hof.

“Dreckige Autos verteuern - Solardächer bauen“, in: Neue Zürcher Zeitung, 04. September 2007, S. 15.

Leuenberger will Energieeffizienz und erneuerbare Energien fördern

Bundesrat Leuenberger hat Aktionspläne zur Energieeffizienz und zu den erneuerbaren Energien in eine nationale Anhörung geschickt. «Saubere» Autos sollen billiger werden und energetische Gebäudesanierungen mit Mitteln aus der CO2-Abgabe gefördert werden.

Bundesrat Moritz Leuenberger hat am Montag Aktionspläne zu Energieeffizienz und

erneuerbaren Energien in eine nationale Anhörung geschickt. Bis Mitte Oktober kann die

Öffentlichkeit ihre Kritik und Vorschläge zuhanden des Bundesamtes für Energie einbringen.

Ende Jahr wird dann der Gesamtbundesrat über die Aktionspläne entscheiden, die auf der vom selben Gremium beschlossenen Vier-Säulen-Politik im Bereich der Energie beruhen: mehr

Energieeffizienz, Ausbau der erneuerbaren Energien, Verstärkung der Energieaussenpolitik und

Bau von neuen Kraftwerken. In den nun vorgeschlagenen Aktionsplänen «Energieeffizienz» und «erneuerbare Energien» werden die zwei ersten Säulen konkretisiert. Auf die Frage, ob im Falle einer Umsetzung aller Massnahmen auf den Bau eines Grosskraftwerkes verzichtet werden

könnte, wich Leuenberger aus. Sicher sei, dass dann kein zusätzliches neues gebaut werden müsste, sagte er.

3000 Franken weniger für sauberes Auto

Die Ziele, die mit den Aktionsplänen erreicht werden sollen, bestehen zum einen in einer

Reduktion des Verbrauchs fossiler Energien um 1,5 Prozent pro Jahr, einer Stabilisierung

des Elektrizitätsverbrauchs auf dem Niveau vom Jahr 2006 und der Anhebung des Anteils

erneuerbarer Energien am Gesamtenergieverbrauch um mindestens 50 Prozent bis zum Jahr

2020; heute liegt der Anteil der erneuerbaren Energien bei 16,2 Prozent. Erreicht werden soll dies mit verschiedensten Massnahmen (siehe Kasten). Bereits bekannt ist die Einführung der CO2-Lenkungsabgabe auf Treibstoffen ab 2013; diese würde mit etwa 15 bis 50 Rappen pro

Liter zu Buche schlagen (NZZ vom 17. 8. 07). Im Bereich der Mobilität will Leuenberger mit 110

der Autoindustrie verschärfte Zielvereinbarungen bei den CO2-Emissionen aushandeln oder


auch direkt erlassen. Die Ziele dazu orientieren sich, wie alle anderen Massnahmen auch, an denjenigen der Europäischen Union. Bis 2012 sollen die Emissionen auf maximal 130 g/km gesenkt werden.

Auf der Fahrzeug-Importsteuer will der Vorsteher des Departements für Umwelt, Verkehr,

Energie und Kommunikation ein Bonus-Malus-System einführen; damit soll der Kauf von

«sauberen» Fahrzeugen gefördert werden. Ein sparsameres Auto erhielte auf diese Weise einen Rabatt von 3000 bis 4000 Franken, sagte Leuenberger an der Medienkonferenz in Bern.

Neben den Massnahmen im Bereich der Mobilität zählen diejenigen im Gebäudebereich zu

den wohl wirksamsten. Mit einem befristeten nationalen Förderprogramm soll die energetische Erneuerung der Gebäude vorangetrieben werden. Eigentümer von Gebäuden, die aus den

Jahren vor 1995 stammen, kämen zwischen 2010 und 2020 in den Genuss von Fördermitteln, wenn sie ihre Immobilien auf den Stand von Minergie renovieren. Die Kosten dafür werden

auf mindestens 215 Millionen Franken veranschlagt. Alimentiert würden sie aus der ab 2008 geltenden CO2-Abgabe. Diese Förderung würde das Sanierungsprogramm der Stiftung Klimarappen ablösen.

An die Kantone wird zudem die Empfehlung gerichtet, dass ab kommendem Jahr bei

Neubauten der Minergie-Standard gelten soll. Bundesrat Leuenberger sagte, dass es dabei

nicht darum gehe, in die Kompetenz der Kantone einzugreifen, sondern vielmehr darum, die Zusammenarbeit untereinander zu verbessern. So seien es die Kantone, die die Beiträge zur Gebäudesanierung einsetzten, die zuvor vom Bund mit der CO2-Abgabe erhoben würden. Auch die Glühbirne, die in den vergangenen Monaten immer wieder für Gesprächsstoff

sorgte, taucht in den Aktionsplänen auf: Ab 2012 soll sie nicht mehr auf dem Markt angeboten werden dürfen. Auch die energetischen Mindestanforderungen an elektronische Geräte

werden verschärft. Hier geht es vor allem darum, nur noch möglichst energieeffiziente Geräte zuzulassen, die zum Beispiel Stand-by-Verluste minimieren. Dies seien «keine utopischen Vorstellungen», sagte Leuenberger. Entsprechende Geräte seien bereits auf dem Markt. Nur umweltverträglicher «Bio»-Treibstoff Um den Anteil der erneuerbaren Energien zu erhöhen, fordert Leuenberger unter anderem «100 000 Solardächer»; entsprechende finanzielle Anreize sollen dies ermöglichen. Bei Neubauten soll eine Pflicht zur Prüfung der Nutzung von Sonnenenergie zur

Warmwasseraufbereitung und zur Heizungsunterstützung eingeführt werden. Noch

brachliegende Potenziale bei der Wasserkraft sollen mit «massgeschneiderten Lösungen» für 111


einzelne Wasserkraftwerke genutzt werden. Bei den biogenen Treibstoffen will Leuenberger eine verpflichtende, bis auf 10 Prozent steigende Quote einführen. Den fossilen Treibstoffen würde also ein bestimmter Anteil von Treibstoffen, die aus nachwachsenden Organismen gewonnen werden, beigemischt. Nicht jeder «Bio»-Treibstoff soll aber in die Tanks der

Fahrzeuge geschüttet werden dürfen. Öko- und Sozialbilanzen müssten berücksichtigt werden, sagte Leuenberger, um die Umweltverträglichkeit zu gewährleisten.

Bundesrat Leuenberger erachtet die 26 Massnahmen insgesamt als wirtschaftsverträglich, ja sogar als wirtschaftsfördernd. Denn damit werde in der Schweiz eine Industrie aufgebaut, die eine weltweit nachgefragte Technologie produziert, sagte Leuenberger. Zudem seien

die Aktionspläne «haushaltsneutral und international kompatibel». Für die Förderung der Energieeffizienz sollen 26,5 Millionen Franken und für die erneuerbaren Energien 27,5

Millionen pro Jahr eingesetzt werden. Die Massnahmen sollen mit den Bedürfnissen der Kantone und der Wirtschaft abgestimmt werden.

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Karl Viridén, „Je geringer der Energiebedarf, desto höher der Hauswert“,

in: NZZ am Sonntag, 26. August 2007.

Minergie-P-Häuser verbrauchen nur ein Fünftel der Heizwärme eines konventionellen

Gebäudes. Der Zürcher Architekt Karl Viridén setzt deshalb konsequent darauf, bei der Renovation von Liegenschaften auch die Energieeffizienz zu erhöhen.

NZZ am Sonntag: Energieeffizientes Bauen liegt im Trend. Warum setzen immer mehr Bauherren auf die ökologische Karte?

Karl Viridén: Energieeffizientem Bauen haftet nicht mehr das Kupfer-Wolle-Bast-Image an.

Immer mehr namhafte Investoren wählen bewusst das umweltfreundliche Bauen. Zum Beispiel die Swiss Re. Der Rückversicherer baut konsequent nach Minergie- oder gar PassivhausStandard. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die breite Masse die Vorteile entdeckt. Was ist anders beim Passivhaus im Vergleich mit dem Minergiehaus? Der Passivhaus-Standard ist strenger. Er ist erfüllt, wenn höchstens 30 Kilowattstunden (kWh) Energie - dies entspricht etwa 3 Litern Heizöl - pro Quadratmeter Wohnfläche und Jahr für Heizung, Warmwasser und Lüftung verbraucht werden. Bei Minergie-Neubauten liegt die

Messlatte bei 42 kWh pro m2 und Jahr, bei Minergie-Umbauten bei 80 kWh/m2. Zum Vergleich: Altbauten benötigen rund 200 bis 250 kWh/m2. Minergiehäuser sind also in Bezug auf den Energieverbrauch deutlich sparsamer.

Mit niedrigerem Energieverbrauch sinken die Betriebskosten. Unter ökonomischen Aspekten müsste man diese Standards in jedem Fall wählen. Was spricht dagegen?

Bauherren wissen in der Regel zu rechnen. Sie schauen in die Zukunft und sehen, dass

die Preise für Öl, Gas und Elektrizität tendenziell steigen. Die Mehrinvestition von rund 5 Prozent, die sich trotz tieferem Energieverbrauch im Moment noch nicht amortisieren

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lässt, nehmen sie in Kauf. Für Bauherren, die mit uns vor drei Jahren nach dem Minergie-P-

Standard renovierten, hat sich die Investition bereits ausbezahlt. Als wir vor sieben Jahren bei Umbauten den Passivhaus-Standard anstrebten, schüttelten viele noch den Kopf. Rendite und Investitionskosten stünden in keinem Verhältnis, hiess es. Heute, wo sich die Energiepreise vervielfacht haben, hat sich das Blatt gewendet.

Ist ein niedriger Energieverbrauch eine Win-win-Situation für die Umwelt und für die Hauseigentümer?

Erstes Ziel bei jedem Neu- und Umbau muss es sein, den Energiebedarf so weit als möglich zu minimieren. Das bedeutet im Baubereich: gute Fenster, gedämmtes Dach und gedämmte

Fassade sowie isolierte Kellerdecke. Wenn möglich noch Sonnenkollektoren aufs Dach. Gerade beim Warmwasser zahlt sich das aus - auch in Kombination mit anderen Energielieferanten wie Holzschnitzel-, Öl- oder Gasheizungen. Eine Wärmepumpe würde ich mit Photovoltaik, also

Solarzellen, kombinieren. Und noch ein Tipp: Wenn schon eine Wärmepumpe, dann sollte man

sie mit Ökostrom betreiben. Das verhindert, dass dem Bau neuer AKW Vorschub geleistet wird. Sind Minergiehäuser wohnlich? Ich wohne selber seit sechs Jahren in einem Passivhaus und kann mir gar nichts anderes mehr vorstellen.

Die zumeist hermetisch isolierte Gebäudehülle schreckt viele ab. Sie befürchten ein schlechtes Raumklima.

Es ist ja nicht so, dass keine Luft mehr hereinkommt. Sie strömt einfach über die Lüftung statt über das offene Fenster rein. Wer aber kalte Luft schnuppern, den Nebel einatmen oder die

Feuchtigkeit von draussen spüren möchte, kann auch im Passivhaus das Fenster sperrangelweit öffnen und rausschauen. Selbst im kältesten Winter, so lange er will. Dank der Lüftung ist

übrigens auch die Luft viel besser als diejenige in einem herkömmlichen Haus. Sie wird ständig erneuert und die einströmende Luft gefiltert. Die Schadstoffkonzentration ist damit deutlich tiefer. Ohne kontrollierte Wohnungslüftung müssten alle zwei Stunden die Fenster geöffnet werden, um dieselben guten Werte zu erreichen. Doch wer macht das schon. Gibt es weitere Gründe für Reno-vationen nach dem Minergie-P-Standard? Theoretisch kann jedes alte Gebäude in ein modernes Minergie-oder Passivhaus verwandelt

werden. Ökonomisch ist dies hingegen nicht in allen Fällen sinnvoll. Wenn die Investitionen zu hoch sind, kann es sinnvoller sein, die Liegenschaft abzubrechen und etwas Neues zu bauen. 114


Verschwinden dann die alten Energieschleudern vom Markt? Mittel- bis langfristig werden die Energiepreise den Immobilienmarkt stärker beeinflussen,

als viele meinen. Energieintensive Häuser verlieren an Wert. Bei Liegenschaften, die mit Öl

beheizt werden, rümpfen heute schon viele Käufer die Nase. Inzwischen gilt: Je geringer der Energiebedarf, desto höher der Wert eines Hauses.

Vor welchen Herausforderungen steht der Energieeffizienz-Gedanke bei Neubauten und bei Renovationen?

Unser Klima wandelt sich. Die neue Herausforderung wird sein, an Hitzetagen innerhalb des

Hauses eine wohnliche Atmosphäre zu erhalten, ohne gleichzeitig zu viel Energie fürs Kühlen zu verbrauchen.

Interview: Daniela Schwegler

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Pascal Hollenstein, „Leuenberger: Zwei Milliarden für Öko-Häuser“ in: NZZ am Sonntag 19. August 2007, S. 9.

Der Bund soll die energetische Sanierung von Häusern mit knapp zwei Milliarden Franken unterstützen. Energieminister Moritz Leuenberger will dies dem Bundesrat vorschlagen.

Bundesrat Moritz Leuenberger lässt die energiepolitische Diskussion nicht zur Ruhe kommen. Am Donnerstag hat der SP-Magistrat der Öffentlichkeit seine Vorstellungen zur künftigen Klimapolitik vorgestellt. Wie Leuenbergers Sprecher André Simonazzi nun bestätigt, will

der SP-Bundesrat bereits «in den kommenden Tagen» Aktionspläne für die Verbesserung der Energieeffizienz sowie zur Förderung erneuerbarer Energiequellen vorlegen.

Die Aktionspläne, von denen der «NZZ am Sonntag» weit fortgeschrittene Entwürfe vorliegen, schlagen umfassende Massnahmenbündel auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene vor. Bei

der Ausarbeitung waren deshalb die Energiedirektorenkonferenz (EnDK) sowie Vertreter der Wirtschaft beigezogen worden.

Im Bereich der Energieeffizienz peilt Leuenbergers Aktionsplan bis ins Jahr 2020 eine Reduktion des Verbrauchs fossiler Energieträger von 20 Prozent gegenüber dem Jahr 2000 an.

Der Stromverbrauch soll im gleichen Zeithorizont auf dem Wert von 2006 eingefroren werden. Insgesamt sollen hierfür 18 Massnahmen umgesetzt werden, wobei der Gebäudebereich als aussichtsreichstes Tätigkeitsfeld eingeschätzt wird. So sollen vom Bund im Rahmen eines auf 10 Jahre befristeten «Förderprogramms für die energetische Erneuerung privater Gebäude» total

knapp 2 Milliarden Franken eingesetzt werden, um Hausbesitzer bei energetisch vorbildlichen Neubauten und Sanierungen zu unterstützen. Finanzieren will Leuenberger diese grüne Geldspritze für die Hauseigentümer mit einer teilweisen Zweckbindung der CO2-Abgabe, wie er sie bereits am Donnerstag in seinem Klimapapier vorgeschlagen hat.

Im Gebäudebereich sollen ferner die kantonalen Bau- und Sanierungsvorschriften harmonisiert und

verschärft werden. Der Bund selber soll als Bauherr eine Vorbildfunktion übernehmen und nur noch Minergie-Bauten errichten. Ferner sollen Bauherren und Planer mit einer Ausbildungsoffensive 116


sensibilisiert werden. Laut dem Aktionsplan soll ferner die Stromwirtschaft verpflichtet werden, mit ihren Grosskunden Spar-Vereinbarungen einzuführen, die Effizienzmassnahmen der Kantone

sollen durch eine Erhöhung der Bundesbeiträge gesteigert werden. Gleichzeitig soll auch mehr Geld in die Energieeffizienz-Forschung fliessen.

Im Mobilitätsbereich listet das Aktionsprogramm die bekannten Massnahmen auf: CO2-Abgabe auf Treibstoffe, verschärfte Zielvereinbarungen mit den Autoimporteuren, ein Bonus-Malus-

System für Neuwagen sowie verbrauchsabhängige Motorfahrzeugsteuern. Eher zum symbolischen Bereich zu zählen ist die Forderung, die Bundesverwaltung habe auf 20 Prozent ihrer Flugreisen zu verzichten und beim Rest den CO2-Ausstoss zu kompensieren.

Auch im Aktionsplan «Erneuerbare Energie» steht der Gebäudebereich eindeutig im Vordergrund.

Heute befeuerte Nah- und Fernwärmeversorgungen sollen systematisch auf den Betrieb mit erneuerbaren Brennstoffen oder mit Wärme-Kraft-Koppelungssystemen umgerüstet werden.

Für Häuser in der Nähe von Wärmeverbünden soll künftig eine Anschlusspflicht gelten. Die notwendigen Investitionen sollen nach dem Plan Leuenbergers über eine neue Abgabe auf

Fernwärme finanziert werden. Mit 20 Millionen Franken jährlich soll der Bund zudem ein

Förderprogramm für Sonnenkollektoren zur Brauchwassererwärmung und für den Ersatz von Elektro-, Öl- und Gasheizungen durch Wärmepumpen und Holzpellet-Heizungen lancieren.

Gesetzgeberisch tätig werden will Leuenberger zudem bei der Wasserkraft, von der er sich die

grössten Zuwächse in der Stromproduktion erhofft. Das Gewässerschutzgesetz soll revidiert werden «mit dem Ziel, die vorhandenen Potenziale der Wasserkraft auszunützen». Zudem sollen

neue Wasserkraftwerke von den bisher an die Kantone zu zahlenden Wasserzinsen teilweise entlastet werden.

Enttäuscht werden von Leuenbergers Aktionsplan dagegen die Anhänger der Stromgewinnung aus Sonne, Wind und Geothermie: Das Papier sieht hier - über die bereits beschlossene

Einspeisevergütung gemäss Stromversorgungsgesetz hinaus - keine weiteren Massnahmen vor. Diese Produktionsarten, so heisst es im Papier, «sind eher im Fokus der Forschungspolitik und weniger im Bereich der unmittelbaren direkten Förderung zu behandeln».

117


Rolf Hartl,

„Klimaschutz zwischen gutem Willen und Wirkung“, in: Neue Zürcher Zeitung 13. August 2007, S. 11.

Engagement im Ausland bringt hohe Wirkungen zur Reduktion von Treibhausgasen Im Klimaschutz werden zurzeit von vielen Seiten neue Ideen und Rezepte in die politische

Diskussion eingebracht. Der Autor plädiert für eine Orientierung der Lösungen an ökologischen wie ökonomischen Effizienzüberlegungen mit einer globalen Perspektive.

Die Erdölwirtschaft nimmt die Herausforderung der Klimaänderung an. So hat auch der

amerikanische National Petroleum Council, ein gewichtiges Beratungsgremium der US-

Regierung, in seiner jüngsten, unter dem Titel «Hard Truths» erstellten Studie zur globalen

Energiezukunft den Beitrag des Menschen zur Klimaänderung nicht abgestritten. Er bewegt sich damit in der Linie der stärker europäisch orientierten Ölunternehmen, für welche die

Klimaänderung schon seit einiger Zeit auf der politischen Agenda steht und die Milliarden in «alternative» Energieträger investieren. Weil die letzte wissenschaftliche Gewissheit

über die verschiedenen Facetten von Ursache und Wirkung in der Klimafrage kaum je bzw. nie erreicht werden kann und in der öffentlichen Wahrnehmung des Problems mehr denn

je ein gewichtiger Beitrag des Menschen zur Klimaänderung als gegeben angesehen wird,

besteht Handlungsbedarf. Den Kritikern der gegenwärtigen, überhitzten Klimadebatte darf man entgegenhalten, dass es neben dem Klimaschutz genügend andere Gründe dafür gibt, mit allen Energieressourcen, also auch den fossilen, haushälterisch umzugehen und die

Energieversorgung auf möglichst viele Standbeine zu verteilen. Dazu gehören die erneuerbaren Energieträger.

Keine einfachen Lösungen Das Programm für mehr Klimaschutz - sowohl global als auch lokal - ist an sich rasch

umschrieben: Förderung der Energie- und Materialeffizienz sowie der als valabel erachteten

CO2-mindernden «alternativen» Energieträger. Hinzu wird verstärkt das «Einfangen» des auf der Energiekette entstehenden CO2 mittels CO2-Abscheidung und -Speicherung kommen. Schwieriger wird es, wenn es um die konkrete Umsetzung dieser Grundsätze geht und

wenn neben dem CO2-mindernden Effekt weitere ökologische und wirtschaftliche Kriterien zur Bewertung der Alternativen herangezogen werden. Die derzeitige Diskussion um die 118


Biotreibstoffe ist dabei exemplarisch: Es gibt im Energiebereich keine einfache Zauberformel, mit der alle Probleme auf einen Streich gelöst werden können; auch bei den «alternativen»

Energieträgern gilt es Kompromisse zwischen Nutzerkomfort, Ökologie und Wirtschaftlichkeit einzugehen. Das Beispiel Biotreibstoffe zeigt, dass es innerhalb der Ökologie Zielkonflikte zwischen Klima- und «klassischem» Umweltschutz geben kann. Verkürzt gesagt, führt in

bestimmten Fällen eine Reduktion von CO2 zu einer Erhöhung von lokalen Umweltbelastungen. Grenzen der lokalen Klimapolitik

Bevor man deshalb handelt, tut man gut daran, sich über Möglichkeiten und Grenzen

der klimapolitischen Optionen klar zu werden. Im Gegensatz zu den meisten klassischen

Luftschadstoffen besteht bei den Klimagasen (CO2, Methan usw.) kein direkter Zusammenhang von lokaler Emission und lokaler Immission. Selbst wenn die Schweiz ihre Treibhausgas-

Emissionen gänzlich beseitigen würde, hätte das keinerlei Auswirkungen auf Wetterverlauf,

Permafrost oder Gletscherschwund. Zu unbedeutend (1,5 Promille, Tendenz sinkend) ist unser globaler Beitrag, und zu rasant entwickelt sich der weltweite CO2-Ausstoss ( 2,6 Prozent im

Jahr 2006 gegenüber 2005). Und zu CO2-effizient ist unsere Volkswirtschaft - wir stehen heute weltweit am besten da gemessen am freigesetzten CO2 pro Einheit BIP. Anders ausgedrückt:

Wenn die Industriestaaten, von den aufstrebenden Staaten Asiens ganz zu schweigen, dieselbe CO2-Effizienz wie die Schweiz an den Tag legen würden, wäre für die Treibhausgas-

Emissionen viel mehr gewonnen als durch die rigide Umsetzung aller denkbaren - auch

wirtschaftlich ineffizienten - Massnahmen in der Schweiz. Der Löwenanteil des Potenzials zur

CO2-Reduktion liegt daher im Ausland, wo eine Tonne CO2 zudem um ein Vielfaches günstiger reduziert werden kann als im Inland. Das Problem ist somit nicht bei den zwei oder drei

Dezimalstellen hinter dem Komma anzugehen, was zu leisten eine reine Inlandstrategie in der Lage wäre, sondern dort, wo das grösste Rendement erzielt werden kann. Dieser Einsicht, die

dem heutigen CO2-Gesetz noch nicht zugrunde liegt, hat die künftige Klimapolitik der Schweiz Rechnung zu tragen.

Internationale Initiativen fördern

In der Tat kann die Schweiz einen bedeutenden Beitrag leisten, indem sie das Engagement auf internationalem Parkett, wie es zum Beispiel der von der Wirtschaft getragene Klimarappen vorgezeichnet hat, weiter verstärkt und direkt in konkrete, emissionsmindernde Projekte investiert. Dafür stehen die beiden Gefässe des Kyoto-Protokolls, Clean Development

Mechanism (CDM) und Joint Implementation (JI), zur Verfügung. Mit dem oft gehörten

Odium des «Ablasshandels», des Handels mit «heisser Luft» oder des «Freikaufens» ist diese

Strategie nicht belastet, denn dem in einem CDM- oder JI-Projekt eingesetzten Franken stehen nachweisbare Emissionsreduktionen gegenüber, wie sie die für die Nutzbarmachung solcher

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Instrumente aufgestellten Kyoto-Regeln garantieren. Gelingt es zudem, diese Instrumente

in den Dienst der Entwicklungszusammenarbeit und des industriellen Know-how-Transfers

zu stellen, werden neben der Emissionsreduktion eine zweite und eine dritte Dividende - die

aussenpolitische bzw. die exportwirtschaftliche - fällig. Ein solcher Ansatz wird in Form einer

gemeinsamen Initiative von Staat und Wirtschaft zu organisieren sein. Die Wirtschaft wird die beim Klimarappen gesammelten Erfahrungen darin einzubringen haben. Weg von einer starren Inland-Optik

Die Verlagerung des Fokus auf die Auslandmassnahmen und - neu - die Finanzierung der

durch den Klimawandel verursachten Anpassungsmassnahmen im Inland werden mehr kosten als die heutigen 1,5 Klimarappen pro Liter Benzin und Dieselöl. Fundamentale Gegner neuer

Abgaben, von denen es mehr gibt, als es die heutige Klimadiskussion vermuten lässt, werden sich damit trösten, dass diese Lösung um einiges zielführender ist als eine starre nationale

Optik, welche sich heute praktisch ausschliesslich auf eine CO2-Abgabe fokussiert. In ihrer klassischen Form der Lenkungsabgabe in der Höhe von 20 bis 30 Rappen pro Liter und mit

voller Rückerstattung bzw. Umverteilung kann in Sachen Klimaschutz bestenfalls das Gewissen beruhigt werden. Nachweisbare Wirkung auf das Klima hat die CO2-Abgabe indessen kaum.

In Grossbritannien mit den abgabenbedingt weitaus höchsten Treibstoffpreisen Europas, wo der Treibstoffabsatz zudem nicht durch den «Tanktourismus» beeinflusst wird, nahm dieser Absatz zwischen 2002 und 2006 um insgesamt 3,6 Prozent zu, während in der Schweiz mit moderaten Abgabesätzen der Absatz lediglich zum 3,2 Prozent gestiegen ist (wovon ein beträchtlicher Anteil auf die ausländische Betankung zurückzuführen ist). Die CO2-Abgabe eignet sich

deshalb kaum zur Erreichung eines bestimmten Emissionsziels (allenfalls wird ein Teil der

Emissionen über eine Veränderung der ausländischen Betankung «exportiert»). Eine Erkenntnis, die übrigens auch im neusten IPCC-Bericht (der Uno) nachzulesen ist. Selbstverständlich

entbindet die vorgezeichnete Klimastrategie nicht davon, als zielführend erkannte Massnahmen im Inland zu ergreifen. Biotreibstoffe, Bonus-Malus-Systeme, Verbrauchsstandards,

Förderung verbrauchsarmer Heizungen, Gebäudesanierungen sind nur einige (der auch für die Erdölwirtschaft bestimmenden) Handlungsfelder. Sie belegen im Übrigen, dass die Schweiz

im Klimabereich viel tut und auch vieles erreicht hat. Wir werden unser Kyoto-Ziel erfüllen. Dazu tragen nicht zuletzt die freiwilligen Anstrengungen der Wirtschaft (Energieagentur der

Wirtschaft, Klimarappen, Zielvereinbarungen) bei. Unsere Ausgangslage ist im internationalen

Vergleich sehr gut, weshalb die bevorstehende Diskussion über die schweizerische Klimapolitik «nach Kyoto» dem Wahlkampfgetöse zum Trotz mit einer gehörigen Portion Gelassenheit angegangen werden kann. Wir können es uns in jeder Hinsicht leisten, jene Instrumente

auszuwählen, die das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweisen, und auf andere konsequent zu verzichten. 120


Victor Merten,

„Energie droht gefährlich knapp zu werden“, in: NZZ am Sonntag 22. Juli 2007, S. 4.

Ein Bericht des Us-Energieministeriums sieht düstere Aussichten für die weltweite Energieversorgung. Die Autoren raten zu raschem Handeln.

„In den kommenden 25 Jahren sehen sich die USA und die Welt harten Tatsachen in der

weltweiten Energieversorgung gegenüber“. Diese beunruhigenden Worte stammen nicht von einer Umweltorganisation, sondern von einer Beratergruppe des US-Energiministers Samuel

Bodman. Sie stehen in einem neuen Bericht, den der National Petroleum Council diese Woche in Washington vorgestellt hat. „Facing the Hart Truths About Enerty“ lauete die aufrüttelnde Überschrift.

Laut dem 422 Seiten langen Werk (www.npc.org) wird der Energieverbrauch bis 2030

wegen steigender Einkommen und des Bevölkerungswachstums weltweite um 50-60 Prozent zunehmen. Zwar würden die Energiequellen nicht ausgehen, doch eine genügende, sichere und bezahlbare Versorgung schaffe grosse - womöglich zu grosse - Herausforderungen.

Die Unwägbargkeiten des Energiegeschäfts ballten sich heute auf neue Weise. Die Autoren

sehen etwas voraus, dass die Bemühungen, den Ausstoss der Treibhausgases CO2 zu senken, Energie verteuern. Sie weisen auf geopolitische Risiken hin. Oder sie befürchten Engpässe

beim Ingenieurnachwuchs. Um der Entwicklung zu begegnen, müssen die Regierungen laut dem Bericht mehrere Strategien jetzt in die Tat umsetzen und langfristig verfolgen. Es gelte die Energieausbeute zu steigern, erneuerbare und neue Energiequellen zu erschliessen oder

Forschung und Entwicklung zu fördern. Ungewöhnlich für die gegenwärtige Administration in Washington erscheint, dass auch ein weltweiter Rahmen für die Senkung des CO2-Austosses anzustreben ist. Die Verfasser erteilen überdies dem Ziel der Energieunabhängigkeit eine Absage, denn für sie gibt es nur eine weltweite Energiesicherheit.

Dem Bericht kommt einiges Gewicht zu. Über 350 Fachleute haben währen achtzehn Monaten unter Lee Raymond, dem Leiter des National Petroleum Concil, daran gearbeitet. Sie zogen Forschungszentren, Universitäten, Regierungsämter, Umweltgruppen und Banken zu Rate. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass Raymond früher Präsident des Erdölkonzerns

Exxon Mobile war. Und Raymond steht nicht allein mit seinem Warnruf. Erst vor einer Woche 121


stellte eine anderes Energie-Schwergewicht, die International Energy Agency, einen Bericht vor, laut dem ein テ僕versorgungskrise droht. Wテ、hrend die Nachfrage steige, gingen einzelne テ僕vorkommen schneller zur Neige als erwartet. Diese werde die Preise auf Rekordhテカhen treiben.

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„Hightech auf 2810 Metern über Meer“,

in: Neue Zürcher Zeitung, Freitag 6. Juli 2007, S. 11.

Neue Monte-Rosa-Hütte kann gebaut werden Die neue Monte Rosa Hütte im Wallis kann gebaut werden. Die Finanzierung des Hightech-

Baus an einzigartiger Lage über dem Grenzgletscher des Alpenmassivs ist weitgehend gesichert, wie die ETH Zürich und der Schweizer Alpenclub (SAC) am Donnerstag vor den Medien in

Visp gekanntgaben. Das Projekt geht auf einen Vorschlag der ETHZ von 2003 zurück und war Bestandteil der Initiativen zum 150-Jahre Jubiläum der Hochschule. Es soll zeigen, dass sich höchste Ansprüche and Architektur, Haustechnik, Energieversorgung und Nachhaltigkeit im

hochalpinen Bauen kombinieren lassen. Im Sommer 2008 ist der Baubeginn geplant, und im

Jahr darauf soll die futuristische SAC-Hütte auf 2810 Metern über Meer ihre Tore öffnen. Die

Kosten belaufen sich auf 5.7 Millionen Franken. Der SAC übernimmt 2.15 Millionen Franken. Für die restlichen 3.55 Millionen Franken konnte die ETHZ eine Reihe von Gönnern und

Sponsoren gewinnen. Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) unterstützt den Bau mit maximal

560 000 Franken, und zwar gestützt auf die gesetzlichen Bestimmungen über die Förderbeiträge für die Entwicklung innovativer Umwelttechnologien. Der Bau sei ein Vorzeigebeispiel für

Ressourcen- und Energieeffizienz und überzeuge durch ein zukunftsweisendes Gesamtkonzept, erklärte das Bafu.

Von besonderem Interesse für den Bund sind die Energie- und Wasserversorgung, die einen Autarkiegrad von 90 Prozent erreichen sollen. Das Bafu wünschte zudem Abklärungen, ob neben der Sonnenergie auch die Windkraft genutzt werden könnte. Das Gesetz sieht vor,

dass der Bundesbeitrag nach Massgabe der Erträge zurückerstattet wird. Dies soll über einen bescheidenen Übernachtungsbeitrag erfolgen.

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Karin Hofer,

„Die Renaissance der Holzheizung“ in: NZZ 05./06. Mai 2007, S. 61.

Das Potenzial des nachwachsenden Energieträgers wird heute erst zur Hälfte ausgeschöpft

Die ersten Förderer von automatischen Häckselfeuerungen waren oft Gemeinden. Inzwischen erlebt die Energiegewinnung aus Holz einen kleinen Boom. Anders als bei Sonne und Wind lässt sich beim Holz das vorhandene Potenzial in absehbarer Zeit tatsächlich nutzen.

Holz braucht nicht zu brennen, damit man die in ihm schlummernde Kraft spürt. Erhard Heider

gräbt mit einer Hand eine kleine Mulde in den Haufen Holzschnitzel. Sofort steigt Dampf in die

Höhe, wenig unter der Oberfläche liegt die Temperatur des gärenden Materials bei 60 Grad. Seit 1996 betreibt der 53-jährige Elektroingenieur in Tagelswangen zusammen mit seinen Brüdern

eine Holzschnitzelfeuerung. Mit einem Kachelofen hat das wenig gemeinsam. Der Kessel wird

automatisch über einen Schubboden mit dem Häcksel gefüttert. Im unteren Teil des Ofens glüht das Brennmaterial, im oberen Teil lodert unter Luftzufuhr das gut 800 Grad heisse Gas. Über

einen Wärmetauseher wird Wasser aufgeheizt, das über einen Verteiler an die Abnehmer geht. Wärme für einen ganzen Ortsteil.

Schwieriger, als einen solchen Ofen zu betreiben, ist es, die erzeugte Wärme zu den Kunden zu bringen. Ein Meter Leitung kostet 500 bis 1000 Franken. Um ein Wärmenetz wirtschaftlich zu betreiben, muss man laut Heider im Durchschnitt alle fünf Meter eine Wohnung anschliessen

können. Nicht immer erteilen Nachbarn das Durchleitungsrecht. Heider musste auch schon für einen fünfstelligen Betrag eine Leitung um ein Grundstück herumführen. Mit seriösen Un-

terlagen und grosser Überzeugungskraft ist es ihm dennoch gelungen, 176 Wohnungen, ein

Schulhaus, 2 Industrie- und 2 Gewerbebetriebe anzuschliessen. Das erfordert eine Leistung von

mindestens 1250 Kilowatt (kW). Bei 2000 Vollbetriebsstunden im Jahr ergibt das 2,5 Gigawattstunden (GWh). Gut ein Drittel entfällt auf Warmwasser, der Rest auf Heizwärme.

4 bis 5 Rappen pro Kilowattstunde (kWh) kosten die Holzschnitzel, die Heider von einem

Schaffhauser Lieferanten bezieht. 5 bis 6 Rappen betragen, bei einer Amortisationszeit von 20 Jahren, die Kapitalzinsen für die Anlage samt den Anschlüssen. Der Rest bis zum Abnahme-

preis von 13 bis 14 Rappen pro Kilowattstunde entfällt auf den Unterhalt und die Bedienung der Anlage.

Potenzial liegt zur Hälfte brach Aussergewöhnlich ist die Heider Holzenergie AG, weil hier eine 124


solche Anlage privat betrieben wird. Zuerst richteten öffentliche Einrichtungen oder Gemeinden Holzschnitzelfeuerungen ein. Aus Abfallholz - Rinde, Schwarten, Asten Energie zu gewinnen, ist sinnvoll, weil bei der Verbrennung nicht mehr. COz entsteht, als der Wald zuvor aus der

Atmosphäre absorbiert hat. Derzeit produzieren automatische Feuerungen im Kanton Zürich

jährlich etwa 400 GWh Energie, weitere 100 bis 150 GWh entfallen auf Holz, das in Kachelöfen oder Cheminees verfeuert wird. Die Nutzung von Energieholz lässt sich laut einer Bestandes-

aufnahme des Kantons verdoppeln. An der nachhaltigen Nutzung gemäss Waldgesetz würde ein verstärktes Einsammeln von Abfallholz und Ästen nichts ändern.

Laut Alex Nietlisbach vom kantonalen Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft (Awel) besteht

beim Holz, im Gegensatz zu den meisten anderen erneuerbaren Energien, eine gute Chance, das

Potenzial in den nächsten 20 Jahren auch auszuschöpfen. Automatische Holzfeuerungen sind im Trend und dürften es bei tendenziell steigenden Ölpreisen bleiben. Die Elektrizitätswerke des

Kantons Zürich (EKZ) sind in das Geschäft eingestiegen und betreiben im Auftragsverhältnis

(Contracting) erste solcher Anlagen. Im Tösstal wird seit kurzem die Holzvergasung zur Stromerzeugung erprobt. Die Planung für ein grosses Holzkraftwerk in der Heizzentrale Aubrugg in Zürich (NZZ 27. 4. 07) ist weit fortgeschritten.

Bei Holzenergie Schweiz beobachtet man das plötzliche Interesse verschiedenster Akteure an Holzkraftwerken, die Strom und Wärme erzeugen, mit gemischten Gefühlen. Grundsätzlich

begrüsst die Vereinigung, die sich für die sinnvolle energetische Verwendung von Holz einsetzt, die Entwicklung. Andreas Keel, Projektleiter bei Holzenergie Schweiz, warnt jedoch davor,

planlos Holzkraftwerke in die Landschaft zu stellen: «Derzeit wursteln alle ein wenig für sich.»

Wichtig sei bei allen Projekten, dass die anfallende Wärme möglichst vollständig genutzt werde. Positiv falle bei Grossanlagen die bessere Rauchgasreinigung ins Gewicht. Dagegen spreche der berechtigte Wunsch von Waldbesitzern, ihr Holz lokal zu nutzen und nicht über grosse Distan-

zen in Kraftwerke zu karren. «Notwendig wäre eine gewisse Koordination, und da ist die Politik geforderb>, betont Keel. Holzenergie Schweiz hat ihren Standpunkt formuliert. Der Verein hält in der Schweiz, geografisch sinnvoll verteilt, den Bau von 3 bis 5 Kraftwerken in der Grössen-

ordnung von Aubrugg für sinnvoll, dazu 10 bis 20 kleinere Wärmekraftanlagen. Auf diese Weise würden ungefähr 20 Prozent des Energieholzes in Heizkraftwerken genutzt, auch für Strom.

Vier Fünftel gingen weiter dezentral in die thermische Nutzung, wie in der Anlage von Tagelswangen.

Für Kleine zählt Kundennähe

Für den Bau (nicht den Betrieb) solcher Holzschnitzelfeuerungen zahlt der Kanton Beiträge. Das wirtschaftliche Risiko bleibt beträchtlich, wie das Beispiel der Heider Holzenergie AG

zeigt. Den zweiten, grösseren Ofen nahm sie ausgerechnet vor dem letzten, sehr milden Winter 125


in Betrieb. Bis in fünf Jahren erfordern Vorschriften einen teuren Feinstaubfilter. Aus ökologischen Gründen findet Erhard Heider das richtig. Doch hat er in seinen Abnahmeverträgen

keine Klausel, um die Kosten auf den Preis zu schlagen. Er hofft, dass bis dann die Filter güns-

tiger sind. Wichtig ist ihm das gute Einvernehmen mit den Kunden. Jeden Herbst veranstaltet er für alle ein Anfeuerungsfest. Dass der Ofen einmal ausgehe, könne er sich nicht leisten, sonst

habe er Streit mit all seinen Nachbarn, sagt Heider; der mit seiner vierköpfigen Familie in einer Wohnung über der Holzschnitzelfeuerung lebt. 700 000 Tonnen Heizöl ersetzt

sho. Holz ist nach der Wasserkraft die zweitwichtigste erneuerbare Energie der Schweiz.

Insgesamt deckte der Rohstoff 2005 jedoch nur 3,4 Prozent des Gesamtenergiebedarfs oder 6 bis 7 Prozent des Wärmebedarfs. Im gleichen Jahr nutzten die installierten Feuerungen (ohne Kehrichtverwertung) rund 3,1 Millionen Kubikmeter Holz zur Energiegewinnung, was dem

Gegenwert von etwa 500 000 Tonnen Heizöl entspricht. Vom jährlichen Holzzuwachs in den

Schweizer Wäldern wird nur etwas mehr als die Hälfte tatsächlich genutzt. Wird das Potenzial ausgeschöpft, kann Holz mittelfristig 5 Prozent des gesamten Energieverbrauchs oder einen

Zehntel des Wärmebedarfs decken. Seit 1990 hat sich die Anzahl automatischer Feuerungen in der Schweiz fast verdreifacht, ihr Holzverbrauch stieg um 172 Prozent. An dieser Entwicklung hat der Kanton Zürich massgeblich Anteil. Bei den Holzfeuerungen mit mehr als 50 Kilowatt

Leistung stehen 19 Prozent aller Anlagen der Schweiz im waldreichen Kanton Bern, gefolgt von Zürich (12 Prozent) und Luzern (11 Prozent). Auch bezüglich der gesamthaft installierten Leistung liegt Bern mit 15 Prozent an der Spitze vor Zürich (13 Prozent) und Luzern (10 Prozent).

126


David Strohm,

„Erntezeit im Solarhaus“,

in: NZZ 18.03.2007, S. 51.

Anfangs belächelt, sind die mit Sonne beheizten «Solar-Häuser Plexus» von Giovanni Cerfeda heute gesuchte Objekte. Der Winterthurer Architekt plant eine Siedlung nach der anderen.

Der milde Winter und die Diskussion um COz-Ausstoss und Klimawandel sind für die Idee von Solarhäusern, welche Giovanni Cerfeda seit mittlerweile 15 Jahren verfolgt, willkommene Ar-

gumente. Nötig hat er sie eigentlich nicht mehr, denn die von ihm konzipierten Einfamilien- und Reihenhäuser verkaufen sich inzwischen auch ohne grosse Anstrengungen. «Jetzt ernten wir die Früchte jahrelanger Überzeugungsarbeit», sagt Cerfeda.

Sein Unternehmen Ecobauhaus AG projektiert und erstellt Wohnbauten unter der Markenbe-

zeichnung «SolarHaus Plexus», eine Referenz an das lateinische «Sonnengeflecht» und an die anatomische Bezeichnung für ein wichtiges Nervenbündel im Körper. Die meisten Objekte stehen in und um Winterthur, wo Cerfeda auch arbeitet.

Im Bau sind derzeit zwei neue Solarsiedlungen: Im zürcherischen Pfäffikon entstehen 10 terrassierte Atriumhäuser an bevorzugter Waldrandlage mit See- und Alpensicht. 19 weitere Häuser, die den Energieverbrauch des Minergie- und PassivhausStandards stark unterschreiten, sind auf einem ehemaligen Rebberg am Winterthurer Rychenberg hochgezogen worden. Die gut

besonnten Häuser mit Sicht auf die Stadt kosten zwischen 1 und 1,6 Mio. Fr., wobei auch die

hohen Kosten für das Bauland an der gesuchten Lage das Projekt verteuert haben. Dieser Tage ziehen die ersten Bewohner ein. Kein Labor für Tüftler

Schon 1995 entstand in Oberseen die Siedlung «Chräbsbach», die dem Architekten heute noch

als bekannte Referenz dient. Die 35 Einfamilienhäuser, die erste grössere Uberbauung, die sei-

nerzeit das Minergie-Zertifikat erhielt, sind im Massivbau erstellt. «Es sollten Gebrauchshäuser sein für ganz gewöhnliche Bewohner, keine Labors für Tüftler und Ingenieure», erinnert sich

Cerfeda. Viel Überzeugungsarbeit galt es zu leisten, nicht überall nützte sie. Die Banken wollten ihm kein Geld geben, Baufirmen und Generalunternehmer winkten ab.

Doch das Konzept ging auf. Dank umfassender Wärmedämmung und konsequenter Ausrichtung 127


nach Süden erfüllten die Häuser die Voraussetzung für eine passive Solarnutzung. Das Haus-

technik-Konzept umfasste neben einer kontrollierten Wohnungslüftung und einer Sole-WasserWärmepumpe einen Solarspeicher für Heizung und Warmwasser. Was diese in den «Chräbs-

bach»-Häusern eingebauten Elemente tatsächlich bringen, hat eine - im Auftrag des Bundesamts für Energie erstellte Studie gezeigt. Diese Art von Passivhäusern benötigt erheblich weniger Energie als herkömmlich gebaute Liegenschaften. «Solares Bauen versucht, in erster Linie

den Betriebsenergiebedarfvon Gebäuden massiv zu senken und ihn zweitens mit erneuerbaren

Energien zu decken», heisst es in der Studie. Die Untersuchung zeigte zudem, dass sich mit der Reduktion des Energiebedarfs die Umweltverträglichkeit der Gebäude stark verbesserte: «Der Einsatz von thermischen Solarkollektoren reduziert die ökologische Belastung markant.»

Es sind aber nicht die vor die Fassade geklebten Photovoltaik-Zellen für ein wenig Gebrauchsenergie, welche den Vorsprung ausmachen, sondern ein Mix von Massnahmen zur Energie-

gewinnung und zur Reduktion des Verbrauchs (siehe Kasten). «Heute sind wir viel weiter als vor 12 Jahren», sagt Giovanni Cerfeda. Mehr als 200 Fr. pro Jahr für Heizung, Warmwasser

und Lüftung fallen auch in den grösseren Solarplexus-Häusern nicht mehr an. Lediglich in den Monaten Dezember und Januar, und das auch nur in kalten Wintern oder bei einem überdurchschnittlich hohen Warmwasserverbrauch, braucht es noch die Wärmepumpe, um die Zimmertemperatur auf konstant 22 Grad zu halten. «Die eigentliche Leistung ist, Solarhäuser zu den gleichen Preisen zu bauen, wie man sie von herkömmlichen Bauprojekten her kennt», sagt Gallus Cadonau von der Solaragentur in Zürich. Vergleichbare Kosten

Der Lobbyist in Sachen Solarenergie Cadonau vergibt seit Jahren den Schweizer Solarpreis an vorbildliche Bauvorhaben. Diese Auszeichnung erhielt vor Jahren auch der Pionier Giovanni

Cerfeda. «Heute lassen sich Häuser bauen, denen man überhaupt keine Energie mehr zuführen muss - im Gegenteil.x Intelligent konzipierte Bauten, welche auch das Dach und die Fassade

nutzen, würden heute schon 120 bis 150% des für den Betrieb nötigen Energieverbrauchs selbst erzeugen. Für den Ermatinger Solar-Architekten Peter Dransfeld ist das Umdenken bei den

Bauherren ein grosser Fortschritt. «Das Thema ist endlich aus der ökologischen Nische herausgekommen», sagt Dransfeld. War es früher ein ganz besonderer Typ von Auftraggeber, der sich für Solarhäuser interessiert hat, müsse er als Planer gar nicht mehr auf die Vorteile zu sprechen kommen. «Auch ganz gewöhnliche Bauherren wollen heute die Vorteile des Sonnenlichts nutzen», sagt Dransfeld.

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Massnahmen-Mix macht Solararchitektur aus

Solararchitektur gilt als einfachste und meistens auch kostengünstigste Möglichkeit der Son-

nenenergienutzung, bei der mit einem Mix aus verschiedenen Massnahmen und Elementen eine möglichst hohe Energieeffizienz erreicht wird.

Die Südorientierung der verglasten Bauteile ist der Idealfall der Solararchitektur. Die Innentemperatur hat sich nach der Funktion des Raumes zu richten. Daher wird die Unterteilung

eines Gebäudes in unterschiedlich beheizte Zonen und die Schaffung von Zwischenklimazonen (Pufferräumen) angestrebt.

Die kontrollierte Lüftung in Form eines konstanten Belüftungssystems sorgt für angenehmes

Klima und Frischluftzufuhr. Guter Wärmeschutz der Gebäudehülle ist Voraussetzung für einen

niedrigen Heizenergieverbrauch. Die Beschattung verhindert einen zu hohen Temperaturanstieg bei voller Sonneneinstrahlung, z. B. feste Beschattungsvorrichtungen an der Süd- sowie be-

wegliche Anlagen an der Ost- und Westseite. Massive Bauteile zur Abspeicherung kurzzeitiger solarer Überangebote sind bei grossen Fensterflächen notwendig.

Zur Wärmeversorgung kommen alle Arten von Heizsystemen in Frage, solange die Regelung an den Gebäudetyp angepasst ist. Für Wohnbauten ist eine Bedarfsheizung für die kalten Monate sinnvoll. Natürliche Baustoffe und -materialien schaffen ein gesundes Wohnklima und sorgen für das Wohlbefinden der Bewohner. (dst.)

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Andreas Zuberbühler,

„Nicht diskutieren - nachhaltig produzieren“,

in: Neue Zürcher Zeitung, 06. März 2007, S. 11.

Stromlücke Nur ganzheitliche Sicht auf das Energieproblem helfe, sagt Andreas Zuberbühler im bz-Interview

Herr Zuberbühler, folgt man der Diskussion, scheint es, dass die Schweizer Energiefrage mit Ja oder Nein zu einem Atomkraftwerk zu beantworten ist. Reicht das?

Andreas D. Zuberbühler: Die Fokussierung gefällt mir sicher nicht. Man muss sich im Klaren

sein: über drei Viertel des Gesamtenergieverbrauchs sind nicht Strom. Und vom Strom sind nur

40 Prozent Atomstrom, was zwar eine vergleichsweise hohe Zahl ist. Dennoch betrifft die Kontroverse um ein neues AKW einen relativ kleinen Sektor.

Ist ein Breittreten der AKW-Frage für die Energie-Debatte förderlich? Zuberbühler: Für mich ist die zentrale Frage eine ganz andere: Gelingt es uns, ein weitgehendes

Umsteigen auf erneuerbare Energien zu kombinieren mit dem, was unsere Akademie auch schon forderte, nämlich den Verbrauch fossiler Energieträger zu verringern? Alle reden von effizienterem Energieverbrauch, aber was ist das?

Zuberbühler: Am einfachsten ist das an der Heizenergie darzustellen: Wir wollen nicht heizen,

wir wollen ein warmes Zimmer. Das Ziel ist mit schlechter Isolation und einer sehr starken Heizung zu erreichen oder mit einer guten Isolation und einer schwachen Heizung. Im Extremfall

geht das sogar ohne Heizung. Es gibt ja in der Schweiz Passivenergie-Häuser, die keine externe Heizenergie benötigen. Könnte ich entscheiden, würde ab morgen kein Haus mehr ohne Min-

ergie-Standard neu gebaut. Dann ist ein Grossteil der Heizenergie einfach weg! Oder beim Verkehr: Hier ist das Dreiliter-Auto möglich. Es verkehrt aber nicht auf den Strassen. Da kommen

gesellschaftliche Aspekte ins Spiel, die wir als Naturwissenschaftler kaum verstehen. Wir haben

keine Handhabe, die Leute davon zu überzeugen, dass das Fahren mit «Offroadern» in der Stadt Unsinn ist. Das ist kein naturwissenschaftliches Problem, sondern ein psychologisches. 130


Dennoch kapriziert sich die publizierte Energie-Debatte auf den Stromkonsum, einfach weil es für Journalisten sexy ist?

Zuberbühler: Ein massgeblicher Teil des zunehmenden Stromkonsums ist tatsächlich voraus-

zusehen. Etwa, wenn sie in Wärmepumpen investieren, dann steigt der Stromverbrauch. Geht das so weiter, wird die Schweiz von einem Stromexporteur zu einem -importeur. Dann holen

wir europäischen Strom aus Kohle, Atomenergie und Erdgas. Das ist natürlich kein Beitrag zur Nachhaltigkeit.

Gerade die Wärmepumpe ist ein gutes Beispiel: Mehr Wärmepumpen gleich mehr Stromverbrauch. Kann die Rechnung aufgehen?

Zuberbühler: Da kommen wir zur postulierten Stromlücke. Sie ist kein Naturgesetz. Sie wird von Menschen gemacht oder auch postuliert. Wir können aber Folgendes festhalten: Die für 2020/30 vorausgesagte Stromlücke basiert auf einer Reihe von Voraussetzungen. Erstens:

Der Stromverbrauch wächst weiter wie bisher oder bleibt zumindest auf heutigern Niveau.

Zweitens: Die alten AKWs in der Schweiz werden nach 50 Jahren abgeschaltet und nicht ersetzt. Drittens:

Die Importverträge mit den französischen AKWs laufen aus und werden nicht erneuert. Viertens: Neue Verträge, etwa von der Schweiz finanzierte Wind - parkanlagen in der Nordsee,

werden nicht realisiert und, fünftens, es werden weder Gasgrosskraftwerke noch Wärmegeführte, dezentrale Kombikraftwerke gebaut. Trifft das alles zu, werden wir tatsächlich eine Lücke

haben - insofern, als dass der Anteil an importier tem Strom stark zunimmt. Importe sind nicht grundsätzlich schlecht, nur soll ten sie aus nachhaltiger Produktion und nicht aus dem gegenwärtigen EU Mix stammen. Der Wind weht nun mal günstiger in der Nordsee und die Sonne scheint häufiger in Spanien oder Nordafrika.

Ihre „Road Map Erneuerbare Energien“ kommt rechtzeitig zur Debatte. Auch der Bundesrat sturdiert ein Energiekonzept. War ihr Beitrag geplant?

Zuberbühler: Wir sind von einem anderen Schwerpunkt ausgegangen. Wir sagen, dass das

Zeitalter des billigen Öls vorbei ist. Bei der Kernenergie wissen wir nicht so recht, ob wir dafür sind oder dagegen. Das ist bei der SATW genauso umstritten wie in der Bevölkerung. Drittens

Langfristig müssen wir ohnehin auf erneuerbare Energien umstellen. Betrachtet man die Zahlen, reichen die Uranvorräte bei jetziger Verbrauchsrate ungefähr gleich lang wie Öl und Gas. Das

ist kein Ausweg. Das Problem einer nachhaltigen Energiezukunft ist nur lösbar in Kombination131


mit dem Modell der so genannten 2000-Watt-Geselllschaft. Diese ist übrigens Teil der Strategie

„nachhaltige Entwicklung“ des Bundesrats. Allerdings sehen wir den Zeithorizont eher bei 2050 bis 2070 als bei 2150, wie kürzlich aus Bern zu vernehmen war.

Davon ist in der öffentlichen Debatte herzlich wenig die Rede ... Zuberbühler: Das ist das Hauptproblem. Da sind wir als Naturwissenschaftler etwas hilflos. Wir

stellen fest, was wir tun sollten, was wir unausweichlich tun müssen. Aber wir wissen nicht, wie man die Gesellschaft dazu bringt ...

Oft wird eingewendet, man dürfe nicht ins Spiel der Marktkräfte eingreifen. Zuberbühler: Der Markt spielt eine grosse Rolle im Energiebereich. Die Entscheidungen des Markts sind in der Regel aber sehr viel kurzfristiger als die Zyklen, in denen zum Beispiel

Häuser renoviert werden. Ein reiner ungehinderter Markt kann aus unserer Sicht gar nicht eine

volkswirtschaftlich vernünftige Politik erreichen in Bereichen mit notwendigerweise langfristigem Planungshorizont.

Plädieren Sie für Energie-Lenkungsabgaben? Zuberbühler: Natürlich! Ich kann ruhig sagen, das verlangt die Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften. Wir haben bei der Diskussion über die Lenkungsabgaben klar

Stellung bezogen. Die Leute müssen wissen, dass fossile Energieträger langfristig teurer werden, dann können und werden sie sich darauf einstellen.

Wie schaffen wir die Weichenstellung mit dem jetzigen politischen System und dem kurzfristigen Marktdenken?

Zuberbühler: Die ganze Debatte mit Zeitungsartikeln, Interviews, Sonderbeilagen, Sondersessi-

onen - das ist zunächst mal Aufklärung. Immerhin wird in der EU diskutiert, den CO2-Ausstoss der Fahrzeuge zu verringern. Die Debatte läuft, wohin sie führt, weiss ich nicht.

Die Effizienzfrage ist salonfähig. Aber die Verbrauchszahlen klettern unbeirrt nach oben. Irritiert Sie das nicht?

Zuberbühler: Ich antworte indirekt: In einem anderen Zusammenhang wurde Fritjof Capra 132


gefragt, ob die Menschheit die Wende schaffen wird. Dieser antwortete, zu dieser Frage werde er sich nicht äussern, er habe nicht mal Zeit, darüber nachzudenken. Denn, was er tue, sei der

Versuch einen Beitrag dazu zu leisten, dass sie es schafft. Das sei eine moralische Aufforderung. Was ich persönlich glaube, ist für die Zukunft meiner Kinder und Enkelkinder nicht wichtig.

Wir sollten nicht diskutieren, sondern uns auf den Weg zu einer nachhaltigen Energieversorgung machen. Unsere «Road Map» zeigt dazu einen Weg. Was können die Kantone unternehmen? Zuberbühler: In Baselland sollen Windanlagen gebaut werden. Auch ein Gaskombikraftwerk

wird diskutiert. über Letzteres sind wir nicht begeistert. Aber gegenüber Kohlekraftwerken sind Gaskombikraftwerke das kleinere übel.

Was könnten die Kantone beim «Effizienzpfad» tun? Zuberbühler: Sie könnten nach Zürich schauen, wo für staatliche Bauten der Minergie-Standard vorgeschrieben ist. Schauen Sie nach Bülach, wo die Gemeinde das energie effiziente Bauen

fördert mit einfachen, marktwirrschaftliehen Tricks. Die AKW-kritischen beiden Basel könnten auf Bundesebene eine Standesinitiative für Energieeffizienz lancieren. Aber da müsste man vorher mit gutem Beispiel vorangehen.

Es heisst, die «Road Map» gehe zu weit, um realisiert werden zu können. Zuberbühler: Die «Road Map» beschreibt nicht das maximale Potential. Das ist bei den er-

neuerbaren Energien in der Schweiz bedeutend grösser. Sie listet nur das technisch vernünftig nutzbare Potential auf. Das lässt sich bei der Windenergie am besten zeigen. Wir haben die

Windparks in unsere Kalkulation miteinbezogen. Aber solche Einzelanlagen, wie im Kanton Baselland diskutiert, haben ein grosses zusätzliches Potential. Wie wird es weitergehen? Zuberbühler: Wir machen bei jeder Gelegenheit darauf aufmerksam, dass diese Debatte geführt werden muss. Entscheidend ist nicht, ob in Beznau in 10, 20 oder 30 Jahren ein neues Atom-

kraftwerk gebaut wird oder nicht. Entscheidend ist der Umgang mit der Energie als Ganzem.

Ich weiss nicht mal, was schlimmer ist in der gegenwärtigen Energiesituation mit ihrer doppelten Problematik; einmal Klimaproblem und dann, dass das Erdöl erkennbar zur Neige geht.

133


cb,

„Skisport unter 1500 Metern wird aussterben“,

in: Neue Zürcher Zeitung, 02.März 2007, S. 13.

Schneekanonen und Skihallen können den Wandel nicht aufhalten

Der warme Winter 2006/07 hat den Skisportorten in tieferen Lagen schwer zu schaffen gemacht. Ob es für diese Regionen in Zeiten des Klimawandels rentable touristische Alternativen gibt, ist umstritten. Fachleute glauben, dass die Konzentration des Schneesports auf einige TopZentren und die Entleerung von Bergtälern mittelfristig unvermeidlich sind.

Der Schweizer Tourismus läuft zurzeit wie geschmiert, die Logiernächtezahlen erreichen

Bestmarken. Und doch gibt es neben den vielen Gewinnern auch einige Verlierer. Der bis vor

kurzem schnee arme Winter machte in den voralpinen Regionen namentlich den Bahnen, aber auch den Hotels teilweise schwer zu schaffen. Wie Felix Maurhofer, Sprecher von Seilbahnen Schweiz, erklärt, liegen zwar noch keine Umsatzzahlen vor. Doch wenigstens ein Drittel der

insgesamt rund 240 Wintersportgebiete der Schweiz habe mit Blick auf die Bahnen zum Teil

massive wirtschaftliche Einbussen «bis hin zum Totalausfall» zu verzeichnen. Besonders be-

troffen sind die Voralpen, der Jura, die Kantone Waadt und Freiburgund das Appenzell. Wegen der Wärme und der fehlenden Winterstimmung sei es in diesen Gebieten nicht gelungen, den

Tagestourismus zu aktivieren, ergänzt Jürg Schmid von Schweiz Tourismus und zwar teilweise auch dort nicht, wo die Pistenverhältnisse gut gewesen wären. Bald schon Normalzustand?

Dass die Wintersaison 2006/07 insgesamt dennoch mit einem Logiernächte-Plus von gegen 2 Prozent in die Annalen eingehen dürfte, ändert für die Betroffenen wenig. Und auch die Tat-

sache, dass diese Saison eine extreme Wetterkapriole sein mag, ist kein wirklicher Trost: Für Thomas Bieger, Leiter des Instituts für Tourismus und öffentliche Dienstleistungen an der

Universität St. Gallen, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die letzten Monate ein repräsentativer Vorgeschmack dessen sind, was bei uns in einigen Jahrzehnten im Winter «normal»

sein dürfte. Dass sich die Tourismusbranche in tieferen Lagen als Folge des Klimawandels auf

einschneidende Veränderungen einstellen muss, ist unter Fachleuten unbestritten. Die Frage ist nur wie. Der Einsatz von Schneekanonen, der in den letzten Wochen zum Teil intensiv war, ist 134


letztlich immer nur ein Heftpflaster - wenn auch für manche Region ein wichtiges. Heute werden rund 20 Prozent der 7400 Kilometer langen Skipisten in der Schweiz künstlich beschneit. Für Schmid braucht es dieses Hilfsmittel, «weil der anspruchsvolle Gast kein Verständnis hat

für mangelhafte Talabfahrten». Allerdings plädiert er dafür, dass Schneekanonen grundsätzlich nur in «langfristig schneesicheren Regionen» und dort nur punktuell eingesetzt werden. Tiefer

liegende Regionen vermehrt mit Schneebändern in grünen Wiesen zu verzieren, findet er unsinnig. Für Maurhofer dagegen ist die Frage nach dem Einsatz von Schneekanonen vor allem eine ökonomische: «Rentiert sich diese Investition oder tut sie es nicht - das ist entscheidend» Und

das könnte umso schwieriger werden, je trockener die Sommer werden und je spärlicher das für den Kunstschnee benötigte Wasser wird. Für ihn ist denn auch klar, dass der Klimawandel die Seilbahnen, welche die Pisten unterhalten, noch mehr als bisher zu Fusionen und effizientem Wirtschaften zwingt und den Strukturwandel in der Branche weiter beschleunigen wird. Sanfter Tourismus ist weniger ertragreich

Neu in die Diskussion gekommen ist in diesen Wochen der Bau von Skihallen, der im Mittel-

land bei Schneemangel den Nachwuchs für die Skiorte sicherstellen soll (NZZ 26. 2. 07). Walter Vetterli, Leiter Alpenprogramm beim WWF Schweiz, kann sich für derartige Projekte gar nicht begeistern: Die Hallen hätten eine «katastrophale Energiebilanz» und gäben in dieser Hinsicht

«ein völlig falsches Signal» an die Jugend. Schmid seinerseits glaubt nicht, dass solche Hallen

überhaupt nötig sind: Die Verkehrsverbindungen seien heute so gut, dass auch weiter entlegene Skigebiete in nützlicher Zeit erreicht werden könnten. Ganz anders sehen das naturgernäss

die Initianten, hinter denen Bergbahnen und Skischulen aus der ganzen Schweiz stehen. Laut

Maurhofer sind Skihallen in anderen europäischen Ländern ein eigentlicher «Katalysator für die

Nachwuchsförderung» und liegen «im volkswirtschaftlichen Interesse ganzer Bergtäler». Und er weist darauf hin, dass auch die vormals kritisierten Kletterhallen heute über die ganze Schweiz verbreitet sind und sich grosser Nachfrage erfreuen.

Bei Schweiz Tourismus, wo sich neuerdings eine spezielle Arbeitsgruppe mit dem Klimawandel und seinen Folgen beschäftigt, ist man überzeugt, dass viele voralpine Regionen besser radikal

umdenken, statt auf zweifelhafte Hilfsmittel zu bauen, wenn sie weiterhin für Touristen attraktiv bleiben wollen. Der Klimawandel bietet laut Schmid für sie nämlich auch Chancen: Wenn die

Sommermonateheisser und trockener würden und es am Mittelmeer verbreitet 40 Grad sei, be-

komme die «alpine Sommerfrische» neue Bedeutung und Attraktivität. Die Bergseen, die heute

kalt seien, würden zu Badeseen, und der Herbst verlängere sich bis in den November. Hier böten sich neue Möglichkeiten für einen sanften Tourismus.

Dieser hoffnungsfrohen Aussicht begegnet Bieger mit einiger Skepsis: «Teenager, die Wintersport betreiben, wollen nicht plötzlich wandern oder Blumen betrachten.» Diese Art von Tou-

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rismus werde nur ein begrenztes Publikum anziehen. Und vor allem eines, das weniger Geld ausgebe als der Wintersportgast. Auch Maurhofer zweifelt an den Möglichkeiten zur Diver-

sifikation: «Mit einem Magerwiesen-Seminar wird man wohl nur wenige Gäste begeistern.»

Viele voralpine Orte seien seit den siebziger Jahren ganz auf den Wintertourismus ausgerichtet. Da falle eine Umstellung schwer. - Weitgehend einig sind sich die Befragten, dass sich für die

kommenden Jahre und Jahrzehnte eine Konzentration des Wintertourismus hin zu einigen (hoch gelegenen) Top-Zentren wie.Zermatt, St. Moritz, Davos oder Verbier abzeichnet, während die kleineren, tiefer gelegenen verlieren werden.

Am schonungslosesten formuliert es der Vertreter des WWF, Walter Vetterli: «Unter 1500

Metern wird der Skisport mittel- bis langfristig aussterben.» Das freue zwar niemanden, sei aber - von einigen Nischen abgesehen - nicht aufzuhalten. Als logische Folge erscheint es Vetterli,

dass sich gewisse voralpine Regionen entvölkern werden, weil es dort keine Arbeitsplätze mehr gibt. Und er fordert eine breite regionalpolitische Diskussion zu diesem Thema. Ganz ähnlich tönt es von Seiten des Ökonomen Thomas Bieger, der darauf hinweist, dass die Verschiebung

des Wintertourismus zu den grossen Zentren, wo man neben Skifahren auch Shoppen kann, insgesamt sogar zu einem Steigen der touristischen Wertschöpfung führen könne - allerdings eben nur an den besagten Orten.

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Andreas Hirstein,

„Ökologisch und trotzdem reich“,

in: NZZ am Sonntag 11.Januar 2007, S. 74.

Die Schweiz belastet die natürlichen Ressourcen weniger als andere Volkswirtschaften. So gross der politische Streit auch sein mag, in einer Forderung sind sich alle Parteien einig: Die Schweizer Wirtschaft muss mit natürlichen Ressourcen sparsamer umgehen, um die Klimaund Umweltkatastrophe zu verhindern. Sogar Energiekonzerne, deren Geschäft es ja eigentlich ist,

möglichst viel Strom, Öl und Gas zu verkaufen, halten Effizienzsteigerungen für eine gute Sa-

che. Genauso wie Umweltverbände, die auf diesem Weg Atom- und fossile Energien einsparen wollen.

Ein Vorwurf schwingt bei der Diskussion immer mit: Dass die Schweiz die wertvolle Energie

ungehemmt vergeude und nicht genug für die Entwicklung erneuerbarer Energien unternehme

- anders als der Nachbar Deutschland, dem wegen seines Gesetzes zur Förderung erneuerbarer Energien gerne Vorbildcharakter attestiert wird.

Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln zeigt nun, wie falsch diese Behaup-

tung ist. Demnach nutzt kaum ein anderes Land seine natürlichen Ressourcen Wasser, Luft und Energie so schonend wie die Schweiz. Im Vergleich von 25 europäischen Ländern sowie den USA, Kanada, Japan, Australien und Neuseeland belegt die Eidgenossenschaft den zweiten Platz.

Vorbild Irland

Die Einstufung beruht auf einem «Umwelt-Effizienz-Indikator», den das von den deutschen Arbeitgebern getragene Kölner Wirtschaftsinstitut definiert hat. Bezogen auf das Bruttoinlandprodukt (BIP), misst der Indikator, wie viel Wasser ein Land verbraucht, wie stark es die Luft mit

Abgasen belastet und wie viel Energie es verbraucht. Wasser ist hierzulande kein knappes Gut,

die Schweiz belegt hier aber trotzdem immerhin den 7. von 30 Plätzen. Bei der Energieeffizienz liegt die Schweiz auf Platz 5, und bei der Luftreinhaltung auf Platz 1, weit vor dem zweitpla-

cierten Österreich. Lediglich Irland kann sich eines noch nachhaltigeren Umgangs mit der Natur

rühmen. Die Forscher führen das auf die in den letzten Jahren stark gewachsene Wirtschaftskraft der Insel zurück. Sie war von hohen Investitionen in moderne Technik begleitet. Tatsächlich

belegen die als rückständig geltenden Länder Rumänien und Bulgarien die beiden letzten‘ Plät137


ze. Auch die USA finden sich genauso wie Kanada (23. und 27.) im letzten Drittel der Tabelle wieder.

Strukturwandel

«Das gute Abschneiden der Schweiz hängt vermutlich mit dem hohen Dienstleistungsanteil der Schweizer Wirtschaft zusammen», sagt Hubertus Bardt, der Autor der Kölner Studie. «Der er-

reichte Spitzenplatz bei der Lufteffizienz ist gerade für ein Tourismusland wie die Schweiz von grosser Bedeutung.»

Der Umwelt-Effizienz-Indikator vergleicht die Umweltbelastung der 30 Volkswirtschaften zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Über die Entwicklung in den letzten Jahren gibt er keine Auskunft. Langfristig wäre diese Information aber von zentraler Bedeutung, weil sie die Frage klären

würde, ob wirtschaftliches Wachstum zwangsläufig zu einem höheren Verbrauch natürlicher

Ressourcen führt oder ob die Effizienzsteigerungen so gross sein können, dass sie das Wachstum des BIP kompensieren. Die Kölner Wissenschafter haben den zeitlichen Verlauf der Um-

welteffizienz Deutschlands untersucht. Das Bundesamt für Statistik in Neuenburg hat ähnliche Zahlen vor zwei Jahren für die Schweiz publiziert. Sie bestätigen einerseits die niedrige CO2

- Intensität der Schweizer Wirtschaft, zeigen andererseits aber auch, dass die Fortschritte hierzulande kleiner sind als in anderen europäischen Industriestaaten. Pro Einheit des BIP sanken die

Schweizer Kohlendioxidemissionen um 30 Prozent. Norwegen, Grossbritannien, Dänemark und die Niederlande erreichten dagegen ein Minus von 50 Prozent.

«Der Grund ist weniger die zögerliche Abnahme von COz-Emissionen hierzulande als vielmehr das langsame Wachstums der Schweizer Wirtschaft“, sagt Anne-Marie Mayerat Demarne vom

Bundesamt für Statistik. Eine umweltfreundhchere Entwicklung haben die Neuenburger Statis-

tiker dagegen beim Rohstoffverbrauch festgestellt. Jährlich verbraucht die Schweiz derzeit rund 14 Tonnen Materialien pro Einwohner. Der längerfristige Vergleich zeigt, dass das BIP und der

Materialverbrauch bis Ende der achtziger Jahre im Gleichschritt wuchsen, dass sich die Materi-

aleffizienz damals also nicht verbessert hat. Seit den neunziger Jahre aber wächst die Wirtschaft, ohne dabei mehr Materialien zu benötigen.

Diese Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Materialverbrauch ist eine Folge des zuneh-

menden Recyclings, von Effizienzgewinnen in einigen Produktionsabläufen und besonders von strukturellen Veränderungen der Wirtschaft: «Dienstleistungen werden immer wichtiger; rohstoffintensive Industrien dagegen verlagert man ins Ausland», sagt Arme-Marie Mayerat.

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Joachim Luakenmann,

„Preiswerte Prachtbauten“,

in: Sonntagszeitung 21.Januar 2007, S. 70.

Vollständig digitale Produktion ermöglicht ausgefallene Architektur zum Spartarif

Auf der Swissbau in Basel wird kommende Woche ein ganz besonderes Objekt zu sehen sein:

eine Holzkonstruktion mit schrägen Balken und silbrig glänzender Vakmimfassade. Es handelt sich um den Prototyp eines Raums der Monte-Rosa-Hütte; die oberhalb von Zermatt auf 2800 Metern Höhe gebaut werden soll.

Der Prototyp zeigt eine architektonische Entwicklung, die laut ETH-Architekt Ludger Hove-

stadt an Bedeutung mit der Erfindung des Aufzugs oder dem Prinzip der vorgehängten Fassade zu vergleichen ist: die nahtlose digitale Planung eines Gebäudes, vom Entwurf über die detaillierte Konstruktion bis zur computergesteuerten Produktion ..

Egal, wie verrückt der Entwurf auch sein mag, dank der «digitalen Produktionskette» kann

nahezu jede Form auf der Baustelle Gestalt annehmen. Dabei soll der Produktionsaufwand und Preis eines ausgefallenen Gebäudes dem einer Serienfertigung entsprechen. «Wir werden tolle Architektur machen, und Sie werden weniger dafür bezahlen», sagt Hovestadt. «Beim Bau in-

dividueller Häuser erwarten wir eine Preisreduktion von 30 bis 40 Prozent.» Diese vollständige Digitalisierung der Architektur sei ein weltweites Novum.

Den Entwurf der Monte-RosaHütte hat der ETH-Architekt Andrea Deplazes mit Studenten

entwickelt. Ursprünglich War der Plan weder technisch noch finanziell realisierbar. Daher kam die von Hovestadt am Institut für Computer Aided Architectural Design (CAAD) entwickelte Methode zum Einsatz - erstmals an einem grossen Gebäude. Bisher wurde nur bei kleineren

Objekten «geübt», etwa bei einem Pavillon für die Swissbau 2005 und dem Projekt Futuropolis des New Yorker Architekten Daniel Libeskind.

Ausgangpunkt der digitalen Kette ist ein «Gurnmibandmodell» des Entwurfs. Jeder Balken und jede Fassadenkante wird durch ein digitales Gummiband repräsentiert. Das Modell lässt sich

leicht am Computer modifizieren. Dieser ist dabei mehr als ein passives digitales Zeichenbrett: Er beeinflusst die Optimierung aktiv. Gibt der Architekt den ungefähren Rahmen für Grundriss

und Gebäudehülle ein, liefert das Programm die optimale Form, bei der alle Betten in die Hütte

passen und möglichst wenig unzugängliche Winkel bleiben - von Hand eine mühsame Prozedur. Einheitliche Datenformate überbrücken «digitale Gräben» Es ist sogar möglich, den Bauplan im

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Gummibandmodell zu lockern und den Computer unter gewissen Vorgaben Architekt spielen zu

lassen. Je nach Wahl der Parameter können dabei in einem evolutionären Prozess sehr originelle Entwürfe entstehen.

Nach den ersten «Dehnübungen» durchlaufen die Daten des Gummibandmodells zahlreiche Optimierungszyklen. Damit das gelingt, musste Hovestadt mehrere digitale Schnittstellen

durchgängig machen. Zwar arbeiten Architekten längst am digitalen Zeichenbrett, doch sind die

Programme der einzelnen Glieder im Bauprozess nicht kompatibel. So müssen Baupläne ausgedruckt und die Masse mühsam von Hand in das Steuerungsprogramm der Holzfräse übertragen werden. Die Kunst bestand darin, diese «digitalen Gräben» dank einheitlicher Datenformate zu überbrücken.

Das Resultat der statischen Optimierung der Hütte ist eine Fachwerkstruktur, bei der alle Balken

nahezu dieselbe Last tragen. Anschliessend wandern die Daten in ein Simulationsprogramm, das zum Beispiel den Winddruck auf das Gebäude berechnet. Wo grosse Drücke zu erwarten sind, wird die Konstruktion verstärkt, wo die Last gering ist, fallen Balken weg. Gegenüber einer

konventionellen Bauweise sind der Materialbedarf und das Gewicht der Monte- RosaHütte rund 40 Prozent geringer.

Nach vielen Hundert Optimierungsiyklen hat jeder Balken, jedes Bett und jedes Fenster seinen Platz gefunden. «Die gesamte Balkenkonstruktion für die Hütte kann nun von einer Fräse in

rund 60 Stunden zugeschnitten werden», sagt Hovestadt. Schrauben brauchts keine: Die Bal-

ken sind wie ein dreidimensionales Puzzle verzapft. Auch die Fassadenteile werden nach dem

digitalen Datensatz millimetergenau gefertigt. Alle Teile bekommen eine Nummer. Der Rest ist Bauen nach Zahlen.

Die Gewichtsersparnis und der einfache Aufbau der Hütte sind auf 2800 Metern Höhe von grossem Vorteil. Einerseits braucht es weniger Helikopterflüge, andererseits dauert die Bausaison

nur drei Monate. Auch für den Prototyp auf der Swissbau hat sich die digitale Kette ausgezahlt: Vier konventionelle Anbieter wollten diesen für rund 800000 Franken bauen. Mit der digitalen Kette gelang es für 180000.

Noch fehlt eine der 5,6 Millionen Franken, die die Monte-RosaHütte trotz allem kosten wird. «Ich bin sehr zuversichtlich», sagt Hovestadt, «dass wir das Geld bald zusammen haben.»

Schliesslich soll die demonstrierte Digitalisierung Schule machen und die Architektur laut Hovestadt in den nächsten 10 bis 15 Jahren revolutionieren.

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