Nr. 219 · Januar/Februar 2016 41. Jahrgang · D 6424 F · 8 Euro
www.mabuse-verlag.de
Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe
Flucht Bernhard Lown – Die Stimme der ärztlichen Friedensbewegung. Die Mabuse-Leserreise – Grüße aus China. Mentoring für Berufseinsteiger – Erfahrungen der hsg Bochum.
— Erstaufnahme — Psychosoziale Unterstützung — Versorgungslücken — Medizinische Gutachten
219 Neuerscheinungen Mab_L_19klein 15.12.2015 12:52 Seite 1
Neuerscheinungen im Mabuse-Verlag
Jürgen Zulley / Barbara Knab Die kleine Schlafschule 3 Wege zum guten Schlaf
Hans Hopf Kinderträume verstehen
Schlaf ist lebenswichtig und unerlässlich für jede menschliche Leistung. Doch vieles kann ihn stören, etwa Lärm, Schmerzen, Grübeln – oder ein Leben gegen die biologischen Rhythmen. Wer dann falsch reagiert, kann eine Schlafstörung entwickeln. Wer richtig reagieren will, dem hilft die Schlafschule – mit fundiertem Hintergrundwissen, aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und praktischen Tipps. 158 S., 14,95 EUR ISBN 978-3-86321-284-1
Der erfahrene Psychotherapeut Hans Hopf zeigt an zahlreichen Beispielen und ihrer behutsamen Interpretation: Selbst ohne Kenntnis psychologischer Theorien können Erwachsene mit den kindlichen Traumbildern umgehen – vorausgesetzt, sie sind bereit, sich in die Träume einzufühlen. Eltern, Erzieherinnen und Lehrer können so an den Traumerzählungen erkennen, welche Probleme zu bewältigen sind. 170 S., 14,95 EUR ISBN 978-3-86321-293-3
Michael Graber-Dünow Pflegeheime am Pranger 3 Wie schaffen wir eine bessere Altenhilfe?
Heidi Höppner (Hrsg.) Promotion in den Therapiewissenschaften
Beschreiben Medienberichte über alarmierende Zustände im Alten- und Pflegeheim nur bedauerliche Einzelfälle? Was ist dran an den Skandalmeldungen? Dieses Buch analysiert die Fakten dahinter. Es beleuchtet die organisatorische Struktur des Heims, die Schwierigkeiten bei der Personalbemessung, Bürokratisierung in der Pflege und den allgemeinen Trend zur Überregulierung. Ein Muss für alle, welche die sozialpolitische Dimension der Heime verstehen wollen. Zugleich ein leidenschaftliches Plädoyer für eine bessere Altenhilfe. 172 S., 16,95 EUR ISBN 978-3-86321-179-0
Seit 2001 ist die akademische Ausbildung in den Therapiewissenschaften in Deutschland möglich. Doch noch immer hat es der wissenschaftliche Nachwuchs schwer, sich im akademischen Umfeld zu etablieren. Das Buch gibt Anregungen für strukturelle und individuelle Förderung. Somit ist es insbesondere für promovierende und promotionsinteressierte TherapeutInnen eine Hilfestellung und trägt dazu bei, wesentliche Ressourcen für die Entwicklung der Therapiewissenschaft zu erschließen. 157 S., 24,95 EUR ISBN 978-3-86321-281-0
Ilka-Maria Thurmann Kaiserschnitt heilsam verarbeiten 3 Die Prä- und perinatal basierte Spieltherapie© nach Thurmann Die Auswirkungen einer Kaiserschnitt Entbindung auf das Kind werden oft unterschätzt. Manchmal entsteht ein seelisches Trauma, das therapeutisch bearbeitet werden kann. Eine einzigartige Hilfe nicht nur für KindertherapeutInnen, sondern auch für Hebammen, PädagogInnen, ÄrztInnen und Eltern. 129 S., 19,95 EUR ISBN 978-3-86321-241-4
Terre des Femmes (Hrsg.) Schnitt in die Seele 3 Weibliche Genitalverstümmelung – eine fundamentale Menschenrechtsverletzung
Tanja Segmüller (Hrsg.) Beraten, Informieren und Schulen in der Pflege 3 Rückblick auf 20 Jahre Entwicklung Zur Bewältigung einer Erkrankung sind Austausch und Weitergabe von gesundheitsbezogenem Wissen essenziell. Dieses Buch stellt Konzepte zur Verbesserung der pflegerischen Interaktionsarbeit vor, die in den letzten Jahren vom Netzwerk Patienten- und Familienedukation in der Pflege e.V. und am Department Pflegewissenschaft der Universität Witten/Herdecke entwickelt wurden. 255 S., 39,95 EUR ISBN 978-3-86321-291-9
Ulrike Gaida Diakonieschwestern 3 Arbeit und Leben in der SBZ und der DDR
AutorInnen aus zehn Ländern berichten von der Aufklärungsarbeit gegen die weibliche Genitalverstümmelung in Afrika bis hin zur Beratung von MigrantInnen in Deutschland, eröffnen einen Blick auf die Asylproblematik, aber auch auf den strafrechtlichen Umgang mit dieser Praktik in Afrika und Europa.
Diese Studie basiert auf Interviews mit Frauen, die als Mitglieder einer protestantisch geprägten Pflegeorganisation dort tätig waren. Sie berichten aus der Zeit der Nachkriegsjahre bis zur Wende 1989. Ein wichtiger Beitrag zur Pflegegeschichte, zur diakoniehistorischen Forschung sowie zur Alltagsgeschichte der DDR.
„Parteiisch und sensibel.“ (Heike Koehn in der überblick)
„Spannende Biografien aus Ostdeutschland.“ (Die Kirche)
2. Aufl., 337 S., 39,95 EUR ISBN 978-3-86321-245-2
362 S., 19,95 EUR ISBN 978-3-86321-286-5
www.mabuse-verlag.de
Editorial
Liebe Leserinnen und Leser, res Schwerpunktes zeigen einerseits, an welchen Stellen die Probleme besonders groß sind. Andererseits berichten sie aber auch von Möglichkeiten, die Situation sowohl für die beteiligten HelferInnen als auch für die Hilfe suchenden Menschen zu verbessern. Neben dem Schwerpunkt wenden wir uns unter anderem der Ausbildung von GesundheitsberuflerInnen zu: Wolfgang Wagner beschreibt die Pläne der Bundesregierung für eine generalistische Pflegeausbildung, ein Praxisbericht zeigt die Möglichkeiten eines Mentoring-Programms an der Hochschule für Gesundheit in Bochum und in der Rubrik „Gesundheit anderswo“ wird das Modell interprofessioneller Ausbildungsstationen in Schweden vorgestellt. Die Artikel zeigen: Gemeinsam geht vieles einfacher – ein Ansatz, den man sich auch für die Verbesserung der Situation von Geflüchteten in Deutschland und europaweit wünschen würde.
Foto: Nils Arthur
dass immer mehr geflüchtete Menschen in Europa Schutz suchen, beherrscht seit Monaten die öffentliche Berichterstattung. In Zeitungen und Talkshows wird darüber diskutiert, wie die Länder der Europäischen Union mit dieser Situation umgehen und welche Hilfe die einzelnen Mitgliedsstaaten zur Verfügung stellen. Die gesellschaftlichen Reaktionen in Deutschland reichen von großem freiwilligen Engagement als Teil der viel beschworenen „Willkommenskultur“ über Demonstrationen gegen eine angeblich drohende „Überfremdung“ bis hin zu Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte. Auch das deutsche Gesundheitswesen steht aktuell vor großen Herausforderungen: MitarbeiterInnen von Flüchtlingsorganisationen und medizinischen Verbänden beklagen Versorgungslücken und Schwierigkeiten bei der Organisation der Hilfe, die durch bürokratische Hürden gehemmt wird. Die AutorInnen unse-
Das Team des Mabuse-Verlages wünscht Ihnen frohe Weihnachten, erholsame Feiertage und alles Gute, Gesundheit und Glück im Neuen Jahr!
Dr. med. Mabuse 219 · Januar / Februar 2016
3
Inhalt Berufserlaubnis für medizinisch ausgebildete Flüchtlinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 14 Pro: Zwischenschritte nutzen Harald Terpe
Rubriken
Contra: Patientensicherheit garantieren Theodor Windhorst
Editorial
„Ver-rücktes Europa“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 16 DGSP-Jahrestagung 2015 in Trier Christoph Müller
...............................
Leserbriefe Cartoon
...........................
7
...............................
8
Nachrichten
Gesetzgeberische „Meilensteine“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 18 Neuregelungen zu Sterbehilfe und Pflegereform beschlossen Wolfgang Wagner
3
.........................
9
Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . 61 Neuerscheinungen . . . . . . . . . . . . . 66 Broschüren/Materialien
.......
71
Zeitschriftenschau . . . . . . . . . . . . . . . 73
Das gesundheitspolitische Lexikon . . . . . . . . . . . . . . S. 42
Termine
Portalpraxen Matthias Schrappe
Stellenmarkt/Fortbildung . . . 76
74
Kleinanzeigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Mut zur Menschlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 43 Interview mit dem IPPNW-Gründervater und berühmten Kardiologen Dr. Bernard Lown Nadja Urbani
Wertvolle Hilfe falsch eingesetzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 47 Zur Verordnung von Antidepressiva Gerd Glaeske
Eine wechselseitige Lernbeziehung . . . . . . . . . . . . . S. 48 Mentoring beim Übergang von der Hochschule in die Berufspraxis Sven Dieterich
Im Reich der Mitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 52 Bericht von der Mabuse-Leserreise nach Peking Franca Liedhegener Gesundheit anderswo:
Gemeinsam lernen auf Augenhöhe . . . . . . . . . . . . . S. 54 Interprofessionelle Ausbildungsstationen in Schweden Rene Ballnus
Planung des Lebensendes
..............................
..............................
S. 57
Neues Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung Oliver Tolmein Gesundheitsexperten von morgen:
Unterstützung bei chronischer Niereninsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 58 Möglichkeiten der Ernährungsberatung Gudrun Schmitt
Besser reich und gesund als arm und krank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 82 Karin Ceballos Betancur Foto: istockphoto.com/EOPITZ
Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Schwerpunkt:
Flucht Angekommen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 22 Gesundheitliche Erstversorgung von AsylbewerberInnen Mareike Ouatedem Tolsdorf
Kein Arztbesuch ohne Umwege . . . . . . . . . . . . . . . . S. 26 Versorgungslücken im Asylbewerberleistungsgesetz Ulrich Clever
Einen Neuanfang ermöglichen
................
S. 29
Psychosoziale Unterstützung für traumatisierte Geflüchtete Barbara Wolff
Rast auf einer weiten Reise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 32 Flüchtlings-Selbsthilfe in Mali Christian Gropper
Abschiebung trotz Trauma? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 35 Medizinische Gutachten in aufenthaltsrechtlichen Verfahren Hans Wolfgang Gierlichs
Aus der Not eine Tugend gemacht . . . . . . . . . . . . S. 38 Ein wegweisendes Projekt zur medizinischen Versorgung Geflüchteter Susanne Wittorf
Flucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 41 Bücher zum Weiterlesen
Artikel aus dem Schwerpunkt
Psychosoziale Unterstützung
Schwerpunkt: Flucht
Einen Neuanfang ermöglichen Barbara Wolff
V
iele Menschen, die vor Krieg, Verfolgung, Folter und Gewalt fliehen und in Deutschland Schutz suchen, haben Situationen erlebt und überlebt, die an die Grenzen der psychischen und physischen Belastbarkeit eines Menschen gehen – und darüber hinaus. Es handelt sich hier in der Regel nicht um ein singuläres Ereignis. Meist lebten diese Menschen schon lange unter den Bedrohungen kriegerischer Auseinandersetzungen, wurden etwa wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit verfolgt oder wegen ihrer politischen Einstellung inhaftiert. Für diese Menschen engagiert sich der Frankfurter Arbeitskreis Trauma und Exil FATRA e.V. seit über 20 Jahren. In unserer Beratungsstelle bieten wir kostenlose und unabhängige psychosoziale Unterstützung für Geflüchtete mit Traumafolgestörungen an. Aus dieser Arbeit will ich kurz die Geschichte eines jungen Mannes erzählen, eine Geschichte, der wir so oder ähnlich immer wieder begegnen.
Eine prägende Odyssee Ahmed (Name geändert) kommt aus Somalia, seine Familie ist arm. Als er noch ein Kind ist, wird sein Vater vor seinen Augen von radikalDr. med. Mabuse 219 · Januar / Februar 2016
Foto: Alex Kraus/laif
Ein Trauma reißt ein Loch in das Leben, erschüttert das Vertrauen in die Welt und in die eigene Kraft. Damit Betroffene diese zurückerlangen, neuen Mut fassen und das eigene Leben wieder mit Hoffnung und Zielen füllen können, braucht es oft Unterstützung von außen. Das gilt für alle Menschen, die unter einer Traumafolgestörung leiden, besonders aber für Geflüchtete. Unsere Autorin schildert die Arbeit einer Beratungsstelle, die ihnen psychosoziale Unterstützung anbietet.
Psychosoziale Unterstützung für traumatisierte Geflüchtete
29
30
Schwerpunkt: Flucht
Psychosoziale Unterstützung
islamistischen Kämpfern getötet, weil er sich nicht nach den Vorstellungen der Islamisten verhalten habe. Als Jugendlicher wird er selbst von islamistischen Milizen gefangen genommen, ihm wird gedroht, dass man ihm einen Arm, ein Bein abschneide. Dass er dieser „Haft“ unversehrt entkommen kann, macht die staatlichen Behörden misstrauisch. Sie beschuldigen ihn, den Islamisten anzugehören und inhaftieren ihn ihrerseits. Er kann aus dem Gefängnis fliehen und macht sich auf den langen und gefährlichen Weg nach Europa. In Libyen wird er aufgegriffen, kommt wieder ins Gefängnis, wird geschlagen und wieder freigelassen. Schließlich kann er sich Geld für die Fahrt übers Mittelmeer besorgen. Das Boot kentert, er überlebt, aber andere, die er auf seiner Flucht kennengelernt hat, ertrinken. In Italien kommt er zunächst noch in eine Unterkunft für Minderjährige. Diese muss er aber bald verlassen, lebt – wie alle Geflüchteten – nach sechs Monaten auf der Straße. Er ernährt sich von Abfall, wird Opfer rassistischer Übergriffe, ist als ju-
„Ziel unserer Angebote ist es, die Geflüchteten darin zu unterstützen, wieder an ihre Ressourcen anknüpfen zu können.“ gendlicher Obdachloser kaum geschützt vor sexueller Misshandlung. Das erträgt er nicht, flüchtet weiter nach Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt ist er fast ein Viertel seines jungen Lebens auf der Flucht.
Die Angst bleibt In Deutschland angekommen, ist Ahmed hoch motiviert. Er will hier schnell die Sprache lernen, eine Ausbildung machen und Geld verdienen, um seine Mutter zu unterstützen, die in seinem Heimatland zurückgeblieben ist. Aber das gelingt ihm nicht: Ahmed leidet unter Schlafstörungen, wird nachts in seinen Albträumen von all den Bedrohungssituationen, die er überlebt hat, verfolgt. Er hat Konzentrationsstörungen, fühlt sich ständig unter
Psychosoziale Zentren in Deutschland In Deutschland gibt es derzeit 30 Psychosoziale Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (PSZs), die spezielle psychosoziale und psychotherapeutische Hilfen für Geflüchtete anbieten. Diese Anzahl ist völlig unzureichend, um die Angebote bereitzustellen, die benötigt werden. Dies galt bereits in der Vergangenheit, doch jetzt, mit dem wachsenden Bedarf durch die steigenden Flüchtlingszahlen, umso mehr. Es gibt keine strukturell verankerte Finanzierung dieser PSZs. Jedes Jahr müssen über immer neue Projekte die Gelder bei Ländern, Kommunen, der EU oder bei Spenderorganisationen und privaten Spendern erneut eingeworben werden. Psychotherapien können nur zum Teil abgerechnet werden. Die Deckung der Kosten für die psychosoziale Arbeit, die den Hauptteil bei allen Zentren ausmacht, ist immer prekär. Die Finanzierung von Psychotherapien – sowohl bei Niedergelassenen als auch bei PSZs – ist je nach Situation der Geflüchteten unterschiedlich: In den ersten 15 Monaten des Aufenthaltes in Deutschland können die Kosten für eine
Anspannung und kann dem Sprachunterricht kaum folgen. Auf dem Weg zur Schule gerät er in eine Polizeikontrolle. Obwohl er inzwischen eine Duldung hat und seine Papiere in Ordnung sind, vermischt sich die Angst, nach Italien oder in sein Heimatland abgeschoben zu werden, mit seiner Erfahrung, sich ständig verstecken zu müssen, wie etwa in Libyen. Er hat Panikattacken, wagt sich nicht mehr auf die Straße, geht nicht mehr in die Schule, traut sich aber auch nicht, irgendjemandem davon zu erzählen. Er versteht sich selbst nicht mehr und auch nicht die Welt um sich herum.
Die Bedeutung eines stabilen Umfeldes Welche Hilfe braucht ein Mensch wie Ahmed? Zuallererst Sicherheit. Die Angst, wieder dorthin zurückgeschickt zu werden, woher sie geflohen sind, ist bei allen Geflüchteten immer präsent und eine ständige Belastung. Die Asylverfahren dauern lange. Manchmal müssen Geflüchtete über Jahre in einer „Duldungsschleife“ leben: Ihr Aufenthalt wird durch die kurzfristige Aussetzung der Abschiebung, die Duldung, immer nur für wenige Monate verlängert, bis sie dann, oft Jahre später, möglicherweise doch ein dauerhaftes Blei-
Psychotherapie im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes übernommen werden. Ein Anspruch hierauf besteht jedoch nicht. Häufig wird die Kostenübernahme nach einem langen Verwaltungsverfahren abgelehnt. Wird sie bewilligt, können auch die Dolmetscherkosten übernommen werden. Nach 15 Monaten allerdings haben Geflüchtete ein Anrecht auf Leistungen analog der Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). In diesem Fall muss ein neuer Antrag auf Psychotherapie gestellt werden, der erfahrungsgemäß auch eher bewilligt wird. Dolmetscherkosten werden aber grundsätzlich nicht im Rahmen von GKV-Leistungen übernommen. Ein Ausbau des Versorgungsangebotes durch die PSZs, ihre strukturell gesicherte Finanzierung sowie eine Finanzierungsregelung der ambulanten Psychotherapien entsprechend den Leistungen der GKV – ab dem ersten Tag des Aufenthaltes und unabhängig vom Status – und die Übernahme der Dolmetscherkosten durch die Kostenträger der Psychotherapie sind dringend notwendig.
berecht erhalten. Diese Menschen brauchen Aussicht auf eine Zukunft, die Möglichkeit, wieder Teil einer Gemeinschaft zu werden. Gibt man ihnen diese Chance, so werden viele von ihnen sie nutzen können und sich hier ein eigenes neues Leben aufbauen.
Traumatisierung zum Thema machen Einige der Geflüchteten haben aber, wie Ahmed, Gewalt und Verfolgung in einem Ausmaß erlebt, das Spuren hinterlässt und sie dauerhaft unter den Folgen leiden lässt. Folgen, die es ihnen in manchen Bereichen schwer machen, mit dem Alltag zurechtzukommen, sich selbst und ihre Umgebung auszuhalten. Diese Menschen brauchen Unterstützung. In unserer praktischen Arbeit geht es deshalb um viele Anliegen: um einen Ort, an dem Menschen erstmals in Ruhe über das sprechen können, was sie erlebt haben, wo sie auf ein verständnisvolles Gegenüber treffen, das ihnen erklärt, woher die Symptome einer seelischen Traumatisierung kommen, was sie bedeuten und dass sie keine Angst haben müssen, „verrückt“ zu sein. Auch sorgfältige Diagnostik und Dokumentation gehören zu unseren Aufgaben – nicht zuletzt zur BeweisDr. med. Mabuse 219 · Januar / Februar 2016
Das HolzHaus am Waldpark hochwertiger, ökologisch orientierter Wohnungsbau
führung im Asylverfahren. Aber genauso dient die Unterstützung der Stabilisierung und bedeutet Begleitung durch die Krisen und die Anforderungen, die sich hier in der neuen Kultur und durch die Belastungen des Asylverfahrens ergeben. Betroffene brauchen therapeutische Beziehungen, um wieder Vertrauen in sich und ihre Mitmenschen fassen zu können. Hier werden spezielle psychosoziale Beratungsangebote für die Geflüchteten benötigt, die all dies beinhalten.
Die Arbeit der Beratungsstelle Ziel unserer Angebote ist es, die Geflüchteten, die zu uns kommen, darin zu unterstützen, wieder an ihre Ressourcen anknüpfen zu können und ihre Fähigkeiten zu nutzen, um sich ein neues Leben aufzubauen, eine neue Sprache zu lernen, zu arbeiten oder einen Beruf zu erlernen, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen gut zu gestalten und wieder Hoffnung in die Zukunft entwickeln zu können. Wir bieten eine fachlich fundierte psychosoziale Beratung für Geflüchtete an, die als Folge der erlebten Gewalt und der schweren Menschenrechtsverletzungen an psychischen Traumafolgestörungen leiden. Dies bedeutet zu Beginn meist eine Krisenintervention und erste Stabilisierung, ferner eine sorgfältige Diagnostik sowie die Klärung, welche Form der Unterstützung Vorrang hat und welche Hilfen in die Wege geleitet werden müssen. Diese Beratungen bieten wir für Erwachsene in einem Stundenumfang von mindestens zehn Stunden, und in einem speziellen Projekt für unbegleitete minderjährige Geflüchtete in einem Umfang von in der Regel 20 Stunden und mehr an.
Psychotherapeutische Aufarbeitung Wenn sich im Laufe der Beratungen herausstellt, dass eine tiefer gehende psychotherapeutische Bearbeitung der traumatischen Erlebnisse sinnvoll ist und gewünscht wird, dann vermitteln wir an niedergelassene PsychotherapeutInnen in einem Behandlungsnetzwerk, das wir vor über zehn Jahren initiiert haben. Ein Verständnis dafür zu vermitteln, was Psychotherapie ist und was sie bewirken kann, ist ebenfalls ein Teil unserer Beratung. In den Kulturkreisen, aus denen viele der Geflüchteten kommen, sind psychische Erkrankungen stark tabuisiert und jeder Kontakt mit Psychiatrie und Dr. med. Mabuse 219 · Januar / Februar 2016
Psychotherapie schambesetzt. Ein Klient, der zwei Jahrzehnte unter den schlimmsten Bedingungen inhaftiert war, sagte mir einmal: „Ich wusste gar nicht, dass ich an etwas leide, das man behandeln kann.“ Nicht alle brauchen eine Psychotherapie oder entscheiden sich dafür. Manchmal kommen frühere KlientInnen erst nach Jahren wieder in unsere Beratungsstelle, wenn sie einen festen Aufenthaltsstatus, eine Arbeit und „Boden unter den Füßen“ haben, und möchten dann erst eine psychotherapeutische Bearbeitung ihrer Erlebnisse in Angriff nehmen.
Netzwerke zur Unterstützung Unser Konzept, die Psychotherapie in der Regelversorgung durchführen zu lassen, bedeutet mehr „Normalität“. Es heißt für uns auch, dass mehr Kapazitäten für die Beratungen zur Verfügung stehen. Um mehr Niedergelassene dafür zu gewinnen, sich in dieser Arbeit zu engagieren und um den fachlichen Austausch zu unterstützen, bieten wir Fortbildungen zum Thema an. Auch im pädagogischen Bereich, in dem Projekt für unbegleitete minderjährige Geflüchtete, führen wir regelmäßige Fortbildungsveranstaltungen für die MitarbeiterInnen der Heime durch und binden die Bezugspersonen in die konkrete Arbeit mit ein. So wächst das Verständnis für die Situation der Geflüchteten. Beratung und Psychotherapie sind nur möglich, wenn die sprachliche Verständigung gewährleistet ist. Deshalb schulen wir DolmetscherInnen für die speziellen Anforderungen im Kontext psychosozialer Beratung, Diagnostik und Therapie. Netzwerke zu bilden und unsere Erfahrungen mit anderen zu teilen, heißt für uns auch, mehr Menschen dafür zu gewinnen, sich für die Belange derer einzusetzen, die Verfolgung, schwere Gewalt und Menschenrechtsverletzungen überlebt haben. Unterstützung zur Teilhabe in unserer Gesellschaft kann nicht nur die Aufgabe spezialisierter Zentren sein. Hier ist eine solidarische Haltung der Zivilgesellschaft gefordert. ■
Das HolzHaus am Waldpark • • • • • • • • • •
ca. 8 bis 10 Eigentumswohnungen lebendige Hausgemeinschaft Bauen zum Selbstkostenpreis Großzügige Balkone Gemeinschaftsdachgarten Blick auf den Pfingstberg Kinderfreundlicher Gemeinschaftsgarten Angenehmes Raumklima Niedrigenergiekonzept Lage zwischen Fachhochschule und Biosphäre uvm...
Gelegen in der Nähe des Bugaparks in Potsdam, werden wir zwischen Seen und Kulturlandschaften wohnen und der Potsdamer Innenstadt nicht fern sein. Unsere Baugemeinschaft plant und baut ein Mehrfamilienhaus in Holzbauweise. Die Wohnungsgrößen ermöglichen familienfreundliche wie auch altersgerechte Wohnungen. Das Baugemeinschaftskonzept ermöglicht eine selbstbestimmte Nachbarschaft und weitgehende Mitbestimmung bei der Planung des Haues und der individuellen Wohnungsplanung.
Gesundheitsfördernde Eigenschaften der Holzbauweise • feuchteregulierende Eigenschaften verringern Atemwegserkrankungen
• antistatische und damit staubmindernde Wirkung lindert asthmatische Beschwerden
• desinfizierende Oberflächenbeschaffenheit hilft bakterielle Belastungen zu vermindern
• Schutz vor elektromagnetischer Strahlung • Allergiker schätzen Holz und dessen Oberfläche als nichtreizenden Baustoff
Barbara Wolff geb. 1952, ist Ärztin für Psychiatrie und Neurologie sowie Gründungsmitglied und Vorstandsvorsitzende des Frankfurter Arbeitskreises Trauma und Exil FATRA e. V. info@fatra-ev.de
www.wohnwille.de ____________________________ Kristian Wulkau – Agentur Wohnwille Tel.: 030 / 88 766 909 Mobil: 0179 / 54 74 576 Fax: 0321 / 214 526 73 born@kristianwulkau.de
Buchbesprechungen
Buchbesprechungen
Sandra Bachmann
Die Situation von Eltern chronisch kranker Kinder
D
ie Dissertation von Sandra Bachmann untersucht folgende Forschungsfragen: Was bedeutet es für Eltern, ein chronisch krankes Kind zu haben? Was wird von Eltern chronisch kranker Kinder oder Jugendlicher als belastend erlebt und welche alltäglichen Belastungen werden beschrieben? Welche Auswirkungen hat die Erkrankung des Kindes auf die Eltern und die familiäre Situation? Damit greift Bachmann ein Thema auf, das bisher noch wenig untersucht wurde (abgesehen von der Studie von Christa Büker, die 2010 das Leben mit einem behinderten Kind in einer qualitativen Studie beforschte). Um diese Fragen zu klären, wendet Bachmann das methodische Vorgehen der Grounded Theory an und nutzt dabei zwei verschiedene Datenbestände aus leitfadengestützten Interviews. Die Untersuchung ist bewusst nicht nur auf Mütter, sondern auch auf Väter und andere Familienmitglieder ausgerichtet, da die Strategien der gesamten Familie im Blickfeld der Studie stehen. Hier unterscheidet sie sich im Vorgehen von Büker, die vor allem Mütter in den Fokus ihrer Studie gestellt hat. Bachmann legt ihr methodisches Vorgehen transparent und begründet dar, so etwa, dass die – oftmals sehr belastenden – Gespräche überwiegend in der alltäglichen Lebenswelt der Eltern und Kinder stattfanden und jederzeit beendet werden konnten. Auch ihre Entscheidung, die schriftlichen Interviews aufgrund der erneuten Belastung nicht nochmals durch die Befragten bestätigen zu lassen, erläutert und begründet sie. Die Ergebnisse zeigen, dass das Wohl der chronisch kranken Kinder für die Eltern immer im Vordergrund steht und sie ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zurückstellen. Häufig gestaltet sich der Lebensalltag als Kampf, sodass die Eltern Kompetenzen erwerben müssen, um ihre Ziele und Ansprüche behaupten und durchsetzen zu können. Bachmann benennt diese Entwicklung als Kompetenzerwerb im Anschluss an Patricia Benner. Die Eltern werden zu Experten für ihr chronisch krankes Kind. Besorgt sind die Eltern vor allem um die Zukunft ihres Kindes. Dabei spielt beispielsweise auch die Pubertät eine zentrale Rolle, da Eltern Dr. med. Mabuse 219 · Januar / Februar 2016
befürchten, dass ihr Kind Angebote und Therapien ablehnen könnte. Eltern wünschen sich mehr Kontrollund Steuerungsmöglichkeiten und feste Ansprechpartner, die professionell beraten und begleiten. Die Begleitung soll bei der Diagnosestellung beginnen und über den gesamten Krankheitsverlauf möglich sein. Sie erwarten sich von professioneller Begleitung eine Unterstützung im Wissens- und Kompetenzerwerb und insbesondere eine Hilfe bei entwicklungsbedingten Veränderungen und Übergängen. Für ihr Kind erhoffen sie sich einen möglichst normalen, stabilen Alltag. Ihr Ziel ist es, die Selbstständigkeit ihres Kindes zu fördern und dessen Lebensqualität so wenig wie möglich einzuschränken. Bachmann zeigt durch ihr gründliches methodisches Vorgehen und die differenziert dargelegten Ergebnisse, wie Eltern chronisch kranker Kinder begleitet und unterstützt werden können. Das Buch wird für PflegewissenschaftlerInnen, Studierende im Bereich von Pflege und Gesundheit sowie für in Praxis und Lehre tätige Pflegende empfohlen – aber auch für andere professionelle Akteure, die mit der Thematik in Kontakt sind. Andrea Schiff, Professorin für Pflegewissenschaft, Kath. Hochschule NRW
Keine K e eine Angst Angsst v vor or o Älterwer e den dem Älterwerden ST E M I S C H E T H E R A P I E S SY Y ST
Thomas Friedrich-Hett Friedrich-Hett Noah Artner N o ah A rtner Rosita A. Ernst (Hrsg.)
Systemisches Arbeiten mit älteren Menschen K Konzepte onzepte u und Praxis nd P raxis ffür ür Beratung Beratung und u nd Psychotherapie
C CARL-AUER A R L-A U E R
Thomas /N tner/ Rosita A. Ernst (Hrsg.) Systemisches S ystemisches Arbeiten mit älter älteren en Menschen Konzepte und Praxis für Beratung und Psychotherapie 287 Seiten, Kt, 2014 € (D) 29,95/€ (A) 30,80 0434 0 ISBN 978-3-8497-00 Lernen, Wachstum und Veränderung sind auch im Alter noch möglich. Therapie und Beratung können helfen, Krafft für die noch anstehenden Lebensaufgaben zu gewinnen – bis hin zu einem guten und würdevollen Abschied von allem, was das Leben bereitgehalten hat.
JAAP ROBBEN · MEREL EYCKERMAN
JOSEFINA Ein Name wie ein Klavier
Hans Huber Verlag, Bern 2014, 180 Seiten, 29,95 Euro
Anna-Elisabeth Mayer
Die Hunde von Montpellier
Z
iemlich am Ende des Buches findet man den Satz „... er sah in ihre Augen wie in ein gefülltes Uringlas“. Ich stelle ihn hier jedoch voran, denn wer sich von solcherart Beschreibung faszinieren lassen kann, ist in diesem Buch gut aufgehoben. Alle anderen können sich die Zeit sparen. Die Autorin führt uns in eine facettenreiche, sehr bunte, aber auch düstere Welt des Mittelalters hinein. Sie schildert intensiv und in lebhaften Farben das Treiben auf den Märkten und in den Gassen. Man meint fast, die üblen Gerüche des Unrats auf den Straßen in der Nase zu
CARL-AUER
Josefina Ein Name wie ein Klavier 32 Seiten, Gb, 2015 € (D) 19,95/€ (A) 20,60 ISBN 978-3-8497-0089-8 Eines Tag a es vergaß Oma mich einfach. Und auch ihr Haus, das Zimmer und sich selbst. Sie dachte, sie wäre einfach irgendeine Frau. „Ein wunderbares Buch, in dem ein warmes Herz schlägt.“ Edward van de Vendel („Ein Hund wie Sam“)
Carl-Auerr Ve erlag www..carl-a auerr.de .
61
62
Buchbesprechungen
Kostenlose Willkommenskarten zum Download
TÜRKISCH
PERSISCH: khos amadid
ARABISCH: sahlaan
ahlaan wa
Begrüßen Sie Migranten in deren Heimatsprache: „Herzlich willkommen“-Karten liegen in 17 Sprachen kostenlos für Sie unter www.beltz.de/migration zum Download bereit.
Das Manual ist ein Training zur Vermittlung interkultureller Kompetenz für Jugendliche. Es enthält 16 Module wie Empathie, Vorurteile, Selbstreflexion u. a. Das erste Kapitel führt in die Kultur und interkulturelle Bildung ein. Leser werden außerdem über Grundlagen, Methoden, Basisverhalten und Organisation informiert. Gert Jugert / Hedwig Jugert / Peter Notz Fit für kulturelle Vielfalt
Training interkultureller Kompetenz für Jugendliche Mit Online-Materialien Pädagogisches Training, 2014, 238 Seiten, broschiert; € 34,95 ISBN 978-3-7799-2149-3
www.beltz.de/migration
JUVENTA
haben, ebenso aber auch den Duft von heilenden Kräutern und würzigem Rauch, der Kranken bei der Genesung helfen soll. Grusel ist garantiert in dieser Geschichte, die im 16. Jahrhundert spielt und von Aberglaube, Unwissenheit und dem Kampf gegen beides handelt. Schaudern ganz eigener Art, wie für Mediziner gemacht, verfolgt die Leser, die einen Arzt begleiten, der nach Wissen strebt und dem dieses Streben über alles geht: über die herrschenden Vorstellungen von Moral, Anstand und Sitte – wohl auch über die eigenen Gefühle. Rondelet, so sein Name, wird von seinem Wissensdrang getrieben, für den er alle Tabus bricht, die mit dem Tod und dem Körper eines Toten verbunden sind. Das schockiert die Menschen seiner Zeit. Ist es nicht nachvollziehbar, dass Menschen davor zurückschrecken, den Körper nach dem Tode aufzuschneiden? Muskulatur, Knochen aber auch innere Organe herauszunehmen, nur um sie zu studieren? Ist diese Scheu denn nicht gottgewollt? Rondelet glaubt das nicht, ihm geht es darum, den menschlichen Körper kennenzulernen, und er akzeptiert keine Schranken: „... nur von außen anschauen reicht nicht, in ein Haus gehen wir doch auch hinein“, so argumentiert er. Was wiegt schwerer, die Unversehrtheit des Körpers, die in der damaligen Zeit einen noch wesentlich höheren Stellenwert hatte, oder der Fortschritt? Heute ist die Autopsie, die Leichenöffnung, ein Routinevorgang und die Bereitschaft, seinen Körper oder seine Organe der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen, ist ein inzwischen fast alltägliches Anliegen moderner Menschen. Rondelet aber muss dafür kämpfen, das Wissen-wollen über das Glauben-müssen zu stellen. Wo wären wir heute, wenn wir uns von den Hemmungen jener Zeit hätten leiten lassen? Wo wären wir ohne diese Männer, die jede Grenze überschritten, immer mit dem Alibi, dadurch könnte vielleicht der nächste Mensch gerettet werden? Wären wir vielleicht nicht so weit, wie wir jetzt sind? Oder hätten sich mit der Zeit andere Wege der Erkenntnis aufgetan? Rondelet jedenfalls hat der ärztlichen Heilkunst einen Dienst erwiesen. Glücklicher ist er dadurch nicht geworden, seine Umgebung ächtete ihn dafür, Schmähungen erschienen an der Wand seines Hauses. Und es hat ihn nicht davon abgehalten, wie die Autorin uns in einem Nachtrag wissen lässt, auch seine Ehefrau
und seine Schwägerin nach deren Tod zu obduzieren. Vermutlich bedauerte er einzig, dass er sich nicht auch noch selbst hat sezieren können. Sonja Chevallier, Hamburg
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2014, 200 Seiten, 19,95 Euro
Thomas Friedrich-Hett u. a. (Hg.)
Systemisches Arbeiten mit älteren Menschen Konzepte und Praxis für Beratung und Psychotherapie
D
er demografische Wandel bedingt eine Zunahme altersbezogener Erkrankungen – auch in der psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgung gibt es immer mehr im Alter neu psychisch Erkrankte sowie älter gewordene depressive, schizophrene und angstgestörte Menschen. Zuverlässig ist mittlerweile belegt, dass ältere Menschen mit wachsender Selbstverständlichkeit Beratung und Psychotherapie in Anspruch nehmen – und davon profitieren. Es überrascht nicht, dass neben den in EU-Nachbarländern mit Erfolg praktizierten Ansätzen aufsuchender psychotherapeutischer Behandlung die Telemedizin als „innovative Versorgungsstrategie“ der Gerontopsychotherapie entdeckt wird. Für das Thema Altern und psychotherapeutisches Arbeiten mit älteren Menschen haben sich niedergelassene Psychotherapeuten und auch die systemische Literatur erst allmählich zu interessieren begonnen. Die Herausgeber haben eine anregende Übersicht theoretischer und praxisbezogener Beiträge gesammelt. Die dialogische Herstellung von Lebensgeschichte, wie sie der soziale Konstruktionismus, eine der erkenntnistheoretischen Grundlagen systemischer Ansätze, begründet, eigne sich besonders für die therapeutische, beratende und pflegende Arbeit mit Älteren, knüpfe sie doch an deren reichhaltiger Lebenserfahrung als „einer ihrer wichtigsten Ressourcen“ an. Dieses Postulat findet sich in eindrucksvollen Praxisberichten aus Heimbetreuung, ambulanter Psychotherapie und psychiatrischer Klinik bestätigt. Dr. med. Mabuse 219 · Januar / Februar 2016
Buchbesprechungen
Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2014, 287 Seiten, 29,95 Euro
Joseph Kuhn, Martin Heyn (Hg.)
Gesundheitsförderung durch den öffentlichen Gesundheitsdienst
D
as im vierten Anlauf 2015 verabschiedete Präventionsgesetz soll die Gesundheitsförderung direkt im Lebensumfeld, besonders in Kita und Schule, am Arbeitsplatz und im Pflegeheim, stärken. Im neuen Paragrafen 20 des Sozialgesetzbuches V schreibt der Gesetzgeber vor, dass die Krankenkassen in der Satzung Leistungen zur Verhinderung und Verminderung von Krankheitsrisiken (primäre Prävention) sowie zur Förderung des selbstbestimmten gesundheitsorienDr. med. Mabuse 219 · Januar / Februar 2016
ŚƌŝƐƟŶĂ ^ĐŚƺĞƐͮ ŚƌŝƐƚŽƉŚ ZĞŚŵĂŶŶͲ^ƵƩĞƌ ;,ƌƐŐ͘Ϳ
ZĞƩĞŶĚĞ 'ĞƐĐŚǁŝƐƚĞƌ Z ĞƩĞŶĚĞ 'ĞƐĐŚǁŝƐƚĞƌ
ϮϬϭϱ͘ Ϯϴϲ ^͕͘ ŬĂƌƚ͕͘ Φ ϯϴ͕Ͳ ϵϳϴͲϯͲϵϱϳϰϯͲϬϭϬͲϲ ƉƌŝŶƚ
tierten Handelns der Versicherten (Gesundheitsförderung) vorsehen müssen. Dabei sollen die Leistungen insbesondere zur Verminderung sozial bedingter sowie geschlechtsbezogener Ungleichheit von Gesundheitschancen beitragen. Lebensumfeld, Lebenswelt oder Setting – mit diesen Begriffen im Gesetz wird nahegelegt, dass Gesundheitsförderung dort zu realisieren ist, wo Menschen „spielen, lernen, arbeiten und lieben“, wie es fast poetisch in der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung von 1986 heißt. Und hier kommt der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) ins Spiel – beziehungsweise er könnte stark ins Spiel kommen. Denn prinzipiell ist der ÖGD hervorragend dafür geeignet. Und konkret gibt es ermutigende Beispiele, die als Blaupause für eine Umsetzung des Präventionsgesetzes dienen können. Grundsätzliche Überlegungen und Praxisbeispiele finden sich im von Joseph Kuhn und Martin Heyn herausgegebenen Buch, das daher genau zur richtigen Zeit kommt. Denn hier gibt es Spielraum bei der Umsetzung des Gesetzes. Traditionell ist der ÖGD auf den Schutz der Gesundheit ausgerichtet und hat hierfür hoheitliche Kompetenzen. Dies ist nicht entbehrlich, muss aber um ein neues Leitbild ergänzt werden: Selbstbestimmung über die eigene Gesundheit im Sinne von Empowerment und Partizipation, um das Lebensumfeld gemeinschaftlich „gesünder“ zu machen. Die Herausgeber legen gemeinsam mit Veronika Reisig und Natalie Voh dar, was einen „neuen“ ÖGD ausmachen könnte und welche Chancen damit verbunden sind. Es wurden 18 Beiträge gesammelt, die von konzeptionellen Überlegungen über einen historischen Rückblick bis hin zu einer Reihe von beispielhaften Ansätzen reichen. Sie zeigen, dass der ÖGD (prinzipiell) geeignet ist, eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung des Präventionsgesetzes zu spielen – mithilfe von Instrumenten und Verfahrensweisen wie Gesundheitskonferenzen und -berichterstattung oder der Verknüpfung von Sozial- und Gesundheitsplanung. Zwei Beiträge seien herausgehoben: Die Historikerin Sigrid Stöckel beschreibt die Entstehung des umfassenden Gesundheitsbegriffes in den Chartas der WHO nach dem Zweiten Weltkrieg, und wie die Ärzte im ÖGD der jungen Bundesrepublik das neue Gesundheitsverständnis aufgenommen haben, nämlich zurückhaltend.
ƚŚŝƐĐŚĞ ƐƉĞŬƚĞ ĚĞƌ ŝŶǁŝůůŝŐƵŶŐ ŝŶ ĚĞƌ ƉćĚŝĂƚƌŝƐĐŚĞŶ ^ƚĂŵŵnjĞůůƚƌĂŶƐƉůĂŶƚĂƟŽŶ ŝĞ <ŶŽĐŚĞŶŵĂƌŬƐƉĞŶĚĞ ǀŽŶ <ŝŶĚĞƌŶ Ĩƺƌ ůĞƵŬćŵŝĞŬƌĂŶŬĞ 'ĞƐĐŚǁŝƐƚĞƌ ŝƐƚ ĞŝŶĞ ůĞďĞŶƐƌĞƩĞŶĚĞ dŚĞƌĂƉŝĞ͘ <ŝŶĚĞƌ ƐŝŶĚ ĂďĞƌ ŶŽĐŚ ŶŝĐŚƚ ŝŶ ĚĞƌ >ĂŐĞ͕ ƐĞůďƐƚ ĞŝŶĞ ŝŶǁŝůůŝͲ ŐƵŶŐ njƵ ŐĞďĞŶ͘ tŝĞ ƐŽůůĞŶ ƐŝĞ ĂůƐŽ ďĞƚĞŝůŝŐƚ ǁĞƌĚĞŶ͍ tĞůĐŚĞ ĞƚŚŝƐĐŚĞŶ &ƌĂŐĞŶ ƐƚĞůůĞŶ ƐŝĐŚ͍ ŝĞ ĞŝƚƌćŐĞ ĚŝƐŬƵƟĞƌĞŶ ŵŽƌĂůŝƐĐŚĞ͕ ƌĞĐŚƚůŝĐŚĞ͕ ƉƐLJĐŚŽůŽŐŝƐĐŚĞ͕ ƉŚŝůŽƐŽƉŚŝƐĐŚĞ ƵŶĚ ŐĞƐĞůůƐĐŚĂŌůŝĐŚĞ ƐƉĞŬƚĞ͗ &ƌĂŐĞŶ njƵƌ &ƌĞŝǁŝůůŝŐŬĞŝƚ ďĞŝ ĚĞƌ ŝŶǁŝůůŝŐƵŶŐ njƵ ĞŝŶĞƌ ^ƉĞŶĚĞ͕ njƵƌ sĞƌůĞƚnjůŝĐŚŬĞŝƚ ĚĞƐ <ŝŶĚĞƐ͕ njƵ sĞƌƐƚƌŝĐŬƵŶŐĞŶ ŝŶ &ĂŵŝůŝĞŶďĞnjŝĞŚƵŶŐĞŶ͕ njƵŵ sĞƌŚćůƚŶŝƐ ǀŽŶ ZĞĐŚƚ ƵŶĚ ƚŚŝŬ͕ njƵƌ ŝƐŬƌĞƉĂŶnj ǀŽŶ <ŝŶĚĞƐǁŽŚů ƵŶĚ <ŝŶĚĞƐǁŝůͲ ůĞ ƵŶĚ njƵ ĚĞŶ <ŝŶĚĞƌƌĞĐŚƚĞŶ͘
Z ŶĚƌĞĂƐ ĂƐƐĞĞ ͮ ŶŶĂ 'ŽƉƉĞů ;,ƌƐŐ͘Ϳ
DŝŐƌĂƟŽŶ ƵŶĚ ƚŚŝŬ D ŝŐƌĂƟŽŶ ƵŶĚ ƚŚŝŬ Ϯ͘ ƵŇ͘ ϮϬϭϰ͘ ϯϬϴ ^͕͘ ŬĂƌƚ͕͘ Φ Ϯϵ͕ϴϬ ϵϳϴͲϯͲϴϵϳϴϱͲϯϭϳͲϭ ƉƌŝŶƚ
Psychotherapie geht im Alter grundsätzlich nicht anders vor, aber es sind Besonderheiten zu beachten – etwa eine vermehrte therapeutische Aktivität, langsameres Vorgehen, Einsatz von Gedächtnishilfen, Flexibilität im Setting und Austausch mit Ärzten der Körpermedizin. Denn der ältere Mensch hat häufig Funktionsbeeinträchtigungen infolge somatischer Komorbidität. Auch der Verlust von nahestehenden Menschen, wirtschaftliche Sorgen und der Umzug ins Seniorenheim kosten Kraft. Die Themen der Erfahrungsberichte aus der Praxis reichen vom Bewältigen von Kontaktabbruch in Familien, Arbeit mit dem biografischen Erbe von Kindern im Zweiten Weltkrieg, über Sexualität und Partnerschaft sowie Demenzen bis zur Begleitung von Sterben und Trauer. Zahlreiche Fallbeispiele belegen, wie lebenslang gewachsene Sinnstrukturen genutzt, Grenzen validiert und betrauert, Neugier und Veränderungsbereitschaft (wieder)geweckt und Regeln des Zusammenlebens neu vereinbart werden können. Der demografische Wandel macht nicht nur eine Modifikation des therapeutischen Arbeitens erforderlich; es steht auch ein (radikales) Umdenken des Settings hin zu aufsuchenden Ansätzen auf der Tagesordnung. Dr. Hasso Klimitz, Potsdam
^ŝŶĚ ^ƚĂĂƚĞŶ ŵŽƌĂůŝƐĐŚ ĚĂnjƵ ďĞƌĞĐŚƟŐƚ͕ ĚŝĞ ƵǁĂŶĚĞƌƵŶŐ ĂƵĨ ŝŚƌ dĞƌƌŝƚŽƌŝƵŵ ŶĂĐŚ ĞŝŐĞŶĞŵ ƌŵĞƐƐĞŶ njƵ ďĞƐĐŚƌćŶŬĞŶ͍ /Ɛƚ ĚĂƐ ZĞĐŚƚ ĂƵĨ ƵƐƐĐŚůƵƐƐ ĞŝŶ ůĞŐŝƟŵĞƌ ĞƐƚĂŶĚƚĞŝů ĚĞƌ ŶĂƟŽŶĂůĞŶ ^ĞůďƐƚďĞƐƟŵͲ ŵƵŶŐ͍ KĚĞƌ ƐŽůůƚĞŶ ^ƚĂĂƚĞŶ ǀŝĞůŵĞŚƌ ĞŝŶĞŶ ŵŽƌĂůŝƐĐŚĞŶ ŶƐƉƌƵĐŚ ĂƵĨ ŐůŽďĂůĞ ĞǁĞŐƵŶŐƐĨƌĞŝŚĞŝƚ ĂŶĞƌŬĞŶŶĞŶ͍ ŝĞ ϭϱ ƵƚŽƌĞŶ ƚŚĞŵĂƟƐŝĞƌĞŶ ǁĞƐĞŶƚůŝĐŚĞ ^ƚƌćŶŐĞ ĚĞƌ ŵŝŐƌĂƟŽŶƐĞƚŚŝƐĐŚĞŶ ĞďĂƩĞ ƵŶĚ ůŝĞĨĞƌŶ ĞŝŶĞ ĨƵŶĚŝĞƌƚĞ ƵƐĞŝŶĂŶĚĞƌƐĞƚͲ njƵŶŐ ŵŝƚ &ƌĂŐĞŶ͕ ĚŝĞ ŝŶ ĞŝŶĞƌ ŐůŽďĂůŝƐŝĞƌƚĞŶ tĞůƚ ƐƚĞƟŐ ĂŶ ĞĚĞƵƚƵŶŐ ŐĞǁŝŶŶĞŶ͘
ŵĞŶƟƐ sĞƌůĂŐ DƺŶƐƚĞƌ ŵĞŶƟƐ sĞƌůĂŐ DƺŶƐƚĞƌ
63
64
Buchbesprechungen
Psychosozial-Verlag David Zimmermann
Migration und Trauma Pädagogisches Verstehen und Handeln in der Arbeit mit jungen Flüchtlingen
266 Seiten • Broschur • € 24,90 ISBN 978-3-8379-2180-9 Das Leben zwangsmigrierter Jugendlicher ist durch extreme Belastungen gekennzeichnet. Diese Erfahrungs- und Erlebenswelten der Jugendlichen unterzieht der Autor anhand zahlreicher Fallbeispiele einer genauen Analyse und entwickelt unter Rückgriff auf die Traumaforschung Handlungsoptionen für die pädagogische Praxis.
Klaus Plümer legt eine persönliche Bilanz vor. Er blickt auf mehr als 25 Jahre Tätigkeit im ÖGD zurück und erinnert unter anderem an die erfolgreiche Aids-Prävention Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre. Gesundheitsförderung, so sagt er mit Recht, sei keine medizinische Dienstleistung. Nach dem Präventionsgesetz ist für die Ebene der Bundesländer vorgesehen, dass die Kranken- und Pflegekassen gemeinsam mit den Unfallversicherungen und der gesetzlichen Rentenversicherung Rahmenvereinbarungen mit den in den Ländern zuständigen Stellen abschließen. Hier wird sich zeigen, ob dem ÖGD eine zentrale Rolle im künftigen Kooperationsgeflecht zugewiesen wird. Allerdings muss der ÖGD nicht einfach warten, bis er wach geküsst wird. Gerade auf der Landesebene könnten die PolitikerInnen „ihren“ ÖGD jeweils entsprechend positionieren. Und wenn der ÖGD diese Rolle ausfüllen soll, werden die Länder auch Ressourcen dafür einsetzen müssen. Andreas Böhm, Potsdam
Hans Huber Verlag, Bern 2015, 194 Seiten, 39,95 Euro
Ludwig Janus
Geburt
Andreas S. Lübbe
Für ein gutes Ende Von der Kunst, Menschen in ihrem Sterben zu begleiten – Erfahrungen auf einer Palliativstation
U 144 Seiten • Broschur • € 16,90 ISBN 978-3-8379-2241-7 Die Erlebnisbedeutung der Geburt ist heute allgemein akzeptiert – nicht zuletzt wegen der empirischen Belege aus Stressforschung und Psychotraumatologie. Ludwig Janus stellt hier die verschiedenen Linien der Erforschung der Geburtserfahrung vor und erklärt ihre Bedeutung für die psychotherapeutische Praxis. Walltorstr. 10 · 35390 Gießen Tel. 0641-969978-18 Fax 0641-969978-19 bestellung@psychosozial-verlag.de www.psychosozial-verlag.de
m es gleich vorwegzusagen: Das Buch von Andreas S. Lübbe, Onkologe und Leiter der Palliativstation in der KarlHansen-Klinik sowie der onkologischen Schwerpunktklinik für Anschlussrehabilitation in Bad Lippspringe, ist hervorragend und gehört in jeden Bücherschrank. Als Leserin habe ich die Palliativstation kennengelernt, einige der 25 MitarbeiterInnen, inklusive ihres Chefs. Ich kann mir auch ein Bild von den Aufgaben, Orientierungen und Möglichkeiten der Palliativmedizin machen. Vor allem habe ich aber viele Lebensgeschichten kennengelernt, von Menschen, die mal mehr oder weniger gut aufgeklärt, mal gefasst und mal verzweifelt mit ihrem nahenden Tod – oder dem der Angehörigen – konfrontiert waren. Was es an lindernden, palliati-
ven Angeboten gibt, ist tröstlich und beruhigend, aber auch illusions- und schnörkellos beschrieben. Eines sind die Botschaften nie: überheblich oder lehrmeisterlich. Sie sind zutiefst menschlich und im Bewusstsein unseres gemeinsamen Schicksals geschrieben, der Sterblichkeit. Manche Patienten der Palliativstation stellen sich vor, „schon mit einem Bein im Grab“ zu stehen, andere denken: „Hier werde ich für die nächste Reha oder die nächste Chemo wieder fit gemacht“. Manche wollen der Außenwelt signalisieren, dass sie um ihr Leben kämpfen, und wollen deshalb noch „unsinnige Therapien“. Anders als in einem Hospiz verlassen Patienten die Palliativstation oft wieder und leben zu Hause weiter. Im Durchschnitt bleiben sie zwölf Tage auf der Station, bei Bedarf können sie immer wieder zurückkommen. Das Behandlungsziel ist nicht mehr Heilung, aber auch nicht nur Schmerzfreiheit durch Medikamente. Es geht auch um seelische und soziale Bedürfnisse: Welche Ziele und Hoffnungen haben Patienten und Angehörige? Wie sieht die Prognose aus und was ist realistisch noch zu erreichen? Andreas Lübbe plädiert für Ehrlichkeit und „partizipative Entscheidung“. „Das geht nur, wenn der Experte für medizinisches Wissen den Experten für die persönlichen Lebensumstände anerkennt und wenn ersterer auch wirklich das Wissen über Behandlungsalternativen hat.“ Das ist gerade angesichts eines absehbaren Todes einfacher gesagt als getan. Was Patienten an Informationen einordnen und ertragen können, wie viel sie mitentscheiden möchten, ist höchst individuell. „Einer von fünf Patienten sagt: Entscheiden Sie, Sie haben die Erfahrung. (...) Bei den anderen muss ich argumentieren, Vor- und Nachteile aufzeigen können. Das ist die Schlüsselqualifikation: Die Patienten nicht zu überfordern, sondern angemessen zu informieren und gemeinsam Entscheidungen zu finden.“ Diese Perspektive wäre sicher auch in anderen Krankenhausabteilungen wünschenswert. Patienten am Lebensende solle man „wahrhaftig, menschlich, ehrlich, authentisch und mitfühlsam begegnen”, sagt der Palliativmediziner. „Professionelle Distanz mag in dem ein oder anderen Bereich hilfreich sein. Aber hier ist ‚professionelle Nähe‘ gefragt“. Ein Psychologe kann überforderten Familien wieder auf die Beine helfen. Der Sozialarbeiter organisiert die Dr. med. Mabuse 219 · Januar / Februar 2016
häusliche Pflege und kann gut mit den Krankenkassen verhandeln. Sie alle leben „professionelle Nähe“, brauchen Zeit und auch Supervision, denn selbst nach jahrelanger Konfrontation mit dem Sterben machen manche Schicksale den MitarbeiterInnen zu schaffen. Am Ende des Buches erfahre ich noch einige Wünsche, die hoffentlich irgendwann einmal tatsächlich in Erfüllung gehen. Zum Beispiel „eine Gesellschaft, in der Kranke und Schwache ganz selbstverständlich ihren Platz haben (...); in der Sterbende den Mut haben können, sich ihren Mitmenschen anzuvertrauen“. Oder: „mehr Ehrlichkeit und Transparenz im Gesundheitswesen, weniger Heuchelei und Streben nach Gewinnmaximierung“; „philosophisch und ethisch ausgebildete Ärzte“, die mit mehr „Demut in ihren Grundhaltungen“ Patienten und Angehörigen begegnen, die ihr Recht auf eine gute Begleitung am Lebensende kennen. Das wäre schön. Mit dem Buch ist ein Anfang gemacht – für ein gutes Ende. Erika Feyerabend, Essen
Heyne Verlag, München 2014, 320 Seiten, 19,99 Euro
Sonja Schiff
10 Dinge, die ich von alten Menschen über das Leben lernte Einsichten einer Altenpflegerin
S
itzen Sie manchmal abends rum und fragen sich, warum Sie sich den ganzen Pflegestress antun? „Was hat mich nur geritten, als ich mich für die Altenpflege als Beruf entschieden habe?“, mag Sonja Schiff gedacht haben. Sie stellt zehn Dinge vor, die sie von alten Menschen über das Leben lernte. Das Buch passt wunderbar zu so einer Stimmung. Es erinnert mich an die schönen Seiten meines Berufs. Und so kann das Buch auch hilfreich sein, wenn die Berufsentscheidung noch nicht gefallen ist, die Altenpflege es aber in die engere Wahl geschafft hat. Sonja Schiff zeigt ihre Begeisterung schon im Vorwort: „Altenpflege ist der coolste Job der Welt.“ Sie schreibt zum Beispiel über ihre Begegnungen mit Frau Dr. med. Mabuse 219 · Januar / Februar 2016
Niess: eine Schreckschraube, eine verängstigte Hundertjährige, eine brutale Verweigererin, eine Hutträgerin – alles in einer Person. Es braucht Zeit, Energie und Fantasie, um Vertrauen aufzubauen. Aber am Ende kann Frau Niess in Ruhe aus dem Leben gehen. Sonja Schiff beschreibt viele Erfahrungen, die sie als Altenpflegerin machen konnte. Diese werden zusammen mit Reflexionen der Autorin in zehn „Einsichten“ gegliedert. Ist es unangemessen, dass sich hier und da Pathos zwischen die Zeilen schleicht? Ich begegne auch Sätzen, die mir wie eine Anleitung zum Glücklichsein vorkommen. Beim ersten Lesen überspringe ich manche Zwischentexte, aber die Fallbeispiele lese ich Wort für Wort. Sehr schön, dass sie mir zum Beispiel eine Dame vorstellt, die Tag für Tag nur allein im Zimmer des Altenheims sitzen will – und mir zeigt, warum das so ganz und gar nicht langweilig ist. „Die vielen alten Menschen heute und in Zukunft sind angeblich zu teuer“, steht da. Tag für Tag liefern mir die Medien Berichte über Sparmaßnahmen, Budgetierung oder rote Zahlen. Also erwarte ich, dass die Autorin dieser Bemerkung volkswirtschaftliche Argumente und Statistiken folgen lässt. Nichts dergleichen. Sonja Schiff zeigt Haltung. Sie schreibt über existenzielle Bedürfnisse alter Menschen und die Möglichkeiten der Altenpflege. Sollen doch die HaushaltspolitikerInnen Wege finden, die Achtung der Würde des Menschen zu finanzieren. Nein, Altenpflege ist nicht immer aufregend oder bedeutend oder romantisch. Auch das wird im Buch deutlich. Jeder alte Mensch kann „ein Geheimnis in sich tragen, kann irgendwann im Leben traumatisiert worden sein, eine intensive Lebenskrise nicht überwunden oder auch Schuld auf sich geladen haben (...) Viele alte Menschen nehmen diese Erlebnisse, häufig haben sie ein Leben lang nicht darüber geredet, still mit sich ins Grab.“ Ich hätte große Lust, mit Sonja Schiff mal einen langen Nachmittag zu verbringen, um über Altenpflege zu sprechen! Und ihr Buch werde ich bald ein zweites Mal lesen. Georg Paaßen, Altenpfleger
Gegenstand und Grundkonzepte der Gerontologischen Pflege
Hermann Brandenburg / Helen Güther (Hrsg.)
Lehrbuch Gerontologische Pflege 2015. 360 Seiten, kartoniert € 39.95 AUCH ALS E-BOOK
Für eine professionelle Pflege und Betreuung alter Menschen sind gründliche Kenntnisse der Gerontologie und Pflegewissenschaft notwendig. Das erfahrene Herausgeber- und Autorenteam schafft mit diesem Buch einen Brückenschlag zwischen Pflegepraxis, Gerontologie und Pflegewissenschaft.
www.hogrefe.ch/85471 edition a, Wien 2015, 192 Seiten, 19,95 Euro