LUZERN
Textsammlung Energie Kurs HTA - Wintersemster 2007/08
Master Fokus Energie Professor: Christian Hรถnger Unterrichtsassistent: Daniel Tschuppert wissenschaftlicher Mitarbeiter: Roman Brunner
Bild: RBF in der Bibliothek seines Home Dome in Carbondale, Ilinois, um 1960. Foto Liebermann. BFA
Textbuch Das Textbuch beinhaltet aktuelle Zeitungs- und Buchausschnitte im nahen und weiteren Umkreis der Thematik Energie. Die Texte zeigen die Aktualität und Brisanz des Themas. Die am Semesterbeginn vorliegende Fassung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, es handelt sich um ein offenes Gefäss, welches während und nach dem Semester laufend ergänzt, aktualisiert und systematisiert wird. Die Sammlung dient dem Lehrkörper als Gedächtnis und Fundus zur Erarbeitung möglicher Forschungsthemen. Am Ende der Textsammlung ist eine ebenfalls wachsende Liste von Literatur zum Thema aufgeführt. Gerne nehmen wir auch Anregungen und Texte/Literaturhinweise der Studierenden in die Sammlung/Literaturliste auf. Christian Hönger
Inhaltsverzeichnis:
S. 6
Reyner Banham, „Die Architektur der Wohl-temperierten Umwelt“, in: Arch+
S. 15
Klaus Daniels, Bauen in der Informationsgesellschaft. Nachhaltig Bauen, Bei-
S. 17
Klaus Daniels, Bauen in der Informationsgesellschaft. Nachhaltig Bauen,
S. 19
Alois Diethelm, Andrea Deplazes, „Strukturfragen. Vom Verhältinis
Februar, 1988, S. 20.
spiele und Ideen, Basel Boston Berlin: Birkhäuser Verlag, 2001, S. 76.
Beispiele und Ideen, Basel Boston Berlin: Birkhäuser Verlag, 2001, S. 76.
Raumstruktur - Baustruktur – Infrastruktur“, in: Konzept und Konstrukt, Das
Handbuch zum Grundkurs „Architektur + Konstruieren I/II“ an der ETH Zürich, 2003, S. 357-364.
S. 29
Hassan Fathy, „Natürliche Energie und vernakuläre Architektur“, in: Arch+
S. 50
Soheir Farid, Rami El Daha, „islamische Architekur und die Arbeiten von Has-
S.55
Max Gschwend, Bauernhäuser der Schweiz. Handwerker-Architektur,
S.57
Dominic Marti, „Archaische Formen“, in: Tec 21 Nr. 36, 3. September,
S.61
Dennis Meadows, Die Grenzen des Wachstums, Bericht des Club of
Februar, übers. Barbara Engel, Wolfgang Wagener, 1987, S. 34-49.
san Fathy“, in: Arch+ Februar, übers.: Barbara Engel, Sabine Kraft, 1987, S. 67.
[1. Auflage], Schweizer Baudokumentation, 1988, S. 15.
2007, S. 18.
Rome zur Lage der Menschheit. Technologie und die Grenzen des
Wachstums, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1972, S. 116-120.� S. 64
Karl H. Metz, Ursprünge der Zukunft, die Geschichte der Technik in der west-
lichen Zivilisation. Perspektiven: Nachhaltigkeit als technologisches Prinzip, Paderborn: Ferdinand Schöningh GmbH &Co, 2006, S. 501-516.
S. 80
Werner Nachtigall, Bau-Bionik, Natur < Analogien > Technik.
Klimaangemessene Bauweisen in ursprünglichen Kulturen und in der Moderne, Berlin: Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York, 2003, S. 75-92.
S. 90
Dietrich Schwarz, „Nachhaltiges Bauen“, in: Detail 2007 6, S. 600-605.
S. 97
Jean-Philipp Vassal, „Séjourner sur L`herbe, Zum Technologietransfer von La-
caton & Vassal“, in: Werk, bauen + wohnen 04, Andreas Ruby Gesprächsleitung, 2002, S. 10-15.
S. 104
Vitruv [Marcus Vitruvius Pollio], Zehn Bücher über die Architektur. Wie man
bei der Anlage der einzelnen Räume auf die Himmelsrichtungen Rücksicht
nehmen muß,� ������� übers. Dr. ���� ����� Curt �������������� Fensterbusch, ����������������������� [Dritte Auflage 1964], ����������� Darmstadt: wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1981, S. 145. S. 105
Tesuro Yoshida, Das japanische Wohnhaus. Lüftung, Heizung, Belichtung, Was-
serversorgung und Entwässerung, Berlin: Ernst Wasmuth GmbH, 1935, S. 145-150.
ab S. 109
Tagespresse
S. 141
Literaturverzeichnis
S. 143
Weiterführende Literatur
Reyner Banham,
„Die Architektur der Wohl-temperierten Umwelt“, in: Arch+ Februar, 1988, S.20.
Die archäologischen Funde, die die Zeit überdauert haben, lassen annehmen, daß die
Menschheit, außer in den ganz trockenen und kalten Gebieten der Erde, in nahezu allen
derzeit bewohnten Teilen der Welt ohne Hilfsmittel existieren kann. Das entscheidende Wort
ist „existieren“: denn ein nackter, nur mit Zähnen, Händen, Füßen und angeborenem Verstand bewaffneter Mensch erscheint zwar überall auf dem Lande als lebensfähiger Organismus (vielleicht nur nicht in der Wüste und im Schnee). Aber um sich wirklich entwickeln zu
können und nicht bloß zu überleben, braucht der Mensch mehr Behaglichkeit und Muße als der schutzlose, nackte Einzelkampf ums Überleben ihm zugestehen würde.
Ein großer Teil dieser Behaglichkeit und Muße wird ihm durch den Aufbau technischer Hilfsmittel und sozialer Organisationen ermöglicht, die für die direkte Regulierung der Umwelteinflüsse entwickelt wurden: für Trockenheit im Regen, Wärme im Winter und
Kühle im Sommer, um akustischen und visuellen Schutz genießen zu können und um einen
geeigneten Platz zu erhalten, seine eigenen Sachen aufzubewahren sowie gesellige Aktivitäten
zu organisieren. Außer in den letzten zwölf Jahrzehnten verfügte die Menschheit nur über eine überzeugende Methode, diese Umweltverbesserungen zu erreichen, nämlich die Errichtung massiver und scheinbar dauerhafter Konstruktionen.
Für Teillösungen dieser Probleme haben sich immer Alternativen angeboten, wie zum Beispiel das Tragen eines Mantels im Regen, das Schutzsuchen in einem Zelt vor der Sonne oder das
Versammeln um ein Lagerfeuer an kalten Abenden. Aber ein Mantel ist nur eine individuelle Lösung und ein Zelt bietet kaum akkustischen Schutz, wenn es auch ausreichend ist, um neugierige Blicke fernzuhalten. Und ein Lagerfeuer bietet keinerlei Privatsphäre und ist
überhaupt kein Schutz gegen Regen, dagegen sorgt es für genügend Wärme und Licht, um einen Ort bewohnbar zu machen.
Aber über Betrachtungen dieser Art hinaus sollte man einen grundsätzlichen Unterschied
zwischen umwelttechnischen Hilfsmitteln des konstruktiven Typs (dazu gehört auch Kleidung) und solchen machen, für die das Lagerfeuer der Archetyp ist. Dieser Unterschied soll durch eine Art Parabel verdeutlicht werden, in der ein wilder Stamm (von der Art, wie sie nur
in Parabeln vorkommen) abends an einer Lagerstätte ankommt, und sie gut mit Bauholz
ausgestattet vorfindet. Es gibt zwei grundsätzliche Möglichkeiten mit dem Umwelt-Potential Holz umzugehen: es könnte entweder zur Errichtung eines Wind- oder Regenschutzes ge
nutzt werden - die konstruktive Lösung - oder um ein Feuer zu machen - die energiegestützte
Lösung. Ein idealer Stamm“ aus wohlüberlegt handelnden Rationalisten würde die verfügbare Menge Holz abschätzen, eine Wettervorhersage für die Nacht treffen - naß, windig oder kalt
- und dementsprechend über den Holzvorrat verfügen. Ein echter Stamm würde, als Erbe einer langen kulturellen Tradition, natürlich nichts dergleichen tun, sondern würde, gemäß seiner
überlieferten Gewohnheit, entweder ein Feuer machen oder ein Obdach bauen. Und das ist es, so wird diese Untersuchung zeigen, was zivilisierte, westliche Nationen in den meisten Fällen heute immer noch tun.
Das Erlernen dieser überlieferten kulturellen Gebräuche hängt offenbar von vorangegangenen Erfahrungen des Stammes oder der Kultur ab, und diese können oft bitter gewesen sein. Be denkt man den Aufwand, so ist eine konstruktive Lösung normalerweise mit einem großen
und wahrscheinlich harten individuellen Einsatz verbunden, während die energie-gesteuerte
Lösung mit einer stetigen und sich möglicherweise verringernden Ausnutzung der natürlichen Vorkommen verbunden ist, welche schwer oder gar nicht regenerierbar sind. Die meisten vortechnologischen Gesellschaften haben in diesem Bereich nur wenig Möglichkeiten
gehabt, da sie kaum Brennmaterial oder andere Formen nutzbarer Energie zu ihrer Verfügung hatten. Aus diesem Grund haben sich alle nachgewiesenen Hochkulturen, die Weltarchitektur geschaffen haben, beweisbar und überzeugend auf die Konstruktion massiver Gebäude
verlassen, um sowohl ihre physischen als auch ihre psychologischen Bedürfnisse bezüglich einer gestalteten Umwelt zu befriedigen.
Konsequenz daraus ist, daß es Architekten, Kritikern, Historikern und auch allen anderen, die
sich mit dem Problem des Umgangs mit der Umwelt beschäftigen, hierzu an räumlichen Erfah rungen und kulturellen Antworten fehlt, welche die Nomadenvölker noch besessen haben.
Kulturen, die ihre Umwelt mit Hilfe von massiven Konstruktionen organisieren, neigen auch dazu, Raum so zu sehen, wie sie ihn erleben, also begrenzt und abgeschlossen durch Wände,
Fußboden und Decke.‘ Es gibt sicher Vorbehalte und Ausflüchte gegen diese Darstellung, aber ihre allgemeine Gültigkeit wird in vielen Dingen deutlich, zum Beispiel in der beharrlichen
Art und Weise, wie Architekten und Designer an der rechtwinkligen Form ummauerter Räume festhalten, wenn sie versuchen, „offenen“ oder „unbegrenzten“ Raum zu visualisieren. Frederick Kiesler‘s Cite dans l`Espace von 1924 ist ein gutes Beispiel hierfür.
Demgegenüber neigen Gesellschaften, die keine massiven Konstruktionen kennen, eher dazu, ihre Aktivitäten um einen zentralen Focus zu gruppieren - ein Wasserloch, ein
schattenspendender Baum, ein Feuer, ein bedeutender Lehrer - und bewohnen so einen nach
funktionalen Bedürfnissen differenzierten Raum, dessen äußere Grenzen eher vage und daher
selten regelmäßig sind. Die Ausnutzung von Wärme und Licht zoniert sich am wirksamsten in
konzentrischen Kreisen, sie sind am heißesten und hellsten in den Nähen des Feuers und kälter und dunkler, je weiter sie davon entfernt sind; so daß im äußeren Ring geschlafen wird, und
sich Tätigkeiten, die Licht benötigen, in dem innersten Ring abspielen. Aber gleichzeitig ist die
Wärmeausdehnung vom Wind abhängig, und durch den Rauch wird die im Wind liegende Seite unattraktive die konzentrische Zonierung noch durch andere Bedürfnisse und Überlegungen zum Komfort durchbrochen wird.
Ohne jetzt diese Erfahrungen weiter zu verfolgen, welche mehr als die geringen
anthropologischen Informationen eine Bestätigung ihrer grundsätzlichen Relevanz für die
Bildung einer energie-gesteuerten Umwelt bringen würden, kann man auf alle Fälle feststellen, daß diese Erfahrungen keinen Einlaß in die Traddition der Architektur gefunden haben, noch nicht einmal in die der modernen Architektur, obwohl sich doch die moderne Architektur im weitesten Sinne mit der Schaffung einer energie-gesteuerten Umwelt beschäftigt. Die
Geschichte der Architektur, wie wir sie im allgemeinen verstehen, ist in Gesellschaften und Kulturen geprägt worden, die sich der massiv-konstruktiven Methode verpflichtet fühlten.
Weiterhin hat die Akkumulation von Kapital und Ausrüstung, um wenigstens eine geringe Stufe zivilisierter Kultur zu erreichen, dazu geführt, daß Baumaterial als etwas sehr Kostbares und
Dauerhaftes behandelt wurde. Es wurde also nicht nur notwendig, bewohnbare Umgebungen zu schaffen, sondern auch, sie zu erhalten. Selten fehlte es an physisch oder kulturell notwendigen
Funktionen, die darauf warteten, in den verfügbaren Räumen untergebracht zu werden. Gebäude wurden also gebaut, um zu überdauern, und mußten auch erst einmal über Jahre ihre Funktion erfüllen, um die Kosten und den Aufwand an Material und Arbeit zu rechtfertigen.
Die Architektur entwickelte sich so zur Kunst, die dauerhafte und massive Konstruktionen
schafft, und sie begann, sich auch selber nur noch als diese Kunst zu betrachten, was einer der
Gründe für ihre heutigen Probleme und Unsicherheiten ist. Die Gesellschaft schreibt - durch ein Organ, welches sie dazu bevollmächtigt hat, wie zum Beispiel den Staat oder den Markt - die Schaffung passender Hüllen für menschliche Aktivitäten vor, und die Architekten antworten
darauf mit dem Vorschlag eines von starren Konstruktionen umschlossenen Raumes, weil es das ist, was sie, gelernt haben, und, was die Gesellschaft gelernt hat, von den Architekten zu erwarten.
Aber solche Konstruktionen sind aus einer Anzahl von Gründen heraus angreifbar. Sie sind
kulturell mit Bedeutung zu überladen, sie sind wirtschaftlich zu teuer, funktional erweisen sie sich als zu starr für Veränderungen und, in Bezug auf die Umwelt, sind sie unfähig, das zu
leisten, was die Gesellschaft von ihnen erwartet. Alle diese Bedenken haben an Bedeutung
gewonnen, umsomehr sich die technologischen Gesellschaften auf der nördlichen Halbkugel
etabliert haben und versuchten, sich in Richtung Äquator auszudehnen. Aber die Architekten
hatten kaum etwas anderes als weitere Variationen statischer Konstruktionen anzubieten, und antworteten meistens auf die Probleme so, als seien dies die einzigen und unumgänglichen
Techniken, um mit Umweltproblemen umgehen zu können. In Wahrheit war dies nie die einzige und unumgängliche Technik. Eine geeignete Konstruktion wird den Menschen im Sommer
kühlen, aber keine Konstruktion wird ihn im Winter wärmen. Eine geeignete Konstruktion kann ihn vor blendendem Sonnenlicht schützen, aber keine Konstruktion hilft ihm, im Dunkeln zu
sehen. Während die Architekturtheorie, die Geschichte und die Lehre immer bei der scheinbaren Annahme geblieben sind, daß die Konstruktion für den notwendigen Umgang mit der Umwelt
ausreichend ist, hat die Menschheit selbst im großen und ganzen aus Erfahrung immer gewußt, daß die bloße Konstruktion allein nicht genügt.
In einigen Jahres- und Tageszeiten wurde immer Energie verbraucht: Im Winter mußte Feuer
gemacht und abends Lampen angezündet werden, Ventilatoren brauchten Muskelkraft, und in der Hitze des Tages brauchten Fontänen Wasserkraft.
Entwurfszeichnungen für ein Gebäude mußten in Grundriß und Schnitt immer einige
Vorkehrungen für marginale Verwendungen von Versorgungsenergie treffen: Schornsteine für den Rauch und Leitungen für das Wasser. Manche Architekten, wie zum Beispiel die
Gebrüder Adam, machten im Grundriß sinnvollen Gebrauch von diesen Leerräumen, indem sie versteckte Zugänge für die Bediensteten zum Anzünden der Lampen und Kerzen vorsahen. Im
Allgemeinen allerdings hatten solche Vorkehrungen nur geringen Einfluß auf die Größe oder das Aussehen eines Gebäudes. Architektur konnte also getrost fortfahren, diese Dinge weiterhin als eine Art Fußnote zu betrachten (ausgenommen vielleicht Albertis großartige Abhandlung über Schornsteine) und auf der massiven Struktur der Wände und Dächer als ihr wahres Geschäft weiterhin zu beharren.
Der Begriff „massiv“ verdient es näher beleuchtet zu werden: In der Tradition des
Mittelmeerraums, von der sich die westliche Architektur herleitet, wurde das Bedürfnis nach
dauerhaftem Schutz oder wenigstens temporärem Schutz normalerweise dadurch befriedigt, die Architektur möglichst massiv auszuführen. Dicke und schwere Konstruktionen halten besser
Stürmen oder Erdbeben Stand und sind weniger angreifbar durch Feuer und Wasser. Aber solche Konstruktionen sind mit ihren umwelttechnischen Vorteilen mittlerweile in drei Jahrtausenden europäischer Zivilisation so sehr selbstverständlich geworden, daß fälschlicher Weise
angenommen wird, daß sie allen konstruktiven Techniken eigen wären, so daß es verwirrte
Klagen gab, als sich herausstellte. daß sie für Leichtbaukonstruktionen untauglich waren, die sich aus dem futuristischen Enthusiasmus für das Maschinenzeitalter entwickelt hatten.
Ihre herausragenden Vorteile waren akkustischer und wärmetechnischer Art. Eine dicke,
schwere Konstruktion bietet einen besseren Schallschutz, einen besseren Wärmeschutz und hat was mindestens ebenso wichtig ist -, eine bessere Wärmespeicherfähigkeit. Diese letzte
Eigenschaft massiver Konstruktionen hat wahrscheinlich mehr dazu beigetragen, europäische Architektur bewohnbar zu machen, als allgemein angenommen wird. Ihre Fähigkeit, die ihr zugeführte Wärme zu absorbieren und zu speichern und diese‘Wärme dann wieder an die
Umgebung abzugeben, wenn die Wärmequelle längst verloschen ist, hat der europäischen
Architektur in jeder Hinsicht gut gedient: die Mauerwerksmasse eines-Kallins, Kaminaufsatzes und Schornsteins hatte am Tagedie Aufgabe, die Hitze des Feuers aufzunehmen, wenn es
brannte und sie im Laufe der kühlen Nacht wieder an das Haus abzugeben, wenn das Feuer nicht mehr brannte.
Andererseits halten in heißen Gegenden die dicken Wände eines Hauses am Tage die Wärme
der Sonne ab und verlangsamen so eine Erwärmung der Innenräume, um dann, nach Sonnenun
tergang durch die Strahlung dieser Wärme in das Haus eine plötzliche Abkühlung zu verhindern. Ähnliche Effekte der Wärmespeicherung, nur in verfeinerter Form mit Glas als Filter, werden in Gewächshäusern genutzt, um Lichtenergie, die hindurchdarf, und Wärmeenergie, der
der Durchgang verwehrt werden soll, zu trennen. Diese Technik könnte man sehr gut als
die „Konservative Methode“ im Umgang mit der Umwelt bezeichnen, als Hommage an die von dem Meister auf dem Gebiet der Umwelttechnik Sir Joseph Paxton 1846 entworfene „Conservative wall“ in Chatsworth.
Die „Konservative Methode“, welche ein Haus buchstäblich als Summe von vier Wänden und Dach definiert, ist die festgefügte Norm in der europäischen Kultur. Sie muß aber immer, und ganz besonders drastisch in feuchten und tropischen Gegenden um die „Selektive Methode“
ergänzt werden. Letztere Methode arbeitet, wie der Name besagt, damit, unerwünschte Einflüsse vom Inneren fernzuhalten und die wünschenswerten Umweltfaktoren hereinzulassen; so wie ein geöffnetes Fenster frische Luft herein und verbrauchte Luft heraus läßt und das geschlossene Fenster zwar Licht aber weder Wind noch Regen.
Traditionelle Bauweisen haben beide Methoden immer zusammen verwandt (tatsächlich ist es erst eine moderne Errungenschaft, sie zu trennen) und darüberhinaus noch mit der
„Regenerativen Methode“ angewandter Energie abgestimmt, entweder durch Verbrennung von Kraftstoffen oder durch Ausnutzung menschlicher oder tierischer Muskelkraft. Die
sprichwörtliche Redewendung „Heim und Herd“ bezeichnet diese Verbindung. Auch wenn diese drei Methoden in traditionellen Gebäuden nicht streng voneinander getrennt werden können, so gibt es doch ausschlaggebende klimatische Bedingungen, die dazu veranlassen, eher mit
der „Konservativen Methode“ oder eher mit der „Selektiven Methode“ zu arbeiten, und es gibt
ebenso historische Gründe, unsere Zeit von allen vorangegangenen Zeiten zu unterscheiden, da sie die Wahlfreiheit besitzt, hauptsächlich „regenerativ“ arbeiten zu können.
Die „Konservative Methode“ wird hauptsächlich in trockenen Klimazonen, heiß oder kalt
angewandt und die „Selektive Methode“ herrscht dort vor, wo Feuchtigkeit ein Problem ist, wie 10
zum Beispiel in der Architektur des „Weißen Mannes“ in Ost-Indien oder in den heißen und
feuchten Gegenden der Vereinigten Staaten. Nach James Marston Fitch gehört dort folgendes zur traditionellen Hausform: 1.
Vom Erdboden abgehobene Fußböden... um so dem vorbeistreichenden Wind die
2.
Riesige, leichte, schirmartige Dächer, um so die subtropische Sonne und den Regen
3.
Umlaufende Veranden und Balkone, um so die Wände vor schrägen Sonnenstrahlen und
4.
Große, vom Fußboden bis zur Decke reichende Türen und Fenster, um so maximale
5.
Hohe Räume, innenliegende Hallen und durchlüftete Dächer, um auch bei warmem
6.
Eine mit Lüftungsschlitzen versehene Sonnenschutzjalousie, welche jede Kombination
größtmögliche Angriffsfläche zu bieten.
abzuhalten.
Schlagregen zu schützen.
Lüftungsmöglichkeiten zu gewährleisten.
Wetter kühle Räume zu haben.
von Ventilation und Privatheit zuläßt.
Dies ist eine klassische Charakterisierung der „Selektiven Methode“. Sie befaßt sich damit, aus der Gesamtheit der Umweltbedingungen einen Aspekt zuzulassen (in diesem Fall die sich be
wegende Luft), während alle anderen ausgeschlossen werden. Für die „Konservative Methode“, die als Bauform in den ebenfalls heißen, aber trockenen südwestlichen Staaten der USA vor
herrscht, muß eine solch treffende Beschreibung erst noch geschrieben werden, aber durch die
Arbeit von Ralph Knowles an der University of South California beginnen ihre Merkmale stär ker in den Blickpunkt zu rücke! Anhand großangelegter Modellversuche klassischer Indianer Pueblos wie etwa dem Pueblo Bonito zeigt er nicht nur, daß die massiven Lehmwände die
Sonnenwärme im Laufe des Tages mit bemerkenswerter Effektivität absorbieren und speichern, sondern auch, daß die Gebäudeaufbauten mit Terrassen und Flachdächern anscheinend darauf ausgerichtet sind, im Winter einen höheren Prozentsatz an Sonnenwärme aufzunehmen,
wenn sie gebraucht wird, als im Sommer, wenn sie nicht gebraucht wird. Obwohl sie so
einfach aussehen, gehören diese Pueblos wohl zu den beachtlichsten Anstrengungen, die eine bodenständige Gesellschaft je in Bezug auf ihre Umwelt unternommen hat. Sie mußten aber
11
auch nicht mit dem wohl größten Problem, der Feuchtigkeit, fertigwerden, denn diese ist lästig, fein und unkontrollierbar. 4) Während mangelnde Feuchtigkeit in sehr trockenen Gegenden
durch Wasserzufuhr ausgeglichen werden kann, um Verdunstungsverluste zu vermindern, hat überschüssiges Wasser aus der Atmosphäre bisher wirkungsvoll allen vortechnologischen
Anstrengungen getrotzt, es vom Gebäude fernzuhalten, daß es für diejenigen, die es sich leisten konnten, sinnvoller war, diese Gegend zu verlassen. In Indien zogen sich die Briten in Bergorte
wie Simla zurück, und New Yorker Geschäftsleute mit Lungenbeschwerden gingen nach Colora do.
Nur die „Regenerative Methode“ hat sich bisher mit dem Verbrauch von Energie als wirksames Mittel gegen übermäßige Feuchtigkeit erwiesen. Daher gibt es auch eher eine zeitliche als
geographische Unterscheidung zwischen den zwei. Hauptmethoden im Umgang mit feuchtem Klima. Konstruktive Lösungen wie der oben beschriebene Haustyp aus Louisiana konnten
erst ersetzt werden, nachdem entscheidende Fortschritte in der Energietechnologie und deren Regulierung erzielt worden waren.
Diese Errungenschaften waren Teil einer allgemeinen Revolution in der Umwelttechnologie, von denen der Feuchtigkeitsschutz einer späteren Entwicklung angehört. Wenn es für diese
Revolution einen Stichtag gibt, dann ist es das Jahr 1882, in dem die Elektrizität ihren Einzug in die Gebäude gehalten hat. Es war diese Revolution, die das erste Mal die Frage nach
einer Alternative zur Konstruktion als einziger Kontrolleur der Umwelt aufwarf und die die
„Regenerative Methode“ nicht nur zur Unterstützung, sondern als ernst zu nehmenden Rivalen neben die „Konservative Methode“ und „Selektive Methode“ stellte.
Es ist eine Tatsache - wenn auch schwer zu erklären - daß die meisten Fortschritte der
„Regenerativen Methode“ in einer Gegend der europäischen Architektur gemacht wurden, die sich am wenigsten der massiven Konstruktion verschrieben hatte, nämlich in Nord-
Amerika. Das mag darin begründet liegen, daß das reichlich vorhandene Holz, aus dem die leichtgewichtigen amerikanischen Häuser gebaut wurden, gleichzeitig noch ausreichend
Brennstoff für die hochqualifizierten Franklin-Öfen und Rumford-Kamine abwarf, die diese
Häuser beheizten. Vielleicht hat es aber auch einen direkten kausalen Zusammenhang gegeben und die wärmetechnisch vollkommen ungenügende Ausführung der Holzhäuser hat die
Entwicklung von hochqualifizierten, schnellheizenden Öfen umwelttechnisch einfach dringend gefordert.
Was auch immer passiert sein mag, es ist klar, daß sich die Nord-Amerikaner zum Ende des 19. Jahrhunderts Gewohnheiten und Fähigkeiten in der Anwendung regenerativer Hilfsmittel für
den Umgang mit der Umwelt angeeignet hatten, daß sich eine neue Tradition entwickeln konnte. Die Bedeutung dieser regenerativen Tradition kann man im Laufe des Jahrhunderts an dem sich
verschiebenden Zeitraum für umwelttechnische Erfindungen erkennen. Kohlegas war als Quelle 12
der häuslichen Energieversorgung für Wärme und Licht noch eine rein europäische Erfindung, deren Väter in Frankreich Ph. Lebon, in Deutschland und England F.A. Winzer und nur in
England W. Murdock waren. Aber zum Ende des 19. Jahrhunderts gibt es keinen Zweifel mehr,
daß Edison der wirkliche Vater des elektrischen Lichts und Carrier Ber Vater der Klimatisierung war. Natürlich haben viele europäische Erfinder zu ihrer Entwicklung mit Schlüsselerfindungen
beigetragen, aber deren Umsetzung und Weiterentwicklung zu einem gebrauchsfertigen System war in bei den Fällen eine rein amerikanische Angelegenheit.
Daß das Fehlen einer großen Kultur für neue Entwicklungen eher förderlich als hemmend ist, ist wohl bei all diesen Überlegungen der springende Punkt. Es ist erstaunlich, wie oft
Entwicklungen in den USA technisch solchen in Europa nicht sehr weit voraus waren, aber
Amerikaner gingen mit der Anwendung von Erfindungen viel sorgloser um. In Vorwegnahme eines Vergleichs aus einemspäteren Kapitel dieses Buches soll hier schon das Meisterwerk
der Architektur einer wohl-temperierten Umwelt: das Larkin Gebäude, herangezogen werden. Weder in physischer noch in intellektueller Hinsicht ist es weiterentwickelter, als das Roval
Victoria Hospital in Belfast, welches sogar zwei Jahre früher fertiggestellt wurde, aber die im
RVH erzielten Fortschritte erscheinen eher zufällig, und seine Qualität als Architektur darf wohl kaum in einem Atemzug mit der des Larkin Gebäudes genannt werden.
Zweifellos hat dieser Qualitätsunterschied viel mit Wrights Genius zu tun, aber dieser Genius konnte sich auf viel größere Erfahrungen im Umgang mit regenerativen Mitteln stützen als irgendeiner seiner europäischen Zeitgenossen, und das innerhalb einer Kultur, die für neue
Technologien viel aufgeschlossener war als die europäische Kultur. Ungezwungenheit ist ohne
Zweifel der Schlüssel. Meistens gibt es einen time-lack - manchmal von Jahrzehnten - zwischen dem Zeitpunkt, von dem eine mechanische Erfindung verfügbar ist, bis zu ihrem vollständigen Einsatz in der Architektur.
Das hat direkt wenig mit Problemen bei der Entwicklung selber zu tun, als vielmehr mit dem nichtvorhandenen Bedürfnis der Architekten, sich diese zu nutze zu machen.
Auf diese Weise rennt die technologische Entwicklung der architektonischen immer vorweg. In der Zwischenzeit werden diese Errungenschaften in Bereichen ausprobiert, die gemeinhin
nicht zur Architektur gerechnet werden: Gewächshäuser, Fabriken oder Transportsysteme. Zum Beispiel trennen fast vier Jahrzehnte die erste industrielle Anwendung der Klimaanlage von ih rem Gebrauch in der Architektur, wie sie von berühmten Architekten entworfen wird. In diese
lange Zeitspanne fallen aber nicht nur direkte Experimente, sondern es ist auch viel Spekulation, Nachdenken und brain-storming notwendig, um ein Klima für die architektonische Nutzung der neuen Technologie erst einmal zu schaffen.
Diese Spekulationen finden nicht in einem philosophischen oder professionellen Vakuum statt. Kommerzielle und persönliche Interessen spielen in diesen Prozeß hinein und politische In
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teressen sind mindestens ebenso wichtig wie private. Deshalb ist der größte Teil der technischen Literatur verkaufsfördernder Natur und das meiste, was Architekten hierzu schreiben, an die
Klienten gerichtete Propaganda, oder berufliche Selbstkritik oder es sind Versuche, die weitere Entwicklung der Kunst in eine bestimmte Richtung zu lenken.
Selbst, wenn ein Visionär wie Paul Scheerbarth mit seinem Buch Glasarchitektur ohne
berufliches Interesse auftritt, verfolgt er immer klare propagandistische Ziele, nämlich die
Welt nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen verändern zu wollen. Denn der Mensch trifft immer nur dann mit der Umwelt zusammen, wenn sie ihm schadet - und sie schadete
Scheerbarth sehr-, so daß auch die Literatur zu diesem Thema sehr eng in die Praxis verwickelt ist. Keines der folgenden Kapitel wird sich also nur mit der Theorie oder nur mit der Praxis
beschäftigen. Das geschriebene.Wort ist, wie das errichtete Gebäude, Ausdrucksmittel in dem
engen Dialog zwischen Architektur und Technik, es ist ein Dialog, der im Zeitraum, den dieses Buch untersucht, immer dichter und enger wird, und in dem zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Möglichkeit existiert, daß eine rein regenerative Architektur Wirklichkeit werden kann.
14
Klaus Daniels,
Bauen in der Informationsgesellschaft. Nachhaltig Bauen, Beispiele und Ideen, Basel Boston Berlin: Birkhäuser Verlag, 2001, S. 76.
Kreative Umgebung
Die ökologische Verantwortung gegenüber der Natur und den zukünftigen Generationen
erfordert eine Begrenzung des rigiden Individualismus, die für das Bauen zu vielfältigen
Herausforderungen führen könnte. Die neuen Informationstechnologien versprechen eine
Entgrenzung der bisherigen Kommunikationsmöglichkeiten; in ihren radikalen Visionen lösen sich Architektur und Städtebau gar in »Cyberspace« und »Virtual Cities« auf. Wie kann das Bauen beiden Entwicklungen, die für seine Zukunft ja von fundamentaler Bedeutung sind,
gleichermaßen gerecht werden? Welche Chancen bestehen heute für die Architektur, den Weg in die Informationsgesellschaft mitzugehen und zugleich nicht zu vergessen, daß auch diese Informationsgesellschaft nur als eine nachhaltige (baulichen) Bestand haben kann?
Befragt man die Erkenntnisse der Trendforscher, weiche Trends für die nächste Zukunft
bestehen, so läßt sich mit einer gewissen Plausibilität begründen, daß wir uns zur Zeit in der letzten von drei Phasen befinden: Phase 1
Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs
Phase 2
Ego-Ära
Phase 3
Soft-Individualismus, Erfahrung, Engagement, Gelassenheit, Freundschaft,
Ehrlichkeit, Spiritualität, Vergangenheit
Für den Bereich des Wohnens, auch zum Teil für den Bereich des Arbeitens, sind für diese dritte Phase einige Merkmale zu finden, die sich weiter ausbauen lassen, diese sind: Engagement,
Ehrlichkeit und Verantwortung. Interessant dabei ist, das derzeitige Warenangebot bekannter
Hersteller zu betrachten. Es baut gerade auf der Ehrlichkeit auf. Das Warenkonzept der Zukunft wird auch umschrieben mit »New-BasicWaren«. Diese sind vernünftig, solide, notwendig,
schlicht, klassisch, dauerhaft aber trotzdem modisch und preiswert (nicht billig). Die zuvor aufgeführten Fakten gelten nicht nur für die Dinge des täglichen Lebens, sondern auch für
15
Wohnungsausstatter und Einrichter.
In vorausgegangenen Kapiteln wurde darauf hingewiesen, daß sich die Industriestaaten immer
mehr von Warenproduzenten zu Wissenproduzenten umorganisieren werden, dies nicht zuletzt unter Zuhilfenahme der modernsten Technologien, insbesondere der elektronischen Medien. Die Einrichtung entsprechender Arbeitsbereiche muß in kreativitätsfördernder Umgebung
stattfinden, in Räumen, die eine stärkere Konzentration und höhere intellektuelle Produktivität erlauben. Bereits zuvor wurde auf Beispiele bei japanischen Firmen hingewiesen, die in
Erholungsgebieten arbeiten. Dies gilt aber nicht nur für Bürobereiche, sondern auch für das Arbeiten zuhause, für die Wissensproduktion in Heimarbeit.
Aufgrund der Ölkrise von 1973 wurde in den USA ernsthaft die Rentabilität von Tele-
Heimarbeit untersucht. Ergebnis war, daß Populär-Futurologen sich für diese Form der Arbeit
stark machten, und ihr wesentliches Argument war, den Arbeitnehmern die Zeit und die Kosten des Pendelns und den Arbeitgebern die Kosten für Räume zu ersparen. Einen weiteren Anstoß
in dieser Richtung gaben Vorschriften des amerikanischen Bundesgesetzes zur Luftreinhaltung, das Unternehmen mit mehr als 100 Mitarbeitern dazu verpflichtet, zur Verringerung des Berufsverkehrs mit dem Auto beizutragen.
Lebenswerte Städte sind solche, in denen Wohnen und Arbeiten dicht beieinander liegen,
kompakte, gut durchgrünte Stadteinheiten, die durch angenehme Umweltbedingungen eben und gerade die erhöhte Aktivität steigern. Insofern dürfen wir davon ausgehen, daß die Standardund Komfortansprüche in der Zukunft für Gebäude in der Informationsgesellschaft nicht
gesenkt, sondern beibehalten oder gar noch gesteigert werden. Solche Erwartungen können
langfristig allerdings nur durch ein nachhaltiges Bauen eingelöst werden, das ebenso flexibel, anspruchsvoll und kontextuell wie ressourcenschonend und effizient ist, und das zudem als Voraussetzung die Kompetenz des Architekten zum ökologischen Urteilen und Planen hat.
16
Klaus Daniels,
Bauen in der Informationsgesellschaft. Nachhaltig Bauen, Beispiele und Ideen, Basel Boston Berlin: Birkhäuser Verlag, 2001, S. 76.
Arbeiten in der Informationsgesellschaft und in den Industrieländern wird in Zukunft geprägt durch:
Arbeitsteilung und Umschichtung bei geringeren Arbeitsmengen.
Einbezug und Überlagerung der Tätigkeiten durch Computer und Vernetzung.
Erfüllung von Forderungen aus dem ökologischen und ökonomischen Bereich (Sichern der Umwelt, Ressourcenschonung, Recycling).
Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes (Time Sharing) wird sich zwangsläufig einstellen müssen, wenn die Arbeitsmenge weiterhin in andere Länder abwandert bzw. eine
»Vollbeschäftigung auf mehr Schultern« erreicht werden soll. In Zeiten einer immer stär
keren Globalisierung der Wirtschaft hilft es nicht, Arbeitsplatz-Inhaber mit Wohltaten und
Arbeitslose mit staatlichen Almosen zu bedienen, die kaum noch zu finanzieren sind. Dabei sind Lohnzuwächse nur dort zu erwarten, wo überdurchschnittliche Leistungen erbracht
werden. Löhne und Gehälter werden auf breiter Basis stagnieren, u. U. gar zurückgehen.
Vielleicht trifft somit zu, was O. Giarini und P. M. Liedtke in ihrem Bericht an den Club of
Rome (1998) „Wie wir arbeiten werden« beschreiben. Nach deren Aussage wird es notwendig sein, ein „Mehrschichtmodell von Arbeit« zu entwickeln, will man eine neue Politik der
Vollbeschäftigung erreichen. Bei diesem Mehrschichtmodell ist die erste Schicht produktiver Tätigkeit so gestaltet, daß jedes erwerbsfähige Mitglied der Gesellschaft ein Minimum an bezahlter produktiver Arbeit zugewiesen bekommt (ca. 20 Arbeitsstunden/Woche = existenzsicherndes Minimum).
Die zweite Schicht produktiver Tätigkeit (Erwerbsarbeit) ist flexibel gestaltet und die
erwerbsfähigen Personen entscheiden selbst, ob und in welchem Umfange sie tätig werden wollen.
Die dritte Schicht umfaßt Tätigkeiten ohne meßbaren Marktwert, z. B. ehrenamtliche Arbeiten (Bildung, Gesundheitswesen, Sozialdienste usw.).
Wesentlich bei diesem Modell ist, daß es keine Bezahlung mehr für das Untätigbleiben
geben soll, sondern vielmehr eine Unterstützung des Tätigbleibens erfolgt (Sozialpolitik = 17
Beschäftigungspolitik).
Teilen sich mehrere Personen eine Aufgabe, wird Arbeiten an »festen« Arbeitsplätzen
gleichermaßen unsicher: Time-Sharing bringt es mit sich, daß entweder Arbeiten z. T. in den
häuslichen Bereich verlagert werden oder mehrere Arbeitnehmer sich einen Arbeitsplatz teilen. Folgt man darüber hinaus W. J. MitcheII, so werden Räume und Gebäude in Zukunft Orte, wo Körper mit Bits zusammentreffen, wo digitale Informationen in visuelle, auditorische, taktile
oder sonstige wahrnehmbare Formen übersetzt und umgekehrt körperliche Aktionen erfaßt und in digitale Informationen verwandelt werden. Diese programmierbaren Orte zu bauen heißt
nicht einfach, Kabel in Wänden und elektronische Geräte in Räumen unterzubringen, sondern
infolge der Miniaturisierung, diese im Gebäude quasi verschwinden zu lassen. Überall befinden sich Sensoren, Gebäude werden zu Computerschnittstellen und Computerschnittstellen zu Gebäuden.
Architekten werden in Zukunft zwar weiterhin Räume (reale und virtuelle) gestalten, um die menschlichen Bedürfnisse zu erfüllen: Sie müssen sich jedoch zunehmend mit den Eigenschaften der visuellen und räumlichen Umgebung unter neuen Gesichtspunkten
(verschiedene Formen der Verdichtung von Wohnen und Arbeiten) beschäftigen. Funktionalität, Stabilität, Ressourcenschonung und Ästhetik werden weiterhin gefragt sein. Die Funktionalität wird genauso von der Softwarefunktion und der Schnittstellenkonstruktion abhängen wie von
Grundrissen und Baumaterialien. Stabilität wird sich nicht nur auf die physikalische Festigkeit
der tragenden Systeme beziehen, sondern ebenso auf die logische Integrität der Computersyste me. Alle zuvor aufgeführten Faktoren werden auf das Bauen und die Ästhetik Einfluß nehmen und so möglicherweise neue Dimensionen eröffnen.
18
Alois Diethelm, Andrea Deplazes,
„Strukturfragen. Vom Verhältinis Raumstruktur - Baustruktur – Infrastruktur“,
in: Konzept und Konstrukt, Das Handbuch zum Grundkurs „Architektur + Konstruieren I/II“ an
der ETH Zürich, 2003, S. 357-364.
Raum Trag- und Infrastrukturen sind entwurfsrelevante Faktoren, die sich je nach
Raumprogramm (Nutzungsstruktur) gegenseitig verschieden stark beeinflussen resp.
unterschiedliche Abhängigkeiten auslösen. Während Raum- und Tragstruktur ein Begriffspaar
bilden, das auf die primitive Hütte ebenso anwendbar ist wie auf ein zeitgenössisches Gebäude, ist die Infrastruktur - womit grundsätzlich Einrichtungen zur Zirkulation von Menschen und Medien gemeint sind, hier aber vor allem im Zusammenhang mit der Gebäudetechnologie Verwendung findet - für vernakuläre Bauten bedeutungslos, weil sie wie bei den meisten
vorindustriellen Bauten nicht oder nur temporär, z. B. in Form eines offenen Feuers, existiert. Es ist aber bekannt, dass bereits die Römer über hoch entwickelte Versorgungsstrukturen wie
Hypokaustenheizungen und Trinkwasserleitungen verfügten. Bis zur Industrialisierung blieben
diese Errungenschaften für die allgemeine Bauproduktion jedoch nahezu bedeutungslos. Seither beeinflussen sie - aufgrund der nunmehr möglichen Massenproduktion und nicht zuletzt auch getrieben vom Bemühen, die in den Städten des 19. Jahrhunderts unhaltbaren hygienischen Verhältnisse zu verbessern - den Entwurf in einem immer grösser werdenden Ausmass. Bauherr und Architekt sehen sich fortan damit konfrontiert, den Grad resp. Umfang
von Installationen und damit verbunden eine bestimmte Nutzung festzulegen. Sind die
Komfortansprüche gering, erfüllt ein altes, vor dem 20. Jahrhundert entstandenes Haus nach
wie vor die Bedürfnisse unterschiedlichster Nutzer. Ein Umbau, falls überhaupt erforderlich, gestaltet sich verhältnismässig einfach, da die Leitungen selten im Mauerwerk oder in der
Decke verborgen sind und nur in geringem Umfang vorkommen. Aber schon 1942 erkannte Bernoulli, dass «den Neubauten von heute gerade ihre für ganz bestimmte Verhältnisse
ausgetüftelte Anlage und Durchführung zum Verhängnis werden muss, sie muss ihre Leben ver kürzen, umso mehr, als ein komplizierter Bau sich nicht so leicht wie eine einfache Anlage den
veränderten Verhältnissen durch Umbauen anpassen lässt». 1 Seither nehmen die Installationen das Ausrnass eines immer dichter werdenden, nahezu alle Bauteile überspannenden
Nervensystems an. Sie erfüllen Aufgaben, die heute kaum mehr wegzudenken sind. In
Einzelfällen mag eine Vereinfachung möglich sein, grundsätzlich muss aber hingenommen 19
werden, dass zeitgenössische Gebäude im Sinne Bernoullis kompliziert sind. Die Frage
nach Anpassungsfähigkeit ist nicht mehr länger nur eine Frage der Tragstruktur, sondern in
gleichem Masse auch eine der Infrastruktur. Und dass Anpassungsfähigkeit gefragt ist, belegt
die Entwurfspraxis immer wieder - und in den unterschiedlichsten Phasen - von neuem. Nicht umsonst stellte Marcel Meili in einem Interview kürzlich die Frage, wie sich Gebrauch im
Raum verdinglichen solle, «wenn es gar kein Programm mehr gibt, weil das Haus danach auf den Investorenmarkt geht».
Vor diesem Hintergrund ist der Strukturbegriff auf drei Perioden hin zu durchleuchten: a) vor dem Baubeginn
b) nach der Bauvollendung (kurz-, mittel- oder langfristig) c) während des Baus
Differenzierte Flexibilitäten
Es interessiert hier nicht die absolute Flexibilität, die jeden denkbaren Veränderungswunsch
erfüllt, sondern Entwurfsstrategien, die den Bedingungen einer auf Ökonomie bedachten Praxis standhalten, die aber auch Antworten auf mögliche mittel- oder längerfristige Bedürfnisse zu
liefern vermögen. Diese Absicht läuft zum Teil jener, im gegenwärtigen (bau-)wirtschaftlichen
Umfeld weit verbreiteten Mentalität entgegen, die Investitionskosten tief zu halten, im Wissen,
dass die Folgekosten nach der Fertigstellung von einer anderen Kostensteile zu begleichen sind. Natürlich geht es auch immer wieder darum abzuwägen, ob, wann und in weIchem Umfang Eingriffe notwendig werden. Denn je mehr Zeit bis zur ersten Intervention vergeht, desto
unbedeutender wird eine einfach hand bare Wandelbarkeit des Gebäudes. Gerade wenn es seiner angestammten Funktion enthoben wird - exemplarisch sind Industriebrachen, wo aus Fabriken Wohnungen, Büros, Schulen und dergleichen mehr werden -, wird häufig der Rückbau bis auf
den Rohbau gewählt, weil alle anderen Komponenten obsolet wurden: Infrastrukturen sind nach 30 bis 50 Jahren überholt, die Fassade erfüllt die wärmetechnischen Anforderungen nicht mehr, und einzelne Baustoffe haben sich als gesundheitsschädigend erwiesen. Die einzige Konstante
ist demnach die Tragstruktur, die sich - je nach Koppelung mit der Raumstruktur - als für neue Nutzungen unterschiedlich flexibel erweist.
Wird Flexibilität im Raumprogramm gefordert, ist damit in der Regel die Möglichkeit gemeint, innerhalb der gleichen Nutzung verschieden grosse Räume oder Raumabschnitte zu schaffen.
Klassisch sind die schaltbaren Zimmer im Wohnungsbau oder die Rastermasse beim Bürobau. Die Rede ist hier von einer Nutzungsflexibilität, die erst nach Bauvollendung zum Tragen kommt. 20
Auf der anderen Seite gibt es die so genannte planerisehe Flexibilität, die darauf beruht, dass
bestimmte Komponenten, wie z. B. die vertikale Erschliessung, von Anfang an als unverrückbar erklärt werden, während andere Teile, die nach Baubeginn genauso fixiert sind, anfänglich - bis zu einem gewissen «point of no return» - noch beeinflusst werden können; im Wohnungsbau z. B. die Grösse der Nasszellen und ganz selten sogar ihre Lage. Sind die inneren Wände tragend, unterliegt die allenfalls noch bestimmbare Raumstruktur einer als wirtschaftlich
festgelegten Spannweite der Decke und dem Öffnungsverhalten der Fassade. Die Möglichkeiten planerischer Flexibilität weitgehend ausgelotet hatten Burkard Meyer & Partner beim Bau
der Mehrfamilienhäuser an der Martinsbergstrasse in Baden (1998/99). Der Grundriss basiert auf einer tragenden Fassade und einem zentralen Erschliessungskern, während das weite
re Raumdispositiv, das auch Bäder und Küchen einschloss, von den Käufern der einzelnen Wohnungen festgelegt werden konnte. Ungewohnt war, dass selbst die Lage und Grösse
der geschosshohen Fenster im Einflussbereich der Käuferschaft lag. Waren aber einzelne
Wohnungen bei Baubeginn noch nicht verkauft, reduzierte sich die Flexibilität schlagartig, weil die Grundrisse durch das Setzen der Öffnungen und das Verorten der Haustechnikkomponenten - namentlich der sanitären Installationen - schon weitestgehend konfiguriert wurden. Die
Unverrückbarkeit von Installationen resultiert aus dem heute, vor allem im Wohnungsbau, nach
wie vor gängigen, aber eigentlich unsinnigen Einbetonieren von Leitungen. Damit reduziert sich die Möglichkeit der Anpassungen während des Baus, und der altersbedingte Austausch wird erschwert. Ganz zu schweigen von eigentlichen Nutzungsänderungen. Raumhaltige «Stützen» - dünne Decken
Angenommen, aus einem Mehrfamilienhaus soll eine Pension oder ein Hotel werden, wirft das eine Reihe von Fragen auf. Die bisherige - unter Umständen räuml:ch vage gefasste -
Horizontalerschliessung innerhalb der Wohnung muss nun zum Korridor werden und einen
eigenen Brandabschnitt bilden. Die dichtere Belegung erfordert möglicherweise eine zusätzliche Fluchttreppe, und die grössere Anzahl von dezentralen Nasszellen stellt die Tauglichkeit eines zentralen Ver- und Entsorgungskernes in Frage. Strukturalisten wie Kenzo Tange suchten
darauf Antworten, indem sie die vertikalen Erschliessungen, sowohl für die Medien wie auch
für die Menschen (Treppen, Aufzüge), mit der ohnehin erforderlichen Tragstruktur koppelten. Die dünnen Stützen klassischer Stützen-Platten-Systeme wurden zu raumhaitigen Schächten transformiert. Vorläufer für die Mehrfachfunktion einzelner Bauteile finden sich bereits im Industriebau des späten 19. Jahrhunderts, wo vertikale Leitungen zwischen Stützenpaaren geführt werden.
21
Ähnlich ist die Bündelung von Kaminzügen entlang der Brandmauern mehrgeschossiger
Wohnhäuser des 19, und frühen 20, Jahrhunderts zu lesen, Die dezentralisierte Anordnung der
Stränge reduziert die horizontalen Installationskomponenten auf ein Minimum oder lässt sie im Idealfall gänzlich überflüssig werden, Frei von horizontalen Leitungen, wird die konstruktive
Beschaffenheit der Decken nur noch von statischen und schallschutztechnischen Anforderungen bestimmt. Vor der Einführung der Flachdecke in Stahlbeton und der damit verbundenen
Möglichkeit, Leitungen einzulegen, war die rein vertikale Medienführung (im Wohnungsbau) das Naheliegendste.
Obwohl die Strukturalisten das Gegenteil suchten, sind auch bei Tange die Nutzungen in einem gewissen Grad determiniert, weil die scheinbar nutzungsneutralen Schächte einmal einen
Aufzug, dann Treppen und schliesslich auch Nasszellen und Lüftungskanäle aufnehmen - mit anderen Worten: Die Struktur ist nicht mehr in jenem Mass frei bespielbar, wie sie auf den
ersten Blick suggeriert. Die Grundrissorganisation ist einerseits abhängig vom Vorhandensein der entsprechenden Infrastrukturkomponente an der gewünschten Stelle, und andererseits setzen ihr die körperhaften Kerne einen Rahmen, der nicht mehr von Fassade zu Fassade
reicht, sondern zwischen den Kernen einzelne Raumfelder absteckt. Würde jeder Kern über
eine Treppe, einen Aufzug, Nasszellen und Installationsschächte verfügen, führte dies in der
Konsequenz jedoch zu einem infrastrukturell «überbestimmten System», das zudem, aufgrund
der zu grösseren Einheiten angewachsenen Kerne, die Flexibilität drastisch einschränken würde, Im Beispiel Tange - wie auch beim Bürohaus der ÖKK in Landquart von Bearth & Deplazes
- gibt es keine Hierarchie unter den Kernen, Sie bilden Kammern, in denen die erschlossenen Nutzungen, z, B, Toiletten, nach innen gekehrt sind, Den umgekehrten Weg beschreiben
Beispiele, wo sich das geschossübergreifende Element auf einen Schacht reduziert, der gerade mal so gross ist, dass er die anfallenden Leitungen und Kanäle aufnehmen kann, Die Schächte bilden hier den Ausgangspunkt
oder das Rückgrat - für eine räumliche Entwicklung, die auf jedem Geschoss anders sein kann, Interessant ist, dass in der Frage, ob die vertikale Ver- und Entsorgung zentral mit intensiver oder dezentral mit geringer Horizontalverteilung zu führen sei, die vertikale
Erschliessung mit Aufzügen und Treppen davon nicht betroffen ist. Standort und Anzahl dieser Vertikalerschliessungen werden in beiden Fällen von den maximal zulässigen Fluchtwegdistanzen - also von feuerpolizeilichen Bedingungen - bestimmt. Dünne stützen - raumhaltige Decken
Ein mehr oder weniger dichtes Netz von durchlaufenden, vertikalen Komponenten - seien
es Teile der Infra- oder der Tragstruktur - hat zur Folge, dass Nutzungen, die von Geschoss
zu Geschoss andere Raumstrukturen verlangen, nur dann realisiert werden können, wenn sie 22
kleinteiliger werden, In umgekehrter Richtung schränken Sanitärstränge, Lüftungskanäle und Stützen die Nutzbarkeit der Räume ein, Eine weitestgehend freie Bespielbarkeit einzelner
Geschosse setzt deshalb für die Infrastrukturen eine zentrale Vertikalerschliessung voraus, die in Doppelböden, abgehängten Decken oder raumhaitigen Deckenkonstruktionen horizontal feinverteilt werden, Die Höhe solcher Hohlräume entscheidet sich an jenen Punkten, wo
sich mindestens zwei Medien kreuzen, z, B, ein Kabelkanal und ein Lüftungsrohr. Neben
Aspekten wie leichter Erreichbarkeit für Montage und Unterhalt ist es gerade die Absicht,
das Kreuzen von Medien zu verhindern, die zur gleichzeitigen Anwendung von Doppelböden und abgehängten Decken führen, In Kombination mit einer Stahlbetondecke weisen solche Konstruktionen eine Gesamtstärke von 70 bis 80 cm auf; statisch wirksam sind davon
allerdings nur 25 bis 30 cm, Hier liegt ein Potenzial brach, weil die einzelnen Schichten der funktionsgeteilten Decke nicht voneinander profitieren, Dabei wäre bei gleich bleibender
Gesamtstärke durchaus eine Verdoppelung der statischen Höhe möglich (vgl. raumhaltige
Tragwerke in Stahl, Beton oder Holz; z, B, Fritz Haller mit den Systemen mini, midi und maxi), Daraus würden grössere Spannweiten und folglich vielfältigere Nutzungsdispositive resultieren, Wurde vorher einzig das Kreuzen der Leitungen für die Bestimmung der Hohlraumhöhe
erwähnt, ist das Gefälle von Abwasserleitungen mindestens so massgebend. Dies kommt zum Tragen, wenn die einzelnen Geschosse unterschiedlich viele und an unterschiedlichen Stellen liegende Nasszellen aufweisen. Der grössere Hohlraum von raumhaitigen Tragwerken wirkt sich auch hier für die horizontale Installationsführung positiv aus.
Beim Salk Institute von Louis Kahn wurden die Decken der Laboratorien zu eigentlichen
Geschossen, die für die Wartung und Nachrüstung der zahlreichen Installationen begehbar sind. Virendeel-Träger, geschlossene Wandscheiben und Decken aus Stahlbeton, formen
einen biegesteifen Hohlkasten, der die darunter liegenden Räume stützenfrei überspannt. Installationsgeschosse sind auch von Hochhäusern (z. B. PSFS-Building, 1932, Howe
& Lescaze) bekannt, um die Transportwege der aufbereiteten Medien (Luft und Wasser)
zu verringern, Gleich mehrere geschosshohe Decken zeigt Louis Parnes‘ Entwurf für ein Warenhaus, bei dem die weitgespannten Decken die Lagerräume für die jeweils darüber liegenden Verkaufsflächen bergen, Komfort und Technik
Die menschliche Behausung dient im Wesentlichen dem Schutz vor Witterung und vor anderen Lebewesen. Dabei kommt in vielen Regionen dem Kälteschutz ein zentraler Stellenwert zu.
Das offene Feuer ist die primitivste Form, dieses Ansinnen zu erfüllen, und vereint als Wesens merkmal Wärmeerzeugung und Wärmeabgabe am gleichen Ort. Diesem Prinzip folgen Herd
und Ofen, die als einzige Wärmequelle im Zentrum des Hauses oder auf mehrere Räume verteilt 23
stehen können. Die restlose Autarkie, welche die Funktionseinheit von Wärmeerzeugung und Wärmeabgabe suggeriert, ist einzig durch die dazugehörigen, vertikal geführten Kaminzüge gestört (anders verhält es sich bei abgasfreien Energiequellen wie z. B. Elektroöfen). Die Kamine dienen der Fortführung des Rauches und geben bei mehrgeschossigen Bauten
auch noch den tangierten Räumen Wärme ab. Ein anderer Entwicklungsstrang geht von
der römischen Hypokausten-Luftheizung aus, bei welcher die Feuerstelle ausserhalb des zu
beheizenden Raumes liegt, weil das offene Feuerbecken als gefährlich angesehen wurde. Die erwärmte Luft wurde über eine Art Doppelboden zu Rauchröhren geführt, die den Mauern
auf der Innenseite eingelassen oder vorgelagert waren. Dadurch wurden Boden und Wände
gleichermassen erwärmt. Diese Konzeption nimmt zu gleichen Teilen die Zentralheizung, die
Bodenheizung und das Prinzip, die Wärme dort abzugeben, wo der Wärmeverlust am grössten
ist, vorweg. Als reine Strahlungsheizung ist die Wärmeabgabe der Hypokaustenheizung zudem effizienter als heutige Radiatoren oder Konvektoren und auch frei von Staub aufwirbelnder Konvektion (eine zeitgenössische Neuinterpretation der Hypokaustenheizung ist in der
Wandheizung der Galerie für zeitgenössische Kunst in Marktoberdorf (2000) von Bearth & Deplazes zu finden). Rayner Banham sah in der technischen Möglichkeit, die Räume oder
einzelne Bauteile gezielt zu beheizen, die Grundvoraussetzung für die Umsetzung der neuen Raumvorstellungen der Moderne. 3 Der kritische Punkt der verminderten Behaglichkeit,
welche grosse Fenster auslösen, konnte nunmehr mit der Heizung kompensiert werden. Als
Beispiel nennt Banham die Nordfenster in den Zeichensälen von Mackintoshs School of Art in Glasgow (1896-1899). Für Frank Lloyd Wright bot die Heisswasserheizung mit zentraler Wärmeerzeugung und dezentraler Verteilung die Möglichkeit, komplexere Volumetrien zu
realisieren: «Hierdurch können die Formen der Gebäude in ihren verschiedenen Teilen voll ständiger entwickelt werden, sie werden Licht und Luft von mehreren Seiten erhalten.»4
Schlechte Dämmeigenschatten von Baumaterialien, namentlich des Glases, konnten nun mit
der Haustechnik kompensiert werden sei es mittels der Heizung im Winter oder der Kühlung im Sommer. Erst die Erdölkrise um 1 970 und das in den achtziger Jahren gewachsene
Umweltbewusstsein haben auf materialtechnologischer Ebene zu Anstrengungen geführt, die es ermöglichen, den Einsatz von Technik zu reduzieren. Isoliergläser, die mit Wärmeschutzfolien beschichtet sind und in den Zwischenräumen Edelgas enthalten, sind zwar seit den fünfziger
Jahren bekannt, haben seither aber eine phänomenale Entwicklung erfahren, wodurch das Glas nicht mehr länger als Synonym für einen hohen Energieverlust stehen muss.
Das Aufkommen der Zentralheizung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeutete, dass die Gebäudeteile vermehrt zum Träger von Installationen wurden, die entweder hinzugefügt
oder integriert sind und der Wärmeverteilung oder der Wärmeabgabe dienen. Beschränkten sich 24
im Wohnungsbau die bis dahin etablierten Installationen wie sanitäre Einrichtungen auf einzelne Räume, die zudem in repräsentativer Sicht als untergeordnet anzusehen sind, hielt nunmehr die Haustechnik im ganzen Haus Einzug. Der Umgang, den die Architekten damit pflegten, spannt den Bogen vom pragmatischen Ansatz, die Installationen ohne weitere Ansprüche sichtbar
zu führen, bis hin zum gegenteiligen Verfahren, bei welchem die Leitungen und Heizkörper -
meist durch Verkleidung - dem Sichtfeld entzogen wurden, Einen dritten Weg wurde von jenen Architekten beschritten, welche die heizungstechnischen Komponenten als Gestaltungsmittel
nutzten, sei es durch spezielle Auszeichnung (Farbe, Anordnung etc.) oder durch Funktionsüber lagerung (Geländer).
Bei Bruno Taut stellen die unprätentiös gesetzten, aber mit einem farbigen Anstrich versehenen Radiatoren und Leitungen kontrastierende Elemente einer den ganzen Raum umgreifenden
Polychromie dar. In Form mehrerer, parallel zueinander angeordneter Rohre, die den Verlauf des darüber liegenden Bandfensters nachzeichnen, wird die Heizung bei der Villa Kenwin in
Vevey (1929) von Hermann Henselmann zur horizontal profilierten Fläche, während Ludwig Wittgenstein beim Haus Kundmanngasse in Wien (1928) in den repräsentativen Räumen des Erdgeschosses auf eine unsichtbare Bodenheizung setzte und vor den französischen
Fenstern eine vom Kellergeschoss gespiesene Bodenlüftung installieren liess. Dass Radiatoren von Architekten zuweilen als störend empfunden werden, zeigte Christoph Bürkle mit der
Gegenüberstellung zweier Innenraumaufnahmen vom Haus am Rupenhorn in Berlin (1928) der Gebrüder Frei von technischen Komponenten im Raum treten in der weiteren Entwicklung an
die Stelle von Radiatoren vermehrt Konvektoren, die im Boden eingelassen eine ungeminderte Transparenz gewähren. Gleiches lässt sich von der Decken- respektive Bodenheizung sagen, bei der die unsichtbare Leitungsführung nicht mehr länger eine Frage des Verkleidens ist,
sondern bei welcher der ummantelnde Beton bzw. Mörtel zum System zählt. Interessant ist,
dass die Bodenheizung vordergründig eine gleichmässige, nutzungsneutrale Heizfläche dar
stellt, jedoch über Abstand und Lage der Rohre sowie die Aufteilung in einzelne Raumzonen
genauso auf die konkreten räumlichen Verhältnisse ausgerichtet ist wie eine Radiatorenheizung mit punktuell angeordneten Heizkörpern. So werden entlang raumhoher Fenster so genannte Randzonenverstärkungen vorgenommen womit eine engere Verlegung der Heizschlaufen
gemeint ist -, und tiefe Räume werden aufgrund der unterschiedlichen Sonnenbestrahlung in Zonen mit je eigener Temperaturregelung unterteilt. Die Fassade als Infrastrukturträger
War bis zu Beginn der sechziger Jahre die Haustechnik für den Ausdruck der Fassade eher
bedeutungslos und zeichnete sie sich - weil bis dahin auf der Innenseite angebracht - höchstens
hinter dem Schleier einer mehr oder weniger durchlässigen Glashaut ab, wurde die Infrastruktur 25
danach vermehrt zum formprägenden Motiv verarbeitet. Bei den Brutalisten ummanteln
massive, meist aus Beton gefertigte Kanäle ein Bündel von Leitungen und Röhren, wobei die Haustechnik in Vermengung mit Treppen und anderen «nutzungsbedingten» Ausstülpungen der skulpturalen Formung des Baukörpers dient. Umgekehrt schöpfen Vertreter der High-
Tech-Architektur - und zuvor die Metabolisten ihre Ästhetik daraus, dass die Installationen
unverkleidet bleiben respektive wesentliche Funktionseinheiten autonom auftreten, Allerdings bedeuten die nach aussen gekehrten Komponeten ein Durchdringen der Klimagrenze, was
aufgrund der seither stets gestiegenen Anforderungen an den winterlichen Wärmeschutz auf wendige Dämmarbeiten nach sich zieht und deshalb kaum noch Verbreitung findet.
Zwischen diesen Extrempolen, bei denen die Haustechnik auf der einen Seite die Bedeutung
des Formgenerators einnimmt und auf der anderen Seite als unsichtbare Notwendigkeit fungiert - und als deren gemeinsamer Nenner eine deutliche Entkoppelung von der Tragstruktur zu
nennen ist -, sind diejenigen Konzepte angesiedelt, bei denen im Sinne von Mehrfachfunktionen Tragwerk, Haustechnik und Ausbauelemente miteinander verschmelzen, Beispielhaft ist
das Blue-Cross-Gebäude in Boston (1958) von Paul Rudolph und Anderson, Beckwith &
Haible. Der 13-geschossige Bürobau in der Innenstadt Bostons basiert auf einer tragenden Fassade, deren vorgeblendetes, vertikales Relief im Abstand von 1,53 m die Tragstruktur
abzubilden scheint. Tatsächlich sind aber diejenigen «Stützen», die im freien Erdgeschoss
keine Fortsetzung finden, nicht tragend, Jedes dritte Glied ist somit als Hohlkörper ausgebildet und birgt innerhalb des ganzen Querschnittes einen Abluftkanal, und selbst den angrenzenden Tragstützen sind kleiner bemessene, nur die halbe Stützentiefe beanspruchende Zuluftrohre
vorangestellt. Zusammen mit den Brüstungen, die als Mischkammern fungieren, ziehen sich
die Lüftungsinstallationen somit wie ein Netz über die Fassade - ein Prinzip, das demjenigen
der offenen Leitungsführung einer High-Tech-Architektur nicht unähnlich ist, sich aber darin unterscheidet, dass die Überlagerung hier rnit der Tragund Raumstruktur deckungsgleich
ist. Dadurch dient der Lüftungskanal in Form einer Stütze gleichermassen dem Anschluss von Trennwänden, wie er auch den Fensteranschlag erlaubt. Das sichtbare Fassadenrelief konstituiert sich aus vorfabrizierten, nur wenige Zentimeter dicken Betonelernenten, die
aufgrund ihrer Art der Fügung als Verkleidung erscheinen. Stellen diese Verkleidungen bei den (schweizerischen) Rasterfassaden der fünfziger Jahre eine Oberflächenveredelung dar, welche
unmittelbar auf dern Untergrund angebracht ist, bilden sie bei Rudolph eine raurnhaltige Kulisse - es drängt sich allerdings die Frage auf, ob Kunststein dafür das richtige Material ist, denn die Knicke in den Brüstungen erinnern an die aussteifende Faltung von Blechpaneelen.
Bilden bei Rudolph Tragwerk, Haustechnik und Fenster ein Netz, das sich allseitig um die
Fassade windet, sind bei der Arnerican Republic Insurance Company in des Moines (1965) 26
von Skidmore Owing & Merrills die Fassaden nach Funktionen getrennt: an den Längsseiten tragende, installationshaltige Betonscheiben ohne Öffnungen und an den Stirnseiten
geschosshohe Verglasungen. Das Thema der raumhaitigen Konstruktion, weiche für die Fassade charakteristisch ist, wiederholt sich nochmals an der Decke, wo T-förmige, 1,36 m hohe Träger aus Beton den Grundriss ohne Stützen auf einer Breite von 30 m überspannen. Die Balken
bilden ein kastenartiges Relief, in dessen Zwischenräumen Lüftungsrohre angebracht sind. Auf diesen Rohren liegen Fluoreszenzleuchten, denen die Rippendecke wiederurn als Reflektor
dient. Über die Funktion des Infrastrukturträgers hinaus dienen die geschlossenen Wandscheiben als Überzüge, welche im Übergang zum Boden den Wechsel auf je vier Stützen ermöglichen.
Im Querschnitt nimmt sich das Gebäude dadurch wie eine Brücke aus, der ein zweigeschossiger Körper derart untergeschoben ist, dass ein allseitig verglastes, von tragenden Teilen befreites
Cafeteria- und Mensageschoss entsteht. Damit ist jener Strukturwechsel angesprochen, von dem aufgrund unterschiedlicher Raumbedürfnisse zwischen Erdgeschoss und Obergeschossen jedes grössere Bauwerk betroffen ist. Strukturwechsel
Vor allem im innerstädtischen Raum weisen selbst monofunktionale Gebäude im Parterre häufig eine andere Nutzung auf. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die direkte Beziehung zum
öffentlichen Raurn legt gewinnbringende Nutzungen wie Läden, Restaurants und dergleichen
nahe, und die Ebenerdigkeit ermöglicht sogar das Befahren (vgl. Brandwache Zürich), Geradezu klassisch sind die gusseisernen Stützen, die im Erdgeschoss von Gründerzeithäusern Unterzüge von Balkendecken tragen. Dass es sich dabei um einen Strukturwechsel handelt, tritt kaurn
ins Bewusstsein. Gänzlich anders ist es um Tischkonstruktionen bestellt, die mit expressiver
Kraft den Wechsel der Tragstruktur nachzeichnen. Beispielhaft ist das Hochhaus «Zur Palme» (1961-64) von Haefeli Moser Steiger in Zürich. Der Windmühlengrundriss des Hochhauses ruht in 12 m Höhe auf einem von keilförmigen Stützen getragenen Betontisch, unter dem
ein zweigeschossiger Flachbau mit eigenständigem Tragwerk untergeschoben wurde. Den
umgekehrten Weg beschritt Lina Bo Bardi mit dern Museo de Arte Moderno (1957-68) in Säo
Paulo, wo die Geschosse nicht aufgeständert, sondern abgehängt sind, Zumindest vermittelt der umlaufende Betonrahmen mit einer Spannweite von 50 m dieses Bild; tatsächlich befindet sich noch ein weiteres Trägerpaar innerhalb des eingespannten Glaskörpers, sodass nur der unterste Boden wirklich abgehängt ist. Auf jeden Fall bleibt die ganze Fläche unter dem Gebäude im Sinne eines gedeckten Platzes zur Benutzung frei.
Dass Strukturwechsel auch ohne Zurschaustellung ihrer statischen Bedingungen erfolgen
können, belegen Bauten wie das Volta-Schulhaus der Architekten Miller & Maranta. Das in 27
Zusammenarbeit mit dem Ingenieurbüro Conzett Bronzini Gartmann entwickelte Tragwerk aus Ortbeton basiert in den Obergeschossen auf Wandscheiben, die rnit den Geschossdecken einen festen Verbund eingehen, und überspannt damit als monolithisches Konstrukt eine 28 m tiefe
Turnhalle überspannt und weist auf der Zugangsseite eine Auskragung von 12 m auf. Liegen die Wandscheiben - die übrigens nicht als durchgehende Elemente von Fassade zu Fassade reichen, sondern aus zwei getrennten Teilen bestehen - beim VoltaSchulhaus auf allen Geschossen übereinander, erklärte Jürg Conzett in einem Artikel, dass es genüge, «wenn sich die
[übereinander liegenden] Wandscheiben in einem beliebigen Punkt berühren».5 Dieses Prinzip erlaubt demnach von Geschoss zu Geschoss unterschiedlich beschaffene Raurnstrukturen, die
jedoch wie schon beim Volta-Schulhaus erst durch den ergänzenden Einsatz von nicht tragenden Wänden konkret werden. Es dürfte spannend sein zu untersuchen, in welchen Phasen (vor
Baubeginn, während des Baues und nach Bauvollendung) welcher Grad von Flexibilität rnit diesem System zu erreichen ist. Alternativen
Es wurde eingangs gesagt, dass die Kompliziertheit zeitgenössischer Gebäude hingenornmen
werden rnüsse natürlich stimmt das nur bedingt. Gerade im Bereiche der Gebäudetechnologie sind verrnehrt intelligente LowTech-Konzepte anzutreffen, die auf jahrhundert alten Er
kenntnissen beruhen und «nur» wieder aufgegriffen resp. neu interpretiert wurden. Der so
genannte Kamineffekt (Thermik), der heute genutzt wird, um z. B. irn Bürohausbau einen natürlichen Luftwechsel zu erzielen, wurde schon im Indien des 15, Jahrhunderts mittels Innenhöfen und einsm offenen Erdgeschosses zur Kühlung der Gebäude verwandt. Man
nutzte physikalische Effekte mit den ohnehin zu bauenden Gebäudeelementen und Räumen. Die Haustechnik ist in den traditionellen Bauten also nicht ein installationsreiches Additiv,
sondern ein integraler Teil der Raum- und Tragstruktur, Überdies oder allem voran - dient der «Luftschacht» in einer sinnfälligen Mehrfachfunktion auch der Belichtung der angrenzenden Räume!
28
Hassan Fathy,
„Natürliche Energie und vernakuläre Architektur“,
in: Arch+ Februar, übers. Barbara Engel, Wolfgang Wagener, 1987, S. 34-49.
UMWELT UND ARCHITEKTUR Wenn ein Ingenieur eine Maschine, eine Brücke oder einen Regler entwirft, resultiert jede Linie, die er zeichnet, aus sehr vielen Gesetzen und Prinzipien der unterschiedlichsten
Ingenieurwissenschaften. Der Techniker entwickelt die Maschine, um genau definierten
Anforderungen zu genügen und um eine spezialisierte Arbeit zu verrichten. In beiden Fällen muß er sich auf alles das beziehen, was er auf den Gebieten der Physik, der Dynamik, dem Bauingenieurwesen und der Baustoffkunde gelernt hat.
Durch dieselbe Gruppe von Ingenieurgesetzen ist jeder Strich festgelegt, den ein Architekt zeichnet, wenn er ein Gebäude oder eine Stadt entwirft - jedoch mit dem Zusatz einer
ganzen Sammlung anderer Wissenschaften, deren Gebiete weniger genau definiert sind: die
Wissenschaften, die sich mit dem Menschen und seiner Beziehung zur Umwelt und Gesellschaft befassen. Diese Disziplinen - Soziologie, Ökonomie, Klimatologie, Architekturtheorie, Ästhetik und das Studium der Kultur im allgemeinen - sind nicht weniger wichtig für den Architekten
als die anderen Ingenieurwissenschaften. Denn sie beschäftigen sich unmittelbar mit dem Men schen, und es ist der Mensch, für den die Architektur existiert.
Die technische Seite der Architekturarbeit - sie garantiert, daß ein Gebäude halten und Schutz gegen die Naturkräfte bieten wird, oder ein Straßenraster einer Stadt effektiv funktionieren
kann - ist nicht mehr als eine selbstverständliche Vorbereitung für den wirklichen Entwurf: Der Architekt gleicht dabei einem Pianisten, der nur mit der Interpretation eines Stücks beginnen
kann, nachdem er die Technik des Klavierspiels gemeistert hat. Eine Maschine ist unabhängig von ihrer Umwelt, sie wird ein wenig durch das Klima beeinflußt, aber nicht im geringsten durch die Gesellschaft. Ein Mensch dagegen ist ein Teil eines lebenden Organismuses, der
permanent auf seine Umwelt reagiert, sie verändert und durch sie verändert wird. Auch ein Gebäude wird so durch die Umwelt beeinflußt. Das Klima des Ortes und die umgebenden
Gebäude formen das Haus. Diese Faktoren bestimmen sehr die Gestalt eines Hauses, obwohl auch der soziale, kulturelle und ökonomische Aspekt wichtig sind.
29
KLIMA UND ARCHITEKTONISCHE FORM Das Klima beeinflußt leicht erkennbar, die architektonische Form. Beispielsweise wird das Verhältnis von Fenster- zu Wandfläche kleiner, je weiter man sich dem Äquator nähert. In
warmen Gebieten meiden die Menschen die Helligkeit und die Hitze der Sonne; das zeigt sich
an der abnehmenden Größe der Fenster. In den subtropischen und tropischen Regionen wird das Problem, der übermäßigen Hitze zu begegnen, immer charakteristischer für die architektonische Form. In Ägypten, Irak, Indien und Pakistan findet man tiefe Loggien, schützende Balkone und Dachüberstände, die lange Schatten auf die Gebäudewand werfen. Holz- oder Marmorgitter
werk füllen große Öffnungen, um die Sonnenstrahlen abzuhalten und gleichzeitig einen leichten Windzug zu ermöglichen. Solche Elemente charakterisieren die Architektur heißer Gebiete
und erzeugen sowohl Komfort als auch ästhetische Befriedigung. Heutzutage gibt es sehr viele
moderne Vorrichtungen, die dem Architekturvokabular dieser Gebiete hinzugefügt wurden, wie
zum Beispiel Sonnenbrecher oder brise-soleils. So lange die Menschen in den feucht-tropischen Gebieten ihre Hütten aus Gras und Bambus bauten, ermöglichten diese Materialien, daß Luft durch die Wände ziehen konnte; und das steile Satteldach war eine sinnvolle Erfindung. Als die Bewohner begannen, höher entwickelte Materialien zu benutzen - Zementblöcke für die Wand und Wellblech für das Dach wurden die Häuser unerträglich heiß und stickig. Denn
das Wellblechdach verhinderte die Lüftung genau an der Stelle, wo sie am nötigsten wäre; und die massiven Wände verhinderten den Luftzug. Ein anderes Beispiel ist die mit der
Niederschlagsmenge abnehmende Dachneigung. In Nordeuropa und in den meisten Gebieten,
in denen man mit schwerem Schneefall zu tun hat, sind die Giebeldächer steil. Dagegen sinkt in sonnigen Gegenden im Süden die Dachneigung immer weiter. In den heißen Regionen an der
nordafrikanischen Küste werden die Dächer ziemlich flach. In einigen sehr heißen Gebieten sind die Dächer bequeme Schlafplätze. Jedoch weiter südlich, in den tropischen Regengebieten, sind die Dächer wieder steil, um vor den sintflutartigen Regenfällen Schutz zu bieten.
Das traditionelle Flachdach und die modernen brise-soleils heutiger tropischer Architektur beeinflußten mit ihrer modernen Ausstrahlung die Phantasie der Architekten aus kälteren
Gebieten, die ständig auf der Suche sind nach etwas Besonderem und Exotischem. So gibt es in einigen nordeuropäischen Städten eine völlig unpassende Architektur, die in ein fremdes Klima gehört. Die Architekten schafften es, ihre eigene, traditionelle Bebauung altmodisch aussehen zu lassen, ohne auf die Bedürfnisse der Menschen in einem bestimmten Klima einzugehen.
Dieses Verlangen, das den Architekten überfällt, um ein up-to-date-Design zu schaffen, hindert ihn daran, das wichtigste Ziel von Architektur zu erreichen: funktional zu sein. Der Architekt
vergißt die Umwelt, in die er seine neuen Gebäude hineinpflanzt, da er zu sehr versessen ist auf 30
modische Innovationen, Tricks und Kniffe. Er ist nicht in der Lage zu realisieren, daß Form nur eine Bedeutung hat im Kontext ihrer jeweiligen Umgebung.
UMWELT Die Technik, die dem Architekten heutzutage verfügbar ist, befreit ihn von fast allen
Materialzwängen; er kann Entwürfe nach allen Stilen der Jahrhunderte und von allen
Kontinenten der Erde auswählen. Aber der Architekt muß sich daran erinnern, daß er nicht
in einem Vakuum baut und Häuser nicht in den leeren Raum setzt als bloße Pläne auf einem
blanken Stück Papier. Vielmehr fügt er ein neues Element in eine Umgebung ein, die für sehr lange Zeit im Gleichgewicht war. Der Architekt ist verantwortlich dem gegenüber, was sein
Grundstück umgibt; wenn er seiner Umwelt Gewalt antut, indem er ohne Bezug zu ihr baut, begeht der Architekt ein Verbrechen an der Architektur und der Menschheit.
Was aber konstituiert die Umwelt eines Gebäudes? Kurz gesagt, es ist alles, was das Grundstück auf einem besonderen Gebiet der Erde umgibt - einschließlich der Landschaft, sei es Wüste, Tal, Berg, Wald, Küste oder Flußufer - und was oberhalb der Erdoberfläche ist - die Atmosphäre, die auch das menschliche Leben beeinflußt; diese Zone reicht bis zu einer durchschnittlichen Höhe von 10, in den Tropen bis 20 Kilometer. Sie enthält die Feuchtigkeit, auf die Menschen, Tiere
und das pflanzliche Leben angewiesen sind. In den sechs Schichten über der Atmosphäre sind
Oxygen, Ozon und Hydrogen in unterschiedlichen Konzentrationen vorhanden - sie beeinflussen die kosmische Strahlung, die die Erdoberfläche erreicht. In der natürlichen, in der Umwelt
vorherrschenden Ordnung hat es immer einen anhaltenden Fluß kosmischer Strahlung gegeben, durch den alle lebenden Organismen und sogar Mineralien geschaffen und entwickelt wurden. Einige Materialien sind durchlässig, andere nicht für die unterschiedlichen Bestandteile der
kosmischen Strahlung. Man sollte aufpassen, das natürliche, elektromagnetische Gleichgewicht nicht durch eine falsche Baustoffwahl zu zerstören. So ist Holz Stahlbeton in der Umgebung des Menschen vorzuziehen. Auch ästhetisch scheinen die Menschen Holz in ihrer näheren
Umgebung zu bevorzugen, in Form von Möbeln und Baumaterialien. Holz wird oft als warm empfunden im Gegensatz zu Stahl und anderen Metallen. Dieser psychologische Effekt kann erklärt werden - zum Teil wissenschaftlich - durch die physikalischen Eigenschaften beider Materialien, ihre Wärmeleitfähigkeit und ihre Isolierungseigenschaften.
Diese Einzelheiten zeigen, daß der Architekt eine moralische Verantwortung hat bezüglich dem, was die Wirkung eines Gebäudes betrifft und gegenüber dem Wohlbefinden der Menschen, die
in ihm leben. Neben den meßbaren Teilen der Umwelt existieren in ihr nicht faßbare Elemente, die aber durch unzureichende Forschung nicht für die Stadtplanung und Architekturentwürfe
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genutzt werden können. Daher ist die Diskussion reduziert auf die meßbaren Teile der Umwelt - hauptsächlich das Klima. Die Wichtigkeit des Klimas ist offensichtlich. Alle Lebewesen sind
in großem Maße abhängig vom Klima, um zu existieren; und sie richten sich selbst nach diesem Umwelteinfluß. Pflanzen, die in den Tropen wachsen, können nicht in der Arktis gedeihen;
dagegen können Pflanzen der Arktis nicht in den Tropen leben, es sei denn aufgrund besonderer örtlicher Bedingungen - dem Mikroklima beispielsweise eines hohen äquatorialen Bergs. Die meisten Lebewesen sind de facto eingeschränkt auf einen bestimmten klimatischen Standort.
HAUS-MIKROKLIMA Bis jetzt sind nicht alle Lebewesen näher eingegrenzt. Viele Tiere können ihre eigene, innere Körpertemperatur regulieren und sie so auf einem gleichmäßigen Niveau halten, selbst bei großen äußeren Temperaturschwankungen. Der Mensch hat einen sehr hoch entwickelten
und sensiblen Mechanismus, mit dem er durch Schweißabgabe oder stärkerer Blutzirkulation
seine Körpertemperatur auf 37°C reguliert. Im allgemeinen halten Warmblüter größere Tempe raturschwankungen aus als Kaltblüter. Manche Arten können ihre Umgebung beeinflussen, um so ein angenehmes Mikroklima zu erzeugen: die Schildkröte macht das während ihres
Winterschlafes. Der Mensch handelt auf unterschiedliche Art und Weise auch so: er kann sein Mikroklima verändern, indem er seine Kleidung wechselt, ein Haus baut, Benzin verbrennt, Bäume pflanzt, künstliche Seen gräbt und Maschinen benutzt, die wärmen, kühlen, die Luft befeuchten oder trocknen.
Eine grundlegende Aufgabe eines Gebäudes ist die Veränderung des Mikroklimas. Der
prähistorische Mensch baute seine Häuser, um die Naturkräfte abzuhalten - Regen, Wind, Sonne und Schnee. Die Aufgabe der Häuser war es, eine Umgebung zu schaffen, die für
Komfort und selbst für das Überleben wichtig war. Das Mikroklima jedes Grundstücks wird durch den Hausbau in mehrere, unterschiedliche Mikroklimate verändert: das Mikroklima, das an der Südwand herrscht, ist sehr verschieden von dem der Nord-, der West- und der
Ostwand. Innerhalb des Gebäudes besitzt jeder Raum sein eigenes Mikroklima, das jeweils
mehr oder weniger eine Veränderung des äußeren Klimas ist. Vor der industriellen Revolution war der Mensch angewiesen auf natürliche Energiequellen und örtlich verfügbare Materialien um seine, physiologisch einwandfreie Behausung zu schaffen. Über viele Jahrhunderte, so
scheint es, lernten die Menschen überall, auf ihr Klima zu reagieren. Das Klima bestimmte
den Lebensrhythmus, ihre Häuser und ihre Kleidung. Daher bauten sie Häuser mit mehr oder weniger befriedigenden Mikroklimaten. In den warm-schwülen Gebieten in Ost-Asien leben
die Einwohner in Hütten mit locker gewebten Wänden, die es erlauben, daß die leichteste Brise 32
durchwehen kann. Die Menschen, die unter der grellen Wüstensonne leben, bauen ihre Häuser
mit dicken Wänden, um sich vor der Hitze zu schützen, und mit sehr kleinen Öffnungen, um die heiße Luft und die Helligkeit der Sonne abzuhalten.
Diese erfolgreichen Lösungen von Klimaproblemen entstanden nicht mit wissenschaftlichen Begründungen; sie entwickelten sich aus unzähligen Experimenten, Zufällen und der
Erfahrung von Handwerkergenerationen. Sie setzen fort, was funktionierte und lehnten ab,
was nicht funktionierte. Diese Lösungen wurden weitergereicht durch traditionelle, strenge
und scheinbar zufällige Regeln, nach denen man die Grundstücke, die Gebäudeausrichtung,
die Baumaterialien, die Konstruktion und die Gestaltung auswählte. Bei jedem traditionellen Vorgehen ist es unbedingt notwendig, daß jede Vorgabe durch die Tradition genau befolgt
wird. Denn wenn ein traditionelles Bauelement geändert wird, kann diese Veränderung, sei sie auch noch so klein, den gesamten Wert des Gebäudes als befriedigende Lösung klimatischer Probleme zerstören. In diesem Sinne ist beides, das Material und die Art, wie es gebraucht
wird, sehr wichtig. Zum Beispiel, wenn eine Mattenwand ersetzt wird durch Wellblech oder
ein anderes massives Wandmaterial, wird das Innere eines Hauses unerträglich heiß und stickig durch den Verlust der Ventilation, obwohl das Gebäude nach Außen hin viel gehaltvoller
aussieht. Moderne Architekten versuchten, dieses Problem mit zeitgenössischer Technologie zu lösen; sie ersetzten die unzureichende Massivwand durch eine belüftete Glasfassade
mit vorgestelltem CIaustra-Elementen aus unbeschattetem Beton oder Ziegel - wie es die unterschiedlichsten Ansichten moderner Bauten in den Tropen zeigen. Obwohl so eine
Lösung eine offensichtliche Verbesserung gegenüber der Massivwand ist, ergeben genauere
Untersuchungen, daß sie nicht so wirkungsvoll ist wie eine einfache Mattenwand. Denn wenn
die Sonnenbrecher oder die Brise-soleils der Claustra-Elemente nicht beschattet sind, heizen sie sich auf und geben dann die Hitze an die Luft weiter, die durch die CIaustra-Elemente in das Gebäude einfließt; und sie reflektieren die wärmenden Sonnenstrahlen in das Innere.
TENDENZEN INTERNATIONALER ARCHITEKTUR Ändert man einen einzigen Teil traditioneller Bauweisen grundsätzlich, verbessert die moderne Lösung nicht die Antwort auf die Umwelt; im Gegenteil, sie ist nicht einmal gleichwertig.
Obwohl sich die traditionelle Architektur immer weiter entwickelt und neue Baumaterialien
und Gestaltungskonzepte aufnimmt, wie es in der Geschichte immer war, sollten alle modernen Ersatz-Materialien und -Formen vor ihrem Gebrauch wissenschaftlich untersucht werden. Oft ist der Reiz moderner Formen und Materialien nur auf kurze Sicht attraktiv. Im Verlangen,
modern zu sein, verdrängten viele Menschen der Tropen ihre traditionellen, Generationen alten 33
Bauweisen, die aus dem lokalen Klima heraus entstanden; heute übernehmen sie, was man als „Internationale Architektur“ bezeichnet; diese Architektur verwendet High-Tech-Materialien
wie den Stahlbetonrahmen, die vorgehängte Glasfassade oder die Klimaanlage. Aber die große Mehrheit der Tropenbewohner ist industriell unterentwickelt und kann sich den High-Tech-
Luxus nicht leisten. Für die Masse der Menschen in den Entwicklungsländern sind die kon
ventionellen Energiesysteme der Industrieländer nicht zu akzeptablen Preisen erhältlich. Es gibt deshalb ein echtes Bedürfnis, die traditionellen, auf natürlichen Quellen basierenden Systeme
weiterzuentwickeln. Die traditionellen Konzepte sollten so verändert werden, daß sie modernen Bedürfnissen genügen.
Obwohl sich die traditionelle Architektur intuitiv, über lange Zeiträume entwickelte,
basiert sie zuerst auf wissenschaftlich richtigen Theorien. Die moderne, akademische
Architekturwelt betont nicht die Werte der Forschung und hinterfragt ihre eigenen Ansätze
nicht wissenschaftlich. Daher hat die heutige Architektenwelt keinen Respekt vor vernakulärer Architektur. Jetzt ist die Zeit gekommen, die Gräben zwischen den unterschiedlichen Architekturansätzen zu überbrücken.
Alle traditionellen Lösungen sollten wissenschaftlich bewertet werden, bevor man sie aufgibt
und ersetzt. Das Phänomen des Mikroklimas, die Baumaterialien, die Konstruktionsmethoden und die Gestaltung müssen analysiert und getestet werden, bis die komplexe Beziehung zwischen Gebäude, Mikroklima und menschlichen Leben völlig verstanden ist.
Glücklicherweise ist die Landwirtschaft unmittelbarer vom Mikroklima beeinflußt. Agrarwissen schaftler beobachten seit langem das Klima in Erdbodennähe. Ihre Ergebnisse sind für alle verfügbar, die sich für tropische und subtropische Architektur interessieren. Eine andere
Wissenschaft, mit der die Architektur verbunden ist, ist die Aerodynamik. Ihre Versuche
können genutzt werden für das Studium der Luftbewegung über und um ein Gebäude herum. Maßstäbliche und 1:1-Modelle können in Windtunneln getestet werden, um den Einfluß von Größe, Lage und Anordnung der Öffnungen und der Windkräfte zwischen Gebäudegruppen auf den Luftfluß festzustellen. Heute wird schon mehr Aufmerksamkeit auf die Beziehung
zwischen Klima und Architektur gelegt; unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen bieten
eine eindrucksvolle Menge von Fakten, die für die Architektur sehr nützlich sind. Der Architekt ist verantwortlich dafür, diese Fakten zu untersuchen und in die Gestaltung mit einfließen zu lassen.
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SONNE In heißen Klimazonen ist die Sonne die bestimmende Hitzequelle. Für die Planung eines
Bauvorhabens müssen sowohl der Sonnenstand für jede Tages- und Jahreszeit als auch die Richtungen der vorherrschenden Winde ermittelt werden, besonders während der heißen Jahreszeit. Für die direkten Sonnenstrahlen reicht es, die Neigungs- und Höhenwinkel der Sommer- und Wintersonnenwende (21. Juni und 21. Dezember), sowie die Tages-
und Nachtgleiche im Herbst und Frühjahr (21. September und 21. März) zu kennen; von
diesen Daten ist der Sonnenstand zu jeder beliebigen Zeit ableitbar. Diese Eckdaten, nicht die Mittelwerte, muß der Architekt berücksichtigen - Tabellen sind für jede Stadt bei den
örtlichen Wetterämtern erhältlich. Für eine Gebäudeansammlung, die ein Gebiet formt, gibt
es zusätzlich das Moment der Reflektion von angrenzenden Gebäuden und Windschutz durch
Gebäudeballungen, welche zu einem besonderen Mikroklima an jeder Stelle in diesem Gebiet
beitragen. Windbewegungen und Luftfeuchtigkeit sind ebenfalls wichtig und sollten gleichzeitig mit den direkten und indirekten Auswirkungen der Sonne berücksichtigt werden.
Wichtigstes Entwurfsziel ist es, eine optimale Ausrichtung zur Sonne und den vorherrschenden Winden zu erreichen. Dies ist ein komplexes Problem; und es ist sinnvoll, zunächst vom
einfachsten Fall auszugehen: dem aus einer einzigen Häuserzeile bestehenden Block. Auf dieser Grundlage lassen sich dann auch komplexere Fälle verstehen. Für Kairo beispielsweise, ist die optimale Ausrichtung eines Gebäudes nach der Sonne die von Osten nach Westen. In diesem
Fall ist zum Zeitpunkt der Sommersonnenwende die Nordfassade von 5.00 Uhr früh bis 9.00
Uhr früh den Sonnenstrahlen ausgesetzt. Um 5.00 Uhr haben die Strahlen einen Höhenwinkel von 0°, um 9.00 Uhr jedoch von 49°30‘; die Strahlen treffen in einem Winkel von nur 1°03‘ auf die Fassade. Bei der Südfassade beträgt der Höhenwinkel zur Mittagszeit 83°36‘; die
Sonnenstrahlung dringt nicht in die Öffnungen der Südfassade, und durch einen leichten,
richtig plazierten Überhang können die Öffnungen und die Wandoberfläche gut verschattet
werden. Die Ost- und Westfassade bilden die jeweiligen Enden der Häuserzeile und erhalten keine Öffnungen. Im Winter beträgt der Höhenwinkel zur Mittagszeit 36°34‘; so können
die Sonnenstrahlen ins Haus eindringen und das Innere aufwärmen. Aus meteorologischen
Aufzeichnungen geht hervor, daß in Kairo der kalte Wind aus Nordwesten weht. Daraus ergibt
sich eine optimale Ausrichtung zum Wind, wenn die lange Seite der Häuserzeile von Nordosten nach Südosten gerichtet ist, so daß der Wind so lange wie möglich auf der langen Oberfläche stehen kann.
Auf den ersten Blick liegt die offensichtliche Lösung für beide Faktoren darin, die Zeile von Nordost-Ost nach Südwest-West auszurichten, indem man den Winkel zwischen den beiden
optimalen Ausrichtungen teilt. Diese Lösung wäre nur dann richtig, wenn die Öffnungen als 35
Windein- und -auslässe dienten, so daß im Haus Luftbewegungen gewährleistet sind. Die
Menschen in den heißtrockenen und feucht-warmen Klimazonen entwickelten aber den Malqaf oder „Windfänger“, mit dem Wind hoch über einem Gebäude eingefangen und durch das
Gebäudeinnere gelenkt werden kann. Mit der Lösung des Windproblems durch den Malqaf kann die Häuserzeile in ost-westlicher Richtung angelegt werden, was für die Sonnenausrichtung optimal ist.
Die Erfindung des Malqafs ermöglicht Flexibilität in der Gestaltung hinsichtlich des Winds
und erlaubt dem Entwerfer, sich ganz auf die Ausrichtung seiner Gebäude zur Sonne hin zu konzentrieren.
NORDFASSADE Die Nordfassade ist am wenigsten der Sonne ausgesetzt. Nur in den frühen oder späten Stunden im Sommer steht die Sonne auf dieser Seite; dann verlaufen die Sonnenstrahlen fast tangential zur Wandoberfläche. Ein Vorteil von Räumen, die diese Lage haben, ist der, daß sie immer
gleichmäßig ausgeleuchtet sind, wodurch sie sich ideal als Operationsräume in Krankenhäusern oder als Klassenräume eignen.
SÜDFASSADE In den Tropen und Subtropen hat die Südlage den Vorteil, daß die Sonne im Sommer sehr hoch über dem Horizont steht und durch einen relativ kleinen Überhang genug Schatten entstehen
kann. Im Winter steht sie tief, so daß die Sonnenstrahlen dann, wenn sie am nötigsten sind, auch in das Haus eindringen können. Ein Nachteil liegt jedoch darin, daß auf der südlichen Seite kein Wind weht, da die kühlen Winde im allgemeinen in der nördlichen Hemisphäre aus nördlichen Richtungen wehen. Sonnenstrahlen können nicht willkürlich manipuliert werden, aber ein
Luftstrom: entweder durch den entsprechenden Entwurf, den Malqaf, den Windauslaß oder
durch innenliegende Mashrabiyas, wie sie in einigen traditionellen Häusern Saudi Arabiens zu sehen sind.
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SCHATTEN Obwohl die optimale Ausrichtung einzelner Gebäude und Blöcke von Reihenhäusern die mit der langen Seite von Osten nach Westen ist, kann dieses Prinzip aus vielen Gründen nicht einfach auf eine ganze Stadt oder ein größeres Gebiet übertragen werden. Einige Häuser oder Reihenhäuser stehen an Straßen oder Plätzen, die in einem beliebigen Winkel nach
Norden liegen; jeder dieser Fälle erfordert die ihm angemessenen, von seiner Ausrichtung
abhängigen Mittel zur Verschattung. Grundsätzlich gilt ein Haus, dessen Fassade nach Westen geöffnet ist, als der schlimmste Fall, da es während des Tages der Hitze ausgesetzt ist und die Sonnenstrahlen ins Hausinnere eindringen können. Trotzdem ist es auch im Falle einer Re
gion, dessen lange Seiten nach Westen und Osten liegen, möglich, daß Gebäudeblöcke sich
gegenseitig Schatten geben können. Um dies zu gewährleisten, muß die Höhe der Blöcke in
Abhängigkeit von der Straßenbreite und dem Höhenwinkel der Sonne bestimmt werden; dieses kann aus Daten für jeden geographischen Ort abgeleitet werden. Auf diese Art und Weise
können Gebiete, die der Sonne ausgesetzt sind, definiert werden, hinsichtlich ihrer Fassaden, dem Straßenprofil und der Sonnendauer.
OST- WESTFASSADE Nur von Sonnenaufgang bis Mittag steht die Sonne auf der Ost-Fassade. Bis zum Abend kühlen sich die Wände ab; diese Lage eignet sich für Schlafräume. Eine Verschattung der Fassaden entsteht durch Überdachung der Straßen, so wie es in älteren Städten und Oasendörfern
Westasiens und Nordafrikas zu sehen ist. Im Falle eines einzelnen Gebäudes wird Schatten
durch architektonische Elemente wie Balkone, überdachte Loggien oder offene Galerien und
Veranden erzeugt, oder die Öffnungen werden durch Blendfenster, Sonnengitter, Brise-Soleils
oder Mashrabiyas abgeschirmt. Im Irak werden die Wände dadurch abgekühlt und belüftet, daß die Räume mit außenliegenden Korridoren, Arkaden und Kolonaden umgeben werden.
ÖFFNUNGEN Fensteröffnungen erfüllen drei Funktionen: Sie lassen Luft herein, direktes und indirektes Licht und sie gewähren Ausblick. In gemäßigten Klimazonen sind die drei Funktionen miteinander in einem Fenster, seiner Größe und Plazierung in Abhängigkeit örtlicher Klimabedingungen
zusammengefaßt. In den heiß-trockenen Zonen ist es jedoch kaum möglich noch ratsam, diese 37
drei Funktionen in einer einzigen architektonischen Lösung zu vereinen; so wurden mehrere Lösungen entwickelt, die sich auf jeweils eine Aufgabe beziehen.
VENETIANISCHE BLENDFENSTER Venetianische Blendfenster können direkt an den Fenstern angebracht werden. Sie bestehen aus
ungefähr 4-5 cm breiten Stäben, die dicht, in einem Sonnenstrahlen brechenden Winkel in einen Holzrahmen eingepaßt sind. Die Stäbe sind häufig beweglich, um die Sonnenstahlen und den
Luftstrom zu regulieren. Sie ermöglichen, die Sonne, aber nicht den Wind auszuschließen, der
in den meisten heiß-trockenen Zonen, einschließlich Ägypten, dem Irak und Nordafrika aus dem Nordwesten weht. Venetianische Blendfenster haben folgende Nachteile: sind sie geschlossen,
schotten sie vollständig den Blick nach draußen ab und dämmen erheblich das hineinströmende Licht; im Sommer können die Blendfenster so verstellt werden, daß der Wind nach unten, auf die Bewohner, geleitet wird - nur scheint dann auch die Sonne direkt in den Raum; schottet
aber das Blendfenster das Sonnenlicht ab, weht der Wind nutzlos über die Köpfe der Bewohner hinweg; besteht es aus Metall, absorbiert es die Strahlung und reflektiert sie als Hitze in den Raum.
BRISE-SO LEIL Der Brise-Soleil oder Sonnenlichtbrecher ist eine neuartige Verschattungseinrichtung, die eine sehr ausgearbeitete Halterung erfordert. Normalerweise wird er eingesetzt, um den
Treibhauseffekt in Skelettbauten mit vorgehängter Glasfassade zu reduzieren. Ein richtig
entworfener Brise-Soleil, der die Sonnenstrahlen bricht, reduziert die Hitze im Gebäude auf ungefähr ein Drittel. Das ist zwar eine Verbesserung, reicht aber dennoch nicht aus. Auch
behindert der Brise-Soleil den Ausblick, der ursprünglich Grund für den Einbau der Glaswände war. Tatsächlich ist der Brise-Soleil eine Weiterentwicklung des Blendfensters, in der die
Stabbreite von vier auf rund 40 cm erweitert wird, um sich dem Maß einer ganzen Fassade
und nicht nur einer Fensteröffnung in einer massiven Wand anzupassen. Der Nachteil ist ein
Ausblick, zerrissen von langen dunklen Streifen und unterbrochen von aggressiver Helligkeit. Aus diesem Grund werden Photos von Brise-Soleils immer von Außen aufgenommen. Das Konzept des Brise-Soleils muß dennoch nicht verworfen werden; in einigen Beispielen moderner Architektur wurde er vorteilhaft angewandt. 38
MASHRABIYA Der Begriff Mashrabiya leitet sich von dem arabischen Wort für „trinken“ ab und bezeichnete ursprünglich „einen Ort zum Trinken“. Dies war ein freistehender Raum mit einer
Gitteröffnung, in dem kleine Wassergefäße zur Kühlung durch den Verdunstungseffekt, der durch die durch die Öffnung dringende Luft entsteht, gestellt wurden. Heute bezeichnet
der Begriff eine Öffnung mit einem Holzgitterschirm, der aus kleinen, runden Holzstäben
besteht, die häufig in dekorativen und komplizierten geometrischen Mustern, Sahrigi genannt, zusammengesetzt sind. Der Mashrabiya erfüllt fünf Funktionen: Kontrolle des Lichtdurchflusses, Kontrolle des Luftstroms, Reduktion der Temperatur des Luftstroms, Erhöhung der Feuchtigkeit des Luftstroms, Sicherung der Privatsphäre. Jedes Mashrabiya-Design ist so gewählt, daß es einige oder alle Funktionen erfüllt.
Das Tageslicht, das in einen Raum mit Öffnungen zum Süden einfallt, besteht aus zwei Komponenten: aus dem hochintensiven Sonnenlicht, das in einem sehr großen Winkel
zur Fläche der Öffnung einfallt, und der nicht so intensiv reflektierten Helligkeit, die fast
ungebrochen durch die Öffnung eindringt. Da Sonnenlicht, das durch die Öffnung eindringt, die Oberflächen im Raum aufheizt, muß diese Strahlung blockiert werden. Die reflektierte
Helligkeit heizt zwar nicht den Raum auf, produziert aber unangenehmes Licht. Die Größe
der Zwischenräume und der Stäbe eines Mashrabiyas sind so eingestellt, daß sie die direkte
Sonnenstrahlung brechen. Hierzu wird ein Gitter mit kleinen Zwischenräumen benötigt. Die im Querschnitt runden Stäbe stufen das Licht auf ihren Oberflächen ab, und dämpfen so den
Kontrast zwischen der Dunkelheit der undurchlässigen Stäbe und der blendenden Helligkeit, die durch die Zwischenräume gelangt. Die charakteristische Gestalt des Gitters erzeugt
eine Silhouette, die das Auge von einem Stab zum nächsten führt. Dieses Design hebt den
zerrissenen Effekt, der durch die flachen Stäbe des Brise-Soleils erzeugt wird, auf und verteilt in harmonischer Art und Weise den Ausblick über die gesamte Fläche der Öffnung, quasi den Ausblick über das dekorative Muster des Mashrabiya überblendend, so daß man an dunkles
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Glas erinnert wird. Um den dämmenden Begleiteffekt auszugleichen sind die Zwischenräume
im oberen Teil des Mashrabiya größer gewählt. Durch diese Anordnung erhellt das reflektierte Licht den oberen Teil des Hauses, während ein Überhang über der Öffnung verhindert, daß
das direkte Sonnenlicht hineinströmt. So sind dann auch die Zwischenräume in den Öffnungen einer Nord-Fassade, bei der direktes Sonnenlicht kein Problem darstellt, recht groß gewählt,
um den Raum ausreichend auszuleuchten. Ein typischer Mashrabiya setzt sich immer aus zwei Teilen zusammen: aus einem unteren, feinmaschigen Teil mit schmalen Stäben, und aus einem oberen Teil mit einem großmaschigen Gitter aus gedrechseltem Holz. Die kühlenden und
feuchtigkeitsspendenden Funktionen des Mashrabiya liegen eng beieinander. Alle organischen Fasern, so auch das Holz des Mashrabiya, absorbieren, speichern und scheiden beträchtliche
Mengen an Wasser aus. Pflanzen regeln ihre Oberflächentemperatur durch Verdunstung: Der Saft fließt durch die Fasern zu den Pflanzenoberflächen, wo er verdunstet und dadurch die
Oberfläche kühlt. Holzfasern behalten diese Fähigkeit auch nach dem Abschlagen und Einbau im Gebäude, vorausgesetzt die Poren werden nicht durch versiegelnde Anstriche verstopft.
Wind, der durch die Zwischenräume des durchlässig-hölzernen Mashrabiya weht, gibt einen Teil seiner Feuchtigkeit an die Luft ab, die durch die Zwischenräume strömt. Diese Technik wird genutzt, um eher trockene Luft während der Hitze des Tages anzufeuchten.
Zusätzlich zu diesen physikalischen Funktionen besitzt der Mashrabiya aber auch eine wichtige
soziale Funktion: Er gewährleistet die Privatsphäre der Bewohner, läßt aber den Blick nach drau ßen frei. Ein Mashrabiya hat daher im gesamten unteren Teil, bis auf den hoch über Augenhöhe befindlichen, kleine Zwischenräume.
DACH Sobald die Außentemperatur höher als die Innentemperatur ist, wird die Dachoberfläche durch die Sonne aufgeheizt. Das Dach überträgt diese Hitze auf den Innenraum, was verhindert werden soll. Das geschieht durch ein doppeltes Dach mit einer dazwischen liegenden
Luftschicht, oder durch eine Dachdeckung mit Hohlziegeln. Oft verwendet werden isolierende
Materialien wie Fieberglas, Styropor oder Hohlblocksteine, was sich die meisten Bewohner der heiß-trockenen Zonen finanziell nicht leisten können. Eine Idee der Dachnutzung mit leichter
Deckung als Lebensraum ist der Dachgarten mit Spalierdach. Erde ist eine gute Hitzeisolierung, und Pflanzen geben Schatten. Auch dunsten Pflanzen aus und kühlen die mit dem Dach in
Berührung kommende Luft. Diese Lösung erfordert ein sicheres und wasserundurchlässiges Dach, was zu teuer ist für die meisten Bewohner dieser Regionen. Aus psychologischen
und ästhetischen Gründen scheinen Menschen es eher zu bevorzugen, auf einer Ebene mit 40
Baumstämmen, Zweigen, Blättern und Pflanzen zu leben, als das Gefühl zu haben, unter Wurzeln zu leben. Es bietet sich an, das Dach natürlicher, der landläufigen Traditionen
entsprechend zu verschatten. In heiß-trockenen Ländern, in denen die Temperatur während der Nacht um einiges absinkt, wurden die Dächer von ihren Bewohnern zu Loggien oder offenen
Galerien mit leichten Dachbedeckungen umstrukturiert. Diese Loggien und Dachbedeckungen haben die zweifache Funktion, einerseits das Dach während des Tages zu verschatten und andererseits angenehm temperierte Wohn- und Schlafräume für nachts zu schaffen. Auch
die Form eines Daches ist von Wichtigkeit in sonnigen Gebieten. Ein flaches Dach steht den
ganzen Tag über unter ständiger Sonnenbestrahlung, die morgens ansteigt und sich während des Nachmittags vermindert gemäß‘ der Veränderung der Intensität und des Winkels der Sonne.
Geneigte oder gewölbte Dächer haben gegenüber Flachdächern Vorteile: die Raumhöhe wird teilweise vergrößert, so daß erstens warme Luft hochsteigen oder durchs Dach gelangen
kann, die gesamte Dachoberfläche wird zweitens vergrößert, so daß sich die Intensität der Sonnenstrahlung über eine größere Fläche verteilt, dadurch sinkt der durchschnittliche
Temperaturanstieg des Dachs und die Hitzeleitung ins Innere; drittens ist ein Teil des Daches
während des Tages vor der Sonne geschützt, so daß es als eine Art Kühler dient, der die Hitze
des sonnenbeschienenen Teils und der inneren Luft absorbiert, und der die Hitze zur kühleren Außenluft im Dachschatten leitet. Dieser letztere Effekt ist besonders wirksam bei Dächern, die halb-zylindrisch gewölbt oder die Form einer hemisphärischen Kuppel haben, da hier
immer, außer während der Mittagszeit, Teile des Daches im Schatten liegen. Kuppel- bzw. ge
wölbte Dächer erhöhen auch die Luftgeschwindigkeit über den Wölbungen; sie erzeugen somit kühlende Winde, die die Temperatur der Dächer herabsetzen.
LUFTBEWEGUNG IM HAUS Wenn Schweiß auf der Haut mit Luft in Berührung kommt, deren Taupunkt unter der
Hauttemperatur liegt, verdunstet der Schweiß. Die Hauttemperatur wird dadurch gesenkt, daß Energie aufgewandt werden muß, den Schweiß in Dunst umzuwandeln. Die Luft ist jedoch schon bald gesättigt und der Verdunstungsvorgang endet. Soll dieser Vorgang fortgesetzt werden, muß die Luft ausgetauscht werden durch Luftbewegungen, Luftzug oder einen
Fächer. Solche natürlichen Luftbewegungen können durch den architektonischen Entwurf bei
Beachtung von zwei Prinzipien gewährleistet werden. Zum einen produzieren unterschiedliche
Windgeschwindigkeiten ein Druckgefälle, welches dazu führt, daß die Luft von der höheren zur tieferen Luftdruckzone fließt. Zweitens wird die Luft erhitzt; dieses führt zur Konvektion: Die
warme Luft steigt auf und wird durch kühlere Luft ersetzt. Zwischen dem warmen Bereich und 41
der Kaltluft-Einzugsöffnung entsteht ein Luftzug. Die Luftflußrate, die durch die Konvektion erzeugt wird, hängt von den Höhenunterschieden ab, in der sich die Öffnungen befinden; der Luftfluß wird größer, je größer der Höhenunterschied der Öffnungen ist. Dieses Prinzip ist
besonders wichtig, wenn die Luft draußen steht und das Innere belüftet werden soll. Die beiden genannten Prinzipien wurden auf vielfältige Art und mit vielen Verbesserungen in der Archi tektur und der Stadtplanung angewandt.
Bei Luftbewegungen im Haus, die durch Druckgefälle entstehen, ist der Luftstrom bei
niedrigem Luftdruck gleichmäßiger. So ist es klar, daß ein Fenster oder eine Öffnung nur dann die gewünschte Luftbewegung in einem Raum erzeugt, wenn auch ein Windauslaß vorhanden ist. Die Erfahrung lehrte, daß die Luftbewegung schneller und gleichmäßiger sind, wenn die
Fläche der Öffnungen auf der Windschattenseite größer ist als die Einlässe auf der windzuge wandten Seite. Auch an unangenehm heißen Tagen weht durch den schattigen Bereich der
Loggia eine kühle und erfrischende Brise. Die Loggia öffnet sich zu einem Innenhof an der windabgewandten Seite, beinahe vollständig vom vorherrschenden Wind geschützt durch eine Wand, in die zwei Reihen kleiner Öffnungen gebrochen sind. Der Luftfluß über und
um das Gebäude herum produziert eine Niedrigdruckzone auf der Leeseite dadurch auch im
Loggiabereich. Dies gewährleistet einen stetigen Luftstrom bedingt durch den Sog durch die kleinen Öffnungen.
CLAUSTRUM Oft sind viele kleine Öffnungen wenigen großen Öffnungen vorzuziehen - aus Gründen der Privatsphäre, der Sicherheit, der einheitlichen Verteilung des Luftflusses, der Blockierung
direkter Sonneneinstrahlung oder der Dekoration. Große Öffnungen, die hauptsächlich der Belüftung und Beleuchtung dienen, und die an bestimmten Orten in Gebäuden eingebaut
werden, können mit einem Gitterwerk in Form einer durchlöcherten Schirmwand verkleidet
werden. Diese Gitter, Claustra genannt, wurden ursprünglich in große Öffnungen hoch oben
in Römischen Bädern eingesetzt. In der vernakulären Architektur bestehen sie normalerweise aus gemeißelten Stuckplatten mit verschiedenen dekorativen Mustern, die nicht, wie die
Mashrabiya, aus Holz sind. Claustra dienen hauptsächlich dazu, heiße Luft, die sich in den
oberen Raumteilen ansammelt, abzuführen; sie werden auch in Brüstungswände oder niedrige Wände um Flachdächer herum eingebaut; so entstehen Luftzüge für die im Sommer auf den
Dächern Schlafenden. In der modernen Architektur werden diese Claustra manchmal als Brise
Soleils mißbraucht, die ganze Fassaden eines Gebäudes bedecken. Tatsächlich ist das Claustrum ein Schirm, der in eine Öffnung genügender Größe eingesetzt wird und sollte nicht als 42
tragende Wand verstanden werden. Dadurch, daß es überdimensioniert eingesetzt wird, bricht das Claustrum die strukturellen Maßstäbe und ästhetischen Regeln der Architektur. Darüber
hinaus irritiert es das Auge durch die blendenden Kontraste von Licht und Schatten. Wird das
Claustrum als Brise-Soleil verwendet, hat es dieselben Nachteile wie der Sonnenbrecher. Das
Claustrum ist auf Augenhöhe in den Fällen wirksam, in denen es in selten benutzte Innenräume, beispielsweise eine Treppenhauswand, oder außen, in Innenhöfen oder auf Dächern, eingebaut wird; dort kann das Spiel von Licht und Schatten das Auge nicht beim Ausblick irritieren.
WINDAUSLASS Der Windauslaß hat das Ziel, Luftbewegungen zu beschleunigen und Zugluft an Orten zu produzieren, die keine Öffnung nach draußen haben, wie zum Beispiel Keller.
Ein interessantes Beispiel entstand durch Zufall beim Entwurf eines Pumpenraumes für einen Artesischen Brunnen in Alexandria in Ägypten. Der Pumpenraum sollte in sechs
Meter Tiefe unter der Erdoberfläche gebaut werden, da sich der Grundwasserspiegel in 12 Meter Tiefe befand. Der Raum hatte eine Öffnung, um den Brunnen auf der Länge seiner
Rohre überwachen und um Inspektionsarbeiten vornehmen zu können; er war überdacht mit einem geneigten Gewölbedach, dessen höheres Ende zur Leeseite gerichtet war. Es wurde befürchtet, daß die Pumpenabgase die Luft in diesem sehr kleinen Raum verschmutzen
würden. Dieses Gewölbedach jedoch schuf einen so starken Luftstrom, daß die Luft auf
Bodenhöhe durch die Brunnenschacht Öffnung abzog. Vorteilhafte Anwendung findet dieses
Konzept bei überirdischen Entwürfen. Der Windauslaß kann eine wirksame Belüftung und die Luftzirkulation beschleunigen, wenn er zusammen mit anderen Einrichtungen zur Erzeugung von Luftbewegungen eingesetzt wird - mit Fenstern, Türen oder, dem Malqaf.
MALQAF Um eine gute Belüftung zu gewährleisten, wurde der Malqaf oder „Windfänger“ entwickelt.
Er ist ein hoch über das Gebäude hinausreichender Schacht mit einer Öffnung in Richtung des vorherrschenden Windes. Er fängt so stärker und kühleren Wind und kanalisiert ihn hinunter ins Gebäudeinnere. Der Malqaf macht damit den Einbau von gewöhnlichen Fenstern zum
Lüften überflüssig. Außerdem reduziert er den Staub- und Sandgehalt des Windes; denn der Wind, den er über dem Gebäude einfängt, enthält weniger Partikel als Wind in Bodennähe,
und die Partikel, die er dennoch miteinfängt, werden am Boden des Schachtes abgelagert. Der 43
Wert eines Malqaf wird in dicht bebauten Städten warm-feuchter Zonen offensichtlich: da
Gebäudegruppen die Windgeschwindigkeit auf Straßenhöhe reduzieren und sich gegenseitig vor dem Wind abschirmen, reicht das gewöhnliche Fenster zur Belüftung nicht aus. Die Situation kann durch einen Malqaf verbessert werden. Ein Malqaf ist viel kleiner als die Fassade eines Gebäudes und hat daher auch eine kleinere Oberfläche, mit der er die im Windschatten lie genden Malqafs abschirmt. In Pakistan finden Malqafs überall Anwendung und ragen wie
den Wind fangende Segel über den Dächern. In Ägypten ist der Malqaf weit entwickelt und seit langem Bestandteil der vernakulären Architektur. Das excellente Beispiel der Qa‘a des
Muhib Ad-Din Ash-Schari AI Muwaqqi, bekannt als Othman Katkhuda, stammt aus dem 14. Jahrhundert.
Der Qa‘a ist ein zentraler obergeschossiger Raum zum Empfang von Gästen, normalerweise ein Wohnraum in einer Villa oder ein Besprechungsraum in einem öffentlichen Gebäude. Traditionell setzt er sich aus drei zusammenhängenden Räumen zusammen: aus einem
zentralen Teil, Durqa‘a genannt, ein hoher Raum ohne Teppichbelag, der zur Beleuchtung und Belüftung dient - und aus zwei geschlossenen, höher gelegenen und mit Teppichen ausgeleg
ten Nischen, Iwan genannt. Die sehr hohen Wände des Qa‘a sind mit Strebepfeilern versteift, um Standfestigkeit mit struktureller Leichtigkeit zu gewährleisten. Die Zwischenräume zwischen diesen Pfeilern dienen als Sitzalkoven, Kunja genannt. Die Böden der Kunja
liegen normalerweise höher als die angrenzenden Durqa‘a und Iwan. Den Zugang zum Qa‘a findet man durch den Durqa‘a, der tatsächlich eine Art überdachter Innenhof oder Sahn ist
und in dem sich die für einen offenen Innenhof charakteristischen gepflasterten Böden und Marmormosaiken bewahrt haben.
Der Malqaf ist ein Teil eines kompletten Klimatisierungssystems, wie es das Beispiel eines Qa‘a verdeutIicht: das Dach eines Durqa‘as ist erheblich höher als die Dächer der Iwanat, und im
oberen Teil sind mit Mashrabiyas verkleidete Fenster eingelassen. Zusätzlich zur gebrochenen und angenehmen Beleuchtung, gewährleisten diese Öffnungen auch den gewünschten
Luftauslaß. Daher kanalisiert der Malqafim nördlichen Iwan-Teil die kühle Luft aus dem Norden in den Qa‘a aufgrund des durch den Wind gestiegenen Luftdrucks am Eingang des Malqafs. Im Iwan angelangt, wird die Luft langsamer, strömt durch den Iwan, steigt in den oberen Teil des Durqa‘as hoch und entweicht durch den Mashrabiya. Wind, der außerhalb über dem Durqa‘a weht wird durch die Form des Durqa‘a-Daches beschleunigt. Luft aus der Umgebung des
Durqa‘as entweicht in den Wind und wird ständig durch innere Luft ersetzt. Daraus ergibt sich ein geschlossener Kreislauf durch den Qa‘a.
Auch Konvektion spielt eine wichtige Rolle, da die warme Luft in der Qa‘a selbstverständlich in den oberen Teil der Durqa‘a steigt. Diese Luftbewegung wird beschleunigt, da der flache
Teil der Qa‘a der Sonne ausgesetzt ist. Die sich im Innern befindliche obere Luftschicht heizt 44
sich weiter auf, steigt noch schneller in den oberen Teil des Durqa‘a hoch und entweicht somit durch die Mashrabiya-Öffnungen. Luft wird von unten und aus dem Malqaf, der damit zur
Gesamtluftbewegung beiträgt, nachgezogen. Tatsächlich gewährleistet diese Anordnung von Öffnungen den Luftkreislauf im Innern, auch wenn außerhalb die Luft stillsteht. Aus diesem Grunde ist es wichtig, daß der Qa‘a in der Mitte des Gebäudes gelegen und von Räumen
umgeben ist, die seine Wände vor der Hitze schützen. Das Konzept des Malqafs reicht bis in die graue Vorzeit zurück. Es wurde von den alten Ägyptern in den Häusern von Tal-Amarna
angewendet und ist in den Wandgemälden Thebanischer Grabkammern dargestellt. Ein Beispiel
ist das Haus des Pharaos NebAmun, abgebildet auf seinem Grabmal, welches aus der 19. Dyna stie (1300 v. Chr.) stammt. Es hat zwei Öffnungen, eine windwärts gerichtet, die andere im
Windschatten, um die Luft durch Sogkraft zu evakuieren. Es ist sehr interessant, das gleiche
Prinzip in einem modernen Entwurf eines Workshops an der Universität für Wissenschaft und Technik in Kumasi, Ghana, angewandt zu sehen; hier wurde ein Y-Strahlsystem zur Führung der Luftzirkulation eingesetzt. Die ästhetische Integration eines Malqafs in moderne Gebäu de zeigen die Vorentwürfe des Architekten Paul Rudolph für das Gebäude der School of
Architecture der Yale-Universität. Einige der von ihm gewählten Anordnungen zur Belüftung können erfolgreich als Malqafs eingesetzt werden. So sehen wir, daß einige traditionelle,
funktionale Elemente vernakulärer Architektur die sonst kahlen Produkte moderner Architektur bereichern können.
Die Größe eines Malqafs wird bestimmt durch die äußere Lufttemperatur. Er muß größer sein, wenn die Lufttemperatur am Einlaß niedrig ist; er muß kleiner sein, wenn die umgebende
Lufttemperatur höher ist als noch als annehmbar empfunden, vorausgesetzt, daß die Luft, die durch den Malqaf strömt, abgekühlt ist bevor sie ins Innere einläuft. Im Irak, wo im Sommer die Temperatur bis auf 45°C steigt, ist der typische Malqaf-Schacht sehr eng. Er ist in die
Nordwand eingelassen, mit einem kleinen Einlaß, der bewirkt, daß sich die Luft abkühlt, bevor sie ins Innere strömt. Dieses Prinzip erinnert in der Gestalt an menschliche Nasenlöcher, die
in kalten Gegenden enger ausgebildet sind, so daß die kalte Luft nicht in die Lungen gelangen kann, wenn sie nicht vorher durch Kontakt mit der Luftröhre aufgeheizt wurde. In manchen
Entwürfen wird die Zugluft aus dem Malqafauslaß dadurch gekühlt, daß sie über Wasser im
Keller geführt wird. Aber diese Methode ist nicht sehr effektiv. Durch Vergrößern des Malqafs
und durch Aufhängen von nassen Matten kann die Luftflußrate erhöht und gleichzeitig wirksam gekühlt werden. Im Irak hängen die Menschen nasse Matten vor die Fenster, um den in den
Raum gelangenden Wind durch Verdunstung abzukühlen. Die Matten können ersetzt werden durch Lagen nasser Holzkohle die zwischen Hühnerdrahtplatten gehalten werden.
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INNENHOF-HAUS Wegen des relativ statischen Kühlungssystems eines Innenhof-Hauses lassen sich solche
Verbesserungen verstehen, mit denen Luftbewegungen durch Konvektion erzeugt werden
können. In heiß-trockenen Zonen sinkt die Lufttemperatur nach Sonnenuntergang erheblich durch Hitze-Rückstrahlung in den Nachthimmel. Die Luft ist frei von Wasserdunst, der die
Hitze oder Infrarotstrahlung auf den Boden reflektieren könnte, wie es in warm-feuchten Zonen geschieht. Die Natur ist in diesen Zonen in Bodennähe, vor allen Dingen in der Wüste, dem
Menschen feindlich gesinnt. Die Menschen lernten daher, ihre Häuser vor dem unwirtlichen Draußen zu verschließen, und öffneten sie im Innern zu Innenhöfen, Sahn genannt, die zum
Himmel hin offen sind. Dies ermöglicht ein Temperaturgefälle während der Nacht von 10-20°C und mag als Erklärung dafür dienen, warum der Halbmond als Symbol des Nachthimmels für Araber und für fast alle Moslems eine solche Bedeutung besitzt, daß er auf den Fahnen von
acht, vornehmlich islamischen Nationen erscheint. Im Verlauf des Abends steigt die warme Luft im Innenhof, die direkt durch die Sonne und indirekt durch die Wärme der Gebäude aufgeheizt wurde, hoch und wird nach und nach durch die bereits abgekühlte Nachtluft von oben ersetzt.
Diese kühle Luft sinkt in die umliegenden Räume. Morgens heizt sich die Luft im Innenhof, der durch die ihn umgebenden vier Wände und Räume geschützt ist, bis zu dem Zeitpunkt langsam auf, in dem die Sonne direkt in den Innenhof scheint. Das Innenhof-Konzept findet allgemeine Verbreitung in der traditionellen Architektur heiß-trockener Regionen, vom Iran im Osten bis zur Küste des Atlantischen Ozeans im Westen, in städtischer wie auch ländlicher Architektur.
BADGIR Im Iran und in den Golfstaaten wurde ein besonderer Typus des Malqafs, der Badgir, entwickelt. Er besteht aus einem Schacht, dessen obere Öffnung sich auf vier Seiten befindet; zwei
Abtrennungen sind diagonal über die gesamte Länge des Schachtes hin so angeordnet, daß sie
jede Brise ungeachtet ihrer Richtung einfangen können. Der Schacht reicht hinunter bis auf eine Ebene, auf der die dort Sitzenden oder Schlafenden direkt mit der Luft in Berührung kommen können. Gewöhnlich ist der Badgir ein dekoratives architektonisches Element. Des weiteren kann der Badgir paarweise oder in Viererkombination zur Kühlung von unterirdischen Was sertanks eingesetzt werden.
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TAKHTABUSH Es wurden Verbesserungen des Innenhof-Konzeptes entwickelt, um den steten Luftfluß durch Konvektion zu gewährleisten: die vernakuläre Architektur des arabischen Hauses enthält
ein Element, den Takhtabush, der eine Art Loggia darstellt. Er ist ein äußerer Sitzbereich in Bodenhöhe, zwischen dem Innenhof und dem hinteren Garten gelegen, der zum Innenhof
völlig offen und zum Hintergarten mit einem Mashrabiya verkleidet ist. Da der Hintergarten
erheblich größer ist als der Innenhof und daher auch weniger verschattet, heizt sich die Luft dort wesentlich stärker auf als im Innenhof. Die aufgeheizte, hochsteigende Luft im Hintergarten
zieht kühle Luft aus dem Innenhof durch den Takhtabush hindurch nach sich und erzeugt auf diese Weise einen Luftzug. Eine sehr ähnliche Einrichtung ist das „Tablinum“ der antiken
römischen Villen in Pompeii. Dieses Prinzip kann auf Stadtpläne oder Wohnviertel, in denen
der Autoverkehr ausgeschlossen wurde, angewandt werden, um einen kühlen und angenehmen Treffpunkt für die Bewohner zu schaffen. In diesem Fall wird der Takhtabush zwischen
zwei Plätzen angeordnet, von denen einer größer ist. Dieser größere liegt auf der Leeseite,
wodurch die Zugluftbildung aufgrund von Druckdifferentialen unterstützt wird. Die Bewohner eines Dorfes oder eines Wohnviertels versammeln sich oft an angenehmen Orten, die sich
zufälligerweise aus der Anordnung der Gebäude ergaben. Einige dieser Orte sind wohlplaziert
zur Sonne und gegen den Wind geschützt, und werden damit zu Orten, die von alten Menschen
im Winter geschätzt werden. Andere Bereiche sind wiederum vor der Sonne geschützt, enthalten Einrichtungen wie den Takhtabush, und werden aus diesem Grunde im Sommer bevorzugt. Ein Architekt muß demnach diese Bedürfnisse in seine Planung einbeziehen, und auf Grundlage
eines wissenschaftlichen Verständnisses dieser Situation, bewußt solch angenehme öffentliche Treffpunkte schaffen, die dem Stadtbild wieder einen menschlichen und ästhetischen Anstrich geben.
TRADITIONELLE STADTPLANUNG UND KLIMA Da das Klima der dominante Faktor in der traditionellen Gestaltung einer Stadt ist, resultiert daraus eine bemerkenswerte Uniformität der Urbanisierung in heiß-trockenen Zonen. Die
Anlagen fast aller traditioneller Städte sind durch zwei Eigenheiten gekennzeichnet: durch enge, gewundene Straßen und große offene Innenhöfe und innen liegende Gärten. Typischerweise dominieren große Innenhöfe, die als Reservoirs für kühle, frische Luft dienen, einen
Stadtplan, so zu sehen am Beispiel von Marrakesh in Marokko, von Tunis in Tunesien und
von Damaskus in Syrien. Auf den ersten Blick erscheint eine Anordnung der rasterförmigen 47
Anlage von Washington D.C. mit seinen großzügigen Boulevards weit überlegen, so daß es
häufig als Modell moderner Stadtplanung, selbst in heiß-trockenen Regionen gilt. - Die engen, gewundenen Straßen mit geschlossenen Fronten erfüllen aber die gleiche Funktionen wie ein Innenhof. Sie bewahren jede kühle Luft, die sich dort während der Nacht ablagerte, vor dem
Davontragen durch den ersten Windstoß, wie es bei rasterförmigen Anlagen mit breiten Boule vards der Fall ist. Um diesen Umstand aber gerecht beurteilen zu können, ist ein umfassender Vergleich dieser beiden Planungskonzepte notwendig auf der Grundlage von Messungen
in den offenen Innenhöfen, den inneren Gärten und äußeren Straßen und Plätzen, und ihren entsprechenden Luftqualitäten und Temperaturen.
Im Falle eines rasterförmigen Stadtplanes beeinflussen die im Stadtkern versammelten Gebäude die Windbewegung in diesem Viertel; sie schaffen Wirbel und senken die Windgeschwindigkeit durch Reibung und Richtungswechsel. Untersuchungen in der Bundesrepublik zeigten,
daß die mittlere Windgeschwindigkeit in einer Stadt von 5.1 auf 3.1 m/s sank, als diese
expandierte. In Detroit, im US-Staat Michigan, sank über einen Zeitraum von 20 Jahren
die Windgeschwindigkeit von 6.5 auf 3.8 m/s. Und in Stuttgart erhöhte sich die Zahl einer windstillen Tage von 1% im Jahre 1894 auf 20% im Jahre 1923. Daraus kann geschlossen
werden, daß sich die Windgeschwindigkeit erheblich verringert, wenn eine kleine Fläche mit Gebäuden verbaut wird. Der Wind über einer Stadt wird durch drei Faktoren beeinflußt:
Hohe Winde mikroklimatische Winde, die durch die Topographie und die Konfiguration der Stadt beeinflußt sind, Windbewegungen, die durch die Stadt selbst geschaffen werden.
Da der solare Aufwärmprozeß im Zentrum der Stadt am intensivsten ist, steigt die warme Luft dieses Sektors aufgrund von Konvektion hoch und wird durch Luft aus den anderen
Vierteln ersetzt. Im Falle der rasterförmigen Anlage einer Stadt mit breiten, geraden Straßen, sammelt sich warme Luft, angereichert mit Staub und Autoabgasen der umliegenden Viertel
und mit Abgasen der Industriegebiete, und formt eine Glocke mit verschmutzter Luft über dem Stadtzentrum. Dieses Phänomen kann des Nachts beobachtet werden an der Reflektion der
Lichter an den in der Luft treibenden Staubpartikeln, die die Farbe von Reklamebeleuchtungen
annehmen. Muß ein Architekt jedoch mit einer rasterförmig angelegten Stadt mit breiten Straßen arbeiten, sollten ausreichend Grünflächen über die Stadt verteilt werden, damit sich die Hitze in der Stadt gleichmäßig verteilen und sich nicht im Zentrum konzentrieren kann.
Wasser ist rar in Wüstenländern, und die Menschen der heiß-trockenen Regionen schätzten schon immer Wasser und versuchten es so lange wie möglich festzuhalten. Neben seiner erfrischenden Wirkung im physikalischen Sinn, besaß es auch immer einen erfreulichen
psychologischen Effekt. Darüber hinaus ist Wasser notwendig, die Luftfeuchtigkeit zu erhöhen. Im arabischen Haus spielt der Brunnen eine ähnliche Rolle wie der Kamin in gemäßigten
Breiten, obgleich der eine der Kühlung, der andere zum Heizen dient. Der Brunnen wird somit 48
zu einem charakteristischen Merkmal des Hauses und nimmt in ihm einen privilegierten Platz ein.
BRUNNEN Ursprünglich stand der Brunnen inmitten des Innenhofes, umgeben von sich zu ihm öffnenden Iwanat oder Wohnräumen. Er hatte immer eine symbolische Form, im Umriß quadratisch,
das innere Becken in Form eines Oktagons oder eines Hexadekagons. Aus den in den Ecken entstehenden Dreiecken werden Halbkreise ausgeschnitten, so daß das ganze Becken als
geometrische Projektion einer Kuppel auf Bogenpfeilern ruhend, den Himmel symbolisierend erscheint. Somit wird der richtige Himmel durch die Wiedergabe des symbolischen
Himmels in Form des Wasserbeckens in engen Kontakt mit den Iwanat gebracht. Nach der
Weiterentwicklung des arabischen Hauses, verwandelte sich das Konzept des Innenhofes mit mehreren Iwanat in das Konzept der Qa‘a. Auch in dieser Anordnung ist der Brunnen in der
Mitte, sein Wasser spendend und mit Luft vermengend, um so die Luftfeuchtigkeit zu erhöhen.
SALSABIL In Bereichen, in denen nicht genug Druck erzeugt werden konnte, das Wasser durch den
Brunnerkopf speien zu lassen, ersetzten Architekten den Brunnen häufig durch einen Salsabil. Der Salsabil besteht aus einer Marmorplatte, dekoriert mit wogenden Mustern, die Wasser und Wind symbolisieren; sie ist gegenüber den Iwanat oder Sitzplätzen in einer Nische an
der Wand angebracht. Der Salsabil wird in einem Winkel aufgestellt, der es ermöglicht, daß
das Wasser über die Oberfläche tröpfeln kann und somit den Verdunstungsvorgang erleichtert und die Feuchtigkeit der Luft erhöht. Das Wasser mündet in einen Marmorkanal, durch den es in den Brunnen in der Mitte des Dur-qa‘a gelangt. Der Salsabil kann als Verlagerung des
Brunnenkopfes außerhalb eines Brunnens interpretiert werden; dies ist ein Zeichen für geistige
Beweglichkeit, Freiheit und Erfindungsreichtum des Entwurfs. Es ermöglicht dem Architekten, seine Kreativität und Empfindungsgabe beim Ausdruck seiner Gefühle durch die Architektur
einzusetzen. Sie sind der greifbare Beweis für Goethes Ausspruch: „Architektur ist gefrorene Musik“.
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Soheir Farid, Rami El Daha,
„islamische Architekur und die Arbeiten von Hassan Fathy“,
in: Arch+ Februar, übers.: Barbara Engel, Sabine Kraft, 1987, S. 67.
ISLAMISCHE ARCHITEKTUR UND DIE ARBEITEN VON HASSAN FATHY Seit 40 Jahren kämpft Hassan Fathy um angemessene Unterkünfte und eine würdige und
lebenswerte Umwelt für die Armen Ägyptens. Er versucht, die verlorene architektonische Identität des nordafrikanischen Landes wieder zu beleben. Denn Ägypten leidet seit 200 Jahren an Überfremdung: ftihrende Kräfte wollten aus dem arabischen Staat einen „Teil
Europas“ machen. Die Häuser des frühen 19. Jahrhunderts sind Imitationen europäischer
Architekturkonzepte, deren Fassaden mit arabischen Details dekoriert wurden. Die Tradition der hochentwickelten ägyptischen Baukunst wird durch den europäischen Einfluß völlig ignoriert. Später, mit der rapiden Verstädterung um die Jahrhundertwende, mußte Wohnraum für sehr viele Menschen geschaffen werden. Private Unternehmer und die ägyptische Regierung
investierten in Wohnbauprojekte für die breiten Massen, individuelle Bedürfnisse mißachtend
und sie als bloße Quantitäten betrachtend. Hassan Fathy ist heute der Erste, der sich wieder auf
die alte, islamische Bautradition bezieht. An ägyptischen Hochschulen dagegen wird islamische Architektur nur noch als Stil, als Frage der Historie gelehrt. Islamische Architektur beinhaltet jedoch mehr: sie bietet auch heute lebendige und funktionierende Lösungen und Bauformen - das zeigt die tiefgehende Untersuchung noch vorhandener Gebäude.
Es gibt verschiedene Bautypen islamischer Architektur, die Hassan Fathy in ihrer Substanz -
nicht als beliebiges Musterbuch - aufgegriffen hat. Die Introversion der Häuser, ein Resultat des
Klimas dieser Region, unterscheidet die arabische Architektur grundsätzlich von der westlichen. Der Innenhof, der unglücklicherweise aus modernen ägyptischen Häusern verschwunden ist,
charakterisiert das traditionelle Haus: er schirmt das Gebäude von der lauten und geschäftigen
Straße ab und er speichert die kühle Luft. Obwohl sich diese Innenhöfe in ihren Ausmaßen und
Proportionen unterscheiden, haben sie eins gemeinsam: sie geben dem Haus den Anstrich einer friedvollen und heiteren Ruhe.
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VERNAKULÄRE ARCHITEKTUR Die vernakuläre Architektur, vor allem Oberägyptens und der Oasen, zeigt mit vielen
Beispielen, wie sich die Menschen ihren eigenen Wohnraum schafften. Ohne Unterstützung durch Architekten oder Regierungen bildete sich ihre Architektur. Sie ist geleitet durch
Tradition und die Lebensweise der Gemeinschaft - angefangen bei alltäglichen Bräuchen bis
hin zu Bauweisen. Diese Tradition wurde nicht durch die moderne Zivilisation beeinflußt, da über lange Jahre kaum eine Verbindung zwischen Kairo und diesen Regionen bestand. Die
Pläne dieser Häuser sind sehr einfach und wurden direkt an Ort und Stelle durch den Besitzer
entworfen. Er war der einzige, der seine Bedürfnisse, seine Lebensweise und seine Ansprüche
genau kannte. So wie in den Stadthäusern Alt-Kairos, ist auch hier der Innenhof das lebendige
Element des Hauses. In ihm wird gekocht, gegessen und sogar - in heißen Sommernächten - ge schlafen. Alle Räume des Hauses sind einfach um ihn herum angelegt und zu ihm hin geöffnet. Die Bewohner dieser Region sind mit den traditionellen Bautechniken vertraut. Um ihre
Häuser zu bauen, verwenden sie Lehm und Palmen - alles Materialien, die in ihrer Umwelt zu finden sind. Der Lehm wird mit Stroh angemengt und ein paar Tage zur Fermentierung
liegengelasssen. Diese leichte und feste Mischung kann dann weiter zu Lehmziegeln verarbeitet oder als Verputzmaterial verwendet werden. Aus den Palmstämmen werden die Dächer
gezimmert und mit den Palmwedeln gedeckt. Hierauf kommt noch eine Lage Lehm zur besseren Isolierung. In einigen Dörfern wird immer noch die alte Kuppel- und Gewölbetechnik an
gewandt. Für ihre Konstruktion müssen die Lehm-Ziegel, die bestimmte Abmessungen haben, mehr Stroh als gewöhnlich enthalten, damit sie leichter und stabiler sind. Ohne die Hilfe einer
Holzschalung umreißt der Maurer die parabolische Form des (Tonnen-) Gewölbes in Lehm auf die Giebelwand‘ des Raumes, die höher als die beiden Seitenwände gezogen wird. Dann legt er die Ziegel Stück für Stück an diese Wand. Nach fünf bis sechs Schichten formen sie einen geneigten, parabolischen Bogen, der an die Giebelwand gelehnt und von den Seitenwänden gestützt ist. Dieser Bogen wird langsam vervollständigt, bis der ganze Raum bedeckt ist.
Lehmziegel-Kuppeln werden bei quadratischen Räumen verwandt. Die Wände des Raumes werden bis zu einer bestimmten Höhe errichtet; dann legt der Maurer die Ziegel in Runden
Schicht auf Schicht, bis die Kuppel geschlossen ist. Ein im Mittelpunkt der Kuppel drehbarer Richtstab ermöglicht es ihm, den jeweiligen Abstand der einzelnen Ziegelschichten zum
Mittelpunkt einzuhalten. Einige, durch ihre Bewohner erbauten Gemeinden zeichnen sich neben der architektonischen auch aus durch eine soziale Qualität:
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die Art und Weise, wie gemeinschaftlich und ohne Geld gebaut wird. So erzählt Hassan
Fathy immer wieder die Geschichte von Djenah, einem Dorfin der Oase von Kharga. Das alte Djenah wurde unter Flugsand begraben und daher erbauten die Bewohner ein neues Djenah, wohin auch alle zogen, bis auf einen alten Mann. Er weigerte sich sein Haus, an dem er sehr
hing, zu verlassen, obwohl nur noch zwei Räume bewohnbar waren. Hassan Fathy fragte den
Bürgermeister, was passieren werde, wenn das ganze Haus zugeweht sei. Dieser beruhigte ihn damit, daß die Bewohner für den Alten bereits ein Haus in dem neuen Dorf errichtet hätten.
So etwas war nur in einem gemeinschaftlichen System möglich. Hassan Fathy sagt, daß ein Mann nicht in der Lage ist, ein Haus zu bauen, daß aber 10 Männer leicht 10 Häuser bauen können. Dieses Beispiel zeigt, daß ein Architekt, der für die Armen bauen will, die Vorteile gemeinschaftlicher Zusammenarbeit bedenken muß. Sie erlaubt die Lösung. individueller Probleme auf der Ebene der Gemeinschaft.
MODERNE TRADITION Eines der wichtigsten und erfolgreichsten Gebäude Hassan Fathys ist die Schule in Fares. Fares ist ein einsames, schwer zugängliches Dorf am Westufer des Nils. Als kein anderer
bereit war, diesen schwierigen Auftrag zu übernehmen, trat die Abteilung für Schulbau im
Erziehungsministerium an Hassan Fathy heran. Er schlug vor, die Schule aus Lehmziegeln zu
errichten mit Hilfe der Bewohner und der ortsansässigen Maurer, die die Technik der Kuppelund Gewölbekonstruktionen beherrschten. Alles was er brauchte waren Gerüste und einige einfache Werkzeuge. Die Schule wurde dann mit zehn großzügigen Klassenräumen erbaut, die alle mit einem „Windfanger“ ausgestattet wurden. Des weiteren hatte die Schule eine Bibliothek, eine Mehrzweckhalle, eine kleine Moschee sowie ein Freilichttheater im Innenhof.
Zu Beginn lehnten die Bewohner die Idee ab, eine Schule aus Lehm zu bauen; sie wollten
eine aus Beton, wie die Schulen in den Städten. Als jedoch die Schule schließlich erbaut war,
waren sie sehr stolz auf sie. Einer der Lehrer, der auch an dieser Schule gelernt hatte, erzählte uns, daß er sehr unglücklich darüber war, daß er seine Ausbildung an einer Vorschule in der
Stadt Komambo fortführen mußte. Er hatte die Atmosphäre dieser Schule genossen und auch die Temperaturunterschiede zwischen den neuen Beton-Klassenzimmern und den alten, aus Lehmziegeln erbauten und mit „Windfängern“ ausgestatteten Klassenzimmern festgestellt.
Die Schule in Fares war ein Beweis für die Durchführbarkeit des gemeinschaftlichen Bauens
als einer Alternative zudem Unternehmer-System für ländliches Bauen in Ägypten. In Gourna am Westufer des Nils gegenüber von Luxor, erhielt Hassan Fathy den Auftrag, ein neues Dorf zu planen. Dieses Dorf war zur Wiederansiedlung der Menschen gedacht, die inmitten der 52
antiken Grabstätten lebten. In seiner Herangehensweise setzte er sich von den Architekten ab, die behaupten, daß eine bäuerliche Gemeinde einer professionellen Betrachtung nicht wert
sei. Hassan Fathy sagt immer, daß ein Architekt ein fürstliches Haus nur so planen kann, als wäre er der Fürst, und ein Bauernhaus nur so, als wäre er der Bauer. Für Hassan Fathy war
das Gourna-Projekt der erste Versuch, ästhetische Qualitäten in der ländlichen Gemeinschaft
wieder aufleben zu lassen. Der Grundriß des neuen Dorfes bestand aus vier Hauptvierteln. Diese Viertel entstanden mit Rücksicht auf den physischen Unterschied zwischen den Volksstämmen, die die Bevölkerung von AltGourna ausmachten. Die Viertel werden durch recht große Straßen getrennt, die alle .zu dem zentralen Platz führen. Um den Platz herum gruppieren sich die
Moschee, die Dorfhalle und die meisten öffentlichen Gebäude. Die Schulen und der Marktplatz befinden sich an den jeweiligen Enden des Dorfes. Von den Hauptstraßen gelangt man in
kleinere Straßen, die zu halb-öffentlichen Wohnplätzen führen. Diese Plätze werden von einer
Anzahl Häuser umschlossen, in der Regel von verwandten Familien bewohnt. Jedes Haus wurde individuell entworfen, damit die Familie die gleiche Fläche und die gleiche Anzahl Räume
erhielt wie vormals in AltGourna. Hinzugefügt wurden Annehmlichkeiten, die in ihren alten
Häusern fehlten. Hassan Fathy bereicherte die Pläne dadurch, daß er sie mit einigen traditionell städtischen Elementen versah. Er verarbeitete z. B. das Konzept der Qa‘a arabischer Häuser in seinem Entwurf.
Das zweite große Projekt nach Gourna war der Entwurf eines neuen Dorfes in Bariz in
der Oase Kharga. Einer der interessantesten Aspekte dieses Projektes liegt im Prozeß der
Besiedlung und im gemeinschaftlichen System beim Wohnviertelbau. Hassan Fathy vertrat den Standpunkt, der beste Weg zukünftige Bewohner anzuwerben, sei der, Familiengruppen aus
überbevölkerten Dörfern zu nehmen, die nach Altersverteilung und Berufen ausgeglichen sind.
Auf diese Weise bliebe ihre Bindung an die Gemeinschaft in ihrem neuen Dorf erhalten und sie könnten sich weiterhin auf ihre gemeinschaftlichen Leistungen verlassen. Um dieses Konzept wirkungsvoll in die Tat umzusetzen, entwickelte Hassan Fathy sogar ein Verwaltungssystem und ein Schulungsprogramm. Unglücklicherweise mußte das Projekt wegen mangelnder
finanzieller Mittel eingestellt werden, bevor die Wohnviertel begonnen wurden. Trotzdem,
die öffentlichen Gebäude, die gebaut wurden, insbesondere der Marktplatz, zeigten deutlich,
daß das, was zu Zeiten der Pharaos funktionierte, auch heute noch funktioniert, und daß diese Architektur am geeignetsten für eine Wüstenumgebung ist, in der die Temperaturen über 48°
C im Schatten steigen. Der Marktplatz, wie die anderen Gebäude in Lehm gebaut, wurde mit einer Reihe von Doppelgewölben überdacht zum besseren Schutz vor der Hitze. Über den
Lagerräumen wurden hohe überwölbte nach Norden orientierte Windfänger errichtet, um die
kühle Luft ins Erdgeschoß hinunterzubringen. Dadurch konnte die Temperatur um mehr als 17° C reduziert werden. Hassan Fathy wandte beim Bariz Projekt die moderne Wissenschaft der
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Bodenmechanik und des Bodenaufbaues auf Lehm als Baumaterial an. Mehr noch, er benutzte diese Wissenschaft auf eine sehr kluge und verfeinerte Art. Dieses Projekt kann also als der Höhepunkt seiner Erd-Architektur bezeichnet werden. In ihm vollendet er, was er 20 Jahre früher in Gourna begann.
Ungeachtet der Ignoranz seitens der Bauindustrie und der Regierung baute Hassan Fathy
weiter und verbreitete seine Ideen und Theorien innerhalb und außerhalb Ägyptens. 1980
wurde er beauftragt, für eine amerikanische moslemische Gemeinschaft in Neu Mexico „Dar
Al Islam“, ein Erziehungszentrum, zu entwerfen. Im September desselben Jahres besuchte er mit zwei Maurermeistern aus Assuan das Baugelände. Zum ersten Mal in den USA zeigte er, wie Gewölbe und Kuppeln ohne Hilfe einer Holzschalung zu bauen sind. Er begann dieses
wichtige Projekt mit dem Bau einer kleinen Moschee. Zu diesem Projekt soll eventuell noch
ein Handwerkszentrum, Schulen, Wohnviertel sowie eine große Moschee hinzukommen. Das Projekt wird von ortsansässigen Maurern vollendet, die in einem Workshop vor Ort geschult
wurden. Hassan Fathy baute auch viele Privathäuser für einzelne Familien: Auch hier respek tierte er das Wesen und die Konzepte arabischer Architektur, und jedes einzelne Haus besitzt einen eigenen Charakter. Das früheste dieser Häuser wurde 1945 für einen Künstler, Hamed Said, in Lehm erbaut. Das Haus wurde in U-Form um die Palmen herumgebaut, um zu
vermeiden, daß auch nur eine gefällt werden mußte. Andere Häuser, so die von Fouad Riad und
Mit Rihan, sind aus Stein. Zur Konstruktion der Gewölbe und Kuppeln wird der Stein in densel ben Maßen wie die Lehmziegel geschnitten. Ein anderes Haus, das von Akil Sami, wurde mit
rotgebrannten Ziegeln auf Lehm-Mörtel gedeckt. Anschließend wurde es innen und außen weiß gekälkt.
Hassan Fathy ist in einem ganz besonderen Sinn von der westlichen Architektur beeinflußt. Das
folgende Zitat ist seinem Buch „Architecture for the Poor“ entnommen: „Es wäre ungeheuerlich von einem Architekten, dessen Phantasie vom Liebreiz Siennas oder Veronas oder der
„Cathedral Close of We1ls“ bereichert wurde, seine Arbeit schludrig zu verrichten und seine
Klienten mit weniger abzuspeisen als der schönsten Architektur, die er schaffen kann.“ Hassan Fathy baut nicht viel, doch er legt in seine Arbeiten eine intensive aber bescheidene Liebe und Hingabe. Das Ergebnis ist in der Tat beeindruckend.
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Max Gschwend,
Bauernhäuser der Schweiz. Handwerker-Architektur,
1. Auflage, Schweizer Baudokumentation, 1988, S.15.
Zweifellos haben in früherer Zeit bei uns jene Menschen, die später das Haus bewohnten,
dieses auch selbst gebaut. Seit dem hohen Mittelalter betätigten sich jedoch auf dem Lande
begabte Männer mit dem Bau von Häusern. Stets aber war ihre handwerkliche Tätigkeit nicht
ihr Hauptberuf. Dies wurde für einzelne Handwerkerfamilien erst etwa seit dem 17. Jahrhundert der Fall. Auf dem Lande wohnend, betrieben sie nebenher ihre angestammte Landwirtschaft. So waren sie eng verbunden mit ihren Dorfgenossen, bestens vertraut mit den raummässigen
und wirtschaftlichen Bedürfnissen und eingebettet in die traditionelle, überlieferte Kultur. Sie hatten kaum je eine eigentliche handwerkliche Berufslehre durchlaufen, wie dies im späten Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit für die städtischen Handwerker in ihrer zünfti
schen Organisation vorgeschrieben war. Landhandwerker übermittelten ihre Erfahrungen und ihre Kenntnisse meist vom Vater auf den Sohn. Berechnungen oder Pläne benutzten sie nicht. Aus Überlieferung wussten sie, wie dick oder wie lang ein Balken sein musste. Hier darf
eingeflochten werden, dass genaue Messungen ergeben haben, dass diese Erfahrungswerte ziemlich gut mit den heutigen statischen Berechnungen übereinstimmen.
Neuere Forschungen haben ganze Dynastien von solchen Familien bekannt gemacht. Insbe
sondere Zimmerleute, unter denen es wahre Künstler gab, legten ihren Stolz darein, sich zu sammen mit dem Bauherrn in Schriftbändern zu verewigen und der Nachwelt mitzuteilen,
wer diesen prächtigen Bau erstellt hatte. Nicht selten waren sie auch ausserhalb ihres engeren Wohngebiets tätig. Manchmal zog sogar ein junger Geselle weit von der Heimat weg und
brachte bei seiner Rückkehr viele Anregungen oder Neuerungen mit, die er mit erstaunlichem Können in den heimischen Bauformen integrierte.
Aus Erfahrung hatte man gelernt, das für einen bestimmten Zweck am besten geeignete Holz im Wald auszuwählen. Sorgsam beachtete man die alten Regeln für die günstigste Schlagzeit der Bäume, bevor der Saft im Stamm wieder aufzusteigen begann. Es ist erstaunlich, mit
welch gutem Blick die früheren Handwerker einem Holzstück ansahen, wo man es mit Vorteil einsetzen konnte.
Ein selbstverständliches Gefühl für eine gute Form und für saubere, bewährte Proportionen gab
den Landhandwerkern die Möglichkeit, Bauten zu errichten, die uns durch ihre Ausgewogenheit 55
und Zweckmässigkeit heute noch beeindrucken. Gleichzeitig aber konnten sie ihre Phantasie
spielen lassen, indem sie Zierformen anbrachten, die das Haus aus den umgebenden Häusern heraushoben und das Bedürfnis des Bauherrn nach Repräsentation befriedigten. Man spürt
oftmals wirklich, wenn man vor einem solchen Haus steht, mit welchem Können, aber auch mit welcher Liebe zur Sache der Handwerker an seine Arbeit gegangen war.
Beim Aufrichten eines grossen Hauses im Mittelland beteiligten sich neben den eigentlichen Handwerkern auch 30-50 Männer aus dem Dorf. Diese Nachbarschaftshilfe wurde meist
gegen Essen und Trinken geleistet. Jeder machte mit, denn ein andermal kam sie ihm wieder zugute. Die Handwerker leiteten den ganzen Aufbau und besorgten die heikelsten Arbeiten
selbst. Durch ihre Mithilfe lernten die Bauern, wie man dies oder jenes machen musste, und
merkten sich manchen Kunstgriff. So waren sie später in der Lage, selbst kleinere Reparaturen
auszuführen und bescheidene oder behelfsmässige Bauten zu erstellen. Ohne Übertreibung kann man festhalten, dass in unserem Land, mit Ausnahme von kleineren Nebenbauten, die heute
noch vorhandenen typischen Wohn- und Wirtschaftsbauten von Handwerkern errichtet wurden. Es handelt sich demnach beim historischen ländlichen Baubestand um eine ausgesprochene
Landhandwerker-Architektur, je nach Region in mehr oder weniger hervorragender Form. Da
wir häufig den Zimmermann oder den Meister kennen, darf man auch nicht von der oft zitierten «anonymen» Architektur sprechen. Dies steht im Gegensatz zu vielen Gebieten in Osteuropa,
wo heute noch die Bauern sogar Wohnhäuser selber bauen. Dort werden sie auch etwa bemalt, und die Bäuerinnen, von denen die hübschen Kunstwerke stammen, wetteifern, wer auf den
weissen Verputz die schönsten Blumen und elegantesten Ornamente malen kann. So etwas war
möglicherweise bei uns vor vielen hundert Jahren auch vorhanden, leider fehlen uns die Belege dafür.
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Dominic Marti,
„Archaische Formen“,
in: Tec 21 Nr. 36, 3. September, 2007, S. 18.
An der Wand hinter Antoine Predocks Arbeitstisch hängen zwei grosse Schwarzweissfotos
von Chaco Canyon und Pueblo Bonito, Bauten der Anasazi-Indianer aus der Hochblüte ihrer
Kultur zwischen 850 und 1150. Es ist diese Architektur, die auf sein Schaffen grossen Einfluss ausübt und auf die er seine Arbeiten bezieht. Predock ist Träger zahlreicher renommierter
Auszeichnungen und erhält diesen Herbst den Design-Award 2007 des Smithsonian CooperHewitt National Museum.
Predocks zeitgenössische Werke weisen den Bauten der Anasazi-Indianer ähnliche
architektonische «DNA-Spuren» auf. Es sind archaische Formen, die die Erdkruste durchstossen - Bauwerk und Landschaft verschmelzen dabei zu einer Einheit: schlichte, fensterlose
Gebäudeformen, die als Teil der Landschaft wahrgenommen werden. Predock arbeitet mit
nackten Materialien, die der Kargheit der Landschaft entsprechen. Seine Bauten integrieren
sich in einen Kontext, sind aber als eigenständige, moderne Zeichen lesbar. Sie sind mit der
Tradition und dem Wesen des Ortes verbunden. Predock: «Die Grundlage meiner Entwürfe ist
immer der Ort, der Ausdruck des Geistes eines Ortes. Hinter diesem universalen Anspruch steht die Frage nach dem Wesentlichen, dem Tiefgründigen, Unsichtbaren.»
Zwanzig Jahre baute Predock in der Landschaft, die seine Heimat geworden war, im Südwesten der USA. Seine Bauten dort sind dem Wüstenklima angepasst, sie gelten als gute Beispiele
eines zeitgenössischen Regionalismus. Sein Hauptbüro ist in Albuquerque an der Route 66, weitere Ateliers befinden sich in Los Angeles und Taiwan. Seit Mitte der 1980er-Jahre ist
Predock über den regionalen Rahmen hinausgewachsen, Projekte in Florida, Texas, Taiwan, Minnesota, Wyoming, Winnipeg, Los Angeles, Paris, Kopenhagen, Sevilla, San Diego und Agadir liegen auf den Tischen.
WER IN DER WÜSTE BAUT, MUSS WISSEN, WOHER DER WIND WEHT 1936 geboren in einer Kleinstadt in Missouri, zog Predock Mitte der 1950er-Jahre nach Al
buquerque zum Studium an der UNM University of New Mexico. Sein Lehrer Don Schlegel 57
erkannte bald seine Begabung zum Zeichnen. Nach dem Diplom und Arbeiten in Architek turbüros in Texas realisierte Predock seinen Erstling, die Wohnsiedlung La Luz (Bilder 1-
3) am Stadtrand von Albuquerque an den Ufern des Rio Grande (1967-74). Lehmziegel zu
Blocksteinen geformt und luftgetrocknet (Adobe), so bauten bereits die Pueblo-Indianer und
die Spanier. La Luz ist alt und zugleich neu. Predock hat der Lehmarchitektur ihren Platz in der
Modernen Architektur geschaffen. Dicke Mauern schützen vor glühender Tageshitze und geben die im Lehm gespeicherte Wärme in den kühlen Nächten an die Räume ab. «Wer in der Wüste baut, muss wissen, woher der Wind weht.» (Predock)
Nach Südwesten, der Richtung, aus der die jährlichen Sandstürme kommen, zeigen sich nur fensterlose Mauern. Mit äusserster Sorgfalt ist die Mauer bearbeitet. Sie ist das schützende
Element, wächst tief aus dem Erdinnern zum Himmel, trennt Licht von Schatten, verbindet Himmel und Erde. Die Farben der Wände stehen im Einklang mit der Wüstenlandschaft.
Antoine Predock: «New Mexico hat mein Denken, meine Entwürfe geprägt, New Mexico ist eine Herausforderung, die ich angenommen habe, New Mexico ist eine Schule, die mich die
richtige Verhaltensweise gelehrt hat; diese Erfahrungen haben auch anderswo ihre Gültigkeit.»
BEWUSSTERE WAHRNEHMUNG UNERWARTETER RÄUME Der Mythos der Goldenen Städte von Cibola, in New Mexico vermutet, bewahrte die Indianer New Mexicos vor grösseren Massakern. Etwas von diesem Mythos lebt weiter im Werk von Antoine Predock: die geheime Öffnung, durch die Energie des Kosmos in die menschliche, kulturelle Manifestation strömt (Campbell). Der Zugang zum Raum will entdeckt werden.
Predocks Bauten offenbaren sich nicht auf den ersten Blick. Wo geht es hinein, wie komme ich
wieder heraus? Der Betrachter wird verführt zum bewussten Wahrnehmen unerwarteter Räume. Zur bewussten Wahrnehmung gehört auch eine gewisse Desorientierung. Der Weg führt
durch Schleusen, an jeder Schleuse gibt der Besucher ein Stück Erinnerung ab an den Lärm, an die Gluthitze. Das grelle Licht wird gebrochen, filtriert. Der Besucher wird erfasst vom geheimnisvollen Innenraum mit seinem Wechselspiel von Licht und Schatten - ein Kino-
Effekt. Architektur erfahren ist eine physische und intellektuelle «Reise» - ins Unerwartete.
Die Choreografie muss stimmen wie bei Tanz und Ballet (während seiner Studienzeit hatte sich Predock intensiv mit Tanz und Ballet, mit der Bewegung des Körpers im Raum befasst). Der Bewegungsablauf bringt ständigen Wechsel der Gegensätze: Spannung - Entspannung, Licht - Schatten, wechselnde Raumhöhen.
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BAUEN MIT PHANTASIE UND DISZIPLIN Nebst dem musischen Talent verfügt Antoine Predock über die Doppelbegabung Phantasie und Disziplin. Phantasievoll und zugleich diszipliniert ist sein erster grösserer Bau - ein
Auftrag aus einem Wettbewerb -, das Nelson Fine Arts Museum (1989, Bild 4): ein kühner Bau, dynamisch. Der Besucher wird auf eine Entdeckungsreise geführt, langsam wandert
das Auge vom Licht ins Dunkel. Der Bau auf dem Universitätsgelände beinhaltet ein Kunst museum, eine Schauspielschule, ein Tanzstudio, ein Theater und mehrere Skulpturengärten.
Wesensverwandt und doch anders: das Spencer Theater for the Performing Arts, auf einer Mesa (Tafelberg) in der Wüste von New Mexico geLegen (Bilder 5 und 6). Lage und Form sind
abgeleitet vom majestätischen Bergmassiv der Sierra Blanca: ein weisser Baukörper (Kalkstein), der die Erdkruste durchdrungen hat, um dem Berg die Reverenz zu erweisen. Im Innern des
Theaters, im Foyer, schweift der Blick weit über die Mesa. Überraschend ist der Zugang zum Besucherzentrum im Rio-Grande-Naturreservat (Bilder 7 und 8). Durch einen langen Tunnel
betreten die Besucher das Naturreservat und finden sich am Ausgang in der üppigen Natur des Rio-Grande-Ufers wieder. Eine akustisch gelungene Ergänzung ist die Übertragung der vielen Vogelstimmen in den Raum der Beobachtungsstation (1982).
In den Wohnhäusern Lazarus und Shadow House zeigt sich die Fähigkeit zur Abstraktion. Beide Bauten gehen weit über das übliche Adobe-Haus hinaus. Der Raum ist fliessend, die Übergänge sind rund, es gibt keine spitzen Kanten und rechten Winkel. «Lazarus» ist ein Zeichen in der Wüste.
Ebenso durch ein klares Zeichen gut sichtbar ist die Mesa Pub/ic Library (inneres Titelbild) an der Kante der Mesa (1994). Sie besteht aus Bibliothek, Lesesälen, Büchermagazin und Verwaltung. Der Bau wählt einen Mittelweg zwischen einer abstrakten Skulptur und der stilistischen Anpassung an die Umgebung der Forschungsstation Los Alamos.
In diesen Tagen wird Predocks neustes Werk, die Architekturschule von New Mexico, ein
geweiht: Die New School of Architecture and Planning UNM ist ein gemeinsames Werk von Antoine Predock und Jon Anderson. Der Bau will den Studierenden das Potenzial vermit
teln, das in guter Architektur und Raumgestaltung liegt, er soll Lehrstück sein für werdende
Architekten, Ansporn, es noch besser machen zu wollen. Die UNM ist landesweit die einzige Architekturschule direkt an der legendären Route 66.
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IDENTIFIKATION MIT DEM ORT Letztes Jahr durfte Predock für sein Gesamtwerk den AIA Gold Medal Award entgegenneh men, und In diesem Herbst wird er anlässlich der National-Design-Woche auch den Preis
des Smithsonian Cooper-Hewitt National Design Museum erhalten. 1980 bereits hatte die
Zeitschrift «Forbes» Antoine Predock als einen der Erneurer der amerikanischen Architek
tur aufgeführt, mit ihm damals I. M Pei, Philip Johnson, Ezra Ehrenkranz, Bennie Gonzales, Charles Moore, John Rauch, Oenise Scott Brown und Robert Venturi. Robert Venturi über
seinen Kollegen Predock: «Es ist genial und zeugt von grosser Kunst, wie Antoine sich mit dem Ort, wo er baut, identifiziert. Diese Qualität macht ihn zur Weltklasse.»
Das Werk von Antoine Predock passt in kein Schema und keine Schule. Er ist Einzelgänger, ohne Paten und Sponsoren. Gerade diese Stellung macht ihn in Amerika so populär. Dem
Betrachter in Europa sind wohl das Hotel Santa Fe bei Paris, das Projekt für den Amerika
nischen Pavillon an der Weltausstellung in Sevilla oder jenes für das Dänische Nationalarchiv bekannt - im Übrigen muss ihn Europa aber noch entdecken. Dominic Marti, dipl. Arch. ETH/SIA, damar@muri-be.ch Literatur:
Antaine Predack: Architect (val. 4). Hg.: Brad Callins. 256 S. Rizzali, 2006. ISBN 13978-
0-B478-2849-4. Online-Zeitschrift Architectural Recard, Ausgabe 6/2006, http://archrecord. constructian.com/features/ aiaAwards/06gold.asp
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Dennis Meadows,
Die Grenzen des Wachstums, Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Technologie und die Grenzen des Wachstums,
Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1972, S.116-120.�
„Zu welchem Endziel führt der technische Fortschritt die Menschheit? In welchem Zustand wird sie sich befinden, wenn der Prozeß zu Ende ist?“ John Stuart Mill, 1857
Die Geschichte der Menschheit kennt viele Fälle fehlerhaften Verhaltens bei dem Versuch, im
Rahmen der naturgegebenen Grenzen zu leben. Dennoch ist heute der Erfolg beim Überwinden gesetzter Grenzen traditionelles kulturelles Leitziel vieler führender Persönlichkeiten. Während der letzten drei Jahrhunderte war der Mensch erfolgreich bemüht, serienweise durch technische Neuerungen die ehemals dem Wachstum von Bevölkerung und Wirtschaft gesetzten Grenzen
zu durchbrechen. Ein großer Teil der Menschheit hatte so in der jüngsten Geschichte beständig Erfolge errungen, daß es nur natürlich scheint, wenn viele erwarten, daß der technologische Fortschritt die Grenzen bis ins Unendliche ausdehnen werde. Diese Leute blicken mit unerschütterlichem Vertrauen auf die Technik in die Zukunft:
»Wir sehen keine Grenzen, weder in der Beschaffung von Rohstoffen noch in der
Energieerzeugung, die nicht durch Veränderungen der Preisstruktur, durch Ersatzmaterialien, technischen Fortschritt und Kontrollmaßnahmen der Umweltverschmutzung überwunden
werden könnten. Bei der gegebenen Kapazität der Erde, Nahrungsmittel zu erzeugen, und
der Möglichkeit, zusätzliche Nährstoffe durch stärkeres Heranziehen moderner technischer
Methoden bereitzustellen, besitzt die menschliche Rasse eindeutig die Fähigkeit, den Hunger von der Erde in einem oder in zwei Jahrzehnten zu verbannen. Die menschliche Fähigkeit, reiche und unausschöpfliche Energiequellen zu beherrschen und noch weit mehr mit einer geringeren Beanspruchung des Wassers, der Luft und mit den Mitteln der Raumfahrt zu erreichen, haben erwiesen, daß die Lehre von Malthus falsch war. Weitreichender
physikalischer und wirtschaftlicher Fortschritt kann nun innerhalb eines Vierteljahrhunderts erreicht werden.
Lassen sich diese Äußerungen mit den aufgezeigten Grenzen des Wachstums in Einklang
bringen? Können neue technische Entwicklungen die Tendenz unseres Weltsystems, bis zum 61
Zusammenbruch weiterzuwachsen, verändern? Ehe man derartigen optimistischen Ansichten über eine Zukunft auf der Grundlage technischer Lösungen entstehende Probleme zustimmt oder sie ablehnt, sollte man Genaueres über die globale Wirkung neuer technologischer
Entwicklungen über kürzere und längere Zeitabstände und über jeden der grundlegenden Faktoren im System aus Bevölkerung und Kapital wissen.
TECHNOLOGIE IM WELTMODELL In unserem Weltmodell gibt es keine variable Größe Technik oder Technologie. Wir sahen keine Möglichkeit, die dynamischen Wirkungen technologischer Entwicklungen generell
zu formulieren und festzulegen, da die verschiedenen Entwicklungen in sehr verschiedenen Sektoren des Modells entstehen und auch sehr verschiedenartig wirken.
Technologische Entwicklungen sind die Anti-Baby-Pille, besonders-ertragreiche Feldfrüchte, das Farbfernsehen und Erdölbohrtürme in tiefen Küstengewässern. Sie alle verändern in verschiedenartiger Form das Verhalten des Weltmodells. Deshalb mußte jede technisch
mögliche Entwicklung gesondert in das Modell aufgenommen werden, wobei sehr sorgfältig abzuwägen war, wie sie die getroffenen und sich ergebenden Annahmen beeinflussen
können. Wir veranschaulichen diese Vorgänge anhand einiger Beispiele für weltweite Langzeitwirkungen.
ENERGIE UND ROHSTOFFE Die Technik der Energiefreisetzung durch gesteuerte Kernspaltung hat bereits die Grenzen, die durch die beschränkten Vorräte an natürlichen Brennstoffen gesetzt sind, erweitert. Es
ist auch möglich, daß die Entwicklung Schneller Brüter und vielleicht sogar von FusionsKernkraftwerken die Nutzungsdauer spaltbarer Substanzen wie etwa Uran beträchtlich erhöht. Bedeutet das nun, daß der Mensch reiche und unerschöpfliche Energiequellen
beherrscht? Welche Auswirkung hat die ständig zunehmende Nutzung von Kernenergie auf die Rohstoffvorräte?
Einige Experten sind der Ansicht, große Energiemengen würden es ermöglichen, bisher nicht zugängliche Rohstoffe zu entdecken und nutzbar zu machen, zum Beispiel Materialien vom
Grund der Ozeane, magere Erze, sogar normales Gestein zu verarbeiten und aus dem Abfall die Metalle zurückzugewinnen. Dieser Glaube ist zwar weit verbreitet, aber keineswegs allgemein anerkannt, wie die Ausführungen des Geologen Thomas Lovering darlegen: 62
»Billige Energie würde faktisch die Unkosten bei der Rohstoffgewinnung aus Gestein kaum senken. Die enormen Mengen unbrauchbaren Abfalls, die pro Einheit Metall aus normalem Granit gewonnen werden (bestenfalls 2000 Einheiten Abfall auf 1 Einheit Metall), sind im
Planungsbüro theoretisch leichter zu beseitigen als im Gelände. Zur Metallgewinnung muß der Fels abgesprengt werden, man muß ihn brechen und mahlen und mit speziellen chemischen
Lösungsmitteln für die Metalle flotieren. Vorkehrungen müssen getroffen werden, damit von den Lösungsmitteln nichts verlorengeht und Grund- wie Oberflächenwasser nicht verseucht
werden. Kernenergie kann diese Maßnahmen nicht erleichtern. Wir wollen jedoch annehmen, daß die Optimisten unter den Technologen recht haben und die Kernenergie die Rohstoffpro
bleme auf dieser Erde lösen kann. Das Ergebnis dieser Annahme zeigt Abbildung 37. Wie bei Abbildung 36 haben wir die Menge der zur Verfügung stehenden Rohstoffe verdoppelt und
die Nutzung von wenig ergiebigen Erzen und den Abbau des Meeresbodens berücksichtigt. Außerdem haben wir die Annahme getroffen, ab 1975 führe die Wiedergewinnung von Rohstoffen aus Abfällen.
Um das Problem der zur Neige gehenden Rohstoffvorräte auszuschalten, wurde im Weltmodell simuliert, daß erstens mit Hilfe der Kernenergie vorhandene Vorräte doppelt so gut ausgenutzt
würden und daß zweitens mit Hilfe der Kernenergie die Wiederverwendung und Ersetzung der Rohstoffe möglich würden. Wenn in diesem System nur diese Veränderungen vorgenommen werden, wird das Bevölkerungswachstum durch steigende Umweltverschmutzung gestoppt
(siehe Abb. 36). dazu, daß man pro Einheit an Industrieprodukten nur noch ein Viertel der aus Lagerstätten gewonnenen Rohstoffmengen benötige. Diese beiden Annahmen sind sehr viel optimistischer, als sie der Wirklichkeit entsprechen.
Es kommt jetzt zu keiner Rohstoffverknappung mehr. Das Wachstum wird wie in Abbildung 36
durch eine recht plötzlich einsetzende Umweltverschmutzung gestoppt. Infolge der im Überfluß vorrätigen Rohstoffmengen steigt die Produktion der Industrie und an Nahrungsmitteln sowie der Grad der Dienstleistungen zunächst etwas weiter als in Abbildung 36. Die Bevölkerung
erreicht etwa dieselbe Maximalhöhe, aber fällt rascher und weiter ab: Die Katastrophe tritt noch verschärft auf.
Rohstoffe in unbeschränkten Mengen sind offensichtlich nicht geeignet, das Wachstum
im System unserer Erde aufrechtzuerhalten. Sie stimulieren zunächst die wirtschaftliche
Entwicklung, müssen aber mit Maßnahmen zur Verhinderung der Umweltverschmutzung kombiniert werden, wenn sie nicht zu einem Bevölkerungskollaps führen sollen.
63
Karl H. Metz,
Ursprünge der Zukunft, die Geschichte der Technik in der westlichen Zivilisation. Perspektiven: Nachhaltigkeit als technologisches Prinzip,
Paderborn: Ferdinand Schöningh GmbH &Co, 2006, S. 501-516.
DAS ENDE DES FOSSILEN ZEITALTERS Arbeit ist die materielle Dynamik des sozialen Daseins, die aus Stoffen für den Menschen
nutzbare Güter entstehen lässt. Je ungleichmäßiger dabei der Zugriff auf die energetischen Ressourcen ist, desto ausgeprägter ist das Hierarchiegefälle einer Gesellschaft. Weltbilder
entstehen daher im Kontext der Energiebedingungen. Der Zyklus als kosmologisches Bild deutet die Energiesituation von Kulturen mit langsamem Wachstum auf der Basis regene
rativer Energien, so wie der Begriff des Fortschritts als anthropozentrischer Geste erst mit der Industrialisierung der Energie inhaltlich geworden ist. Die Industrialisierung erzeugt Energie
nicht nur massenweise, sie macht sie auch mobil durch ein Netzwerk der Verteilung, durch die Umwandlung der Energieformen. Denn der zweifache Knoten einer zyklischen Energienut zung bestand in der generellen Begrenztheit wie schwankenden Verfügbarkeit von Energie
ebenso wie in der äußersten Schwierigkeit, sie zu transportieren. Die Knappheit an Energie
war daher für die Alte Gesellschaft ebenso kennzeichnend wie die an Nahrungsmitteln: Die drehbare Finalität fossiler Brennstoffe hingegen sprengte den Zyklus: ein BewusstseinsEreignis nicht minder als eines der materiellen Bedingungen.
Doch diese Drehbarkeit, d.h. die Substituierbarkeit zu Ende gehender Ressourcen, beseitigte nicht das Problem endlicher Erschöpfbarkeit nicht erneuerbarer Stoffe. Es ist bezeichnend, dass seit der zunehmenden Nutzung der Kohle als Energieträger ständig Bedenken laut wurden, die verfügbaren Lagerstätten könnten in absehbarer Zeit erschöpft sein. Im
Gegensatz zur lange beherrschenden alchimistischen Auffassung, wonach Mineralien und
Metalle nachwachsen würden, zeigte die Erfahrung des Bergbaus, dass Mineralien Vorräten vergleichbar waren, die durch Nutzung aufgebraucht wurden. Nicht zufällig wurden solche
Warnungen zuerst in Großbritannien geäußert, wo die Kohle erstmals zu einer wesentlichen
Energiequelle geworden war. So mahnte bereits 1789 der schottische Geologe John Williams, ein zu rascher Abbau dieser endlichen Ressourcen bedrohe das Land mit wirtschaftlichem 64
Kollaps. Doch erst in den 1830er Jahren gewann das Argument öffentliche Aufmerksamkeit, als sich das Industriesystem durch zu setzen begann. Das System verzehrte sozusagen in seinem Wachstum zugleich seine Voraussetzungen. Der englische Nationalökonom W.S. Jevons zog 1865 daraus die Konsequenz, dass die industrielle Zivilisation lediglich eine
kurze Zwischenphase der menschlichen Kulturgeschichte darstellte. Es gebe „Grenzen des
Wachstums«, die zwar verschiebbar, nicht aber überwindbar seien. Der Verzicht Kohleexporte und der Import von Energie, Verbesserungen des Wirkungsgrades und vor allem eine
Erhöhung des Energiepreises konnten hilfreich sein. Allerdings wies Jevons am Beispiel der
Dampfmaschinen nach, dass die verbesserten Wirkungsgraden die Nachfrage nach Dampfkraft gestiegen war und also der Gesamtverbrauch an Kohle. Alternativen sah er nicht, hielt er doch das Erdöl als eben entdeckte Ressource für noch begrenzter als die Kohle. Eine Ersetzung der Kohle durch den nachwachsenden Rohstoff Holz war unmöglich, da bereits zu seiner Zeit
hierfür das Zweieinhalbfache der ganzen Landfläche Großbritanniens nötig gewesen wäre.
Am Ende des Fortschritts drohte der Absturz, denn weder die rapide gewachsene Bevölkerung noch der rapide gewachsene Lebensstandard waren ohne massenhaften Verbrauch fossiler Energie zu erhalten.
Für die liberale Wirtschaftslehre bedeutete dies eine Provokation, da hier das regulierende Spiel der Marktkräfte zu versagen schien, wenn es nicht gar den Absturz noch beschleunigte. Doch eine durch die Elektrizität ermöglichte neuerliche Nutzung der Wasserkraft, die Erschließung immer größerer Erdölvorräte in nahezu allen Weltteilen, die Atomenergie schließlich als
Vision »endloser« Energie realisierten den technologischen Optimismus für ein weiteres Jahrhundert, an dessen Ende erneut die Frage nach den Grenzen des Wachstums linearer Energiegesellschaften steht.
Zwei Antworten sind verfügbar und zwei Weltbilder. Die eine, wie sie etwa von dem Kernphysiker Edward Teller gegeben worden ist (1979), setzt auf eine Vielfalt der
Energieträger, von der Kohle über Kernenergie bis zur Kernfusion, mit den regenerativen
Energiequellen als unwesentlichen Ergänzungen. Die Sicherung der industriellen Zivilisation in ihrer politischen Gestalt einer kapitalistischen Demokratie gilt dabei als Ziel.
Die andere Antwort, wie sie z.B. von E.F. Schumacher im selben Jahr vorgetragen wurde, fordert hingegen das Ende des Industriesystems und den Beginn eines zweiten, allerdings hoch technisierten »Solarzeitalters« als Bedingung für die Abwendung einer ansonsten
unabwendbaren Katastrophe. Das Industriesystem mit seiner Massenproduktion und seinen Großstädten ist ein System der Konzentration und es gründet auf der Konzentration von
Energie. Eine Technik der Solarenergie hingegen zielt auf die Nutzung diffuser, über weite
Flächen verteilter Energie, die nicht willkürlich und in beliebigen Mengen abrufbar ist und
eher geeignet, kleine Einheiten von Verbrauchern zu versorgen. Die anthropozentrische Geste 65
beliebiger Naturverfügung, wie sie sich mit der Abrufbarkeit hochkonzentrierter Energien
verbindet, versagt hier. Eine Ethik der Bescheidenheit in der Minderung des Verbrauchs auf Grundbedürfnisse, die Aufwertung der Arbeit als wesentliche Tätigkeit, die Abkehr vom
Leitbild der Produktivität und die Rückkehr zu vorspezialisierten Tätigkeiten, zur »ganzen« Arbeit in dezentraler Kleinproduktion auf der Basis genossenschaftlicher Selbstverwaltung:
das ist das Ziel. Es erinnert an frühsozialistische Utopien aus der Zeit, als das Industriesystem die lebendige Arbeit proletarisierte, gegen den erbitterten Widerstand der Kleinhandwerker. Transformiert wurde dieser Widerstand in eine Apologie der Industrie über die immer
umfassendere Entlastung der Muskelanstrengung durch fossil betriebene Motoren und die damit ermöglichte verteilbare Massenproduktion.
Ein neues Verständnis von »Nachhaltigkeit« wird erforderlich: Hatte »Nachhaltigkeit« in
einer Ökonomie des knappen Überlebens das Anlegen von Vorräten für Notzeiten bedeutet
und seit dem 18. Jahrhundert, als die expandierende Wirtschaft die Energieressource Holz mit Erschöpfung zu bedrohen schien, den Grundsatz begründet, nur soviel Wald abzuholzen, als
nachwachsen konnte, so wird im anbrechenden postfossilen Zeitalter die »Nachhaltigkeit« zur Maxime knapper Nutzung begrenzter Vorräte und zum - zumindest teilweisen - Übergang zu erneuerbaren Ressourcen. In einem solcherart erreichten »sustainable development« sollen,
wie es 1992 auf der Umweltkonferenz von Rio de Janeiro als Leitbild für das 21. Jahrhundert
formuliert worden ist, die Bedürfnisse auch der künftigen Generationen berücksichtigt werden, wie bereits in der Holzökonomik des Hochmittelalters.
REGENERATIVE ENERGIEN: WIND Die Energieversorgung des neuen Jahrhunderts wird eine pluralistische sein: Weil nur so
der Übergang zu neuen Energiequellen möglich ist, aber auch, weil nur so ein hohes Maß an stetigem Energiefluss erreichbar bleibt. Während die Kraft des fließenden Wassers
weitgehend ausgenutzt worden ist und in einigen Ländern mit günstigen geographischen
Bedingungen, wie in Schweden mit 45 Prozent oder in Österreich mit 71,9 Prozent, wesentlich zur Stromerzeugung beiträgt, befinden sich die anderen regenerativen Energiequellen:
Wind, Biomasse, Solarkraft, noch in den Anfangsstadien. Am fortgeschrittensten ist die Windtechnologie, die, wie vorher die elektrische Nutzung des strömenden Wassers, an
die Energietechnik der Alten Gesellschaft anschließt und einem bereits abgeschriebenen Energieträger neue Bedeutung zukommen lässt.
Dabei zeigt sich, dass der ökologische Gedanke durchaus uneinheitlich ist, denn das Prinzip
regenerativer Energie steht gegen die Idee des Naturschutzes. Die Verbauung auch der letzten 66
Wildgewässer, die Bestückung der Landschaft mit Windrädern führt die Technisierung der
Natur, ihre Zurichtung als Ressource, in ein weiteres Extrem. Zudem sind die gewinnbaren Energien beschränkt. In Deutschland etwa würde ein weiterer Ausbau den Anteil der
Wasserkraft an der Stromerzeugung von 4,8 Prozent um knapp zwei Prozent erhöhen, das
entspräche der Leistung zweier Wärmekraftwerke. Nur 10 Prozent der deutschen Flussläufe sind nach einem Jahrhundert des hydroelektrischen Ausbaus noch in naturnahem Zustand
und also Schutzräume für Tier- und Pflanzenwelt. Das Ziel der deutschen Regierung etwa, bis zum Jahr 2020 den Anteil regenerativer Energien am Primären ergieverbrauch auf 14
Prozent zu steigern, bis 2050 sogar auf 50 Prozent, bei gleichzeitiger drastischer Verminderung klimaschädlicher Emissionen und bei Verzicht auf die weitere Nutzung der Kernkraft, bleibt mit der Wasserkraft unerreichbar.
Hingegen ist das Potential der Windkraft, das mit der Industrialisierung völlig aufgegeben wurde, weithin ungenutzt. Gab es doch um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland
neben den 30.000 Wassermühlen immerhin rund 20.000 Windmühlen. Dass das Potential der Windkraft zur Stromerzeugung vor allem in den Küstengebieten beträchtlich ist, zeigt das
Beispiel Dänemarks, des Pioniers der Windenergie, das 1998 bereits 8 Prozent des Stroms
auf diese Weise erzeugte und bis 2030 einen Anteil von 50 Prozent anstrebt. In Deutschland wurde 1998 erstmals die Marke von 1 Prozent überschritten (mit 6113 Megawatt Leistung, zum Vergleich: USA mit 2554 Megawatt) und Prognosen sprechen von einem Windanteil
von einem Drittel an der nationalen Stromerzeugung als langfristig erreichbar. Rotoren, die
aus Faserverbundwerkstoffen gefertigt und in ihrer Form nach aerodynamischen Prinzipien
entworfen worden sind und elektronisch gesteuert werden, zudem im Verbundnetz mit anderen Energieträgern stehen, transformieren das alte technische Prinzip der Windnutzung in die
Hochtechn0logie des 21.Jahrhunderts. Auf diese Weise war es möglich, in wenigen Jahren
den Stromertrag pro Rotorenfläche zu verdoppeln und zugleich die zur Herstellung der Anlage nötigen Energiemengen innerhalb weniger Monate zurück zu gewinnen.
Allerdings bleiben das Problem konstanter Energieleistung oder gar die Steuerung der
Energieabgabe entsprechend der veränderlichen Nachfrage weiter ungelöst. Hier könnte allein eine wirkungsvolle Technik der Speicherung von Energie weiter helfen, insbesondere als
direkte Herstellung von Wasserstoff oder auch durch eine neue Pressluft-Technologie, bei der mit überschüssiger Elektrizität Pressluft in unterirdischen Höhlen gespeichert und dann bei
steigender Nachfrage durch Turbinen abgelassen wird, die Generatoren treiben. Dennoch bleibt das Problem der Grundlast-Versorgung ohne konventionelle Kraftwerke unlösbar.
Die Windkraft erzielt die günstigste Energiebilanz aller erneuerbaren Energiesysteme und
auch in der finanziell bilanzierten Wirtschaftlichkeit liegen die anderen weit hinter ihr, die Wasserkraft ausgenommen. Das gilt insbesondere für die Solartechnik. Während sich die
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fossilen Energien unter Marktbedingungen durchsetzten, bleiben alternative Energien ohne staatliche Förderung chancenlos, solange auf dem Markt Energie zu deutlich geringeren Preisen angeboten wird. Paradoxerweise war es die Kernkraft, zu deren Förderung aus
politischen Gründen der Staat in vielen kapitalistischen Ländern erstmals massiv in den
Energiemarkt eingegriffen hat, so wie es dann die um sich greifende Kritik der Kernkraft
gewesen ist, die zur staatlichen Förderung regenerativer Energien führte. Damit einher ging
eine neue Form der Bilanzierung von Energiekosten über den Marktpreis hinaus, bei der die externen Kosten, die Belastungen von Umwelt und Gesundheit also, in die Kostenrechnung
einbezogen werden sollen. Modellrechnungen für Westeuropa (1997) zeigen, dass die externen Kosten bei Kohlekraftwerken etwa zehnmal so hoch sind wie bei Atom- und Gaskraftwerken, dass aber diese Kosten bei der Windenergie zu vernachlässigen sind.
Die Überfülle an billiger Energie, wie sie deren Industrialisierung mit sich gebracht hat,
gründet demnach auf der Vernachlässigung solcher Kosten und sie gründet weiterhin auf der
Vernutzung nicht erneuerbarer Ressourcen. Auch hier funktioniert der Markt nur unvollständig, weil sein enger Zeithorizont dem Problem finaler Ressourcen nicht entsprechen kann, weil
er die Interessen späterer Generationen nicht in der Preisbildung zu berücksichtigen vermag. Zudem würde eine fossilenergetische Entwicklung von Schwellenländern wie China oder Indien bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts zum Kollaps der meisten Ressourcen und zu unvorhersehbaren Klimazuständen führen.
Die Energiestruktur, auf der die wirtschaftliche Entwicklung basiert, muss demnach
grundlegend verändert werden: Vernetzung unterschiedlicher Energieträger zum Ausgleich von Leistungsschwankungen, Energiesparen durch Passivhäuser, Fahrzeuge mit geringem
Kraftstoffverbrauch, intelligente Steuerung energienutzender Geräte durch Mikroprozessoren sowie eben die Pluralität von Energieträgern, wären dann die Antworten.
REGENERATIVE ENERGIEN: SOLARTECHNIK Solartechnik und Brennstoffzellen bilden dabei die zentralen Momente beim Übergang in
eine nachhaltige Wirtschaftsweise, die über lange Zeiträume aufrecht erhalten werden kann,
ohne die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen durch Erschöpfung der Ressourcen und
Klimaveränderung als Folge extremer Emissionen von Kohlendioxid zu bedrohen. Schätzungen sehen Einsparungsmöglichkeiten von 70 Prozent bei der Heizung, 40 Prozent beim Strom und 50 Prozent beim Verkehr als möglich an, massive Investitionen vorausgesetzt, und, im Falle
des Verkehrs, durch den Abbau individueller Mobilität. Dennoch ist mit einer Verdoppelung
der Energiepreise zu rechnen. Im nachfossilen Zeitalter wird Energie wieder zu dem, was es 68
vor ihm gewesen ist: Eine begrenzte, kostbare Ressource, die allerdings nicht mehr an jene
Grenzen stoßen muss, an denen Knappheit Not und Hunger assoziiert. Die Technik macht den Unterschied.
Eine passive Nutzung der Sonneneinstrahlung nun ist in den mittelmeerischen Ländern,
in denen es schon früh an Brennholz mangelte, bereits in der Antike üblich gewesen. Die solare Architektur versuchte durch Ausnutzung des Sonnenstandes in den verschiedenen
Jahreszeiten über die Bauform und die Ausrichtung des Gebäudes im Winter ein Höchstmaß, im Sommer ein Mindestmaß an Wärmeeinstrahlung zu erreichen. Die Römer nutzten
dann das von ihnen erfundene, mit einem Roller ausgewalzte Flachglas (ca. 50 n.Chr.) zur
Fertigung von Fensterscheiben und Glashäusern. Die Konzentration von Sonnenstrahlen durch Spiegelreflektoren war bereits im 3. Jahrhundert v. Chr. den Griechen bekannt, die damit
Feuer entzündeten und mit Archimedes solche Spiegel auch als Waffe eingesetzt haben sollen.
Heran von Alexandria experimentierte mit einer Vorrichtung, bei der durch Sonneneinstrahlung in einer Kugel erhitzte Luft expandierte und Wasser aus der Kugel herauspresste. In der
Renaissance nahm Leonardo diese Überlegungen wieder auf, so in seinen Skizzen zur Nutzung von Parabolspiegeln für die Erhitzung von Wasser (1515).
In den folgenden jahrhunderten wurden solche Gedanken mehrfach erörtert. Erste praktische Ergebnisse des neuen Interesses an der direkten Nutzung der Sonne zeigten sich im
zunehmenden Bau von Gewächshäusern, zuerst in Flandern, zur Zucht tropischer Pflanzen,
wobei das gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich entwickelte Verfahren zur seriellen Herstellung von geschliffenem Flachglas die materielle Basis lieferte. Das klare Glas lässt
die Sonneneinstrahlung als Wärme einfallen und verhindert gleichzeitig dessen Ausstrahlung. Erste werkzeughafte Vorrichtungen zur Sonnennutzung konstruierten dann im späteren 18.
jahrhundert Horace de Saussure, der mit drei separaten Glasscheiben vor einem schwarzen Holzkasten Wasser zum Sieden brachte, und Peter Hoesen aus Dresden, der mit einem Brennspiegel aus Messingplatten Metalle zum Schmelzen bringen konnte. Die fossile Energierevolution der Industrialisierung ließ jedoch Versuche dieser Art als überholt erscheinen, bis die in den sechziger Jahren aufkommende Besorgnis einer baldigen
Erschöpfung der Kohlevorräte, wie ganz speziell der Mangel an größeren Kohlevorkommen in Frankreich, solaren Konstruktionen wieder eine gewisse Bedeutsamkeit zukommen ließ.
1861 erhielt der Mathematiklehrer Augustin Mouchot das Patent für den ersten Sonnenmotor. Dieser verband die bislang separaten Grundlinien des Brennspiegels und des Kollektors zu
einem neuartigen Gerät: Ein Spiegel konzentriert die Sonnenstrahlen auf einen geschwärzten Kupferzylinder mit Wasser. Der dabei entstehende Dampfwird in eine Dampfmaschine
eingeleitet. Die von der französischen Regierung finanzierten Entwicklungsarbeiten führten
1874 zur ersten praktisch nutzbaren Solardampfmaschine, sechs mal sechs Meter groß und mit 69
einer Leistung von einem halben PS: Wenig Leistung bei großen Ausmaßen.
1877 baute Mouchot im damals energiearmen Algerien einen Sonnenmotor als Pumpenantrieb, 1878 stellte er eine verbesserte Konstruktion auf der Pariser Weltausstellung vor: In der Mitte
eines trichterförmigen Reflektors, der nach der Sonne ausgerichtet werden konnte, befand sich
ein wassergefüllter Kollektor, mit dessen Dampf Maschinen betrieben werden konnten, z.B. ein Kühlschrank, später eine Druckerpresse. In den USA konstruierte der Ingenieur John Ericsson zu Beginn der siebziger Jahre ebenfalls einen Sonnenmotor aus Spiegelreflektor, Boiler und
Dampfmaschine sowie einen sonnenenergetisch betriebenen Heißluftmotor, in dem der Kolben durch die abwechselnde Zuführung von heißer und kalter Luft in den Zylinder bewegt wird.
Letztlich jedoch blieben all diese Geräte folgenlos. Die Sonneneinstrahlung war allein bei Tag und auch dann nur in jahreszeitlichen Schwankungen verfügbar, der Energieertrag blieb bei hohem apparativem Aufwand und hohen Kosten gering.
Eine Vorrichtung musste gefunden werden, die mit niedrigeren Temperaturen zu betreiben war, wozu einfache Kollektoren genügten, die auch ohne stete Ausrichtung nach dem Sonnenstand und auch bei wolkigem Himmel Energie zu liefern vermochte. Der französische Ingenieur
Charles Tellier nutzte seine Erfahrungen in der Entwicklung der Kältetechnik und entwarf eine Kollektorenanlage aus zwei Platten mit röhrenähnlichen Rillen, in denen flüssiges Ammoniak
floss, das in der Hitze verdampfte und mit seinem Expansionsdruck eine Pumpe in Bewegung
setzte, um dann in einem Kondensator erneut verflüssigt und in die Kollektoren zurück geführt zu werden. Gedacht war diese Vorrichtung zur Energieerzeugung in tropischen Kolonien. Telliers 1890 veröffentlichte Abhandlung begründete mit Mouchots Veröffentlichungen die Theorie der Solarenergie. 1904 nahm man im amerikanischen St. Louis das erste Solarkraftwerk der Welt in Betrieb, das auf Telliers Vorschlägen beruhte.
Die Vorstellung eines nahenden Endes fossiler Ressourcen beflügelte auch Frank Schumann, einen Deutschamerikaner, der 1912 mit britischem Kapital in Ägypten das bis dahin größte
Sonnenkraftwerk errichtete. Zwischen einer Glasschicht und einer schwarzen Bodenschicht lagerten Röhren, die mit Wasser gefüllt waren, das erhitzt und verdampft wurde und einen eigens für Niederdruck- Dampf entwickelten Motor bewegte, mit dem Pumpen getrieben
werden sollten. Spiegelkollektoren und ein Nachtspeicher mit Heißwasser vervollständigten die Anlage, die bei einer Gesamtleistung von 55 PS und einem Flächenverbrauch von 180
qm pro PS zwar technisch funktionierte,jedoch nach 1918 zugunsten des im Nahen Osten in großen Mengen entdeckten Erdöls aufgegeben worden ist.
Erfolgversprechender erschien die Nutzung der Sonnenwärme für die Erzeugung von
Heißwasser. Vor allem die 1909 von W. Bailey in Kalifornien konstruierte Vorrichtung
bewährte sich, in der eine Röhrenschlange zwischen einer schwarzen Grundplatte und einer Glasschicht angebracht war. Die erhitzte Flüssigkeit, eine nicht frierende Mischung aus 70
Wasser und Alkohol, wurde in Röhren durch einen Wassertank geleitet, gab dabei Wärme ab und floss dann zu den Kollektoren auf dem Dach zurück. Das System Baileys ließ sich auch zu Heizzwecken nutzen. Seit 1938 gab es zudem am MIT ein Programm zur Entwicklung von »Solarhäusern«, die ausschließlich von Sonnenenergie geheizt werden sollten und
Sonnenkollektoren, Doppelglasscheiben und »heliotropische« Bauweise zu einer Einheit
fügten. Die Erschließung großer Erdgasvorkommen in Kalifornien, niedrige Öl- und Strom preise führten allerdings bereits in den dreißiger Jahren zum Verschwinden der Relevanz
alternativer Energien. 1941 wurde Baileys Firma, der erste größere Betrieb der Solartechnik, aufgelöst.
Mit dem Siegeszug der Elektrizität, gegründet auf konventionellen Wärmekraftwerken, dann auch auf der Kernkraft, verschwand das ohnehin geringe Interesse an der Solarenergie, die
nun endgültig als überholt erschien. Immerhin hatte bereits 1839 der französische Physiker
Edmond Becquerel mit seiner Entdeckung des photovoltaischen bzw. lichtelektrischen Effekts das technische Bindeglied zwischen Sonneneinstrahlung und Elektrizitätserzeugung fixiert:
Zwischen zwei zuvor in eine Säurelösung getauchten Elektroden kam es zu einem Stromfluss, wenn eine davon dem Licht ausgesetzt wurde. 1887 stellte H. Hertz fest, dass zwischen zwei Elektroden eines Funkinduktors der elektrische Funke leichter übersprang, wenn eine Elekt
rode mit ultraviolettem Licht angestrahlt wurde. Sein Schüler Hallwachs schließlich bemerkte, dass eine mit ultraviolettem Licht bestrahlte Zinkplatte einen schwachen Strom erzeugte.
Dieser Effekt war mit der Wellentheorie des Lichtes, wie sie 1865 von James C. Maxwell
entwickelt worden war, unvereinbar. Erst A. Einstein lieferte dann die physikalische Erklärung, indem er der Deutung des Lichts als elektromagnetischer Schwingung die Auffassung zur
Seite stellte, Licht könne auch als Abfolge energiereicher Teilchen, der Photonen, verstanden
werden. Treffen diese auf einen Stoff, lösen sie in ihm Elektronen aus ihrer atomaren Bindung. Es entsteht eine elektrische Ladung, die abgenommen werden kann.
Ein zweiter Entwicklungsstrang kam hinzu: Die Entdeckung der Halbleiter. 1873 hatte
der englische Ingenieur Willoughly bemerkt, dass Selen bei Änderungen der einfallenden
Helligkeit seinen elektrischen Widerstand verändert. Als Fotozelle verwandt fanden solche
Halbleiter dann in Belichtungsmessern, in Nipkowschen Fernsehgeräten, zur Steuerung von
Lichtschranken und zum Abtasten der Tonlichtspur auf Filmstreifen und deren Umwandlung
in Töne vielfach Verwendung, doch da ihre Fähigkeit, Licht in Strom um zu wandeln, bei unter einem Prozent lag, blieb eine Energienutzung außer Betracht.
Das änderte sich erst, als drei Wissenschaftler der Bell Laboratories, Darryl Chapin, Calvin Fuller und Gordon Pearson, 1954 feststellten, dass ein dünnes Siliziumplättchen, das mit einer noch dünneren, mit Bor versetzten Siliziumschicht verbunden war, Sonnenlicht in
Elektrizität umwandelte. Mit der Entdeckung der gezielten »Dotierung«, d.h. der Zuführung 71
geringer Mengen bestimmter Materialien in den reinen Halbleiter, lässt sich der Wirkungsgrad wesentlich steigern, auf vier, dann 6 Prozent bereits bei den ersten Solarzellen des Jahres 1954. Bringt man die beiden Schichten zusammen und setzt man sie dem Licht aus, so
verursachen die auftreffenden Photonen einen Uberschuss bzw. Mangel in den entsprechenden Schichten. Da die Kontaktfläche zwischen der negativen und der positiven Halbleiterschicht
als Sperre wirkt, kommt es zu keinem Ausgleich der unterschiedlichen elektrischen Ladungen. Verbindet man sie hingegen mit Kontakten, kann der Ausgleich der Ladungen als Gleichstrom abgenommen werden.
Technologisch war damit das Problem der Umwandlung von Sonnen- in elektrische Energie
gelöst, nicht jedoch ökonomisch. Eine erste praktische Anwendung fand die Solartechnik fÜr die Stromversorgung eines ländlichen Telefonnetzes, und eben die Suche nach einer solchen
alternativen Stromquelle für Telefonverbindungen in abgelegenen Landstrichen hatte die Ex
perimente mit Halbleitern bei Bell ausgelöst. Doch die Kosten der Herstellung reinen Siliziums waren so hoch, dass die neue Erfindung nicht mehr zu sein schien als eine interessante
Erweiterung des Grundlagenwissens, hätte nicht die seit den späten fünfziger Jahren sich
schubartig entwickelnde Raumfahrt in den Solarzellen die ideale Energiequelle zur Versorgung von Satelliten und Raumgefahrten erkannt.
Im März 1958 starteten die USA mit „Vanguard I“ den ersten Satelliten mit einer solaren
Energieversorgung. In der Raumfahrt wirkten die beiden Effekte des Siliziums, nämlich einmal einfallendes Licht in eine Elektronenbewegung um zu setzen, andererseits eine Riesenzahl von Transistoren auf zu nehmen, in entscheidender Weise zusammen. Für Hans Ziegler,
der als Mitarbeiter Wernher von Brauns die Solartechnik für Satelliten entwickelte, war die
Solarenergie bereits damals die Energiequelle der Zukunft, auch wenn angesichts der hohen Preise für Solarzellen solche Prognosen noch absurd erschienen. Durch die Nachfrage nach
Solarzellen infolge der Raumfahrtprogramme entstand dann die erste industrielle Produktion solcher Zellen.
Mit der Ölkrise von 1973 und der damit einsetzenden Diskussion um eine Verringerung der Energieabhängigkeit der Industriestaaten begann dann auch die Photovoltaik als mögliche
Energiequelle für die Gesellschaft Beachtung zu finden. Bei ausführlichen Untersuchungen verschiedener Halbleitermaterialien erwies sich Silizium sowohl in wirtschaftlicher wie
technischer Hinsicht als das geeignetste Material. Eine Steigerung der Wirkungsgrade auf 10
bis 15 Prozent, bei hochreinen, einkristallinen Siliziumzellen bis zu 25 Prozent, bei komplexen Vielschichtzellen aus verschiedenen Halbleitern bis zu 40 Prozent, sowie eine drastische
Verminderung der Dicke der Silizium-Scheiben von 0,45 mm auf 0,2 mm binnen 20 Jahren erlaubten es, Energieaufwand wie Produktionskosten nachhaltig zu senken.
Doch bleibt der Energieaufwand hoch, höher als bei anderen alternativen Energiesystemen, 72
weil etwa für die Herstellung hochreinen Halbleitermaterials aus Silizium Temperaturen von über 1000 Grad erforderlich sind. Liegt daher die energetische Amortisation bei
Sonnenkollektoren für Brauchwasser in Mitteleuropa zwischen 6 Monaten und 2 Jahren, so beträgt sie bei Solarzellen zwei bis sechs Jahre.
Noch schwieriger steht es um die Wirtschaftlichkeit der Solartechnik. Zwar würde eine die
Produktionskapazitäten durch Massennachfrage auslastende Herstellung den Energieaufwand
dritteln und die Preise massiv vermindern, doch selbst dann wären die niedrigen Energiepreise noch massenhaft verfügbarer fossiler Energieträger nicht erreichbar, wie sie um die Wende zum 21.Jahrhundert üblich waren. Steigende Preise als Folge einer Verknappung der
Primärenergien, wie vor allem beim Erdöl absehbar, und zugleich neue Techniken in der
Herstellung kostengünstigerer Solarzellen können jedoch die solare Stromerzeugung durchaus
wirtschaftlich werden lassen. Dünnschichtzellen, bei denen das Halbleitermaterial in Schichten von wenigen Mikrometern direkt auf Glas oder Metall aufgedampft wird, vermeiden den
EnergieaufWand der Herstellung und den Materialverlust beim Zerschneiden der kristallinen
Siliziumstämme zu dünnen Scheiben. Halbleiter-Legierungen oder Solarzellen aus Kunststoff als neue Materialbasis, Fertigung durch Roboter und serielle Produktion werden die Zukunft der Photovoltaik bestimmen und ihr den Aufstieg zu einem bedeutenden Energieträger
ermöglichen, von dem bis 2060 ein Anteil von 15 Prozent an der weltweiten Stromerzeugung für möglich gehalten wird. Jede Umstellung auf Solarenergie erfordert allerdings enorme Mengen an nicht erneuerbarer Energie und Rohstoffen (Eisenerz, Bauxit, Kupfer) zur
Herstellung entsprechender Vorrichtungen. Zudem wären große Bodenflächen erforderlich, et wa für 1,2 Mw rund 10.000 Quadratmeter.
REGENERATIVE ENERGIEN: BRENNSTOFFZELLEN Das faszinierendste Projekt im Kontext der Solarenergie jedoch ist die Wasserstoff-Technik. Das wesentliche Problem photovoltaisch erzeugten Stroms besteht bekanntlich darin, dass er nur phasenweise zur Verfügung steht. Dies könnte man ausgleichen, indem man den
bei Sonneneinstrahlung gewonnenen Strom für sonnenlose Phasen teilweise speichert. Bei größeren Strommengen stößt die Speichermöglichkeit von Batterien jedoch rasch an wirt
schaftliche Grenzen. Hier bietet die elektrolytische Umwandlung in Wasserstoff eine technische Alternative.
Das Prinzip der Elektrolyse wurde bereits 1807 von dem englischen Chemiker Humphrey
Davy erkannt: Da chemische Verbindungen offenkundig durch elektrische Kräfte zusammen gehalten werden, muss es auch möglich sein, sie auf elektrischem Wege zu zerlegen. Um
73
nun die Elektrolyse um zu kehren, d.h. eine Brennstoffzelle herzustellen, ist allerdings ein besonderer Elektrolyt erforderlich, damit die chemische Energie, die entsteht, wenn der
Kathode Sauerstoff, der Anode Wasserstoff zugeführt wird, sich nicht von selbst durch eine
Verbrennung entlädt, sondern als elektrische Spannung durch einen äußeren Stromkreis, der
die beiden Elektroden verbindet, abgenommen werden kann. Die Ionen, die den Elektrolyten jeweils durchwandert haben, verbinden sich mit den Ionen der anderen Elektrode zu Wasser, das abgeführt wird.
Die Konstruktion der ersten Brennstoffzelle gelang 1839 Sir William Grove: Wenn durch Energie die Bestandteile des Wassers getrennt werden konnten, dann musste durch deren
erneute Zusammenführung wieder Energie frei gesetzt werden. In der Tat entstand aus der Vermischung beider Gase das explosive „Knallgas«. Eine energetische Nutzung musste
die explosionsartige Verbrennung vermeiden. Dazu nutzte Grove ein Elektrolyt aus ver
dünnter Schwefelsäure, in das die bei den Elektroden, Platindrähte in Glasröhrchen, mit
ihrem unteren Ende eintauchten, während im oberen Teil des Röhrchens Wasserstoff bzw.
Sauerstoff gegeben wurde. Verband man beide, so entstand eine Spannung von einem Volt. Groves Apparatur, in der Hochzeit der Dampfmaschine entwickelt, blieb allerdings nur
eine Versuchsanordnung ohne praktische Bedeutung. Erst die schubartige Entwicklung der
Raumfahrt lenkte das technische Interesse auf die Brennstoffzelle, die in den Raumschiffen des amerikanischen ApolloProgramms den Strom lieferten und mit ihrem »Abfall« Trinkwasser
für die Astronauten. Die Verbindung von Photovoltaik und Elektrochemie in SolarWasserstoffAnlagen, wie der 1990 im bayerischen Neunburg gebauten, ergibt dann die Möglichkeit,
Sonnenenergie in Brennstoffzellen zu speichern, sei es, um Reserven für Schwankungen in
Angebot und Nachfrage nach Elektrizität zu bilden, sei es, um Fahrzeuge zu betreiben. Denn
eine nachhaltige Technologie vermag die Wasserstoff-Technik nur zu werden, wenn sie den zur
Herstellung des Wasserstoffs erforderlichen Strom aus erneuerbaren Quellen bezieht.Allerdings besitzt selbst verflüssigter Wasserstoff weniger als ein Drittel der Energiedichte von Benzin.
Im Kraftfahrzeugbereich erscheint jedoch an gesichts schwindender Erdölvorräte der Übergang zur Wasserstoff-Technik als unvermeidbar, sei es durch die Verbrennung von Wasserstoff in einem angepassten Otto-Motor, wie das der Auto-Hersteller BMW seit 1978 in einer Reihe
experimenteller Fahrzeuge versucht, sei es durch eigentliche Brennstoffzellen-Autos, in denen mehrere hundert Brennstoffzellen einen Elektromotor mit Strom versorgen, wie das Daimler,
Ford oder General Motors anstreben, zusammen mit der Lastwagen und Busse produzierenden MAN. Zwar liegt der Wirkungsgrad von Brennstoffzellen unter Laborbedingungen bei bis zu 70 Prozent, beim Antrieb von Fahrzeugen ist er mit angestrebten 30 Prozent nur um 5
Prozent über dem moderner Verbrennungsmotoren. Andererseits sind die technologischen
Fortschritte beim Bau von Brennstoffzellen beträchtlich. So konnte die von dem kanadischen 74
Physiker Geoffrey Ballard 1979 gegründete Firma, die erste weltw‘eit zur Entwicklung und Herstellung solcher Zellen, binnen zwölf Jahren die Leistungsdichte um das Zwanzigfache
erhöhen und zugleich das Einbauvolumen des Antriebs, der ursprünglich die Ladefläche eines
Kleinlastwagens benötigt hatte, so reduzieren, dass er in einen Pkw passt, ohne Platzverlust für die Fahrgäste.
Den entschiedensten Schritt hin zur Verwendung als Antriebsenergie würde jedoch ein
Feststoffspeicher für Wasserstoff bedeuten, bei dem Wasserstoff als Gas in ein poröses Material gepumpt werden würde, der nicht schwerer wäre als ein normaler Benzintank. Doch nicht nur als Fahrzeugantrieb wäre die Brennstoffzelle nutzbar. Ihre stationäre Verwendung als
Kraftwerk erscheint noch vielversprechender, weil der Zwang zur Miniaturisierung entfällt und die Energieausbeute besser ist, mit möglichen Wirkungsgraden von 80 Prozent und mehr, auch im Vergleich zu Großkraftwerken mit 35 Prozent Brennstoffausbeute, kann doch die Wärme,
die beim Betrieb von Zellen entsteht, für Heizzwecke genutzt werden. Solche Kleinkraftwerke könnten dezentral zur Heizung und Stromerzeugung eingesetzt werden, als kleine Block
kraftwerke für die Versorgung größerer Einheiten wie Wohnsiedlungen oder Geschäftszentren.
Für die Elektrizitätswirtschaft mit ihrer Tradition hoher Konzentration in Großkraftwerken und kapitalintensiver Uberlandleitungen wäre eine derartige Entwicklung nichts weniger als eine Revolution.
Die wichtigste Energiequelle des 21.Jahrhunderts, darin sind sich die Beobachter einig, muss das Energiesparen sein. Denn die Nachfrage nach Energie wird weltweit noch
zunehmen, von 14 Milliarden Steinkohleeinheiten (2000) auf 20 Milliarden (2001), als
Folge des wirtschaftlichen Wachstums der Schwellenländer und einer weiter steigenden
Weltbevölkerung. Wenn die Überwindung der Energiearmut durch die Technik das zentrale Moment der allgemeinen Überwindung von Armutsknappheit ist, wie sie die industrielle
Technik geleistet hat, so ist die Verhinderung ihrer Wiederkehr die Bedingung, die Wohlstand von Armut trennt. Eine solche Verhinderung ist nur durch technologische Weiterentwicklung möglich.
Betrachtet man die Erfolge in Optimierung und Miniaturisierung bei Photovoltaik und
Brennstoffzellen im Laufe der zwei Jahrzehnte vor der Wende zum 21. Jahrhundert und zielt man etwa die Parallele zur Entwicklung der Computer von den Großrechenanlagen zum
Personalcomputer binnen zweier Jahrzehnte als möglicher technischer Zukunft, so erweisen sich diese neuen Energiekonzepte durchaus als mittelfristige Alternative. Der Einwand,
die Photovoltaik beanspruche zu große Flächen, relativiert sich, folgt man dem Argument, selbst in Deutschland ließe sich etwa 20 Prozent des Stroms auf diese Weise erzeugen,
sofern man dazu alle solartauglichen Hausdächer nutzen würde. Das eigentliche Problem
ist gesellschaftlicher und ökonomischer Art: Es liegt im Preis, denn um etwa ein Gigawatt 75
installierter Stromleistung auf Basis konventioneller Kraftwerke zu erzeugen, wären ein bis
zwei Milliarden Mark erforderlich, bei der Photovoltaik jedoch 15 bis 20 Milliarden (1997).
Ohne den Preis als Nutzungsschwelle bleibt Energie eine Wegwerf-Ressource wie die anderen
Güter des Massenkonsums auch. Eine Preisgestaltung, die über die kommerzielle Bilanzierung von Rohstoffen und Anlagekosten hinaus die Faktoren Natur, d.h. Naturverbrauch bzw. Um
weltverschmutzung, und Zukunft bzw. Nachhaltigkeit des Wirtschaftens in Hinblick auf spätere Generationen mit einbezieht, bildet die gesellschaftliche Voraussetzung einer energetischen Zukunft des Genug auch im neuen Jahrhundert.
Eine weitere, für die feuchteren Länder Mittel- und Nordeuropas relevante Energiequelle besteht auch in der organisierten Nutzung nachwachsender Rohstoffe, insbesondere von
Holz. Noch um 1900 wurde etwa in Deutschland ein Viertel des eingeschlagenen Holzes für Brennzwecke verwandt, doch mit der massenhaften Nutzung des Heizöls seit den sechziger
Jahren verlor das Holz seine Bedeutung als Energieträger, die es Jahrtausende lang besessen hatte: So wächst in den Wäldern etwa ein Viertel mehr nach, als benötigt wird. Zudem
gibt es vor allem im Pionierland energetischer Holznutzung, in Österreich, Versuche, in
»Energiewäldern« die Erzeugung von reinem Brennholz zu organisieren. Energiewälder sind
landwirtschaftliche Flächen, meist Grenzertragsböden, die mit rasch nachwachenden Gehölzen bebaut werden, vor allem Weiden, Erlen und Pappeln. Bei richtiger Verbrennung unter hohen
Temperaturen ist der Anteil giftiger Gase nahezu zu vernachlässigen, der Wirkungsgrad erreicht 80 bis 95 Prozent. Ähnliches gilt auch für die Holzvergasung bzw. Holzgasverbrennung. In
der Zeit des Zweiten Weltkriegs wurde Holzgas vielfach zum Motorenantrieb von Fahrzeugen benutzt, heute könnte man sich die energetische Nutzung von Holz neben der reinen
Wärmeerzeugung auch zur Stromherstellung bzw. zur Herstellung von Wasserstoff vorstellen.
Eindeutig ist jedenfalls, dass das Holz als regenerativer Energieträger ähnlich wie Wind, Wasser und Sonne erneut bedeutsam wird, soll das nachfossile Zeitalter Wirklichkeit werden.
76
TECHNOLOGIE: FUSIONSREAKTOR Technologisch ist neben den genannten Quellen erneuerbarer Energie der Fusionsreaktor
die große Perspektive, wenn es um die Verfügbarmachung großer Energiemengen bzw. die
Sicherung einer Grundlast-Stromversorgung anstelle konventioneller oder atomarer Kraftwerke geht. Auch hier bildet der im Prinzip unerschöpfliche Wasserstoff die Energiebasis. Bei der
Verschmelzung der Atomkerne dieses Elements zu Helium werden enorme Energiemengen
frei gesetzt, noch größere als bei der Spaltung von Urankernen. Mit solchen thermonuklearen
Reaktionen erzeugen die Sonne bzw. die Fixsterne ihre Energie. Unter irdischen Bedingungen gelingt das dadurch, dass man die Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium miteinander
reagieren lässt. Ein Kilogramm Deuterium entspräche dann dem Energiewert von 3 Millionen Tonnen Steinkohle bzw. einer Leistung von 24 Millionen Kwh. Um allerdings zu einer
kontrollierten Fusion zu gelangen, d.h. eine explosionsartige Energiefreisetzung in Sekunden bruchteilen wie bei der Wasserstoffbombe zu vermeiden, ist es nötig, die Geschwindigkeit
zu vermindern, um den Ablaufzu kontrollieren. Das geschieht dadurch, dass die Dichte des
Kernbrennstoffs radikal herabgesetzt wird. Bei einer Zündtemperatur von 100 Millionen Grad
zerfallen die Atome in positive Ionen und Elektronen: das Plasma, in dem die elektrostatischen
Abstoßungskräfte überwunden, eine Verschmelzung möglich geworden ist. Aus Deuterium und Tritium wird Helium, die dabei freiwerdende Masse wird zu Energie.
Nicht nur die Erzeugung derart hoher Temperaturen bleibt jedoch schwierig, mehr noch die
Vermeidung eines Kontakts des Plasmas mit den Reaktorwänden. Um das zu verhindern, wird in einer gebogenen Vakuumröhre, in der sich das Plasma befindet, ein starkes, kreisförmiges Magnetfeld aufgebaut, in dem das Plasma eingeschlossen ist. Das Magnetfeld erfüllt damit technisch die Funktion, die in der Sonne durch deren riesige Masse bzw. die Schwerkraft
verwirklicht wird. Wesentlich ist es, dieses »Einklemmen« für einige Sekunden aufrecht zu erhalten, was bisher nur ein einziges Mal und nur für kurze Zeit gelungen ist: 1997 in der
Forschungsanlage im englischen Abington. Ziel ist es, in einem neuen Forschungsreaktor bei einer Fusionsleistung von 500 Megawatt für eine Zeit von fünf Minuten energielieferndes Plasma zu erzeugen, um bis Mitte des 21. Jahrhunderts zur wirtschaftlich arbeitenden Fusionskraftwerken zu gelangen.
Die enormen Schwierigkeiten, die dabei zu überwinden sind, werden auch daran deutlich,
dass bereits kurz nach der Explosion der ersten Wasserstoffbombe am 1. November 1952 in
den USA mit der Entwicklung einer kontrollierten Kernfusion begonnen worden ist. Edward Teller, der bei der Entwicklung der Bombe die Forschung geleitet hatte und nun mit dem zivilen Projekt beauftragt wurde, hielt die Erwartung einer kurzfristigen Realisierung für
fragwürdig, wie sie damals im Kontext des Übergangs zur zivilen Nutzung der Kernenergie 77
gehegt wurde. Doch auch seine skeptische Voraussage von fünf Jahren trog: Selbst fünfzig
Jahre später ist ein nutzbarer Fusionsreaktor noch in weiter Ferne. Allerdings soll ab 2006 mit dem Bau eines Fusionsreaktors durch eine internationale Vereinigung (Iter aus USA, Russ
land, EU, China, japan u.a.) begonnen werden, der ab 2015 Energie liefern und mit den dabei
gewonnenen physikalisch-technischen Erfahrungen die Grundlage bereiten soll für eine spätere kommerzielle Nutzung zur Stromerzeugung. Im übrigen erzeugt auch dieser Reaktortyp
radioaktiven Abfall, denn das radioaktive Tritium verseucht die Wände des Plasmagefäßes,
das bei einem Abbau für etwa hundert Jahre Abklingzeit sicherungsgelagert werden müsste. Allerdings ist ein »Durchgehen« des Reaktors bzw. eine Kernschmelze hier nicht möglich.
TECHNOLOGIE: SUPRALEITER Die Elektrizität ist das energetische Medium der modernen Gesellschaft. Bildet nun ihre
Erzeugung und Verwendung den einen Bezug technologischer Optimierungskunst, so stellt ihr möglichst verlustloser Ferntransport den anderen Bezugspunkt dar. Bei der üblichen Übertragung hochgespannten Stroms über Freileitungen kommt es infolge des dabei zu
überwindenden Widerstands zu beträchtlichen Energieverlusten und zur unerwünschten
Freisetzung von Wärme. So verliert eine Hochspannungsleitung über 200 km 15 Prozent, über
1000 km 40 Prozent der elektrischen Energie. Hier wäre ein Leiter ideal, der keinen Widerstand entgegen setzt.
Die theoretische Voraussetzung hierzu bot der 1906 von Walter Nernst aufgestellte Dritte
Hauptsatz der Thermodynamik, wonach am absoluten Nullpunkt die Enthropie eines Stoffes gleich Null ist. Verringert man also die Enthropie eines Stoffes, so sinkt zugleich seine
Temperatur. Einen ersten widerstandsfreien Leiter fand der niederländische Physiker Heike
Kamerling Onnes schon 1911, als er das Verhalten von Stoffen bei sehr niederen Temperaturen
untersuchte: Quecksilber verliert unterhalb einer Temperatur von Minus 269 Grad Celsius, d.h.
nahe dem absoluten Nullpunkt von Minus 273 Grad, plötzlich den elektrischen Widerstand und leitet Strom verlustfrei. Leider war dieser Effekt der Supraleitung über das Experiment hinaus nicht verwendbar, weil eine derartig extreme Abkühlung technisch große Schwierigkeiten bereitete und unwirtschaftlich blieb.
Die Entdeckung, dass bestimmte keramische Metalle schon bei Minus 238 Grad supraleitend wurden, wie sie 1986 den Physikern Georg Bednorz und Alex Müller gelang und die daran
anschließende Verminderung der Kühltemperaturen auf Minus 196 Grad hingegen ließ dann
eine wirtschaftliche Verwendung erstmals als möglich erscheinen, da nun eine Kühlung mit ver
flüssigtem Stickstoff anstatt mit teurem Flüssighelium möglich wurde. Supraleiter funktionieren 78
dadurch, dass, wie 1957 gezeigt wurde, freie Elektronen sich in einer Vielzahl von Materialien bei tiefen Temperaturen zu Zweierpaaren bündeln und sich dann ohne Berührung mit dem Ionengitter, d.h. ohne Abgabe von Energie, bewegen. Versuche mit neuen Legierungen
konnten die Kühltemperaturen auf bis zu 133 Grad senken, Experimente mit der Dotierung der keramischen Drähte deren Leitfähigkeit erhöhen.
Im Jahr 2001 wurden dann in Detroit erstmals Supraleiter zur Stromversorgung kommerzieller Abnehmer verwandt. Dort ersetzen drei mit Stickstoff gekühlte Halbleiterkabel mit 900
Pfund Gewicht neun Kupferkabel, die 25.000 Pfund wiegen. Supraleitende magnetische
Energiespeicher, in denen der Strom verlustfrei und sofort abrufbar kreist, und SupraleiterElektromotoren, um die Hälfte kleiner im Volumen als herkömmliche Motoren und mit
einem um 50 Prozent höheren Nutzungsgrad der Energie gehören zu den Perspektiven dieser Technologie, deren Wirtschaftlichkeit allerdings von einer drastischen Verminderung der Herstellungskosten keramischer Hochtemperatur-Supraleiter abhängt.
Wie bei jedem Strukturwandel der technischen Weltaneignung sind zwar die Wege in die
Zukunft erkennbar und wohl auch, dass sehr langfristig die fossile durch eine vorrangig solare Technologie abgelöst werden wird, die allerdings nur plural und keineswegs total vorgestellt
werden kann. Dabei spielen Fortentwicklungen scheinbar überholter Techniken durchaus eine Rolle, nicht nur des Windes, womöglich auch einer neuen Form der Dampfmaschine, die statt
einer offenen Flamme einen Porenbrenner benutzt, in dessen Hohlräumen ein Kraftstoff-Luft-
Gemisch chemische Reaktionen verursacht, deren freigesetzte Wärme dann Wasser verdampfen lässt, das wiederum über einen Kolben in Bewegungsenergie umgesetzt wird. Hoher Wir
kungsgrad, geringe Abgasemission und die mögliche Verwendung flüssiger wie gasförmiger
Kraftstoffe sowie geringe Größe sind die Vorzüge dieser faszinierenden Fortentwicklung der Dampfmaschine, die im Mai 2000 von deutschen Technikern erstmals öffentlich vorgestellt
worden ist. Entwicklungen wie diese sind Variationstechniken zum dominierenden Paradigma totaler Energetik, die großtechnisch organisiert und auf endlichen Ressourcen gegründet ist. Erst langsam, doch stetig, machen die klimatischen Konsequenzen totaler Energetik es dem technisch entfesselten Konsumismus klar, dass die lange Zeit allenfalls kurzfristig überholt werden kann: dass aber auf Dauer die Schildkröte den Läufer stets überrundet.
79
Werner Nachtigall,
Bau-Bionik, Natur < Analogien > Technik. Klimaangemessene Bauweisen in ursprünglichen Kulturen und in der Moderne,
Berlin: Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York, 2003, S. 75-92.
»Das Lüftungssystem nach dem Prinzip des Präriehundbaus wird heute gelegentlich als
Trivial-Bionik bezeichnet. Dieser Eindruck mag vielleicht auf Grundlage der konstruktiven
Einfachheit entstehen, im Bauwesen ist es jedoch nach wie vor eines der effektivsten Systeme zur Energieeinsparung. Es ist immer wieder wohltuend zu erfahren, wenn dieses System als
einfachste und kostengünstigste Lösung empfohlen wurde, wie sehr Bauherrn und Nutzer von der Wirkungsweise überrascht sind.« Nachtigall, 2003, S.89.
URSPRÜNGLICHE KULTUREN UND BIOLOGISCHE EVOLUTION. In ursprünglichen Kulturen - bis vor nicht allzu langer Zeit noch als »Primitivkulturen«
bezeichnet - verlaufen alle technologischen Entwicklungen nach dem Versuchs-Irrtums-
Prinzip. Damit sind sie prinzipiell ähnlich der Evolution im natürlichen Bereich. Natürliche
Konstruktionen und technische Konstruktionen dieser Art sind deshalb ohne weiteres bionisch
vergleichbar. Es hat sich das gehalten, was nach langwierigem »Herumspielen«, nach Prozessen des Veränderns, Verwerfens und Wiederveränderns, Bestand hatte. Im vorliegenden Fall
geht es um die möglichst effiziente Nutzung von Wind, Erdfeuchtigkeit und Erdkühle zur
Gebäudeklimatisierung. Bereits die oben angeführte Nutzung des Bernoulli-Prinzips durch Präriehunde impliziert eine solche Mehrfachnutzung. Durch die Zwangsdurchströmung
des Erdbaus wird kühle und feuchtigkeitsangereicherte Luft aus dem porösen Gangsystem
angesaugt, damit wird beispielsweise eingetragenes, strohtrockenes Material angefeuchtet.
Es kann dann durch Verdunstungskälte helfen, den Bau zu klimatisieren, kann aber auch zur Deckung des Wasserbedarfs vom Präriehund gefressen werden.
Ein besonders ausgeklügeltes System zur passiven Klimatisierung hat sich im Alten Iran herausgebildet. M. Bahadori (1978) hat darüber berichtet.
Benutzt werden hohe Windtürme aus Adobematerial, deren obere Fensterabdeckung man 80
unterschiedlich öffnen kann, und die den Wind nach dem Staudruck-Prinzip auffangen und
nach unten leiten. Dort durchläuft die Strömung beispielsweise einen Erdtunnel und mündet
dann ins Kellergeschoss, von wo aus sie durch regulierbare Fenster und Türen wieder austritt. Im unteren, kühleren Teil des Windturms (der auch noch längere Zeit die Nachtkühle hält)
wird die warm eintretende Luft «1) in Abb. 43 A) konvektiv gekühlt (2). In den unterirdischen Dukten sickert Feuchtigkeit ein, die zum Teil die Luftfeuchtigkeit anhebt (3), zum Teil
verdunstet und die Luft evaporativ kühlt (ebenfalls 3). Damit kommt es zu dem angegebenen Kennlinienverlauf in dem Temperatur-Feuchtigkeits-Diagramm der Abb. 43 e. In der Nacht kann sich die Strömung umkehren, weil sich die Luft an den nun warmen Innenwänden
des Windturms erwärmt und aufsteigt; kühle Nachtluft wird dann durch Fenster und Türen nachgezogen.
Ein anderes System der Windnutzung kombiniert die genannten Effekte mit angesaugter
Luft, die eine Zeit lang an Grundwasser führenden Schichten entlangströmt (Abb.43 B). Die
einströmende (4) und konvektiv gekühlte (5) Luft mischt sich bei (6) mit der angesaugten (7) und feuchtigkeitsangereicherten (8) Luft, wodurch es auch hier zu kombinierter konvektiver
und evaporativer Kühlung kommt (9). Auch dieser Verlauf ist in Abb. 43 e eingezeichnet. Die im Windturm aufsteigende Luft zieht während der ersten Nachthälfte aus (8) ebenfalls stark wasserdampfangereicherte Luft hoch.
Evaporative Kühlung bedarf immer einer Fluidströmung, welche die Feuchtigkeitsgrenzschicht an wasserführenden Stellen wegnimmt. Dazu wurde im Alten Iran auch das Bernoulli-Prinzip eingesetzt. An lang gestreckten Tonnendächern entsteht an der Oberkante ein Unterdruck,
der heiße Luft über obengelegene Öffnungen absaugen kann. Das System funktioniert am besten, wenn die Strömung senkrecht zur Dachlängsrichtung verläuft, sonst nach einer
Sinusabhängigkeit, ganz ähnlich wie beim Pierwurm. Kuppeldächer funktionieren nach dem
»Vulkankegel-Prinzip« windrichtungsunabhängig, ähnlich wie beim Präriehund. Aufsätze an der höchsten Stelle der Kuppel (Dachreiter) können, wie erwähnt, nicht nur künstlerische,
sondern durchaus auch strömungsfunktionelle Bedeutung haben (Einschaltbild in Abb. 43 B).
Auch in der ursprünglichen Architektur Afrikas wird Klimatisierung durch Windnutzung groß geschrieben. So haben die Rundhütten mancher Krals, in Linien angelegt, Vorzugsrichtungen, die den Wind teils nach dem Bernoulli-, teils nach dem Staudruck-Prinzip führen. L. Hg hat dazu Details zusammengestellt. Ausgeklügeltere Bauten erinnern in ihrer klimabionischen
Raffinesse an die hochentwickelten Konstruktion des Alten Iran (Abb. 44 A). Allein schon die Ausrichtung alter Städte zu vorgegebenen Windrichtungen war wohl überlegt, wie aus einem Lageplan der Stadt Karthum/Ägypten, etwa 2000 v.ehr., hervorgeht (Abb. 44 B). Im Versuchs-Irrtums-Prozess sind auch die hochinteressanten Windschirme der
Kanakensiedlungen in Neukaledonien entstanden. Der Architekt Renzo Piano hat bei seinem 81
Bau des Kanaken-Kulturzentrums Noumea diese löffelartigen, aus Holzträgerstrukturen
und Geflechten bestehenden »Windschirme« mit einbezogen und ihre Funktionen durch
Windkanalversuche untersuchen lassen. Es ergab sich, dass sie angeschlossene lang gestreckte Räume effektiv durchlüften, ob der Wind nun in die konkave oder konvexe Seite des
»Windfängers« einfällt (Abb. 44 D). Die ursprünglichen Bewohner haben damit ihre großen Versammlungshäuser belüftet; der moderne Architekt hat nach dem gleichen Prinzip seine
Museumsräume »kostenlos belüftet«. Natürliche Lüftung und Klimatisierung, beispielsweise eines Bürogebäudes, ist nachgewiesenermaßen gesundheitsmäßig deutlich günstiger als
maschinelle Belüftung oder gar Vollklimatisierung. Dies hat J. Röben in einer SBS-Studie (SBS: »Sick-Building-Syndrom«) herausgefunden. Klagten beispielsweise in einem voll klimatisierten Gebäude 40 % der dort Tätigen über Halsbeschwerden, waren es in einem
natürlich belüfteten nur 15 %. Auffällig sind ähnliche Ergebnisse auch bei Augenreizungen,
Kopfschmerzen und Erschöpfung, während die Werte für Erkältungen interessanterweise etwa gleich sind (Abb. 44 E).
Natürliche »Quelllüftung« (über einen Abluftkanal, versteckt in einem hohen Turm) hat der Architekt D. Boswelt bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts für das House of Commons in London vorgesehen. Der Parlaments-Saal wurde von 46 luftfressenden Gaslaternen
beleuchtet, deren Abgase auf diese Weise zwangsentlüftet wurden. Eine ähnliche Lüftung war bereits von Wallot für den ursprünglichen Reichstag in Berlin vorgesehen; sie wurde
von dem umweltbewussten Architekten des neuen Reichstags, Sir Norman Foster, im Prinzip übernommen und verbessert. Auch hier spielt im übrigen der Bernoulli-Effekt bei der Umströmung der Reichstagskuppel eine gewisse Rolle.
WEITERES ZUM BERNOULLI-PRINZIP UND ÜBERGANG ZUM STAUDRUCK-PRIN ZIP.
Zwei weitere Tierbauten, die mit großer Sicherheit das Venturiprinzip zur Lüftung nutzen,
sind in Abbildung 45 dargestellt. Bodentermiten der Art Hodotermesmosambicus leben mit
ihrem von außen unsichtbaren Bau zur Gänze im Boden, doch reichen »Lüftungskegel« nach Art der Präriehund- Vesuvkegel darüber hinaus (Abb. 45 A). Auch der heimische Dachs, hat
bei seinem Bau stets mindestens zwei Ausgänge, die meist auf unterschiedlicher Höhe liegen und meist auch unterschiedliche Mündungsstruktur haben, beispielsweise unter einem Baum herauskommen oder frei im Gelände liegen. Zwangslüftung ist auch hier anzunehmen, doch meines Wissens nicht nachgewiesen (Abb.45 B).
Eine effektive Nutzung des Venturi-Prinzips hat das Architekturbüro Thomas Herzog + Partner 82
für die sogenannte »Design-Halle« in Linz vorgesehen (Abb. 39). Die Abbildung 46 A, B zeigt dazu einen Querschnitt und ein Strömungsdiagramm. Ähnliche Lüftungsprinzipien wurden
beispielsweise auch in Frankreich konzipiert, so am Lycee Albert Camus, Frejus, France, wo Foster & Partners eine klimatisierte Mädchenschule gebaut haben (Abb. 46 C).
Im Prinzip ganz ähnlich wie die alten Iraner die Nutzung des Bernoulli-Prinzips und die im
nächsten Abschnitt detaillierter beschriebene Staudrucknutzung kombiniert haben, hat Thomas Herzog für seine Halle 26 für die Deutsche Messe AG (Industriemesse Hannover und später
EXPO 2000) »natürliche Belüftungsanteile« kombiniert. Die Abbildung 47 erklärt Einzelheiten. An den höchsten Stellen wurden wiederum, wie bereits bei der Linzer »Design-Halle«, lang gestreckte Venturi-Flügel angebracht, welche die Luft heraussaugen; die durchbrochenen,
gegenüberliegenden Schrägwände wirken nun aber zusätzlich als Winddruck-Fänger nach dem Staudruckprinzip. Insgesamt ergibt sich eine sehr effektive Zwangslüftung, die bei den großen Glasflächen auch nötig ist.
NUTZUNG DES STAUDRUCK-PRINZIPS IN TIERBAUTEN UND BAUTEN Die in einem Kubikmeter Luft der Masse m, die mit der Geschwindigkeit v strömt,
enthaltene kinetische Energie beträgt 1/2 m (lm3Luft) v2. Man kann auch sagen, die auf die Volumeneinheit V bezogene Energie beträgt 1/2 Q v2 (Q = m/V = Luftdichte). Strömt das
betrachtete Luftvolumen gegen eine senkrechte Wand und wird dabei auf v = 0 abgebremst,
so manifestiert sich seine kinetische Energie im Auftreten eines Staudrucks Iql = 11/2 Q v21. Dieser kann unterschiedliche Effekte haben, beispielsweise ein aufgestautes Luftvolumen in Bewegung setzen oder weiterbewegen. Das nämliche gilt für Wasserströmungen.
Eine Durchströmungs-Anlage nach dem Staudruckprinzip, die den orientalischen Bag-
dir-Einrichtungen ganz erstaunlich ähnelt, haben südamerikanische Köcherfliegenlarven
(Hydropsychidae) entwickelt (vergl.Abb. 48 A mit 51 A). Diese Larven bauen eine gewölbte
Gangstruktur mit vorragenden »Staudruckfängern“, in deren unteren, U-förmigen Schenkel ein äußerst feingesponnenes Netz angebracht wird (Maschenweise nur etwa 3.20 flm). Vor dem
Netz mündet auch der Wohngang der etwa 2 cm langen Larve. Bei dieser strömungsbetriebenen Durchströmungs-Reuse dürfte auch der Bernoulli-Effekt eine Rolle spielen, doch ist dies messtechnisch nicht nachgewiesen.
Rauchfangmuscheln der Gattung Clavagella ätzen sich eine Wohnhöhle ins Kalkgestein und
schieben ihre parallel angeordneten Ein- und Ausstromröhren weit ins freie Wasser. Sie werden mit Kalk umkleidet und beim Wachstum der Muschel stückweise verlängert. Ob die dadurch
entstehenden dachartigen Vortragungen insbesondere in der Mündungsregion (Abb. 48 B) eine 83
strömungsmechanische Funktion haben ist anzunehmen, aber im Detail nicht nachgewiesen.
Gleiches gilt für die »windfängerartigen« Eingänge der Bauten der Stachellosen Biene Trigona
testacea (Abb. 48 C) und der Wespe Angiopolybia pallens (Abb. 48 D). Bei (B) bis (D) könnten auch Bau-Porösitäten die Rolle von Ausgängen übernehmen.
Lüftungs- und Klimatisierungsprinzipien werden in der Regel kombiniert eingesetzt, so
beispielsweise die Nutzung von Erdkühle und -feuchte und das VenturiPrinzip. Dies wird an der Bauweise eines indischen Gartenpavillons in Isfahan aus der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts (Abb. 49 A) ebenso klar wie aus italienischen Bauten. Der italienische
Renaissancebaumeister Palladio hat seine Rotunde bei Vicenza im Jahr 1566 ganz ähnlich
konzipiert (Abb. 49 B). Er war auch fasziniert von der Nutzung der kühlen und feuchten Luft unterirdischer Grotten und hat beispielsweise bei den Costozza- Villen bei Vicenza darauf
zurückgegriffen (Abb. 49 C). Luftfänger nach dem Staudruck-Verfahren, im Prinzip vielleicht ähnlich arbeitend wie die »Windfänger« Renzo Pianos in Noumea (s. Abb. 44 C, D) sind
sicher auch die langgezogen-vorspringen den Dachkonstruktionen der Toradja im tropischen Regenwald Südsulavesis (Abb. 50), doch sind mir dazu keine Messungen bekannt.
Eine ausgedehnte Nutzung des Staudruck-Prinzips wie es bei den altpersischen WindfangTürmen beschrieben worden und in Abbildung 43 A, B eingezeichnet ist, im Prinzip in
gleicher Weise wie ein Luftkanal. Wie die Einzeichnung in Abbildung 51 C zeigt kann die Temperaturdifferenz zwischen Kellergeschoss und Dachfläche 20°C ausmachen.
In Haiderabad Sindh, westliches Pakistan, prägen diese »Klimaanlagen« die Dachlandschaft. Die Kamine belüften jeweils nur ein einziges Zimmer und reichen bis zum Kellergeschoss.
Voraussetzung für ihre Effektivität ist eine festgelegte Hauptwindrichtung. Die Herkunft dieser
effektiven Badghir-Anlagen ist unbekannt, doch weiß man, dass sie seit mindestens 500 Jahren in Gebrauch sind.« (Praktischerweise dienen diese stockwerkverbindenden Kanäle auch als »internes Telefon«.)
UMDENKEN IN DER BAUPHYSIKALISCH-ARCHITEKTONISCHEN GESTALTUNG
EINBINDUNG BIONISCHER VORGEHENSWEISEN IN DEN PLANUNGSPROZESS Bei der Planung eines Euro-Null- und Niedrigenergiehauses (Abb. 52) sowie bei der Fassa dengestaltung der Stadtwerke Bochum (Abb. 53) macht der Architekt Dieter Oligmüller
- dessen bionischen Sichtweisen im Abschnitt 1.2.1 diskutiert worden sind - klar, dass für
die Architektur und Baukonstruktion natürliche Strukturen zu untersuchen sind um sie durch 84
Umsetzung in moderne Konstruktionen dem Menschen nutzbar zu machen. Er nennt folgende natürliche Gegebenheiten, die bei Baukonzeption von vorneherein in bionischer Übertragung einbezogen werden sollten:
1 Möglichkeiten, welche die umgebende Topographie hinsichtlich der Nutzung der vorhandenen naturbezogenen Möglichkeiten bietet sind zu bedenken.
2 Das Klima in der Stadt, Windrichtung zur Durchlüftung der Stadt, Kaminwirkung von Gassen, Thermik bei der Randbebauung usw. sind zu betrachten.
3 Maßnahmen zur Reduktion der Windbelastung des Baukörpers sind zu treffen. 4 Eine Zonierung des Baukörpers, Anordnungen von Pufferzonen, sinnvolle Anwendungen von Schichtkonstruktionen für die Außenhaut und anderes können erforderlich sein.
5 Kühlung oder Vorwärmung der Zuluft durch Nutzung der Erdwärme nach dem
Präriehundbausystem und Einbeziehung der Vorratshaltung bei der Kühlung liegt nahe. 6 Außenwandkonstruktionen im Sinne transparenter Isolationsmaterialien, angeregt durch die Effizienz des Eisbärfells, eventuell in Kombination mit Luftkanalsteinen, sind zu überlegen. 7 Nutzung der Speicherfähigkeit der Baustoffe durch Luftzuführung für Kühlung oder
Erwärmung der Raumtemperatur in eine Kombination von passiver Solarnutzung und Nutzung der Erdtemperatur ist anzustreben.
8 Passive Wärmerückgewinnung durch entsprechende Fensterkonstruktionen, die ohne
maschinellen Einsatz das Lüften mit gleichzeitiger Wärmerückgewinnung ermöglichen (angedeutet in Abbildung 53) werden zukünftig sehr wichtig sein.
9 Photovoltaische Architekturelemente mit Lichtlenkungselementen und thermohydraulischer Nachführung können sinnvoll sein.
Aus dieser Liste bringt ein Entwurf des Autors für ein Null- oder Niedrigenergie-So
larhaus (Abb. 52) drei Anregungen von natürlichen Vorbildern mit ein: Präriehundbau
(Lüftungssystem), Eisbärfell (Transparente Wärmedämmung) und Elektronentransport bei photosynthetischen Vorgängen (Photovoltaik).
85
PRÄRIEHUNDBAU/LÜFTUNGSSYSTEM Ein Kanalsystem, das in etwa 2,5 Meter Tiefe durch das Erdreich geführt wird, dient im Winter der Vorwärmung und im Sommer der Kühlung der Zuluft. Dabei wird nicht nur dem Raum die erforderliche Frischluftrate zugeführt; die umliegenden Bauteile werden auch über ein
Kanalsystem gekühlt oder erwärmt. Im Winter wird die im Erdreich vorgewärmte Zuluft über den Wintergarten weiter erwärmt und den Wohnräumen zugeführt. Im Sommer wird die über
das Erdreich abgekühlte Zuluft dem Raum und den ihn umgebenden Bauteilen direkt zugeführt.
EISBÄRFELL/WÄRMEDÄMMUNG Die Außenwände im Osten, Süden und Westen werden mit einer dem Eisbärfell
nachempfundenen transparenten Wärmedämmung (TWD) überzogen und mit einem
Glasputz versehen, der es ermöglicht, den Baukörper zur besseren Nutzung des Tageslichts »einzuschneiden«, ohne dass sich der Transmissionswärmeverlust des Baukörpers erhöht. Die Kollektoren erhalten als Abdeckung ebenfalls eine transparente Wärmedämmung, so
dass der Anteil der zur Verfügung gestellten Heiz- und Brauchwasserenergie auf solarer Basis wesentlich erhöht wird.
PHOTOSYNTHESE/PHOTOVOLTAIK Photovoltaische Elemente auf Grundlage der natürlichen Photosynthese stellen einen
Teil des benötigten Energieträgers »Strom« zur Verfügung. Die Entwicklung führt zu Nutzungsmöglichkeiten auch für mehrgeschossige Bauweise.
Die Neugestaltung der Fassade der Stadtwerke Bochum (s. Abb. 53) sollte zu einer besseren Nutzung des Tageslichts führen und gleichzeitig die klimatischen Verhältnisse in den
Büroräumen verbessern. Die gestaffelte blattartige Anordnung der einzelnen Elemente an
der fast ausschließlich nach Süden gerichteten Hauptfassade des Verwaltungsgebäudes soll eine bessere Nutzung des Tageslichts und eine transparente Verschattung ermöglichen. Ein
gerichtetes Reflexionslicht wird in Ergänzung zu den photovoltaischen Verschattungselemente durch eine besondere Gestaltung der Lichtlenkungslamellen in die Innenräume geworfen. Die Ausleuchtung des Raums in der Tiefe wird damit ermöglicht.
Die Nachführung der photovoltaischen Verschattungselemente auf thermohydraulischer Basis ermöglicht eine jederzeit optimale Ausrichtung. 86
Wenn künstliche photovoltaische Zellen nach dem Vorbild des grünen Blatts einmal zur
Serienreife entwickelt worden sind, werden diese natürlich für derartige Fassaden eingesetzt.
Bei der Oberlichtverglasung wird wiederum das Prinzip des Eisbärfells benutzt: transparente Wärmedämmung aus Glaskapillaren wird hier in die Isolierverglasung eingebaut. Die
Glaskapillaren tragen durch ihre Lichtlenkung zur Tiefenausleuchtung des Raumes bei.
Durch die blattartige Staffelung der einzelnen Elemente wird der thermische Auftrieb auf der Rückseite der einzelnen Konstruktionselemente erhöht und somit das Aufheizen der dahinterliegenden Fassade, insbesondere im Hochsommer, gemindert. Wie man sieht,
beinhaltet Bau- und Architekturbionik eine Sichtweise, die sich vor Grenzüberschreitungen zur Ideengewinnung nicht drückt. In ihrer Gesamtheit werden die zahlreichen einzelnen
Übertragungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zu Baukonstruktionen der Zukunft führen, die sehr viel radikaler mit dem Heutigen brechen, als dies nach den hier vorgestellten Überlegungen auf den ersten Blick möglich erscheint.
WEITERENTWICKLUNG VON DOPPELFASSADEN IN VERBINDUNG MIT LÜFTUNGSUND LICHTLEITSYSTEMEN
In einem kartesischen Diagramm der Temperatur in Abhängigkeit von der relativen
Luftfeuchte kann man einen zentralen Bereich als »menschliche Behaglichkeitszone«
festlegen (s. Abb. 54). In den dieser Zone anschließenden Bereichen lässt sich die Situation durch Feuchtigkeitszufuhr, Lüftung und Schattenspendung dem Idealbereich annähern. Je
nach Topographie und Klimazone wird man für die Gebäudeplanung die eine oder die andere
Facette verstärkt berücksichtigen, etwa durch transparente Wärmedämmung (vergl. Abschnitt 1.3).
Die Temperatur kann man durch bauökologische Maßnahmen beeinflussen, Feuchtigkeit und Lüftung beispielsweise durch Luftzufuhr über Erddukte nach dem Präriehundbau-Prinzip,
Schattenspendung nach dem Lichtschwert-Prinzip, das sein Vorbild im Ast- und Blattwerk eines Baums hat.
Zur Doppelfassaden-Lüftung mit angeschlossenen Erddukten schreibt D. Oligmüller: »Der Wunsch, auch höhergeschossige Bauten natürlich zu be- und entlüften, hat sich bis heute nur teilweise erfüllt. Schwachpunkte sind nach wie vor:
1 die unzureichende Trennung zwischen Be- und Entlüftung,
2 die starke Überhitzung bei durchgehenden Lufträumen und dadurch bedingt,
3 eine sehr hohe Zulufttemperatur, eine stark abgekühlte Ablufttemperatur und Zu gerscheinungen beim Lüften im Winter,
87
4 aufwendige Abschottungen zur Erfüllung der schalltechnischen und brandschutz-technischen Anforderungen.
Die Energiebilanz dieser Gebäude ist bisher erschütternd. Sie entspricht in keiner Weise auch
dem erweiterten Niedrigenergiestandard. Hier gilt es anzusetzen mit den Weiterentwicklungen. Dabei sollen zwei Lösungen näher betrachtet werden:
1 eine Fassadenkonstruktion, die den Zwischenraumkorridor auch nutzbar macht
(praktisch eine mehrgeschossige Wintergarten- oder Verandenkonstruktion), 2 eine Be- und Entlüftungsfassade, die konsequent zwischen Zu- und Abluft unterscheidet.
Beiden Lösungen soll gemeinsam sein, dass sie ihre Zuluft über das Erdreich entweder
vorgekühlt oder vorgewärmt, je nach Jahreszeit, erhalten. Eine zusätzliche Vorwärmung im Winter könnte durch passive Nutzung der Sonnenenergie in der Form erfolgen, dass eine
thermohydraulische Steuerung den Luftstrom im Falle starker Sonneneinstrahlung über eine Pufferzone lenkt.
»Das Lüftungssystem nach dem Prinzip des Präriehundbaus wird heute gelegentlich als
Trivial-Bionik bezeichnet. Dieser Eindruck mag vielleicht auf Grundlage der konstruktiven
Einfachheit entstehen, im Bauwesen ist es jedoch nach wie vor eines der effektivsten Systeme zur Energieeinsparung. Es ist immer wieder wohltuend zu erfahren, wenn dieses System als
einfachste und kostengünstigste Lösung empfohlen wurde, wie sehr Bauherrn und Nutzer von der Wirkungsweise überrascht sind.«
Für die Knobelsdorffschule in Berlin haben Schüler in Eigenleistungen einen Erdkanal zu
ihrer Werkstatt errichtet, der durch eine Außenluftvorwärmung bzw. Außenluftkühlung die
klimatischen Verhältnisse in diesem Raum wesentlich verbessert hat. So wird zum Beispiel die Innenraumtemperatur im Sommer von ca. 29°C auf 24°C abgesenkt.
Das Bürogebäude der Kreisverwaltung Bad Segeberg war umzugestalten, weil durch die starke Lärm- und Abgasbelastung der unmittelbar angrenzenden B 206 die Arbeitsbedingungen in
den einzelnen Büroräumen nicht mehr vertretbar waren. Aus konstruktiven Gründen schied der
Einbau einer Vollklimatisierung aus, so dass schon der Abbruch erwogen wurde. Die Münchner Architekten F. und W. Lichtblau haben ein Belüftungssystem über Erdkanäle vorgeschlagen. Wegen der schlechten Luftqualität in der Gebäudeumgebung wurde dieser Kanal bis zu
einem naheliegenden Park geführt (Abb. 55 A). Zur Aufrechterhaltung eines kontinuierlichen Luftstroms wird dieser motorisch unterstützt. Die vorgehängte Fassade dient gleichzeitig als 88
Schallschutz und als Verteilerraum für die Luftzuführung des Erdkanals. Zu den Pionieren
der hier besprochenen Lüftungs-Wärmeübertragungs-Systeme gehören die amerikanischen
Architekten B. Yanda und R. Fisher, die bereits 1980 einen generellen Entwurf für sommerund wintertaugliches Haus mit derartigen Einrichtungen gegeben haben (Abb. 56 A-C).
DAS TRANSPARENTE LICHTSCHWERT Der Begriff der transparenten Verschattung spielt heute bei der wieder im Vordergrund
stehenden Nutzung des Tageslichtes eine bedeutende Rolle. Ihre Effekte sind am stärksten bei direkter Sonnenstrahlung. Sie haben ihre größte Wirkung, wenn sie vor der Fassade
montiert sind. Sie können auch im Innenraum in Kämpferhöhe zur stützenden Wirkung der Lichtlenkung weitergeführt werden. Schon bei diffuser Strahlung ändern sich die positiven Eigenschaften, weil die Verschattung unterhalb des Lichtschwertes zunimmt und diese im
fensternahen Bereich eines Raumes zu stärkerer Beeinträchtigung der Nutzung des Tageslichtes führen kann.
Dieser Mangel soll durch transparente Lichtschwerter behoben werden. Ihre Wirkung beruht darauf, dass Verschattungselemente gestaffelt sind und keine geschlossenen Flächen bilden
(Abb. 55 B, C). Das Ast- und Blattwerk eines Baumes dient hierzu als Vorbild (Abb. 55 D). Die Reflektion innerhalb dieser blattartigen Lamellen führt zu einem wesentlich transparenteren Schatten, der auch bei diffuser Strahlung, immerhin 60 % des Jahreszustandes in unseren
Breitengraden, zu keiner starken Verschattung in Fensternähe unterhalb des Lichtschwertes führt. Lichtschwerter spielen spätestens seit Le Corbusier, der ein Konstruktionselement
des Daches seiner Kapelle Notre-Dame-Du-Haut in Ronchamp, Frankreich (1950-55) als
Lichtschwert gestaltet hat und damit eine einmalige innere Lichtführung erreicht hat, in der Architektur eine Rolle zur Lichtlenkung und Verschattung«.
89
Dietrich Schwarz,
„Nachhaltiges Bauen“,
in: Detail 2007 6, S.600-605.
Nachhaltigkeit ist ein Begriff aus der Forstwirtschaft, erstmals definiert im frühen 18.
Jahrhundert. In vielen Regionen MitteIeuropas, besonders solchen mit einer ausgeprägten
Bergbau- und Montantradition, wurden die Kapazitäten der Wälder schon im späten Mittelalter überschritten und damit deren Begrenztheit deutlich. Erst aus diesem Kontext heraus
bildete sich regional die eigentliche Forstwirtschaft und löste die bis dahin vorherrschende
unkontrollierte Ausbeutung der Wälder ab. Erstmals wurde Nachhaltigkeit im Jahr 1713 vor
dem Hintergrund einer zunehmenden überregionalen Holznot von Carl von Carlowitz (16451714), dem Oberberghauptmann in Kursachsen, postuliert.
Die Helsinki-Resolution von 1993 definiert in modernen Begriffen die nachhaltige Wald wirtschaft als „Die Behandlung und Nutzung von Wäldern auf eine Weise und in einem
Ausmaß, das deren biologische Vielfalt, Produktivität, Verjüngungsfähigkeit, Vitalität sowie deren Fähigkeit, die relevanten ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Funktionen gegenwärtig und in der Zukunft auf lokaler, nationaler und globaler Ebene zu erfüllen
gewährleistet, ohne anderen Ökosystemen Schaden zuzufügen«. Dieser Rückblick ist aus
verschiedener Sicht interessant und ermutigend: Es wurde erkannt, dass die Menschen durch ihr Handeln die Natur, wie man sie kannte und liebte, im Begriffe waren, unwiderruflich zu
zerstören. Die Holznot und die Erkenntnis, dass sich eine Misere eingestellt hatte, die sich über
Jahrhunderte hinweg als Gewohnheit und vermeintlich einzig denkbarer ökonomischer Weg dar stellte, führten zu einer vollkommen neuen Waldwirtschaft.
ENERGIEPROBLEMATIK Wenn wir die Energieprobleme dieses Jahrhunderts, die sich nach zweihundert Jahren der
Industrialisierung eingeschlichen haben, lösen wollen, müssen wir mit der genau gleichen
Konsequenz unter Einbeziehung sämtlicher gesellschaftlicher Kräfte die Weichen jetzt richtig stellen, denn Maßnahmen von heute werden erst in fünfzig Jahren greifen. 90
Für die nächsten zwei Generationen werden die Kostenfolgen des Klimawandels
gigantische Ausmaße annehmen. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass die meisten erdölexportierenden Länder bereits ihre maximalen Fördermengen erreicht haben, der
Erdölkonsum aber gleichzeitig mit dem globalen Wirtschaftswachstum weiter ansteigt. Ist der Höhepunkt der weltweiten Fördermengen erreicht - in Saudi-Arabien vermutlich ebenfalls in den nächsten zehn Jahren werden sprunghaft ansteigende Ölpreise zu erwarten sein.
Zurzeit ist der Klimawandel in aller Munde. Die Schweizer Großbank UBS nimmt sich in
ihrem neuesten „UBS research focus« vom Januar 2007 diesem Thema sehr präzise und ohne zu beschönigen an. Die folgenden Abschnitte zur allgemeinen Analyse der Sachlage stützen sich auf diesen Bericht. Unter dem Titel „Vermeidung schwerwiegender Klimaereignisse«
wird festgehalten, dass ein Anstieg der durchschnittlichen Oberflächentemperatur der Erde um mehr als zwei bis drei Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Stand schwerwiegende sozioökonomische Folgen haben wird.
Eine Folge wäre u.a. ein Anstieg der Meeresspiegel sowie der Verlust von Lebensraum. Sollte
sich die Erde mit der bisherigen Geschwindigkeit weiter erwärmen, würde dieser Schwellenwert noch vor dem Ende dieses Jahrhunderts erreicht werden. Um schwerwiegende Klimaereignisse
zu verhindern, müssen die Emissionen gesenkt und die Konzentration der Treibhausgase stabili siert werden. Das Szenario eines unveränderten Anstiegs weicht stark von der Richtung ab, die eingeschlagen werden müsste. Der weltweit durchschnittliche Pro-KopfKonsum von fossilen
Brennstoffen müsste um rund zwei Drittel reduziert werden, um die Treibhauskonzentrationen zu stabilisieren. In den Industrieländern müsste der Verbrauch durchschnittlich sogar um den Faktor zehn zurückgehen. Dieser enorme Faktor zehn gibt eine ganz klare Marschrichtung
vor. Eine Möglichkeit dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen zeigt das Modell der ,,2000 Watt-
Gesellschaft« auf. Es wurde an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich (ETHZ) entwickelt. Demnach reicht für ein Land wie die Schweiz ein konstanter Leistungsbedarf
von 2000 Watt pro Kopf aus, um ein ungestörtes Wirtschaftswachstum und eine gleich hohe Lebensqualität wie heute zu ermöglichen. Zum Vergleich: Der Pro-Kopf-Leistungsbedarf in Afrika beträgt 500 Watt, in Westeuropa sind es 6000 Watt und in den USA 12000 Watt. Wir
haben drei Möglichkeiten unseren Konsum fossiler Energie zu reduzieren: die erneuerbaren
Energiequellen erschließen, die Effizienz der Maschinen und Gebäude erhöhen oder unseren Komfort einschränken. Wenn wir uns nicht rechtzeitig der bei den erstgenannten Strategien annehmen, wird zwangsläufig die letztere eintreffen.
Als Ausweg wird oft die Atomenergie genannt. Jedoch werden deren Vorteile bei Weitem von deren Nachteilen überwogen. Nach heutigen Schätzungen werden die bekannten
Uranvorkommen bei gleich bleibender Produktion und Kraftwerkskapazität noch für 60 Jahre reichen. Damit werden zurzeit gerade mal 6 % der weltweiten Primärenergieversorgung
91
gedeckt. Die Atomenergie wird unser Energieproblem nicht lösen können. Im Gegenteil, sie
hinterlässt radioaktive Abfälle, welche mindestens 100000 Jahre sicher gelagert werden müssen. Zum Vergleich: Vor der gleichen Zeitspanne herrschte noch das Paläolithikum (Altsteinzeit), Europa wird vom Neandertaler besiedelt, der Homo Sapiens ist noch nicht aus Afrika
eingewandert. So ist es nicht erstaunlich, dass bislang in den meisten Ländern die Standortfrage und die Art der Lagerung ungelöst sind. Gemäß neuen Ökobilanzierungen ist die Atomenergie alles andere als CO2-neutral - das wäre aber ihr einziger Vorteil.
Die größte Einzelursache für Treibhausgasemissionen ist wie bereits erwähnt die Nut
zung von Energie aus fossilen Brennstoffen. Diese ist für etwa zwei Drittel des weltweiten
Gesamtausstoßes verantwortlich. Davon wiederum sind global betrachtet die Industrie, der Verkehr und die Gebäude zu etwa gleichen Teilen verantwortlich.
LÖSUNGSANSÄTZE Der einzige nachhaltige Weg aus der Energiemisere führt über die Wiedereingliederung
unserer Zivilisation in die natürlichen Energiekreisläufe. Als Wissenschafter und Ingenieure sind wir dafür mitverantwortlich. Es geht nicht darum, die Zeit vor die Industrialisierung
zurückzudrehen. Vielmehr sollen mit den technischen Errungenschaften erneuerbare Energien genutzt werden Wind-, Geo-, Sonnen-, Wasser-, Gezeiten-, Biomassen- und Abfallenergie. Derzeit decken diese 14 % der globalen Primärenergieproduktion ab. Um die Ziele der
2000Watt-Gesellschaft zu erreichen, müssten diese, ausgenommen Biomasse und Groß
wasserkraftwerke, jährlich um 11 % wachsen und die fossilen Brennstoffe im gleichen Zeitraum um 2 % zurückgehen. Dabei ist festzuhalten, dass alle nötigen Technologien bereits heute
bekannt sind. Durch eine breite Diversifizierung und geografische Streuung entsteht auch die
nötige Stabilität bezüglich Schwankungen im Stromnetz. Gleichzeitig muss aber der gesamte Energieverbrauch der westeuropäischen Staaten um den Faktor drei von heute 6000 Watt auf den angestrebten 2000 WattPro-Kopf-Leistungsbedarf gesenkt werden. Dies erreicht man in erster Linie mit der Effizienzsteigerung von Maschinen, Fahrzeugen und Gebäuden.
Nach Angaben der Europäischen Kommission entfallen auf den Bau und die Instandhaltung von Gebäuden, einschließlich Heizung, Klimaanlagen, Beleuchtung und elektrische Ausstattung,
40% des Energieverbrauchs in der EU. Genau hier beginnt die Verantwortung des Architekten. Bereits heute werden Wohnbau- und Büroprojekte mit einer über das Jahr ausgeglichenen Energiebilanz realisiert. Als baukonstruktive Basis dient der Passivhausstandard, in der
Schweiz ist dies der Minergie-P-Standard. Ergänzt wurde dieser durch den MinergieEco-
Standard, der auch die Ökobilanz der Baumaterialien berücksichtigt. Die Energiekennzahlen 92
sind in diesen modernen Standards um den Faktor sechs bis zehn tiefer als bei den staatlich geforderten Werten. Die Bauherren sind unter anderem Pensionskassen, Lebensversicherer
oder Konzerne, die ihr Corporate Image mit energieeffizienten, modernen Bauten nach außen sichtbar machen wollen. Die institutionellen Anleger legen größten Wert darauf, dass die
Immobilienanlagen langfristig die nötigen Renditen abwerfen. Auch in diesem Punkt bieten solche »Nullenergieprojekte« bereits heute große Vorteile bei gleicher Rendite. Angestrebt werden stabile Bruttomieten, in denen die Heiznebenkosten bereits enthalten sind. Daraus
profitieren in erster Linie die Mieter, weil sie vor lästigen Nebenkostenerhöhungen gefeit sind und so ihr privates Budget besser planen können, gleichzeitig entstehen Mietwohnungen mit einem wesentlich höheren Wohnkomfort. Dem Investor gibt es den Vorteil, dass er auf dem Wohnungsmarkt mit stabileren Mieten, unabhängig vom Öl preis, in Zukunft einen großen
Marktvorteil besitzt. Betrachtet man die Lebenszykluskosten eines Gebäudes, so fällt auf, dass für die Erstellungs- und Planungskosten gerade mal 17 % anfallen, hingegen für Unterhalt
und Erneuerung 40 % und für die Heizenergie 40%,3% muss für den Rückbau zurückgestellt werden. Vergleicht man ein modernes Nullenergieprojekt, ist zwar mit 10% höheren
Erstellungskosten zu rechnen, dies sind 1,5 % der Lebenszykluskosten, hingegen können 40% der Lebenszykluskosten in Form von nicht benötigter Energie eingespart werden. In dieser Betrachtung sind die zu erwartenden steigenden Energiepreise noch nicht berücksichtigt. Bauten haben im Vergleich zu Fahrzeugen eine wesentlich höhere Nutzungsdauer. Mit
entsprechenden Vorschriften könnten sämtliche motorisierten Fahrzeuge innerhalb einer Dekade durch umweltfreundliche Fahrzeuge größtenteils ersetzt werden. Bei Bauten ist dies nicht
möglich. Es gilt daher nicht nur die Neubauten, sondern auch den Bestand näher zu betrachten. Es wird kein Weg daran vorbeiführen, auch diese Bauten schrittweise zum Passivhausstandard
aufzurüsten. Selbstverständlich wird es Ausnahmen geben, so zum Beispiel historische Bauten
mit denkmal geschützten Fassaden, oder generell Bauten, die älter als 100 Jahre alt sind. Diese machen aber einen vernachlässig baren Anteil des Baubestands aus und könnten zum Beispiel mit CO2-neutraler Biomasse beheizt werden. Wenn die Altbauten in den nächsten 50 Jahren auf den geforderten Standard aufgerüstet werden sollen, so ist eine staatliche Koordination unumgänglich, die öffentliches Interesse über privates Interesse stellt. Zumindest in der
Schweiz ist uns dies aus der Vergangenheit mit großem Erfolg bekannt - einerseits durch den
Nationalstraßenbau, andererseits durch die Raumplanung, die die explosionsartige Zersiedelung der Nachkriegszeit durch kantonale Richtpläne und kommunale Nutzungspläne bremsen und
lenken konnte. In beiden Fällen wurden die entsprechenden Ämter und Planer aktiv. Das gleiche darf von der heutigen Generation von Planem, Beamten und Politikern erwartet werden. Dieses Thema ist in dieser Konsequenz neu und sollte sehr schnell an den Hochschulen analysiert und für eine öffentliche Diskussion aufbereitet werden. Eines steht bereits heute fest: Das Dogma
93
„Wirtschaftswachstum bedeutet steigender ÖIkonsum« stimmt nicht. Im Gegenteil, die Ef
fizienzsteigerung unserer Maschinen, Fahrzeuge und des Baubestands wird die Binnenwirtschaft massiv ankurbeln und gleichzeitig den Ölkonsum entscheidend senken.
Planung eines Nullenergieprojekts Nachhaltiges Bauen versteht sich nicht als neue
Architektursprache. Vielmehr wird durch den optimalen Einsatz der Baumaterialien ein
energieeffizientes Gebäude mit einer intelligenten Hülle und ausgewogener Haustechnik konzipiert. Konstruieren rückt wieder stärker ins Zentrum architektonischen Schaffens. Neue Materialien generieren eine neue Ästhetik. In einem ausgewogen konstruierten, energieeffizienten Gebäude stehen die Sparstrategie und die Gewinnstrategie unter
Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten im Gleichgewicht. Die Sparstrategie ist aus dem Passivhausstandard bestens bekannt: Eine kompakte Gebäudeform und eine gute Dämmung reduzieren die Transmissionsverluste, eine kontrolliert dichte Gebäudehülle reduziert die
Lüftungsverluste. Durch die Haustechnik werden Energiekreisläufe der Medien Luft und Wasser durch Wärmerückgewinnung geschlossen. Abluft und Abwasser wird jeweils die
Wärme entzogen und der Frischluft respektive dem Frischwasser zugeführt. Doch auch die
Gewinnstrategie wird im Passivhausstandard betrachtet. Große Fensteröffnungen erzeugen auf der Südfassade solare Gewinne. Eine solche vereinfachte Konstruktionsweise ist allerdings ungenügend, weil der Komfort darin unberücksichtigt bleibt. So führen Überhitzungen des
Innenraums in der Realität im Winter zu geringerem Energienutzen und im Sommer zu Kom fortproblemen. Ein solarthermisches System muss daher immer mit dem Zusammenspiel von vier relevanten Komponenten konstruiert werden:
1. Die transparente Wärmedämmung: Diese kann auch ein Isolierglas sein. Das Sonnenlicht dringt in das Gebäude ein, die Wärme kann dieses nicht mehr verlassen.
2. Der Absorber: Dieser kann auch selektiv sein; das Sonnenlicht wird an einer dunklen
Oberfläche absorbiert, also in Wärme umgewandelt, gleichzeitig wird die Wärmeabstrahlung unterdrückt.
3. Der Speicher: Die absorbierte thermische Energie wird in Form von Masse gespeichert und zeitverzögert an den Innenraum abgegeben - etwa als Strahlungswärme.
4. Der Überhitzungsschutz: Bei überschüssigem solaren Energieeintrag wird die Überhitzung des Systems unterbunden. 94
Jede dieser Komponenten kann auf völlig unterschiedliche Weise ausgebildet werden, wichtig ist nur das kontrollierte und ausgewogene Zusammenspiel. Somit resultieren verschiedenste Spielarten, die zu völlig neuen Materialkombinationen führen und neue Baumaterialien
generieren. Optimal eingesetzte passivsolare Gewinnsysteme führen zu einer Reduktion
der Energiekennzahl um 30 bis 50 %. Passiv- und Nullenergieprojekte lassen sich dadurch einfacher konstruieren. Die genau gleichen Grundsätze gelten für die Glasarchitektur.
Auch dort geht es um die Kontrolle von Solareinträgen und Transmissionsverlusten. Am
elegantesten ist dies der Fall, wenn man bereits in der Fassade selbst darauf reagiert - also das Sonnenlicht, wenn nötig, absorbiert, speichert, kontrolliert, abführt und umgekehrt die Trans
missionsverluste kompensiert. In diesem Zusammenhang wird an der Hochschule Liechtenstein innerhalb eines Forschungsprojektes mit Partnerhochschulen und -instituten am „Thema Flüssigkeitsdurchströmte Gläser mit integralem Energiemanagement“ gearbeitet. Leider
bestehen bei den Baumaterialien große Defizite bezüglich dieser passivsolaren Komponenten, weshalb innerhalb von Forschungs- und Pilotprojekten zu diesem Thema immer wieder neue
passivsolare Komponenten entwickelt werden müssen. Bei manchen mittlerweile serienmäßig hergestellten Produkten werden Phase-Change-Materialien als Speichermaterial eingesetzt.
Dieses bei Raumtemperatur schmelzende bzw. gefrierende Salzhydrat besitzt die zehnfache
Speicherkapazität von Beton und ist daher nicht nur ästhetisch, sondern auch physikalisch ein überaus interessantes Basismaterial. Als Überhitzungsschutz werden prismatisch ausgeformte Plexiglasplatten eingesetzt, die die steil stehende Sommersonne reflektieren und die flach stehende Wintersonne transmittieren. Das Produkt ist modular aufgebaut und kann den jeweiligen Bedürfnissen der Architekten oder Bauherrn angepasst werden.
Auch in der Lehre müssen ernsthafte Schritte unternommen werden. Dabei lässt sich feststellen, dass das Interesse der Studierenden sehr groß ist. Aus diesem Grund erscheint es also durchaus angemessen, an jeder Hochschule oder Universität, an der Architektur unterrichtet wird, auch mindestens einen Masterkurs für nachhaltiges Bauen anzubieten - mit den Hauptfächern Ent werfen und Konstruieren und den projektbezogenen Pflichtfächern Bauphysik, Materiallehre und Haustechnik. Nur wenn aber bei jungen Architekten das Interesse und das Verständnis für nachhaltiges Bauen geweckt und in der akademischen Ausbildung überdies eine solide
Grundlage für das Konstruieren gelegt wird, kann es gelingen, die enormen Herausforderungen durch die Energieknappheit unseres Jahrhunderts zu meistern.
Energie ist eine physikalische Größe und lässt sich somit präzise messen. Das heißt, dass auch energieeffiziente Bauten messbar geworden sind, etwa durch die Energiekennzahl und die
Ökobilanzierung der Baumaterialien, welche den Betriebsenergiebedarf und die graue Energie des Bauwerks beziffern. Dass Architektur dadurch messbar, womöglich noch qualifizierbar wird, ist für viele Architekten ein schrecklicher Gedanke. Aber genau dies wird in Zukunft
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durch den »Energiepass« der Fall sein. Architektinnen und Architekten sollten sich nicht
defensiv gegenüber dem nachhaltigen Bauen verhalten, sondern aktiv und vielfältig den Diskurs der guten Architektur unter geänderten Rahmenbedingungen fortführen.
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Jean-Philipp Vassal,
„Séjourner sur L`herbe, Zum Technologietransfer von Lacaton & Vassal“,
in: Werk, bauen + wohnen 04, Andreas Ruby Gesprächsleitung, 2002, S. 10-15.
«Wäre die Natur vollkommen, brauchte man keine Häuser.» Emilio Ambasz wbw: Das Gewächshaus besitzt in eurer Architektur zweifellos eine Schlüsselposition.
Kaum ein Projekt, das nicht in irgendeiner Weise seine Einflüsse trägt: ob auf der Ebene des Materials (Polycarbonat). der Raumtypologie (als erweiterter Wintergarten) oder selbst der
Konstruktion wie in der Maison a Coutras, die ein industrielles Standardgewächshaus tel quel
als Wohnhaus reklamiert. Woher rührt diese ausserordentliche Bedeutung des Gewächshauses für eure Architektur?
Jean-Philippe Vassal: Das Gewächshaus hat sich an einem bestimmten Punkt unserer Arbeit
als Möglichkeit erwiesen, um eine bestimmte Vorstellung vom Wohnen architektonisch umzu setzen. Diese Vorstellung wurde entscheidend durch meine Erfahrung in Afrika gebildet,
wo ich von 1980-85 gelebt habe, in Niamey, der Hauptstadt des Niger. Nachdem ich gerade mein Architekturstudium in Frankreich absolviert hatte, fand ich mich hier in extremen klimatischen Bedingungen wieder, die jedes europäische Verständnis von Architektur,
Haus und Wohnen komplett in Frage stellten. Im Niger steigt die Lufttemperatur tagsüber
auf etwa 40 Grad, und selbst nachts liegt sie immer noch bei 25 bis 30 Grad. Unter diesen Bedingungen hat Architektur vor allem zwei Aufgaben: Schatten und Kühle zu erzeugen. Das Haus muss sich also der Sonne verschliessen und gleichzeitig dem Wind öffnen.
Entsprechend ist die Strohhütte der gängige Haustyp: eine sehr leichte Konstruktion aus
Ästen, mit Wänden aus Stroh und Reismatten als Dach. Interessanterweise beruht die Maison Tropicale, die Jean Prouve 1949 in Niamey gebaut hat, auf demselben Prinzip.
Der einzige Unterschied liegt in den Materialien: Das Tragwerk ist aus Stahl, das Dach aus
Aluminiumblech, während die Aussenwände aus horizontal angeordneten Brise-Soleils gebil det werden, die mit ihrer hellen Aluminiumhaut die Sonne reflektieren und so das Hausinnere vor Aufwärmung schützen. Durch die verschatteten Zwischenräume der Brise-Soleils strömt der Wind ins Haus und versorgt die beiden eingestellten Wohnräume mit frischer Luft, um
schliesslich durch eine Längsöffnung im Dach wieder zu entweichen. Bis heute ist Prouves 97
Haus das einzige moderne Haus in Niamey, das ohne Klimatisation auskommt. Es ist, als würden die extremen Bedingungen des Orts eine Re-Definition des Komforts erzwingen,
ihn von jeder bourgeoisen Konnotation befreien und auf eine gleichsam existentielle Ebene zurückführen, auf der es einzig und allein darum geht, ob die Architektur innerhalb dieses extremen Klimas einen Ort schaffen kann, an dem es sich leben lässt.
wbw: Der Wohnraum ist so gesehen kein wirklich abgeschlossener Innenraum, man wohnt
gewissermassen im Freien. Welche Rolle spielt dann überhaupt noch das Haus, wo fängt es an und wo hört es auf?
Vassal: Das Haus stellt im Wesentlichen jenes Minimum an Innenraum zur Verfügung, das man vor allem nachts braucht, um unter der endlosen Weite des Himmels ein Stück Intimität zu
finden. Bei den Tuareg-Nomaden ist das eine Mischung aus Hütte und Zelt: Ein grosses Stück
aus Schafs- oder Kamelhaut, das wie eine Plane über einigen im Wüstensand steckenden Ästen liegt und ein etwa 1,30 m hohes Obdach formt, das ausschliesslich zum Schlafen dient. Am
Morgen nimmt man die Kissen und Teppiche, auf denen man die Nacht verbracht hat, hinaus
ins Freie, um sich in der Morgensonne etwas aufzuwärmen. Wenn nach ein, zwei Stunden die
Sonne zu heiss wird, zieht man mit seinen ganzen Liegemöbeln weiter, um an einem Platz mit Sträuchern etwas Schatten zu finden. Gegen Mittag wird es auch hier zu heiss, und man bricht erneut auf, um ein kühleres Fleckchen unter Bäumen zu finden. So geht das den ganzen Tag. Auf diese Weise legen die Tuareg (wohnend) einen Weg zurück, der am Morgen beim Zelt beginnt und am Abend dort endet.
wbw: Enthält dieses nomadische Wohnen auch eine Definition von Haus? Vassal: Ich glaube ja, nur beschränkt sich dieser Begriff von Haus nicht auf das Zelt,
sondern schliesst theoretisch die gesamte Landschaft der Wüste mit ein. Denn die Aktivität des Wohnens definiert einen Raum, der grösser ist als das Haus. Dadurch verliert das Haus
seine Grenzen und verwandelt sich in ein Territorium. Letztlich trifft das auch für ein Haus in Europa zu, nur hängt man hier noch an einem traditionellen Begriff von Haus, in dem
die Mauern des Hauses auch seine Grenzen bilden - eine sicherlich psychisch motivierte
Abgrenzung. Denn sobald man nur ein Fenster öffnet, erweitert sich das Haus zwangsläufig nach draussen, die Innenwand des Wohnraums schiebt sich an den Horizont und der
Ausblick wird zu ihrer Tapete. Deswegen ist nicht nur der Garten Teil des Hauses, sondern
genauso die Strasse, auf der man zu seinem Haus gelangt, eine Art antichambre en plein air. Letztlich ist die Wand eines Hauses eher eine Art Haut, und damit eine Membran und keine 98
Grenze. wbw: Eher wie eine Membran funktioniert auch die Fassade eines Gewächshauses. Welche Rolle spielt nun das Gewächshaus im Zusammenhang mit dieser in Afrika beobachteten Wohnvorstellung?
Vassal: Das Gewächshaus leistet in gewisser Weise die klimatische Übersetzung. Denn
natürlich ist das Wohnen im Freien, das mich in Afrika so fasziniert hat, in Europa aufgrund
des kälteren Klimas nicht wirklich möglich. In dieser Situation eröffnet das Gewächshaus die Möglichkeit einer begrenzten Klimakorrektur. Denn letztlich macht das Gewächshaus nichts
anderes, als einer bestimmten Kultur an einem ihr fremden Ort die für ihr Wachstum nötigen Bedingungen zu geben, indem es das örtliche Klima leicht modifiziert, ohne sich dabei von
diesem völlig abzukoppeln. Analog benutzen wir das Gewächshaus in unserer Architektur, um eine Wohnkultur zu ermöglichen, die in unseren Breiten eigentlich nicht existieren könnte.
wbw: Auf diese Weise wird das Know-how, das die Gewächshausarchitektur in ihrer langen
Tradition anwendungsorientierter Forschung angesammelt hat, quasi von der Seite angezapft und für eine zeitgenössische Definition des Wohnens nutzbar gemacht, weil es seitens der Architektur kaum eine Grundlagenforschung gibt, auf die man sich beziehen könnte.
Vassal: Deswegen ist die Architektur zum Beispiel für Rosen ja auch mindestens zehnmal so intelligent wie die Architektur für Menschen. Es liegen Welten zwischen dem thermischen
Komfort, den Pflanzen in einem Gewächshaus geniessen, und den Bedingungen, unter denen
Menschen in einem normalen Wohnhaus existieren. Spätestens hier versteht man, wie sehr das Wohnhaus immer noch in einer Logik der Protektion gefangen ist und wie zutiefst defensives sich zu seiner Umgebung verhält: so wenig Fenster wie möglich, so viel Wand wie möglich
und mit möglichst starker Isolation dazu - alles festgelegt und vorgeschrieben in unzähligen
Bauvorschriften, die von einem völlig traditionellen Haus ausgehen und immun sind gegen jede Bemühung, von anderen Disziplinen zu lernen, wie sich Wohnbedingungen vielleicht besser gestalten lassen könnten.
Im Gegensatz dazu weisen Gewächshäuser dank der Jahrzehnte lang in sie investierten
Forschungsarbeit heute ein Mass an Intelligenz auf, das im Vergleich zur Architektur wie
Science-Fiction anmutet. Das zeigt sich unter anderem in der Zuverlässigkeit, mit der man in heutigen Gewächshäusern die klimatischen Bedingungen steuern kann: So lässt sich
die Temperatur auf ein halbes Grad, die Luftfeuchtigkeit auf einen ganzen Prozentpunkt
genau bestimmen; die Menge an einstrahlendem Sonnenlicht ist ebenso steuerbar wie die 99
Intensität der Luftzirkulation. Und da das Klima im Gewächshaus nicht autonom ist, son
dern vom Aussenklima abhängt, müssen alle diese Parameter fortwährend mit den äusseren
Bedingungen wie Helligkeit, Feuchtigkeit, Temperatur und Windstärke abgeglichen werden, um im Inneren dauerhaft jenes Klima zu garantieren, das die angebaute Kultur benötigt.
wbw: Trotz oder vielleicht auch wegen dieser tiefen Kluft betreibt eure Architektur seit Jahren ein „Learning from the Green House“. Welche Erfahrungen habt ihr bei diesem Typologie und Technologie-Transfer speziell mit Ingenieuren gemacht? Vassal: Als wir unser erstes Projekt realisierten, das Haus Latapie, brauchten wir die Expertise eines Haustechnikers.
Angesichts des kleinen Budgets des Projektes war es jedoch sehr schwierig, Ingenieurbüros
zu interessieren, die das normalerweise für Architekten machen. Schliesslich fanden wir ein besonderes Institut, die I`Agence pour les Economies d‘Energie, in dem es zwei separate
Haustechnik-Abteilungen gab; die eine beschäftigte sich ausschliesslich mit Gewächshäusern, die andere nur mit Wohnhäusern. Wir präsentierten unser Projekt in beiden Abteilungen und
trafen bei den Ingenieuren zu unserer Überraschung auf zwei völlig antagonistische Vorstel lungen von Thermik: Sprach der eine fortwährend darüber, wie man sich vor dem Draussen
schützen könnte - durch Wärmeisolation, Doppelfenster, Vermeidung von Kältebrücken etc. -
so schwärmte der andere begeistert davon, wie man sich das Draussen zunutze machen könnte - mit voll transparenten Fassaden zur Wärmegewinnung sowie mit einfachen und leichten
Lüftungs- und Verschattungssystemen zur Steuerung des Raumklimas. Unnötig hinzuzufügen, dass die beiden nie miteinander sprachen.
wbw: Und wo würdet ihr euch in diesem Streit der Klima-Ideologien positionieren? Vassal: Wahrscheinlich irgendwo dazwischen, auch wenn unser Dazwischen dem Gewächshaus schon näher ist als der Architektur. Von dieser Position aus entwickeln wir unsere Projekte, um jene entgrenzte Vorstellung des Hauses zu verwirklichen, die ich bei den Nomaden im Niger erlebt hatte. Das Gewächshaus bot sich hier förmlich an, weil es aufgrund seiner
filigranen Struktur in permanenter, fast intimer Beziehung zum Aussen steht. Es ist insofern das genaue Gegenteil der „Biosphere“, deren Glaskuppel zwar auch die Sonnenstrahlung nutzt, um sich aufzuheizen, aber ansonsten ein Biotop bildet, das vom Aussen völlig abgeschottet ist.Im Gegensatz dazu verstehen wir Architektur eher wie die Schichten von Kleidung auf der Haut.
Ist es draussen warm, trägt man nur ein leichtes Hemd. Wenn es etwas frischer wird, zieht man
einen Pullover drüber. Später nimmt man auch noch einen Mantel, weil es kühl wird, dann noch einen Regenmantel, weil es zu regnen anfängt, und zu guter Letzt einen Regenschirm, um seine Haare gegen Wind und Nässe zu schützen. Genauso besteht auch ein Haus aus sukzessiven 100
Schichten, die das Leben bekleiden, das sich unter seinem Dach ereignet. wbw: Das ist im Wesentlichen eine programmatische Begründung für eure Verwendung des
Gewächshauses. Nun sind Gewächshäuser aber auch eine ausgesprochen kostengünstige Form des Bauens, und da auch eure Architektur für ihre notorisch geringen Baukosten bekannt ist, stellt sich unweigerlich die Frage, in wie weit das häufige Auftreten des Gewächshauses in euren Projekten auch ökonomisch motiviert ist.
Vassal: Das eine schliesst das andere nicht aus. Dass das Gewächshaus als industrielles
Standardprodukt billig ist, spielt für uns zweifellos eine wichtige Rolle. Doch geht es uns
nicht um die Kostengünstigkeit an sich, sondern darum, was man sich mit dem eingesparten
Geld leisten kann. Man muss sich vergegenwärtigen, dass ein Quadratmeter Gewächshaus mit der ganzen Ausrüstung wie Verschattung, Ventilation, automatische Fenstersteuerung sowie
einem 4-5 Meter hohen Volumen nicht mehr kostet als ein guter Fliesenboden - ca. 600-700 FF 1m2. Also begnügen wir uns beim Boden mit einem einfachen Betonboden und bauen
mit dem frei werdenden Geld entsprechend mehr Raum - ungefähr 2-3 mal mehr als ihn ein
konventionelles Wohnhaus für dasselbe Budget bietet. Und dieses Mehr an Raum ist für uns
von zentraler Bedeutung, weil es das Haus je nem Begriff von Territorium annähert, von dem
wir vorhin sprachen. Die räumliche Expansion des Hauses durch Gewächshausstrukturen macht es möglich, das Wohnen aus der Zwangsjacke des Grundrisses zu befreien. Anstatt in ZimmerZellen eingesperrt zu sein, können die Funktionen gewissermassen im Raum „spazieren
gehem“. Und weil sich im Gewächshaus der Übergang von innen nach aussen sehr weich
vollzieht, kann sich das Wohnen auch aus dem Haus hinaus bewegen - zum Beispiel, wenn das Wetter schön ist, und man sein Essen im Garten einnimmt.
wbw: Mit dem Versprechen eines Wohnens im Grünen lockt die Fertighausindustrie Jahr für
Jahr Millionen in die sich allmählich entgrünenden Vororte. Disqualifiziert es sich dadurch nicht als Vision für eine zeitgenössische Forschung des Wohnens?
Vassal: Nein, weil die Fertighausindustrie dieses Versprechen
ja gar nicht einlöst, sondern nur als Klischee formuliert. Diese Klischees sind umso lebloser, je
stärker sie sich auf ländliche Vorbilder berufen. So bemüht beispielsweise eine maison landaise, die man als Fertighaus kaufen kann, die Vorstellung eines Bauernhofs in den endlosen Wäldern des Landes im Südwesten Frankreichs. In seiner wirklichen Existenz funktioniert dieses Haus
sehr stark mit seiner direkten Umgebung im Wald. Es steht an einer Lichtung mit einem grossen einzelnen Baum in der Mitte, meistens einer Eiche. An ihrem Stamm stehen eine Bank und
101
ein Tisch, und sobald es das Wetter erlaubt, gehen die Leute aus dem Haus über die Lichtung, setzen sich unter die Eiche, um dort zum Beispiel ihr Essen einzunehmen. Der Baum und die Lichtung gehören also sehr wesentlich zum Haus dazu. Wenn man eine maison landaise nun
als Fertighaus verkauft und damit auf das nackte Objekt des Hauses reduziert, hat das mit der
ursprünglichen maison landaise nichts mehr zu tun - ganz abgesehen davon, dass wenn man den Bauernhof im Wald 500-mal nebeneinander stellt, vom Wald natürlich nichts mehr übrig bleibt. Während die maison landaise einen Bezug zum Ort nur vorgibt, in Wirklichkeit aber völlig von ihm abgeschnitten ist, baut das Gewächshaus, das scheinbar völlig ortlos ist, einen ungemein intensiven Bezug zu seiner Umgebung auf.
wbw: Nun ist das Gewächshaus nicht dafür erfunden worden, um darin zu wohnen. Wie muss man es anpassen, damit es bewohnbar wird?
Vassal: Im Grunde braucht man das Gewächshaus nur mit einer festen Hausstruktur zu
ergänzen, entweder als An- oder Einbau, wohin man sich an Tagen mit extremer Witterung, oder wann immer man es sonst benötigt, zurückziehen kann. Diese Struktur muss mit
Transitionsmöglichkeiten ausgestattet werden, damit sich das Wohnen bei Bedarf in einen
grösseren Raum erweitern kann. Ein Beispiel dafür ist die grosse Faltwand im Erdgeschoss der Maison Latapie zwischen dem festen Wohnraum und dem Gewächshausanbau. Im geöffneten Zustand erweitert sich das Wohnzimmer aus dem festen Haus in das Gewächshaus hinaus
und verdreifacht dabei seine Grösse. Die Bewohner haben diese Kontinuität sofort genutzt,
indem sie es mit Wohnzimmermöbeln einrichteten und damit gleichsam in einen sejour d‘hiver
verwandelten, der sehr bald zum Hauptwohnraum des Hauses wurde. In der Maison EI Coutras ist der Wohn bereich vom Wintergarten nur durch gläserne Schiebetüren getrennt, sodass
sich das Wohnen auch hier unmerklich aus dem festen Haus in den Wintergarten bewegen
kann. Im Gegensatz zur Maison Lata pie ist der Boden des Wintergartens hier nicht befestigt, sondern besteht aus demselben Erdboden wie vor dem Haus auch. Die Bewohner benutzen
ihn als wirklichen Garten, der von einem Gewächshaus „behaust“ wird, haben Blumen und Ge müse gepflanzt und sogar einen Brunnen gegraben; doch dient der Wintergarten genauso zum
Wäscheaufhängen, als Abstellraum und als Frühstücksterrasse - eine Art sejour sur I‘herbe. Und in beiden Häusern lässt sich das Gewächshaus natürlich auch zum Aussenraum öffnen, damit man bei schönem Wetter über sein Haus hinaus ins Territorium wohnen kann.
wbw: Dennoch bildet seine Fassade nach wie vor eine Grenze, die erst überwunden werden muss.
Die konsequente Entsprechung dieses Wohnens wäre ein Gewächshaus, das diese 102
Transition von Innen-, Zwischen- und Aussenraum durch sein eigenes Verschwinden mit vollzieht.
Vassal: Das ist genau die Richtung, in die sich die Gewächshausarchitektur derzeit entwickelt. So wird das bisher verwendete Fassadenmaterial Wellpolycarbonat zunehmend durch eine
dünne, aber stabile Plastikfolie ersetzt, die aus zwei übereinander liegenden Folien besteht und wie eine Luftmatratze aufgepumpt werden kann. Das etwa 30 cm dicke Luftpolster gibt der
„Fassade“ eine sehr gute thermische Isolation, sodass die Wärme auch nachts, wenn die Sonne untergegangen ist und normale Gewächshäuser kalt werden, zumindest teilweise gehalten
werden kann. Das Verschwinden des Gewächshauses schlägt sich auch im Preis nieder: von 50
FF 1m2 (Polykarbonat) auf 5 FF 1m2. Dafür hält die Plastikfolie nur ca. zwei Jahre. Doch weil sie so billig und leicht zu installieren ist, ersetzt man sie bei Bedarf einfach durch eine neue Folie.
Vollständig entmaterialisiert wird die Fassade in dem neuesten Gewächshaus von Filclair, dem
weltweit führenden Gewächshausproduzenten, „Open Sky“: Es kann seine Folie innerhalb von 3 Minuten wie einen Hemdsärmel aufrollen, übrig bleibt die nackte Metallstruktur. Auf diese
Weise existiert das Gewächshaus nur noch dann, wenn man es braucht, also vor allem während
der Winterzeit. Wird das Wetter im Sommer schön, kann man die Folie hochrollen und nur noch bei zu starkem Regen oder Hagel herunterlassen.
In der Architektur kann man dieses Produkt nicht anwenden, weil es die Feuerschutzrichtlinien nicht erfüllt (obwohl es im Brandfall nicht brennt, sondern sehr schnell schmilzt und dadurch
das Feuer nicht weitergeben kann). Wir bedauern das, denn in gewisser Weise repräsentiert es
unsere Idealvorstellung von Architektur. Eine Architektur, die der Natur nicht mehr hinzufügt, als ihr zur Vollkommenheit fehlt. Jean-Philippe Vassal, * 1954
Dipl. Arch. Ecole d‘architecture de Bordeaux. 1980-85 Architekt und Städteplaner in Niamey, Niger. Seit 1987 eigenes Architekturbüro in Bordeaux zusammen mit Anne Lacaton. 1992-99
Professor an der Ecole d‘architecture de Bordeaux, 1994-99 Professor an der Ecole des BeauxArts, Bordeaux.
103
Vitruv
[Marcus Vitruvius Pollio], Zehn Bücher über die Architektur. Wie man bei der Anlage der
einzelnen Räume auf die Himmelsrichtungen Rücksicht nehmen muß,������������������������� übers. Dr. Curt Fensterbusch, [Dritte Auflage 1964],
Darmstadt: wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1981, S. 145.
Jetzt werden wir auseinandersetzen, infolge welcher Besonderheiten hinsichtlich ihrer
Verwendung die einzelnen Räume der Gebäude nach (bestimmten) Himmelsrichtungen
zweckentsprechend ausgerichtet sein müssen. Winterspeisezimmer und Bäder sollen gegen SüdSüd-West gerichtet sein, weil man sich des Abendlichts bedienen muß, außerdem, weil auch die Abendsonne, indem sie nach den genannten Räumen zu ihre glänzenden Strahlen ausbreitet,
Wärme ausstrahlt und die Gegend am Abend erwärmt. Schlafzimmer und Bibliotheken müssen gegen Osten gerichtet sein, denn ihre Benutzung erfordert die Morgensonne, und ferner
modern dann in den Bibliotheken die Bücher nicht. In Räumen nämlich, die nach Süden und Westen liegen, werden die Bücher von Bücherwurm und Feuchtigkeit beschädigt, weil die
von dort ankommenden feuchten Winde Bücherwürmer hervorbringen und ihre Fortpflanzung
begünstigen und dadurch, daß sie ihren feuchten Hauch (in die Bücher) eindringen lassen, durch Schimmel die Bücher verderben. 2. Die Frühlings- und Herbstspeisezimmer nach Osten: denn
den Lichtstrahlen ausgesetzt macht sie die zugewandte Sonneneinstrahlung, gegen Westen fort
schreitend, zu der Zeit, zu der man sie gewöhnlich benutzt, mäßig warm. Sommerspeisezimmer nach Norden, weil diese Himmelsrichtung nicht wie die übrigen während der Sonnenwende
infolge der Hitze schwül wird; weil sie vom Lauf der Sonne abgewendet ist, gewährleistet sie
- immer kühl - Gesundheit und Annehmlichkeit bei der Benutzung. Ebenso die Gemäldesäle, die Webereien der Brokatwirker und die Werkstätten der Maler, damit die Farben wegen der immer gleichmäßigen Lichtbestrahlung immer in gleicher Nuance bei der Arbeit erscheinen.
104
Tesuro Yoshida,
Das japanische Wohnhaus. Lüftung, Heizung, Belichtung, Wasserversorgung und Entwässerung, Berlin: Ernst Wasmuth GmbH, 1935, S. 145-150.
ALLGEMEINES Neben wohntechnischen, sozialwirtschaftlichen und ästhetischen Gesichtspunkten nimmt die
Hygiene beim Wohnungsbau eine außerordentlich wichtige Stellung ein. Alles, was Besonnung, Belüftung, Belichtung und Beheizung der Räume sowie Wasserversorgung und Entwässerung
anbetrifft, fällt in das Bereich der Hygiene. Die Gestaltung der Wohnung nach den Grundsätzen der Hygiene gehört also zu den ersten Erfordernissen beim Wohnungsbau. Bei der Betrach-
tung des japanischen Wohnhauses vom hygienischen Gesichtspunkt aus ist es notwendig, noch einmal einen kurzen Blick auf das Klima, die Lebensweise sowie auch das geistige Leben des Japaners zu werfen.
Das Klima in Japan ist derart, daß es kaum nötig ist, das Haus gegen Temperatur-Einwirkungen zu verschließen; man ist gewohnt, sich hier zu allen Jahreszeiten im Freien aufzuhalten. Andererseits hat der starke Einfluß des Buddhismus und die orientalische Philosophie, die die An-
sprüche der Menschen auf das äußerste beschränkt wissen wollen, dahin gewirkt, daß es dem japanischen Menschen selbstverständlich erscheint, sich mit wenigen Dingen zufrieden zu geben.
Deshalb stellt man auch keine großen Ansprüche an die Wohnung, sondern sucht im Winter wie
im Sommer ein möglichst naturverbundenes leben zu führen. In dieser Denkart und lebensweise der Japaner liegt auch der Grund, daß sich in Japan die technischen Einrichtungen nicht sonderlich entwickelt haben. In den Häusern des Mittelstandes ist man heutzutage in allererster Linie
darauf bedacht, die von der Natur gebotenen Mittel, wie Sonne, luftzug u. dgl., voll auszunutzen und die als Ersatz für die natürlichen Mittel notwendigen künstlichen Einrichtungen auf das äu-
ßerste zu beschränken. Unter dem direkten und indirekten Einfluß der europäischen Zivilisation finden aber die modernen technischen Einrichtungen, die bisher nur in öffentlichen Gebäuden verwendet wurden, nach und nach ihren Eingang auch in die Wohnhäuser.
105
LÜFTUNG Aus den früher geschilderten klimatischen Verhältnissen heraus ist eine gute Belüftung des
japanischen Hauses von großer hygienischer Bedeutung und daher allererster Gesichtspunkt
bei seiner Gestaltung. Durch Luftzirkulation muß die Luftbeschaffenheit im Hause besonders im Sommer erträglich gemacht und auch der Schimmelpilzbildung entgegengewirkt werden. Der Japaner baut daher sein Haus unter Berücksichtigung des sommerlichen Klimas im we-
sentlichen im Hinblick auf guten Luftzug. Beispielsweise liegt in Tokyo die Windrichtung im
Sommer zwischen 290 und 450 von Süden nach Osten (vgl. Abb. 168). Daher sollen nach Möglichkeit alle Wohnzimmer nach Süden orientiert werden und auch von der Nordseite Offnungen
haben, damit guter Luftzug erzielt wird. Der Luftwechsel ergibt sich daneben teilweise ganz von
selber aus der Holzkonstruktion, die durch Spalten usw. weitgehend luftdurchlässig ist, wie auch durch das für Wände, Fenster und Türen ver¬wendete sehr poröse Baumaterial ; besonders das
für Shoji verwendete Papier ist sehr luftdurchlässig. Die hygienische Abteilung der Kaiserlichen Universität in Kyoto hat Untersuchungen über die Lufterneuerung in geschlossenen Räumen angestellt, sowohl in japanisch als auch in europäisch gebauten Häusern. Es wurde ermittelt, daß der Luftwechsel im japanischen Hause ca. das Vierfache gegenüber dem im europäisch
gebauten Hause beträgt. Während beim japanischen Durchschnittshaus in einer Stunde eine ca. zweimalige vollständige Lufterneuerung stattfindet, geschieht das beim europäisch gebauten
Haus nur ca. 0,5 mal. Die Nachteile einer mangelhaften Lufterneuerung für Gesundheitszustand und Sterblichkeit sind statistisch erwiesen und machen sich besonders bei stärkerer Belegung
der Schlafzimmer bemerkbar. In Japan hat zufolge der vortrefflichen Lufterneuerung eine starke Belegung der Räume nicht die ungünstige Wirkung wie in Europa. Infolgedessen ist ein geringer Unterschied in dieser Hinsicht zwischen den Wohnungen der reichen und armen Bevölkerung Japans.
Durch die weitgehende Beschränkung der festen Wände und ihren Ersatz durch verschiebbare und entfernbare Wandteile wie Türen ist die Möglichkeit geschaffen, das japanische Haus
gewissermaßen in eine einzige große Halle umzuwandeln und die Grenze zwischen Garten und Innenräumen zu beseitigen. Das geschieht im Sommer zur Tageszeit regelmäßig; wo aber auf
das Vorhandensein von Türen Wert gelegt wird, verwendet man Schilfrohrtüren oder Schilfrohrvorhänge, die den Luftzug nicht behindern. Zur Nachtzeit muß natürlich auf Einbruchsgefahr Bedacht genommen werden. Es finden daher nachts im Sommer und in den kälteren Jahres-
zeiten Lüftungsöffnungen Anwendung, die einmal in der Oberwand als Ramma (vgl. Abb. 134), sodann im Oberteil der verschiebbaren Holzladen in Gestalt von Registern als Musemado (vgl. Abb. 158, 159) und schließlich unmittelbar über dem Fußboden als Hakidashimado mit 15 cm hohen Schiebetüren angeordnet sind. 106
HEIZUNG Das winterliche Klima der wichtigsten Städte Japans, Tekye, Osaka, Kyeto usw., ist ein kälteres als das von Paris und London, aber viel wärmer als das von Berlin (vgl. Abb. 3). Im Winter gibt es oft sonnenreiche warme Tage, an denen man die Wohnungen weit öffnet und Licht und Luft
eindringen läßt. Das Bedürfnis nach Heizung der Räume ist daher nicht so groß wie in Europa.
Von alters her ist das transportable Feuerbecken, Hibachi, mit glühenden Holzkohlen in Benut-
zung, an dem sich der der Temperatur entsprechend bekleidete Japaner nur die Hände wärmt. In kälteren Gegenden und in Familien mit bejahrten Familienmitgliedern findet noch eine andere Art Feuerbecken Verwendung: es besteht aus feuerfestem Material und ist in den Fußboden
eingesenkt, es ist also ortsfest. Ober diesem Feuerbecken erhebt sich ein tischartiges Rahmen-
gestell, über das eine Decke gebreitet ist. Die japanische Familie sitzt um dieses Kohlenbecken
herum und bedeckt den unteren Körper mit der Decke, durch die die Wärme zusammengehalten wird; es ist also eine Art Heißluftbad und wird Kotatsu genannt. Heizvorrichtungen wie elek-
trische Ofen und Gasöfen und Zentralheizungen sind nur in besseren Wohnungen in Benutzung.
BELICHTUNG UND BELEUCHTUNG Durch die großen Fensterflächen und Türöffnungen dringt tagsüber das helle Licht in die Räume, das durch die überwiegende Verwendung von durchscheinendem Papier statt des Glases
eine angenehme, aber auch notwendige Dämpfung erfährt. Als künstliche Lichtquelle ist heute das elektrische Licht weit verbreitet; vordem benutzte man Kerzen, Öllampen und Petroleumlampen. Man wendet meistens direkte Beleuchtung an, mattverglaste oder mit durchschei-
nendem Papier bespannte Beleuchtungskörper von einfachster Form, die ein gedämpftes Licht verbreiten.
WASSERVERSORGUNG UND ENTWÄSSERUNG In den meisten Großstädten Japans ist die Wasserversorgung durch Wasserleitung an europä-
ischen Verhältnissen gemessen und im Verhältnis zur Einwohnerzahl noch sehr rückständig. Nur ein Siebentel der Einwohner sind an das Wasserleitungsnetz angeschlossen. Die hauptsächlichs-
te Wasserversorgung erfolgt durch Brunnen, die im Hof oder Garten, besonders nahe der Küche, manchmal auch in der Küche selbst liegen und mit Holzdeckeln versehen sind. Gefördert wird das Wasser mittels elektrischer oder Handpumpe; falls die Pumpe im Freien liegt, wird es in
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Gefäßen ins Haus getragen. Kanalisation für die Abwässer und die Aborte ist nur in wenigen
Städten und in diesen auch nur in einzelnen Teilen vorhanden. Soweit keine Kanalisation vor-
handen ist, werden die Abwässer in zementierte, offene Gossen geleitet, während die Fäkalien aufs Land abgefahren werden.
108
Tagespresse:
109
hof.
“Dreckige Autos verteuern - Solardächer bauen“, in: Neue Zürcher Zeitung, 04. September 2007, S. 15.
Leuenberger will Energieeffizienz und erneuerbare Energien fördern
Bundesrat Leuenberger hat Aktionspläne zur Energieeffizienz und zu den erneuerbaren Energien in eine nationale Anhörung geschickt. «Saubere» Autos sollen billiger werden und energetische Gebäudesanierungen mit Mitteln aus der CO2-Abgabe gefördert werden.
Bundesrat Moritz Leuenberger hat am Montag Aktionspläne zu Energieeffizienz und
erneuerbaren Energien in eine nationale Anhörung geschickt. Bis Mitte Oktober kann die
Öffentlichkeit ihre Kritik und Vorschläge zuhanden des Bundesamtes für Energie einbringen.
Ende Jahr wird dann der Gesamtbundesrat über die Aktionspläne entscheiden, die auf der vom selben Gremium beschlossenen Vier-Säulen-Politik im Bereich der Energie beruhen: mehr
Energieeffizienz, Ausbau der erneuerbaren Energien, Verstärkung der Energieaussenpolitik und
Bau von neuen Kraftwerken. In den nun vorgeschlagenen Aktionsplänen «Energieeffizienz» und «erneuerbare Energien» werden die zwei ersten Säulen konkretisiert. Auf die Frage, ob im Falle einer Umsetzung aller Massnahmen auf den Bau eines Grosskraftwerkes verzichtet werden
könnte, wich Leuenberger aus. Sicher sei, dass dann kein zusätzliches neues gebaut werden müsste, sagte er.
3000 Franken weniger für sauberes Auto
Die Ziele, die mit den Aktionsplänen erreicht werden sollen, bestehen zum einen in einer
Reduktion des Verbrauchs fossiler Energien um 1,5 Prozent pro Jahr, einer Stabilisierung
des Elektrizitätsverbrauchs auf dem Niveau vom Jahr 2006 und der Anhebung des Anteils
erneuerbarer Energien am Gesamtenergieverbrauch um mindestens 50 Prozent bis zum Jahr
2020; heute liegt der Anteil der erneuerbaren Energien bei 16,2 Prozent. Erreicht werden soll dies mit verschiedensten Massnahmen (siehe Kasten). Bereits bekannt ist die Einführung der CO2-Lenkungsabgabe auf Treibstoffen ab 2013; diese würde mit etwa 15 bis 50 Rappen pro
Liter zu Buche schlagen (NZZ vom 17. 8. 07). Im Bereich der Mobilität will Leuenberger mit 110
der Autoindustrie verschärfte Zielvereinbarungen bei den CO2-Emissionen aushandeln oder
auch direkt erlassen. Die Ziele dazu orientieren sich, wie alle anderen Massnahmen auch, an denjenigen der Europäischen Union. Bis 2012 sollen die Emissionen auf maximal 130 g/km gesenkt werden.
Auf der Fahrzeug-Importsteuer will der Vorsteher des Departements für Umwelt, Verkehr,
Energie und Kommunikation ein Bonus-Malus-System einführen; damit soll der Kauf von
«sauberen» Fahrzeugen gefördert werden. Ein sparsameres Auto erhielte auf diese Weise einen Rabatt von 3000 bis 4000 Franken, sagte Leuenberger an der Medienkonferenz in Bern.
Neben den Massnahmen im Bereich der Mobilität zählen diejenigen im Gebäudebereich zu
den wohl wirksamsten. Mit einem befristeten nationalen Förderprogramm soll die energetische Erneuerung der Gebäude vorangetrieben werden. Eigentümer von Gebäuden, die aus den
Jahren vor 1995 stammen, kämen zwischen 2010 und 2020 in den Genuss von Fördermitteln, wenn sie ihre Immobilien auf den Stand von Minergie renovieren. Die Kosten dafür werden
auf mindestens 215 Millionen Franken veranschlagt. Alimentiert würden sie aus der ab 2008 geltenden CO2-Abgabe. Diese Förderung würde das Sanierungsprogramm der Stiftung Klimarappen ablösen.
An die Kantone wird zudem die Empfehlung gerichtet, dass ab kommendem Jahr bei
Neubauten der Minergie-Standard gelten soll. Bundesrat Leuenberger sagte, dass es dabei
nicht darum gehe, in die Kompetenz der Kantone einzugreifen, sondern vielmehr darum, die Zusammenarbeit untereinander zu verbessern. So seien es die Kantone, die die Beiträge zur Gebäudesanierung einsetzten, die zuvor vom Bund mit der CO2-Abgabe erhoben würden. Auch die Glühbirne, die in den vergangenen Monaten immer wieder für Gesprächsstoff
sorgte, taucht in den Aktionsplänen auf: Ab 2012 soll sie nicht mehr auf dem Markt angeboten werden dürfen. Auch die energetischen Mindestanforderungen an elektronische Geräte
werden verschärft. Hier geht es vor allem darum, nur noch möglichst energieeffiziente Geräte zuzulassen, die zum Beispiel Stand-by-Verluste minimieren. Dies seien «keine utopischen Vorstellungen», sagte Leuenberger. Entsprechende Geräte seien bereits auf dem Markt. Nur umweltverträglicher «Bio»-Treibstoff Um den Anteil der erneuerbaren Energien zu erhöhen, fordert Leuenberger unter anderem «100 000 Solardächer»; entsprechende finanzielle Anreize sollen dies ermöglichen. Bei Neubauten soll eine Pflicht zur Prüfung der Nutzung von Sonnenenergie zur
Warmwasseraufbereitung und zur Heizungsunterstützung eingeführt werden. Noch
brachliegende Potenziale bei der Wasserkraft sollen mit «massgeschneiderten Lösungen» für 111
einzelne Wasserkraftwerke genutzt werden. Bei den biogenen Treibstoffen will Leuenberger eine verpflichtende, bis auf 10 Prozent steigende Quote einführen. Den fossilen Treibstoffen würde also ein bestimmter Anteil von Treibstoffen, die aus nachwachsenden Organismen gewonnen werden, beigemischt. Nicht jeder «Bio»-Treibstoff soll aber in die Tanks der
Fahrzeuge geschüttet werden dürfen. Öko- und Sozialbilanzen müssten berücksichtigt werden, sagte Leuenberger, um die Umweltverträglichkeit zu gewährleisten.
Bundesrat Leuenberger erachtet die 26 Massnahmen insgesamt als wirtschaftsverträglich, ja sogar als wirtschaftsfördernd. Denn damit werde in der Schweiz eine Industrie aufgebaut, die eine weltweit nachgefragte Technologie produziert, sagte Leuenberger. Zudem seien
die Aktionspläne «haushaltsneutral und international kompatibel». Für die Förderung der Energieeffizienz sollen 26,5 Millionen Franken und für die erneuerbaren Energien 27,5
Millionen pro Jahr eingesetzt werden. Die Massnahmen sollen mit den Bedürfnissen der Kantone und der Wirtschaft abgestimmt werden.
112
Karl Viridén, „Je geringer der Energiebedarf, desto höher der Hauswert“,
in: NZZ am Sonntag, 26. August 2007.
Minergie-P-Häuser verbrauchen nur ein Fünftel der Heizwärme eines konventionellen
Gebäudes. Der Zürcher Architekt Karl Viridén setzt deshalb konsequent darauf, bei der Renovation von Liegenschaften auch die Energieeffizienz zu erhöhen.
NZZ am Sonntag: Energieeffizientes Bauen liegt im Trend. Warum setzen immer mehr Bauherren auf die ökologische Karte?
Karl Viridén: Energieeffizientem Bauen haftet nicht mehr das Kupfer-Wolle-Bast-Image an.
Immer mehr namhafte Investoren wählen bewusst das umweltfreundliche Bauen. Zum Beispiel die Swiss Re. Der Rückversicherer baut konsequent nach Minergie- oder gar PassivhausStandard. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die breite Masse die Vorteile entdeckt. Was ist anders beim Passivhaus im Vergleich mit dem Minergiehaus? Der Passivhaus-Standard ist strenger. Er ist erfüllt, wenn höchstens 30 Kilowattstunden (kWh) Energie - dies entspricht etwa 3 Litern Heizöl - pro Quadratmeter Wohnfläche und Jahr für Heizung, Warmwasser und Lüftung verbraucht werden. Bei Minergie-Neubauten liegt die
Messlatte bei 42 kWh pro m2 und Jahr, bei Minergie-Umbauten bei 80 kWh/m2. Zum Vergleich: Altbauten benötigen rund 200 bis 250 kWh/m2. Minergiehäuser sind also in Bezug auf den Energieverbrauch deutlich sparsamer.
Mit niedrigerem Energieverbrauch sinken die Betriebskosten. Unter ökonomischen Aspekten müsste man diese Standards in jedem Fall wählen. Was spricht dagegen?
Bauherren wissen in der Regel zu rechnen. Sie schauen in die Zukunft und sehen, dass
die Preise für Öl, Gas und Elektrizität tendenziell steigen. Die Mehrinvestition von rund 5 Prozent, die sich trotz tieferem Energieverbrauch im Moment noch nicht amortisieren
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lässt, nehmen sie in Kauf. Für Bauherren, die mit uns vor drei Jahren nach dem Minergie-P-
Standard renovierten, hat sich die Investition bereits ausbezahlt. Als wir vor sieben Jahren bei Umbauten den Passivhaus-Standard anstrebten, schüttelten viele noch den Kopf. Rendite und Investitionskosten stünden in keinem Verhältnis, hiess es. Heute, wo sich die Energiepreise vervielfacht haben, hat sich das Blatt gewendet.
Ist ein niedriger Energieverbrauch eine Win-win-Situation für die Umwelt und für die Hauseigentümer?
Erstes Ziel bei jedem Neu- und Umbau muss es sein, den Energiebedarf so weit als möglich zu minimieren. Das bedeutet im Baubereich: gute Fenster, gedämmtes Dach und gedämmte
Fassade sowie isolierte Kellerdecke. Wenn möglich noch Sonnenkollektoren aufs Dach. Gerade beim Warmwasser zahlt sich das aus - auch in Kombination mit anderen Energielieferanten wie Holzschnitzel-, Öl- oder Gasheizungen. Eine Wärmepumpe würde ich mit Photovoltaik, also
Solarzellen, kombinieren. Und noch ein Tipp: Wenn schon eine Wärmepumpe, dann sollte man
sie mit Ökostrom betreiben. Das verhindert, dass dem Bau neuer AKW Vorschub geleistet wird. Sind Minergiehäuser wohnlich? Ich wohne selber seit sechs Jahren in einem Passivhaus und kann mir gar nichts anderes mehr vorstellen.
Die zumeist hermetisch isolierte Gebäudehülle schreckt viele ab. Sie befürchten ein schlechtes Raumklima.
Es ist ja nicht so, dass keine Luft mehr hereinkommt. Sie strömt einfach über die Lüftung statt über das offene Fenster rein. Wer aber kalte Luft schnuppern, den Nebel einatmen oder die
Feuchtigkeit von draussen spüren möchte, kann auch im Passivhaus das Fenster sperrangelweit öffnen und rausschauen. Selbst im kältesten Winter, so lange er will. Dank der Lüftung ist
übrigens auch die Luft viel besser als diejenige in einem herkömmlichen Haus. Sie wird ständig erneuert und die einströmende Luft gefiltert. Die Schadstoffkonzentration ist damit deutlich tiefer. Ohne kontrollierte Wohnungslüftung müssten alle zwei Stunden die Fenster geöffnet werden, um dieselben guten Werte zu erreichen. Doch wer macht das schon. Gibt es weitere Gründe für Reno-vationen nach dem Minergie-P-Standard? Theoretisch kann jedes alte Gebäude in ein modernes Minergie-oder Passivhaus verwandelt
werden. Ökonomisch ist dies hingegen nicht in allen Fällen sinnvoll. Wenn die Investitionen zu hoch sind, kann es sinnvoller sein, die Liegenschaft abzubrechen und etwas Neues zu bauen. 114
Verschwinden dann die alten Energieschleudern vom Markt? Mittel- bis langfristig werden die Energiepreise den Immobilienmarkt stärker beeinflussen,
als viele meinen. Energieintensive Häuser verlieren an Wert. Bei Liegenschaften, die mit Öl
beheizt werden, rümpfen heute schon viele Käufer die Nase. Inzwischen gilt: Je geringer der Energiebedarf, desto höher der Wert eines Hauses.
Vor welchen Herausforderungen steht der Energieeffizienz-Gedanke bei Neubauten und bei Renovationen?
Unser Klima wandelt sich. Die neue Herausforderung wird sein, an Hitzetagen innerhalb des
Hauses eine wohnliche Atmosphäre zu erhalten, ohne gleichzeitig zu viel Energie fürs Kühlen zu verbrauchen.
Interview: Daniela Schwegler
115
Pascal Hollenstein, „Leuenberger: Zwei Milliarden für Öko-Häuser“ in: NZZ am Sonntag 19. August 2007, S. 9.
Der Bund soll die energetische Sanierung von Häusern mit knapp zwei Milliarden Franken unterstützen. Energieminister Moritz Leuenberger will dies dem Bundesrat vorschlagen.
Bundesrat Moritz Leuenberger lässt die energiepolitische Diskussion nicht zur Ruhe kommen. Am Donnerstag hat der SP-Magistrat der Öffentlichkeit seine Vorstellungen zur künftigen Klimapolitik vorgestellt. Wie Leuenbergers Sprecher André Simonazzi nun bestätigt, will
der SP-Bundesrat bereits «in den kommenden Tagen» Aktionspläne für die Verbesserung der Energieeffizienz sowie zur Förderung erneuerbarer Energiequellen vorlegen.
Die Aktionspläne, von denen der «NZZ am Sonntag» weit fortgeschrittene Entwürfe vorliegen, schlagen umfassende Massnahmenbündel auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene vor. Bei
der Ausarbeitung waren deshalb die Energiedirektorenkonferenz (EnDK) sowie Vertreter der Wirtschaft beigezogen worden.
Im Bereich der Energieeffizienz peilt Leuenbergers Aktionsplan bis ins Jahr 2020 eine Reduktion des Verbrauchs fossiler Energieträger von 20 Prozent gegenüber dem Jahr 2000 an.
Der Stromverbrauch soll im gleichen Zeithorizont auf dem Wert von 2006 eingefroren werden. Insgesamt sollen hierfür 18 Massnahmen umgesetzt werden, wobei der Gebäudebereich als aussichtsreichstes Tätigkeitsfeld eingeschätzt wird. So sollen vom Bund im Rahmen eines auf 10 Jahre befristeten «Förderprogramms für die energetische Erneuerung privater Gebäude» total
knapp 2 Milliarden Franken eingesetzt werden, um Hausbesitzer bei energetisch vorbildlichen Neubauten und Sanierungen zu unterstützen. Finanzieren will Leuenberger diese grüne Geldspritze für die Hauseigentümer mit einer teilweisen Zweckbindung der CO2-Abgabe, wie er sie bereits am Donnerstag in seinem Klimapapier vorgeschlagen hat.
Im Gebäudebereich sollen ferner die kantonalen Bau- und Sanierungsvorschriften harmonisiert und
verschärft werden. Der Bund selber soll als Bauherr eine Vorbildfunktion übernehmen und nur noch Minergie-Bauten errichten. Ferner sollen Bauherren und Planer mit einer Ausbildungsoffensive 116
sensibilisiert werden. Laut dem Aktionsplan soll ferner die Stromwirtschaft verpflichtet werden, mit ihren Grosskunden Spar-Vereinbarungen einzuführen, die Effizienzmassnahmen der Kantone
sollen durch eine Erhöhung der Bundesbeiträge gesteigert werden. Gleichzeitig soll auch mehr Geld in die Energieeffizienz-Forschung fliessen.
Im Mobilitätsbereich listet das Aktionsprogramm die bekannten Massnahmen auf: CO2-Abgabe auf Treibstoffe, verschärfte Zielvereinbarungen mit den Autoimporteuren, ein Bonus-Malus-
System für Neuwagen sowie verbrauchsabhängige Motorfahrzeugsteuern. Eher zum symbolischen Bereich zu zählen ist die Forderung, die Bundesverwaltung habe auf 20 Prozent ihrer Flugreisen zu verzichten und beim Rest den CO2-Ausstoss zu kompensieren.
Auch im Aktionsplan «Erneuerbare Energie» steht der Gebäudebereich eindeutig im Vordergrund.
Heute befeuerte Nah- und Fernwärmeversorgungen sollen systematisch auf den Betrieb mit erneuerbaren Brennstoffen oder mit Wärme-Kraft-Koppelungssystemen umgerüstet werden.
Für Häuser in der Nähe von Wärmeverbünden soll künftig eine Anschlusspflicht gelten. Die notwendigen Investitionen sollen nach dem Plan Leuenbergers über eine neue Abgabe auf
Fernwärme finanziert werden. Mit 20 Millionen Franken jährlich soll der Bund zudem ein
Förderprogramm für Sonnenkollektoren zur Brauchwassererwärmung und für den Ersatz von Elektro-, Öl- und Gasheizungen durch Wärmepumpen und Holzpellet-Heizungen lancieren.
Gesetzgeberisch tätig werden will Leuenberger zudem bei der Wasserkraft, von der er sich die
grössten Zuwächse in der Stromproduktion erhofft. Das Gewässerschutzgesetz soll revidiert werden «mit dem Ziel, die vorhandenen Potenziale der Wasserkraft auszunützen». Zudem sollen
neue Wasserkraftwerke von den bisher an die Kantone zu zahlenden Wasserzinsen teilweise entlastet werden.
Enttäuscht werden von Leuenbergers Aktionsplan dagegen die Anhänger der Stromgewinnung aus Sonne, Wind und Geothermie: Das Papier sieht hier - über die bereits beschlossene
Einspeisevergütung gemäss Stromversorgungsgesetz hinaus - keine weiteren Massnahmen vor. Diese Produktionsarten, so heisst es im Papier, «sind eher im Fokus der Forschungspolitik und weniger im Bereich der unmittelbaren direkten Förderung zu behandeln».
117
Rolf Hartl,
„Klimaschutz zwischen gutem Willen und Wirkung“, in: Neue Zürcher Zeitung 13. August 2007, S. 11.
Engagement im Ausland bringt hohe Wirkungen zur Reduktion von Treibhausgasen Im Klimaschutz werden zurzeit von vielen Seiten neue Ideen und Rezepte in die politische
Diskussion eingebracht. Der Autor plädiert für eine Orientierung der Lösungen an ökologischen wie ökonomischen Effizienzüberlegungen mit einer globalen Perspektive.
Die Erdölwirtschaft nimmt die Herausforderung der Klimaänderung an. So hat auch der
amerikanische National Petroleum Council, ein gewichtiges Beratungsgremium der US-
Regierung, in seiner jüngsten, unter dem Titel «Hard Truths» erstellten Studie zur globalen
Energiezukunft den Beitrag des Menschen zur Klimaänderung nicht abgestritten. Er bewegt sich damit in der Linie der stärker europäisch orientierten Ölunternehmen, für welche die
Klimaänderung schon seit einiger Zeit auf der politischen Agenda steht und die Milliarden in «alternative» Energieträger investieren. Weil die letzte wissenschaftliche Gewissheit
über die verschiedenen Facetten von Ursache und Wirkung in der Klimafrage kaum je bzw. nie erreicht werden kann und in der öffentlichen Wahrnehmung des Problems mehr denn
je ein gewichtiger Beitrag des Menschen zur Klimaänderung als gegeben angesehen wird,
besteht Handlungsbedarf. Den Kritikern der gegenwärtigen, überhitzten Klimadebatte darf man entgegenhalten, dass es neben dem Klimaschutz genügend andere Gründe dafür gibt, mit allen Energieressourcen, also auch den fossilen, haushälterisch umzugehen und die
Energieversorgung auf möglichst viele Standbeine zu verteilen. Dazu gehören die erneuerbaren Energieträger.
Keine einfachen Lösungen Das Programm für mehr Klimaschutz - sowohl global als auch lokal - ist an sich rasch
umschrieben: Förderung der Energie- und Materialeffizienz sowie der als valabel erachteten
CO2-mindernden «alternativen» Energieträger. Hinzu wird verstärkt das «Einfangen» des auf der Energiekette entstehenden CO2 mittels CO2-Abscheidung und -Speicherung kommen. Schwieriger wird es, wenn es um die konkrete Umsetzung dieser Grundsätze geht und
wenn neben dem CO2-mindernden Effekt weitere ökologische und wirtschaftliche Kriterien zur Bewertung der Alternativen herangezogen werden. Die derzeitige Diskussion um die 118
Biotreibstoffe ist dabei exemplarisch: Es gibt im Energiebereich keine einfache Zauberformel, mit der alle Probleme auf einen Streich gelöst werden können; auch bei den «alternativen»
Energieträgern gilt es Kompromisse zwischen Nutzerkomfort, Ökologie und Wirtschaftlichkeit einzugehen. Das Beispiel Biotreibstoffe zeigt, dass es innerhalb der Ökologie Zielkonflikte zwischen Klima- und «klassischem» Umweltschutz geben kann. Verkürzt gesagt, führt in
bestimmten Fällen eine Reduktion von CO2 zu einer Erhöhung von lokalen Umweltbelastungen. Grenzen der lokalen Klimapolitik
Bevor man deshalb handelt, tut man gut daran, sich über Möglichkeiten und Grenzen
der klimapolitischen Optionen klar zu werden. Im Gegensatz zu den meisten klassischen
Luftschadstoffen besteht bei den Klimagasen (CO2, Methan usw.) kein direkter Zusammenhang von lokaler Emission und lokaler Immission. Selbst wenn die Schweiz ihre Treibhausgas-
Emissionen gänzlich beseitigen würde, hätte das keinerlei Auswirkungen auf Wetterverlauf,
Permafrost oder Gletscherschwund. Zu unbedeutend (1,5 Promille, Tendenz sinkend) ist unser globaler Beitrag, und zu rasant entwickelt sich der weltweite CO2-Ausstoss ( 2,6 Prozent im
Jahr 2006 gegenüber 2005). Und zu CO2-effizient ist unsere Volkswirtschaft - wir stehen heute weltweit am besten da gemessen am freigesetzten CO2 pro Einheit BIP. Anders ausgedrückt:
Wenn die Industriestaaten, von den aufstrebenden Staaten Asiens ganz zu schweigen, dieselbe CO2-Effizienz wie die Schweiz an den Tag legen würden, wäre für die Treibhausgas-
Emissionen viel mehr gewonnen als durch die rigide Umsetzung aller denkbaren - auch
wirtschaftlich ineffizienten - Massnahmen in der Schweiz. Der Löwenanteil des Potenzials zur
CO2-Reduktion liegt daher im Ausland, wo eine Tonne CO2 zudem um ein Vielfaches günstiger reduziert werden kann als im Inland. Das Problem ist somit nicht bei den zwei oder drei
Dezimalstellen hinter dem Komma anzugehen, was zu leisten eine reine Inlandstrategie in der Lage wäre, sondern dort, wo das grösste Rendement erzielt werden kann. Dieser Einsicht, die
dem heutigen CO2-Gesetz noch nicht zugrunde liegt, hat die künftige Klimapolitik der Schweiz Rechnung zu tragen.
Internationale Initiativen fördern
In der Tat kann die Schweiz einen bedeutenden Beitrag leisten, indem sie das Engagement auf internationalem Parkett, wie es zum Beispiel der von der Wirtschaft getragene Klimarappen vorgezeichnet hat, weiter verstärkt und direkt in konkrete, emissionsmindernde Projekte investiert. Dafür stehen die beiden Gefässe des Kyoto-Protokolls, Clean Development
Mechanism (CDM) und Joint Implementation (JI), zur Verfügung. Mit dem oft gehörten
Odium des «Ablasshandels», des Handels mit «heisser Luft» oder des «Freikaufens» ist diese
Strategie nicht belastet, denn dem in einem CDM- oder JI-Projekt eingesetzten Franken stehen nachweisbare Emissionsreduktionen gegenüber, wie sie die für die Nutzbarmachung solcher
119
Instrumente aufgestellten Kyoto-Regeln garantieren. Gelingt es zudem, diese Instrumente
in den Dienst der Entwicklungszusammenarbeit und des industriellen Know-how-Transfers
zu stellen, werden neben der Emissionsreduktion eine zweite und eine dritte Dividende - die
aussenpolitische bzw. die exportwirtschaftliche - fällig. Ein solcher Ansatz wird in Form einer
gemeinsamen Initiative von Staat und Wirtschaft zu organisieren sein. Die Wirtschaft wird die beim Klimarappen gesammelten Erfahrungen darin einzubringen haben. Weg von einer starren Inland-Optik
Die Verlagerung des Fokus auf die Auslandmassnahmen und - neu - die Finanzierung der
durch den Klimawandel verursachten Anpassungsmassnahmen im Inland werden mehr kosten als die heutigen 1,5 Klimarappen pro Liter Benzin und Dieselöl. Fundamentale Gegner neuer
Abgaben, von denen es mehr gibt, als es die heutige Klimadiskussion vermuten lässt, werden sich damit trösten, dass diese Lösung um einiges zielführender ist als eine starre nationale
Optik, welche sich heute praktisch ausschliesslich auf eine CO2-Abgabe fokussiert. In ihrer klassischen Form der Lenkungsabgabe in der Höhe von 20 bis 30 Rappen pro Liter und mit
voller Rückerstattung bzw. Umverteilung kann in Sachen Klimaschutz bestenfalls das Gewissen beruhigt werden. Nachweisbare Wirkung auf das Klima hat die CO2-Abgabe indessen kaum.
In Grossbritannien mit den abgabenbedingt weitaus höchsten Treibstoffpreisen Europas, wo der Treibstoffabsatz zudem nicht durch den «Tanktourismus» beeinflusst wird, nahm dieser Absatz zwischen 2002 und 2006 um insgesamt 3,6 Prozent zu, während in der Schweiz mit moderaten Abgabesätzen der Absatz lediglich zum 3,2 Prozent gestiegen ist (wovon ein beträchtlicher Anteil auf die ausländische Betankung zurückzuführen ist). Die CO2-Abgabe eignet sich
deshalb kaum zur Erreichung eines bestimmten Emissionsziels (allenfalls wird ein Teil der
Emissionen über eine Veränderung der ausländischen Betankung «exportiert»). Eine Erkenntnis, die übrigens auch im neusten IPCC-Bericht (der Uno) nachzulesen ist. Selbstverständlich
entbindet die vorgezeichnete Klimastrategie nicht davon, als zielführend erkannte Massnahmen im Inland zu ergreifen. Biotreibstoffe, Bonus-Malus-Systeme, Verbrauchsstandards,
Förderung verbrauchsarmer Heizungen, Gebäudesanierungen sind nur einige (der auch für die Erdölwirtschaft bestimmenden) Handlungsfelder. Sie belegen im Übrigen, dass die Schweiz
im Klimabereich viel tut und auch vieles erreicht hat. Wir werden unser Kyoto-Ziel erfüllen. Dazu tragen nicht zuletzt die freiwilligen Anstrengungen der Wirtschaft (Energieagentur der
Wirtschaft, Klimarappen, Zielvereinbarungen) bei. Unsere Ausgangslage ist im internationalen
Vergleich sehr gut, weshalb die bevorstehende Diskussion über die schweizerische Klimapolitik «nach Kyoto» dem Wahlkampfgetöse zum Trotz mit einer gehörigen Portion Gelassenheit angegangen werden kann. Wir können es uns in jeder Hinsicht leisten, jene Instrumente
auszuwählen, die das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweisen, und auf andere konsequent zu verzichten. 120
Victor Merten,
„Energie droht gefährlich knapp zu werden“, in: NZZ am Sonntag 22. Juli 2007, S. 4.
Ein Bericht des Us-Energieministeriums sieht düstere Aussichten für die weltweite Energieversorgung. Die Autoren raten zu raschem Handeln.
„In den kommenden 25 Jahren sehen sich die USA und die Welt harten Tatsachen in der
weltweiten Energieversorgung gegenüber“. Diese beunruhigenden Worte stammen nicht von einer Umweltorganisation, sondern von einer Beratergruppe des US-Energiministers Samuel
Bodman. Sie stehen in einem neuen Bericht, den der National Petroleum Council diese Woche in Washington vorgestellt hat. „Facing the Hart Truths About Enerty“ lauete die aufrüttelnde Überschrift.
Laut dem 422 Seiten langen Werk (www.npc.org) wird der Energieverbrauch bis 2030
wegen steigender Einkommen und des Bevölkerungswachstums weltweite um 50-60 Prozent zunehmen. Zwar würden die Energiequellen nicht ausgehen, doch eine genügende, sichere und bezahlbare Versorgung schaffe grosse - womöglich zu grosse - Herausforderungen.
Die Unwägbargkeiten des Energiegeschäfts ballten sich heute auf neue Weise. Die Autoren
sehen etwas voraus, dass die Bemühungen, den Ausstoss der Treibhausgases CO2 zu senken, Energie verteuern. Sie weisen auf geopolitische Risiken hin. Oder sie befürchten Engpässe
beim Ingenieurnachwuchs. Um der Entwicklung zu begegnen, müssen die Regierungen laut dem Bericht mehrere Strategien jetzt in die Tat umsetzen und langfristig verfolgen. Es gelte die Energieausbeute zu steigern, erneuerbare und neue Energiequellen zu erschliessen oder
Forschung und Entwicklung zu fördern. Ungewöhnlich für die gegenwärtige Administration in Washington erscheint, dass auch ein weltweiter Rahmen für die Senkung des CO2-Austosses anzustreben ist. Die Verfasser erteilen überdies dem Ziel der Energieunabhängigkeit eine Absage, denn für sie gibt es nur eine weltweite Energiesicherheit.
Dem Bericht kommt einiges Gewicht zu. Über 350 Fachleute haben währen achtzehn Monaten unter Lee Raymond, dem Leiter des National Petroleum Concil, daran gearbeitet. Sie zogen Forschungszentren, Universitäten, Regierungsämter, Umweltgruppen und Banken zu Rate. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass Raymond früher Präsident des Erdölkonzerns
Exxon Mobile war. Und Raymond steht nicht allein mit seinem Warnruf. Erst vor einer Woche 121
stellte eine anderes Energie-Schwergewicht, die International Energy Agency, einen Bericht vor, laut dem ein テ僕versorgungskrise droht. Wテ、hrend die Nachfrage steige, gingen einzelne テ僕vorkommen schneller zur Neige als erwartet. Diese werde die Preise auf Rekordhテカhen treiben.
122
„Hightech auf 2810 Metern über Meer“,
in: Neue Zürcher Zeitung, Freitag 6. Juli 2007, S. 11.
Neue Monte-Rosa-Hütte kann gebaut werden Die neue Monte Rosa Hütte im Wallis kann gebaut werden. Die Finanzierung des Hightech-
Baus an einzigartiger Lage über dem Grenzgletscher des Alpenmassivs ist weitgehend gesichert, wie die ETH Zürich und der Schweizer Alpenclub (SAC) am Donnerstag vor den Medien in
Visp gekanntgaben. Das Projekt geht auf einen Vorschlag der ETHZ von 2003 zurück und war Bestandteil der Initiativen zum 150-Jahre Jubiläum der Hochschule. Es soll zeigen, dass sich höchste Ansprüche and Architektur, Haustechnik, Energieversorgung und Nachhaltigkeit im
hochalpinen Bauen kombinieren lassen. Im Sommer 2008 ist der Baubeginn geplant, und im
Jahr darauf soll die futuristische SAC-Hütte auf 2810 Metern über Meer ihre Tore öffnen. Die
Kosten belaufen sich auf 5.7 Millionen Franken. Der SAC übernimmt 2.15 Millionen Franken. Für die restlichen 3.55 Millionen Franken konnte die ETHZ eine Reihe von Gönnern und
Sponsoren gewinnen. Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) unterstützt den Bau mit maximal
560 000 Franken, und zwar gestützt auf die gesetzlichen Bestimmungen über die Förderbeiträge für die Entwicklung innovativer Umwelttechnologien. Der Bau sei ein Vorzeigebeispiel für
Ressourcen- und Energieeffizienz und überzeuge durch ein zukunftsweisendes Gesamtkonzept, erklärte das Bafu.
Von besonderem Interesse für den Bund sind die Energie- und Wasserversorgung, die einen Autarkiegrad von 90 Prozent erreichen sollen. Das Bafu wünschte zudem Abklärungen, ob neben der Sonnenergie auch die Windkraft genutzt werden könnte. Das Gesetz sieht vor,
dass der Bundesbeitrag nach Massgabe der Erträge zurückerstattet wird. Dies soll über einen bescheidenen Übernachtungsbeitrag erfolgen.
123
Karin Hofer,
„Die Renaissance der Holzheizung“ in: NZZ 05./06. Mai 2007, S. 61.
Das Potenzial des nachwachsenden Energieträgers wird heute erst zur Hälfte ausgeschöpft
Die ersten Förderer von automatischen Häckselfeuerungen waren oft Gemeinden. Inzwischen erlebt die Energiegewinnung aus Holz einen kleinen Boom. Anders als bei Sonne und Wind lässt sich beim Holz das vorhandene Potenzial in absehbarer Zeit tatsächlich nutzen.
Holz braucht nicht zu brennen, damit man die in ihm schlummernde Kraft spürt. Erhard Heider
gräbt mit einer Hand eine kleine Mulde in den Haufen Holzschnitzel. Sofort steigt Dampf in die
Höhe, wenig unter der Oberfläche liegt die Temperatur des gärenden Materials bei 60 Grad. Seit 1996 betreibt der 53-jährige Elektroingenieur in Tagelswangen zusammen mit seinen Brüdern
eine Holzschnitzelfeuerung. Mit einem Kachelofen hat das wenig gemeinsam. Der Kessel wird
automatisch über einen Schubboden mit dem Häcksel gefüttert. Im unteren Teil des Ofens glüht das Brennmaterial, im oberen Teil lodert unter Luftzufuhr das gut 800 Grad heisse Gas. Über
einen Wärmetauseher wird Wasser aufgeheizt, das über einen Verteiler an die Abnehmer geht. Wärme für einen ganzen Ortsteil.
Schwieriger, als einen solchen Ofen zu betreiben, ist es, die erzeugte Wärme zu den Kunden zu bringen. Ein Meter Leitung kostet 500 bis 1000 Franken. Um ein Wärmenetz wirtschaftlich zu betreiben, muss man laut Heider im Durchschnitt alle fünf Meter eine Wohnung anschliessen
können. Nicht immer erteilen Nachbarn das Durchleitungsrecht. Heider musste auch schon für einen fünfstelligen Betrag eine Leitung um ein Grundstück herumführen. Mit seriösen Un-
terlagen und grosser Überzeugungskraft ist es ihm dennoch gelungen, 176 Wohnungen, ein
Schulhaus, 2 Industrie- und 2 Gewerbebetriebe anzuschliessen. Das erfordert eine Leistung von
mindestens 1250 Kilowatt (kW). Bei 2000 Vollbetriebsstunden im Jahr ergibt das 2,5 Gigawattstunden (GWh). Gut ein Drittel entfällt auf Warmwasser, der Rest auf Heizwärme.
4 bis 5 Rappen pro Kilowattstunde (kWh) kosten die Holzschnitzel, die Heider von einem
Schaffhauser Lieferanten bezieht. 5 bis 6 Rappen betragen, bei einer Amortisationszeit von 20 Jahren, die Kapitalzinsen für die Anlage samt den Anschlüssen. Der Rest bis zum Abnahme-
preis von 13 bis 14 Rappen pro Kilowattstunde entfällt auf den Unterhalt und die Bedienung der Anlage.
Potenzial liegt zur Hälfte brach Aussergewöhnlich ist die Heider Holzenergie AG, weil hier eine 124
solche Anlage privat betrieben wird. Zuerst richteten öffentliche Einrichtungen oder Gemeinden Holzschnitzelfeuerungen ein. Aus Abfallholz - Rinde, Schwarten, Asten Energie zu gewinnen, ist sinnvoll, weil bei der Verbrennung nicht mehr. COz entsteht, als der Wald zuvor aus der
Atmosphäre absorbiert hat. Derzeit produzieren automatische Feuerungen im Kanton Zürich
jährlich etwa 400 GWh Energie, weitere 100 bis 150 GWh entfallen auf Holz, das in Kachelöfen oder Cheminees verfeuert wird. Die Nutzung von Energieholz lässt sich laut einer Bestandes-
aufnahme des Kantons verdoppeln. An der nachhaltigen Nutzung gemäss Waldgesetz würde ein verstärktes Einsammeln von Abfallholz und Ästen nichts ändern.
Laut Alex Nietlisbach vom kantonalen Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft (Awel) besteht
beim Holz, im Gegensatz zu den meisten anderen erneuerbaren Energien, eine gute Chance, das
Potenzial in den nächsten 20 Jahren auch auszuschöpfen. Automatische Holzfeuerungen sind im Trend und dürften es bei tendenziell steigenden Ölpreisen bleiben. Die Elektrizitätswerke des
Kantons Zürich (EKZ) sind in das Geschäft eingestiegen und betreiben im Auftragsverhältnis
(Contracting) erste solcher Anlagen. Im Tösstal wird seit kurzem die Holzvergasung zur Stromerzeugung erprobt. Die Planung für ein grosses Holzkraftwerk in der Heizzentrale Aubrugg in Zürich (NZZ 27. 4. 07) ist weit fortgeschritten.
Bei Holzenergie Schweiz beobachtet man das plötzliche Interesse verschiedenster Akteure an Holzkraftwerken, die Strom und Wärme erzeugen, mit gemischten Gefühlen. Grundsätzlich
begrüsst die Vereinigung, die sich für die sinnvolle energetische Verwendung von Holz einsetzt, die Entwicklung. Andreas Keel, Projektleiter bei Holzenergie Schweiz, warnt jedoch davor,
planlos Holzkraftwerke in die Landschaft zu stellen: «Derzeit wursteln alle ein wenig für sich.»
Wichtig sei bei allen Projekten, dass die anfallende Wärme möglichst vollständig genutzt werde. Positiv falle bei Grossanlagen die bessere Rauchgasreinigung ins Gewicht. Dagegen spreche der berechtigte Wunsch von Waldbesitzern, ihr Holz lokal zu nutzen und nicht über grosse Distan-
zen in Kraftwerke zu karren. «Notwendig wäre eine gewisse Koordination, und da ist die Politik geforderb>, betont Keel. Holzenergie Schweiz hat ihren Standpunkt formuliert. Der Verein hält in der Schweiz, geografisch sinnvoll verteilt, den Bau von 3 bis 5 Kraftwerken in der Grössen-
ordnung von Aubrugg für sinnvoll, dazu 10 bis 20 kleinere Wärmekraftanlagen. Auf diese Weise würden ungefähr 20 Prozent des Energieholzes in Heizkraftwerken genutzt, auch für Strom.
Vier Fünftel gingen weiter dezentral in die thermische Nutzung, wie in der Anlage von Tagelswangen.
Für Kleine zählt Kundennähe
Für den Bau (nicht den Betrieb) solcher Holzschnitzelfeuerungen zahlt der Kanton Beiträge. Das wirtschaftliche Risiko bleibt beträchtlich, wie das Beispiel der Heider Holzenergie AG
zeigt. Den zweiten, grösseren Ofen nahm sie ausgerechnet vor dem letzten, sehr milden Winter 125
in Betrieb. Bis in fünf Jahren erfordern Vorschriften einen teuren Feinstaubfilter. Aus ökologischen Gründen findet Erhard Heider das richtig. Doch hat er in seinen Abnahmeverträgen
keine Klausel, um die Kosten auf den Preis zu schlagen. Er hofft, dass bis dann die Filter güns-
tiger sind. Wichtig ist ihm das gute Einvernehmen mit den Kunden. Jeden Herbst veranstaltet er für alle ein Anfeuerungsfest. Dass der Ofen einmal ausgehe, könne er sich nicht leisten, sonst
habe er Streit mit all seinen Nachbarn, sagt Heider; der mit seiner vierköpfigen Familie in einer Wohnung über der Holzschnitzelfeuerung lebt. 700 000 Tonnen Heizöl ersetzt
sho. Holz ist nach der Wasserkraft die zweitwichtigste erneuerbare Energie der Schweiz.
Insgesamt deckte der Rohstoff 2005 jedoch nur 3,4 Prozent des Gesamtenergiebedarfs oder 6 bis 7 Prozent des Wärmebedarfs. Im gleichen Jahr nutzten die installierten Feuerungen (ohne Kehrichtverwertung) rund 3,1 Millionen Kubikmeter Holz zur Energiegewinnung, was dem
Gegenwert von etwa 500 000 Tonnen Heizöl entspricht. Vom jährlichen Holzzuwachs in den
Schweizer Wäldern wird nur etwas mehr als die Hälfte tatsächlich genutzt. Wird das Potenzial ausgeschöpft, kann Holz mittelfristig 5 Prozent des gesamten Energieverbrauchs oder einen
Zehntel des Wärmebedarfs decken. Seit 1990 hat sich die Anzahl automatischer Feuerungen in der Schweiz fast verdreifacht, ihr Holzverbrauch stieg um 172 Prozent. An dieser Entwicklung hat der Kanton Zürich massgeblich Anteil. Bei den Holzfeuerungen mit mehr als 50 Kilowatt
Leistung stehen 19 Prozent aller Anlagen der Schweiz im waldreichen Kanton Bern, gefolgt von Zürich (12 Prozent) und Luzern (11 Prozent). Auch bezüglich der gesamthaft installierten Leistung liegt Bern mit 15 Prozent an der Spitze vor Zürich (13 Prozent) und Luzern (10 Prozent).
126
David Strohm,
„Erntezeit im Solarhaus“,
in: NZZ 18.03.2007, S. 51.
Anfangs belächelt, sind die mit Sonne beheizten «Solar-Häuser Plexus» von Giovanni Cerfeda heute gesuchte Objekte. Der Winterthurer Architekt plant eine Siedlung nach der anderen.
Der milde Winter und die Diskussion um COz-Ausstoss und Klimawandel sind für die Idee von Solarhäusern, welche Giovanni Cerfeda seit mittlerweile 15 Jahren verfolgt, willkommene Ar-
gumente. Nötig hat er sie eigentlich nicht mehr, denn die von ihm konzipierten Einfamilien- und Reihenhäuser verkaufen sich inzwischen auch ohne grosse Anstrengungen. «Jetzt ernten wir die Früchte jahrelanger Überzeugungsarbeit», sagt Cerfeda.
Sein Unternehmen Ecobauhaus AG projektiert und erstellt Wohnbauten unter der Markenbe-
zeichnung «SolarHaus Plexus», eine Referenz an das lateinische «Sonnengeflecht» und an die anatomische Bezeichnung für ein wichtiges Nervenbündel im Körper. Die meisten Objekte stehen in und um Winterthur, wo Cerfeda auch arbeitet.
Im Bau sind derzeit zwei neue Solarsiedlungen: Im zürcherischen Pfäffikon entstehen 10 terrassierte Atriumhäuser an bevorzugter Waldrandlage mit See- und Alpensicht. 19 weitere Häuser, die den Energieverbrauch des Minergie- und PassivhausStandards stark unterschreiten, sind auf einem ehemaligen Rebberg am Winterthurer Rychenberg hochgezogen worden. Die gut
besonnten Häuser mit Sicht auf die Stadt kosten zwischen 1 und 1,6 Mio. Fr., wobei auch die
hohen Kosten für das Bauland an der gesuchten Lage das Projekt verteuert haben. Dieser Tage ziehen die ersten Bewohner ein. Kein Labor für Tüftler
Schon 1995 entstand in Oberseen die Siedlung «Chräbsbach», die dem Architekten heute noch
als bekannte Referenz dient. Die 35 Einfamilienhäuser, die erste grössere Uberbauung, die sei-
nerzeit das Minergie-Zertifikat erhielt, sind im Massivbau erstellt. «Es sollten Gebrauchshäuser sein für ganz gewöhnliche Bewohner, keine Labors für Tüftler und Ingenieure», erinnert sich
Cerfeda. Viel Überzeugungsarbeit galt es zu leisten, nicht überall nützte sie. Die Banken wollten ihm kein Geld geben, Baufirmen und Generalunternehmer winkten ab.
Doch das Konzept ging auf. Dank umfassender Wärmedämmung und konsequenter Ausrichtung 127
nach Süden erfüllten die Häuser die Voraussetzung für eine passive Solarnutzung. Das Haus-
technik-Konzept umfasste neben einer kontrollierten Wohnungslüftung und einer Sole-WasserWärmepumpe einen Solarspeicher für Heizung und Warmwasser. Was diese in den «Chräbs-
bach»-Häusern eingebauten Elemente tatsächlich bringen, hat eine - im Auftrag des Bundesamts für Energie erstellte Studie gezeigt. Diese Art von Passivhäusern benötigt erheblich weniger Energie als herkömmlich gebaute Liegenschaften. «Solares Bauen versucht, in erster Linie
den Betriebsenergiebedarfvon Gebäuden massiv zu senken und ihn zweitens mit erneuerbaren
Energien zu decken», heisst es in der Studie. Die Untersuchung zeigte zudem, dass sich mit der Reduktion des Energiebedarfs die Umweltverträglichkeit der Gebäude stark verbesserte: «Der Einsatz von thermischen Solarkollektoren reduziert die ökologische Belastung markant.»
Es sind aber nicht die vor die Fassade geklebten Photovoltaik-Zellen für ein wenig Gebrauchsenergie, welche den Vorsprung ausmachen, sondern ein Mix von Massnahmen zur Energie-
gewinnung und zur Reduktion des Verbrauchs (siehe Kasten). «Heute sind wir viel weiter als vor 12 Jahren», sagt Giovanni Cerfeda. Mehr als 200 Fr. pro Jahr für Heizung, Warmwasser
und Lüftung fallen auch in den grösseren Solarplexus-Häusern nicht mehr an. Lediglich in den Monaten Dezember und Januar, und das auch nur in kalten Wintern oder bei einem überdurchschnittlich hohen Warmwasserverbrauch, braucht es noch die Wärmepumpe, um die Zimmertemperatur auf konstant 22 Grad zu halten. «Die eigentliche Leistung ist, Solarhäuser zu den gleichen Preisen zu bauen, wie man sie von herkömmlichen Bauprojekten her kennt», sagt Gallus Cadonau von der Solaragentur in Zürich. Vergleichbare Kosten
Der Lobbyist in Sachen Solarenergie Cadonau vergibt seit Jahren den Schweizer Solarpreis an vorbildliche Bauvorhaben. Diese Auszeichnung erhielt vor Jahren auch der Pionier Giovanni
Cerfeda. «Heute lassen sich Häuser bauen, denen man überhaupt keine Energie mehr zuführen muss - im Gegenteil.x Intelligent konzipierte Bauten, welche auch das Dach und die Fassade
nutzen, würden heute schon 120 bis 150% des für den Betrieb nötigen Energieverbrauchs selbst erzeugen. Für den Ermatinger Solar-Architekten Peter Dransfeld ist das Umdenken bei den
Bauherren ein grosser Fortschritt. «Das Thema ist endlich aus der ökologischen Nische herausgekommen», sagt Dransfeld. War es früher ein ganz besonderer Typ von Auftraggeber, der sich für Solarhäuser interessiert hat, müsse er als Planer gar nicht mehr auf die Vorteile zu sprechen kommen. «Auch ganz gewöhnliche Bauherren wollen heute die Vorteile des Sonnenlichts nutzen», sagt Dransfeld.
128
Massnahmen-Mix macht Solararchitektur aus
Solararchitektur gilt als einfachste und meistens auch kostengünstigste Möglichkeit der Son-
nenenergienutzung, bei der mit einem Mix aus verschiedenen Massnahmen und Elementen eine möglichst hohe Energieeffizienz erreicht wird.
Die Südorientierung der verglasten Bauteile ist der Idealfall der Solararchitektur. Die Innentemperatur hat sich nach der Funktion des Raumes zu richten. Daher wird die Unterteilung
eines Gebäudes in unterschiedlich beheizte Zonen und die Schaffung von Zwischenklimazonen (Pufferräumen) angestrebt.
Die kontrollierte Lüftung in Form eines konstanten Belüftungssystems sorgt für angenehmes
Klima und Frischluftzufuhr. Guter Wärmeschutz der Gebäudehülle ist Voraussetzung für einen
niedrigen Heizenergieverbrauch. Die Beschattung verhindert einen zu hohen Temperaturanstieg bei voller Sonneneinstrahlung, z. B. feste Beschattungsvorrichtungen an der Süd- sowie be-
wegliche Anlagen an der Ost- und Westseite. Massive Bauteile zur Abspeicherung kurzzeitiger solarer Überangebote sind bei grossen Fensterflächen notwendig.
Zur Wärmeversorgung kommen alle Arten von Heizsystemen in Frage, solange die Regelung an den Gebäudetyp angepasst ist. Für Wohnbauten ist eine Bedarfsheizung für die kalten Monate sinnvoll. Natürliche Baustoffe und -materialien schaffen ein gesundes Wohnklima und sorgen für das Wohlbefinden der Bewohner. (dst.)
129
Andreas Zuberbühler,
„Nicht diskutieren - nachhaltig produzieren“,
in: Neue Zürcher Zeitung, 06. März 2007, S. 11.
Stromlücke Nur ganzheitliche Sicht auf das Energieproblem helfe, sagt Andreas Zuberbühler im bz-Interview
Herr Zuberbühler, folgt man der Diskussion, scheint es, dass die Schweizer Energiefrage mit Ja oder Nein zu einem Atomkraftwerk zu beantworten ist. Reicht das?
Andreas D. Zuberbühler: Die Fokussierung gefällt mir sicher nicht. Man muss sich im Klaren
sein: über drei Viertel des Gesamtenergieverbrauchs sind nicht Strom. Und vom Strom sind nur
40 Prozent Atomstrom, was zwar eine vergleichsweise hohe Zahl ist. Dennoch betrifft die Kontroverse um ein neues AKW einen relativ kleinen Sektor.
Ist ein Breittreten der AKW-Frage für die Energie-Debatte förderlich? Zuberbühler: Für mich ist die zentrale Frage eine ganz andere: Gelingt es uns, ein weitgehendes
Umsteigen auf erneuerbare Energien zu kombinieren mit dem, was unsere Akademie auch schon forderte, nämlich den Verbrauch fossiler Energieträger zu verringern? Alle reden von effizienterem Energieverbrauch, aber was ist das?
Zuberbühler: Am einfachsten ist das an der Heizenergie darzustellen: Wir wollen nicht heizen,
wir wollen ein warmes Zimmer. Das Ziel ist mit schlechter Isolation und einer sehr starken Heizung zu erreichen oder mit einer guten Isolation und einer schwachen Heizung. Im Extremfall
geht das sogar ohne Heizung. Es gibt ja in der Schweiz Passivenergie-Häuser, die keine externe Heizenergie benötigen. Könnte ich entscheiden, würde ab morgen kein Haus mehr ohne Min-
ergie-Standard neu gebaut. Dann ist ein Grossteil der Heizenergie einfach weg! Oder beim Verkehr: Hier ist das Dreiliter-Auto möglich. Es verkehrt aber nicht auf den Strassen. Da kommen
gesellschaftliche Aspekte ins Spiel, die wir als Naturwissenschaftler kaum verstehen. Wir haben
keine Handhabe, die Leute davon zu überzeugen, dass das Fahren mit «Offroadern» in der Stadt Unsinn ist. Das ist kein naturwissenschaftliches Problem, sondern ein psychologisches. 130
Dennoch kapriziert sich die publizierte Energie-Debatte auf den Stromkonsum, einfach weil es für Journalisten sexy ist?
Zuberbühler: Ein massgeblicher Teil des zunehmenden Stromkonsums ist tatsächlich voraus-
zusehen. Etwa, wenn sie in Wärmepumpen investieren, dann steigt der Stromverbrauch. Geht das so weiter, wird die Schweiz von einem Stromexporteur zu einem -importeur. Dann holen
wir europäischen Strom aus Kohle, Atomenergie und Erdgas. Das ist natürlich kein Beitrag zur Nachhaltigkeit.
Gerade die Wärmepumpe ist ein gutes Beispiel: Mehr Wärmepumpen gleich mehr Stromverbrauch. Kann die Rechnung aufgehen?
Zuberbühler: Da kommen wir zur postulierten Stromlücke. Sie ist kein Naturgesetz. Sie wird von Menschen gemacht oder auch postuliert. Wir können aber Folgendes festhalten: Die für 2020/30 vorausgesagte Stromlücke basiert auf einer Reihe von Voraussetzungen. Erstens:
Der Stromverbrauch wächst weiter wie bisher oder bleibt zumindest auf heutigern Niveau.
Zweitens: Die alten AKWs in der Schweiz werden nach 50 Jahren abgeschaltet und nicht ersetzt. Drittens:
Die Importverträge mit den französischen AKWs laufen aus und werden nicht erneuert. Viertens: Neue Verträge, etwa von der Schweiz finanzierte Wind - parkanlagen in der Nordsee,
werden nicht realisiert und, fünftens, es werden weder Gasgrosskraftwerke noch Wärmegeführte, dezentrale Kombikraftwerke gebaut. Trifft das alles zu, werden wir tatsächlich eine Lücke
haben - insofern, als dass der Anteil an importier tem Strom stark zunimmt. Importe sind nicht grundsätzlich schlecht, nur soll ten sie aus nachhaltiger Produktion und nicht aus dem gegenwärtigen EU Mix stammen. Der Wind weht nun mal günstiger in der Nordsee und die Sonne scheint häufiger in Spanien oder Nordafrika.
Ihre „Road Map Erneuerbare Energien“ kommt rechtzeitig zur Debatte. Auch der Bundesrat sturdiert ein Energiekonzept. War ihr Beitrag geplant?
Zuberbühler: Wir sind von einem anderen Schwerpunkt ausgegangen. Wir sagen, dass das
Zeitalter des billigen Öls vorbei ist. Bei der Kernenergie wissen wir nicht so recht, ob wir dafür sind oder dagegen. Das ist bei der SATW genauso umstritten wie in der Bevölkerung. Drittens
Langfristig müssen wir ohnehin auf erneuerbare Energien umstellen. Betrachtet man die Zahlen, reichen die Uranvorräte bei jetziger Verbrauchsrate ungefähr gleich lang wie Öl und Gas. Das
ist kein Ausweg. Das Problem einer nachhaltigen Energiezukunft ist nur lösbar in Kombination131
mit dem Modell der so genannten 2000-Watt-Geselllschaft. Diese ist übrigens Teil der Strategie
„nachhaltige Entwicklung“ des Bundesrats. Allerdings sehen wir den Zeithorizont eher bei 2050 bis 2070 als bei 2150, wie kürzlich aus Bern zu vernehmen war.
Davon ist in der öffentlichen Debatte herzlich wenig die Rede ... Zuberbühler: Das ist das Hauptproblem. Da sind wir als Naturwissenschaftler etwas hilflos. Wir
stellen fest, was wir tun sollten, was wir unausweichlich tun müssen. Aber wir wissen nicht, wie man die Gesellschaft dazu bringt ...
Oft wird eingewendet, man dürfe nicht ins Spiel der Marktkräfte eingreifen. Zuberbühler: Der Markt spielt eine grosse Rolle im Energiebereich. Die Entscheidungen des Markts sind in der Regel aber sehr viel kurzfristiger als die Zyklen, in denen zum Beispiel
Häuser renoviert werden. Ein reiner ungehinderter Markt kann aus unserer Sicht gar nicht eine
volkswirtschaftlich vernünftige Politik erreichen in Bereichen mit notwendigerweise langfristigem Planungshorizont.
Plädieren Sie für Energie-Lenkungsabgaben? Zuberbühler: Natürlich! Ich kann ruhig sagen, das verlangt die Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften. Wir haben bei der Diskussion über die Lenkungsabgaben klar
Stellung bezogen. Die Leute müssen wissen, dass fossile Energieträger langfristig teurer werden, dann können und werden sie sich darauf einstellen.
Wie schaffen wir die Weichenstellung mit dem jetzigen politischen System und dem kurzfristigen Marktdenken?
Zuberbühler: Die ganze Debatte mit Zeitungsartikeln, Interviews, Sonderbeilagen, Sondersessi-
onen - das ist zunächst mal Aufklärung. Immerhin wird in der EU diskutiert, den CO2-Ausstoss der Fahrzeuge zu verringern. Die Debatte läuft, wohin sie führt, weiss ich nicht.
Die Effizienzfrage ist salonfähig. Aber die Verbrauchszahlen klettern unbeirrt nach oben. Irritiert Sie das nicht?
Zuberbühler: Ich antworte indirekt: In einem anderen Zusammenhang wurde Fritjof Capra 132
gefragt, ob die Menschheit die Wende schaffen wird. Dieser antwortete, zu dieser Frage werde er sich nicht äussern, er habe nicht mal Zeit, darüber nachzudenken. Denn, was er tue, sei der
Versuch einen Beitrag dazu zu leisten, dass sie es schafft. Das sei eine moralische Aufforderung. Was ich persönlich glaube, ist für die Zukunft meiner Kinder und Enkelkinder nicht wichtig.
Wir sollten nicht diskutieren, sondern uns auf den Weg zu einer nachhaltigen Energieversorgung machen. Unsere «Road Map» zeigt dazu einen Weg. Was können die Kantone unternehmen? Zuberbühler: In Baselland sollen Windanlagen gebaut werden. Auch ein Gaskombikraftwerk
wird diskutiert. über Letzteres sind wir nicht begeistert. Aber gegenüber Kohlekraftwerken sind Gaskombikraftwerke das kleinere übel.
Was könnten die Kantone beim «Effizienzpfad» tun? Zuberbühler: Sie könnten nach Zürich schauen, wo für staatliche Bauten der Minergie-Standard vorgeschrieben ist. Schauen Sie nach Bülach, wo die Gemeinde das energie effiziente Bauen
fördert mit einfachen, marktwirrschaftliehen Tricks. Die AKW-kritischen beiden Basel könnten auf Bundesebene eine Standesinitiative für Energieeffizienz lancieren. Aber da müsste man vorher mit gutem Beispiel vorangehen.
Es heisst, die «Road Map» gehe zu weit, um realisiert werden zu können. Zuberbühler: Die «Road Map» beschreibt nicht das maximale Potential. Das ist bei den er-
neuerbaren Energien in der Schweiz bedeutend grösser. Sie listet nur das technisch vernünftig nutzbare Potential auf. Das lässt sich bei der Windenergie am besten zeigen. Wir haben die
Windparks in unsere Kalkulation miteinbezogen. Aber solche Einzelanlagen, wie im Kanton Baselland diskutiert, haben ein grosses zusätzliches Potential. Wie wird es weitergehen? Zuberbühler: Wir machen bei jeder Gelegenheit darauf aufmerksam, dass diese Debatte geführt werden muss. Entscheidend ist nicht, ob in Beznau in 10, 20 oder 30 Jahren ein neues Atom-
kraftwerk gebaut wird oder nicht. Entscheidend ist der Umgang mit der Energie als Ganzem.
Ich weiss nicht mal, was schlimmer ist in der gegenwärtigen Energiesituation mit ihrer doppelten Problematik; einmal Klimaproblem und dann, dass das Erdöl erkennbar zur Neige geht.
133
cb,
„Skisport unter 1500 Metern wird aussterben“,
in: Neue Zürcher Zeitung, 02.März 2007, S. 13.
Schneekanonen und Skihallen können den Wandel nicht aufhalten
Der warme Winter 2006/07 hat den Skisportorten in tieferen Lagen schwer zu schaffen gemacht. Ob es für diese Regionen in Zeiten des Klimawandels rentable touristische Alternativen gibt, ist umstritten. Fachleute glauben, dass die Konzentration des Schneesports auf einige TopZentren und die Entleerung von Bergtälern mittelfristig unvermeidlich sind.
Der Schweizer Tourismus läuft zurzeit wie geschmiert, die Logiernächtezahlen erreichen
Bestmarken. Und doch gibt es neben den vielen Gewinnern auch einige Verlierer. Der bis vor
kurzem schnee arme Winter machte in den voralpinen Regionen namentlich den Bahnen, aber auch den Hotels teilweise schwer zu schaffen. Wie Felix Maurhofer, Sprecher von Seilbahnen Schweiz, erklärt, liegen zwar noch keine Umsatzzahlen vor. Doch wenigstens ein Drittel der
insgesamt rund 240 Wintersportgebiete der Schweiz habe mit Blick auf die Bahnen zum Teil
massive wirtschaftliche Einbussen «bis hin zum Totalausfall» zu verzeichnen. Besonders be-
troffen sind die Voralpen, der Jura, die Kantone Waadt und Freiburgund das Appenzell. Wegen der Wärme und der fehlenden Winterstimmung sei es in diesen Gebieten nicht gelungen, den
Tagestourismus zu aktivieren, ergänzt Jürg Schmid von Schweiz Tourismus und zwar teilweise auch dort nicht, wo die Pistenverhältnisse gut gewesen wären. Bald schon Normalzustand?
Dass die Wintersaison 2006/07 insgesamt dennoch mit einem Logiernächte-Plus von gegen 2 Prozent in die Annalen eingehen dürfte, ändert für die Betroffenen wenig. Und auch die Tat-
sache, dass diese Saison eine extreme Wetterkapriole sein mag, ist kein wirklicher Trost: Für Thomas Bieger, Leiter des Instituts für Tourismus und öffentliche Dienstleistungen an der
Universität St. Gallen, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die letzten Monate ein repräsentativer Vorgeschmack dessen sind, was bei uns in einigen Jahrzehnten im Winter «normal»
sein dürfte. Dass sich die Tourismusbranche in tieferen Lagen als Folge des Klimawandels auf
einschneidende Veränderungen einstellen muss, ist unter Fachleuten unbestritten. Die Frage ist nur wie. Der Einsatz von Schneekanonen, der in den letzten Wochen zum Teil intensiv war, ist 134
letztlich immer nur ein Heftpflaster - wenn auch für manche Region ein wichtiges. Heute werden rund 20 Prozent der 7400 Kilometer langen Skipisten in der Schweiz künstlich beschneit. Für Schmid braucht es dieses Hilfsmittel, «weil der anspruchsvolle Gast kein Verständnis hat
für mangelhafte Talabfahrten». Allerdings plädiert er dafür, dass Schneekanonen grundsätzlich nur in «langfristig schneesicheren Regionen» und dort nur punktuell eingesetzt werden. Tiefer
liegende Regionen vermehrt mit Schneebändern in grünen Wiesen zu verzieren, findet er unsinnig. Für Maurhofer dagegen ist die Frage nach dem Einsatz von Schneekanonen vor allem eine ökonomische: «Rentiert sich diese Investition oder tut sie es nicht - das ist entscheidend» Und
das könnte umso schwieriger werden, je trockener die Sommer werden und je spärlicher das für den Kunstschnee benötigte Wasser wird. Für ihn ist denn auch klar, dass der Klimawandel die Seilbahnen, welche die Pisten unterhalten, noch mehr als bisher zu Fusionen und effizientem Wirtschaften zwingt und den Strukturwandel in der Branche weiter beschleunigen wird. Sanfter Tourismus ist weniger ertragreich
Neu in die Diskussion gekommen ist in diesen Wochen der Bau von Skihallen, der im Mittel-
land bei Schneemangel den Nachwuchs für die Skiorte sicherstellen soll (NZZ 26. 2. 07). Walter Vetterli, Leiter Alpenprogramm beim WWF Schweiz, kann sich für derartige Projekte gar nicht begeistern: Die Hallen hätten eine «katastrophale Energiebilanz» und gäben in dieser Hinsicht
«ein völlig falsches Signal» an die Jugend. Schmid seinerseits glaubt nicht, dass solche Hallen
überhaupt nötig sind: Die Verkehrsverbindungen seien heute so gut, dass auch weiter entlegene Skigebiete in nützlicher Zeit erreicht werden könnten. Ganz anders sehen das naturgernäss
die Initianten, hinter denen Bergbahnen und Skischulen aus der ganzen Schweiz stehen. Laut
Maurhofer sind Skihallen in anderen europäischen Ländern ein eigentlicher «Katalysator für die
Nachwuchsförderung» und liegen «im volkswirtschaftlichen Interesse ganzer Bergtäler». Und er weist darauf hin, dass auch die vormals kritisierten Kletterhallen heute über die ganze Schweiz verbreitet sind und sich grosser Nachfrage erfreuen.
Bei Schweiz Tourismus, wo sich neuerdings eine spezielle Arbeitsgruppe mit dem Klimawandel und seinen Folgen beschäftigt, ist man überzeugt, dass viele voralpine Regionen besser radikal
umdenken, statt auf zweifelhafte Hilfsmittel zu bauen, wenn sie weiterhin für Touristen attraktiv bleiben wollen. Der Klimawandel bietet laut Schmid für sie nämlich auch Chancen: Wenn die
Sommermonateheisser und trockener würden und es am Mittelmeer verbreitet 40 Grad sei, be-
komme die «alpine Sommerfrische» neue Bedeutung und Attraktivität. Die Bergseen, die heute
kalt seien, würden zu Badeseen, und der Herbst verlängere sich bis in den November. Hier böten sich neue Möglichkeiten für einen sanften Tourismus.
Dieser hoffnungsfrohen Aussicht begegnet Bieger mit einiger Skepsis: «Teenager, die Wintersport betreiben, wollen nicht plötzlich wandern oder Blumen betrachten.» Diese Art von Tou-
135
rismus werde nur ein begrenztes Publikum anziehen. Und vor allem eines, das weniger Geld ausgebe als der Wintersportgast. Auch Maurhofer zweifelt an den Möglichkeiten zur Diver-
sifikation: «Mit einem Magerwiesen-Seminar wird man wohl nur wenige Gäste begeistern.»
Viele voralpine Orte seien seit den siebziger Jahren ganz auf den Wintertourismus ausgerichtet. Da falle eine Umstellung schwer. - Weitgehend einig sind sich die Befragten, dass sich für die
kommenden Jahre und Jahrzehnte eine Konzentration des Wintertourismus hin zu einigen (hoch gelegenen) Top-Zentren wie.Zermatt, St. Moritz, Davos oder Verbier abzeichnet, während die kleineren, tiefer gelegenen verlieren werden.
Am schonungslosesten formuliert es der Vertreter des WWF, Walter Vetterli: «Unter 1500
Metern wird der Skisport mittel- bis langfristig aussterben.» Das freue zwar niemanden, sei aber - von einigen Nischen abgesehen - nicht aufzuhalten. Als logische Folge erscheint es Vetterli,
dass sich gewisse voralpine Regionen entvölkern werden, weil es dort keine Arbeitsplätze mehr gibt. Und er fordert eine breite regionalpolitische Diskussion zu diesem Thema. Ganz ähnlich tönt es von Seiten des Ökonomen Thomas Bieger, der darauf hinweist, dass die Verschiebung
des Wintertourismus zu den grossen Zentren, wo man neben Skifahren auch Shoppen kann, insgesamt sogar zu einem Steigen der touristischen Wertschöpfung führen könne - allerdings eben nur an den besagten Orten.
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Andreas Hirstein,
„Ökologisch und trotzdem reich“,
in: NZZ am Sonntag 11.Januar 2007, S. 74.
Die Schweiz belastet die natürlichen Ressourcen weniger als andere Volkswirtschaften. So gross der politische Streit auch sein mag, in einer Forderung sind sich alle Parteien einig: Die Schweizer Wirtschaft muss mit natürlichen Ressourcen sparsamer umgehen, um die Klimaund Umweltkatastrophe zu verhindern. Sogar Energiekonzerne, deren Geschäft es ja eigentlich ist,
möglichst viel Strom, Öl und Gas zu verkaufen, halten Effizienzsteigerungen für eine gute Sa-
che. Genauso wie Umweltverbände, die auf diesem Weg Atom- und fossile Energien einsparen wollen.
Ein Vorwurf schwingt bei der Diskussion immer mit: Dass die Schweiz die wertvolle Energie
ungehemmt vergeude und nicht genug für die Entwicklung erneuerbarer Energien unternehme
- anders als der Nachbar Deutschland, dem wegen seines Gesetzes zur Förderung erneuerbarer Energien gerne Vorbildcharakter attestiert wird.
Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln zeigt nun, wie falsch diese Behaup-
tung ist. Demnach nutzt kaum ein anderes Land seine natürlichen Ressourcen Wasser, Luft und Energie so schonend wie die Schweiz. Im Vergleich von 25 europäischen Ländern sowie den USA, Kanada, Japan, Australien und Neuseeland belegt die Eidgenossenschaft den zweiten Platz.
Vorbild Irland
Die Einstufung beruht auf einem «Umwelt-Effizienz-Indikator», den das von den deutschen Arbeitgebern getragene Kölner Wirtschaftsinstitut definiert hat. Bezogen auf das Bruttoinlandprodukt (BIP), misst der Indikator, wie viel Wasser ein Land verbraucht, wie stark es die Luft mit
Abgasen belastet und wie viel Energie es verbraucht. Wasser ist hierzulande kein knappes Gut,
die Schweiz belegt hier aber trotzdem immerhin den 7. von 30 Plätzen. Bei der Energieeffizienz liegt die Schweiz auf Platz 5, und bei der Luftreinhaltung auf Platz 1, weit vor dem zweitpla-
cierten Österreich. Lediglich Irland kann sich eines noch nachhaltigeren Umgangs mit der Natur
rühmen. Die Forscher führen das auf die in den letzten Jahren stark gewachsene Wirtschaftskraft der Insel zurück. Sie war von hohen Investitionen in moderne Technik begleitet. Tatsächlich
belegen die als rückständig geltenden Länder Rumänien und Bulgarien die beiden letzten‘ Plät137
ze. Auch die USA finden sich genauso wie Kanada (23. und 27.) im letzten Drittel der Tabelle wieder.
Strukturwandel
«Das gute Abschneiden der Schweiz hängt vermutlich mit dem hohen Dienstleistungsanteil der Schweizer Wirtschaft zusammen», sagt Hubertus Bardt, der Autor der Kölner Studie. «Der er-
reichte Spitzenplatz bei der Lufteffizienz ist gerade für ein Tourismusland wie die Schweiz von grosser Bedeutung.»
Der Umwelt-Effizienz-Indikator vergleicht die Umweltbelastung der 30 Volkswirtschaften zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Über die Entwicklung in den letzten Jahren gibt er keine Auskunft. Langfristig wäre diese Information aber von zentraler Bedeutung, weil sie die Frage klären
würde, ob wirtschaftliches Wachstum zwangsläufig zu einem höheren Verbrauch natürlicher
Ressourcen führt oder ob die Effizienzsteigerungen so gross sein können, dass sie das Wachstum des BIP kompensieren. Die Kölner Wissenschafter haben den zeitlichen Verlauf der Um-
welteffizienz Deutschlands untersucht. Das Bundesamt für Statistik in Neuenburg hat ähnliche Zahlen vor zwei Jahren für die Schweiz publiziert. Sie bestätigen einerseits die niedrige CO2
- Intensität der Schweizer Wirtschaft, zeigen andererseits aber auch, dass die Fortschritte hierzulande kleiner sind als in anderen europäischen Industriestaaten. Pro Einheit des BIP sanken die
Schweizer Kohlendioxidemissionen um 30 Prozent. Norwegen, Grossbritannien, Dänemark und die Niederlande erreichten dagegen ein Minus von 50 Prozent.
«Der Grund ist weniger die zögerliche Abnahme von COz-Emissionen hierzulande als vielmehr das langsame Wachstums der Schweizer Wirtschaft“, sagt Anne-Marie Mayerat Demarne vom
Bundesamt für Statistik. Eine umweltfreundhchere Entwicklung haben die Neuenburger Statis-
tiker dagegen beim Rohstoffverbrauch festgestellt. Jährlich verbraucht die Schweiz derzeit rund 14 Tonnen Materialien pro Einwohner. Der längerfristige Vergleich zeigt, dass das BIP und der
Materialverbrauch bis Ende der achtziger Jahre im Gleichschritt wuchsen, dass sich die Materi-
aleffizienz damals also nicht verbessert hat. Seit den neunziger Jahre aber wächst die Wirtschaft, ohne dabei mehr Materialien zu benötigen.
Diese Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Materialverbrauch ist eine Folge des zuneh-
menden Recyclings, von Effizienzgewinnen in einigen Produktionsabläufen und besonders von strukturellen Veränderungen der Wirtschaft: «Dienstleistungen werden immer wichtiger; rohstoffintensive Industrien dagegen verlagert man ins Ausland», sagt Arme-Marie Mayerat.
138
Joachim Luakenmann,
„Preiswerte Prachtbauten“,
in: Sonntagszeitung 21.Januar 2007, S. 70.
Vollständig digitale Produktion ermöglicht ausgefallene Architektur zum Spartarif
Auf der Swissbau in Basel wird kommende Woche ein ganz besonderes Objekt zu sehen sein:
eine Holzkonstruktion mit schrägen Balken und silbrig glänzender Vakmimfassade. Es handelt sich um den Prototyp eines Raums der Monte-Rosa-Hütte; die oberhalb von Zermatt auf 2800 Metern Höhe gebaut werden soll.
Der Prototyp zeigt eine architektonische Entwicklung, die laut ETH-Architekt Ludger Hove-
stadt an Bedeutung mit der Erfindung des Aufzugs oder dem Prinzip der vorgehängten Fassade zu vergleichen ist: die nahtlose digitale Planung eines Gebäudes, vom Entwurf über die detaillierte Konstruktion bis zur computergesteuerten Produktion ..
Egal, wie verrückt der Entwurf auch sein mag, dank der «digitalen Produktionskette» kann
nahezu jede Form auf der Baustelle Gestalt annehmen. Dabei soll der Produktionsaufwand und Preis eines ausgefallenen Gebäudes dem einer Serienfertigung entsprechen. «Wir werden tolle Architektur machen, und Sie werden weniger dafür bezahlen», sagt Hovestadt. «Beim Bau in-
dividueller Häuser erwarten wir eine Preisreduktion von 30 bis 40 Prozent.» Diese vollständige Digitalisierung der Architektur sei ein weltweites Novum.
Den Entwurf der Monte-RosaHütte hat der ETH-Architekt Andrea Deplazes mit Studenten
entwickelt. Ursprünglich War der Plan weder technisch noch finanziell realisierbar. Daher kam die von Hovestadt am Institut für Computer Aided Architectural Design (CAAD) entwickelte Methode zum Einsatz - erstmals an einem grossen Gebäude. Bisher wurde nur bei kleineren
Objekten «geübt», etwa bei einem Pavillon für die Swissbau 2005 und dem Projekt Futuropolis des New Yorker Architekten Daniel Libeskind.
Ausgangpunkt der digitalen Kette ist ein «Gurnmibandmodell» des Entwurfs. Jeder Balken und jede Fassadenkante wird durch ein digitales Gummiband repräsentiert. Das Modell lässt sich
leicht am Computer modifizieren. Dieser ist dabei mehr als ein passives digitales Zeichenbrett: Er beeinflusst die Optimierung aktiv. Gibt der Architekt den ungefähren Rahmen für Grundriss
und Gebäudehülle ein, liefert das Programm die optimale Form, bei der alle Betten in die Hütte
passen und möglichst wenig unzugängliche Winkel bleiben - von Hand eine mühsame Prozedur. Einheitliche Datenformate überbrücken «digitale Gräben» Es ist sogar möglich, den Bauplan im
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Gummibandmodell zu lockern und den Computer unter gewissen Vorgaben Architekt spielen zu
lassen. Je nach Wahl der Parameter können dabei in einem evolutionären Prozess sehr originelle Entwürfe entstehen.
Nach den ersten «Dehnübungen» durchlaufen die Daten des Gummibandmodells zahlreiche Optimierungszyklen. Damit das gelingt, musste Hovestadt mehrere digitale Schnittstellen
durchgängig machen. Zwar arbeiten Architekten längst am digitalen Zeichenbrett, doch sind die
Programme der einzelnen Glieder im Bauprozess nicht kompatibel. So müssen Baupläne ausgedruckt und die Masse mühsam von Hand in das Steuerungsprogramm der Holzfräse übertragen werden. Die Kunst bestand darin, diese «digitalen Gräben» dank einheitlicher Datenformate zu überbrücken.
Das Resultat der statischen Optimierung der Hütte ist eine Fachwerkstruktur, bei der alle Balken
nahezu dieselbe Last tragen. Anschliessend wandern die Daten in ein Simulationsprogramm, das zum Beispiel den Winddruck auf das Gebäude berechnet. Wo grosse Drücke zu erwarten sind, wird die Konstruktion verstärkt, wo die Last gering ist, fallen Balken weg. Gegenüber einer
konventionellen Bauweise sind der Materialbedarf und das Gewicht der Monte- RosaHütte rund 40 Prozent geringer.
Nach vielen Hundert Optimierungsiyklen hat jeder Balken, jedes Bett und jedes Fenster seinen Platz gefunden. «Die gesamte Balkenkonstruktion für die Hütte kann nun von einer Fräse in
rund 60 Stunden zugeschnitten werden», sagt Hovestadt. Schrauben brauchts keine: Die Bal-
ken sind wie ein dreidimensionales Puzzle verzapft. Auch die Fassadenteile werden nach dem
digitalen Datensatz millimetergenau gefertigt. Alle Teile bekommen eine Nummer. Der Rest ist Bauen nach Zahlen.
Die Gewichtsersparnis und der einfache Aufbau der Hütte sind auf 2800 Metern Höhe von grossem Vorteil. Einerseits braucht es weniger Helikopterflüge, andererseits dauert die Bausaison
nur drei Monate. Auch für den Prototyp auf der Swissbau hat sich die digitale Kette ausgezahlt: Vier konventionelle Anbieter wollten diesen für rund 800000 Franken bauen. Mit der digitalen Kette gelang es für 180000.
Noch fehlt eine der 5,6 Millionen Franken, die die Monte-RosaHütte trotz allem kosten wird. «Ich bin sehr zuversichtlich», sagt Hovestadt, «dass wir das Geld bald zusammen haben.»
Schliesslich soll die demonstrierte Digitalisierung Schule machen und die Architektur laut Hovestadt in den nächsten 10 bis 15 Jahren revolutionieren.
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