Studieren an der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften
berufsbegleitend praxisnah Voll-/ Teilzeit
PFLEGE & MEDIZIN
Blockseminare mit hybrider Lehre (vor Ort & online)
* Nursing Management B.A.
*
PÄDAGOGIK & SOZIALES
HUMANITÄRE HILFE & BEVÖLKERUNGSSCHUTZ
* Advanced Nursing Practice (ANP) M.Sc.
* Soziale Arbeit B.A. +PLUS (auch als duales Studium)
* Medizin- und Notfallpädagogik B.A.
* Pädagogik im Gesundheitswesen B.A.
* Pädagogik und Erwachsenenbildung in der Gesundheitswirtschaft M.A.
*
* Internationale Not- und Katastrophenhilfe B.A.
* Management in der Gefahrenabwehr B.Sc.
* Führung in der Gefahrenabwehr und im Krisenmanagement M.Sc.
* Global Health M.Sc.
* Kr kommunikation M.A.
Jetzt bewerben! Online
Liebe Leserinnen und Leser,
was gibt uns Sicherheit? Wie kann es sein, dass wir trotz unsicherer äußerer Umstände in uns Sicherheit spüren und dieses Gefühl uns durch schwierige Zeiten trägt?
Im Schwerpunkt berichten wir, wie Elternkompetenzen in Familien mit psychisch erkrankten Angehörigen gestärkt werden können und warum hebammengeleitete Kreißsäle neben hoher Berufszufriedenheit bei den Hebammen auch zu großer Sicherheit während der Entbindungen beitragen. Andere Artikel beschäftigen sich mit den Themen Gewaltprävention im Alter und Sicherheit für Mitarbeiter:innen und Patient:innen im Krankenhaus.
In der psychiatrischen Versorgung ethische Standards einzuhalten, sollte selbstverständlich sein – Benchmarking-Konzepte können beim Gelingen helfen. In einem weiteren Beitrag geht es um die die stationäre Langzeitpflege: Hier unterstützt das „Safewards-Konzept“ die Pflegenden im Umgang mit dementiell erkrankten Patient:innen.
Lesenswert sind natürlich auch unsere Artikel außerhalb des Schwerpunktes:
Artikel, die eine kontroverse Debatte anregen können, beschäftigen sich mit dem Arzneimittelgebrauch in der Selbstmedikation, der Bewegungsförderung durch Virtual Reality und dem „Gammel-Konzept“ für Demenzerkrankte.
Die Psychoonkologin Bianca Senf zeigt Wege auf, wie Fachkräfte im Gesundheitswesen Familien, in denen ein Mitglied an Krebs erkrankt ist, so unterstützen können, dass gerade den Kindern optimal geholfen werden kann.
Marion Hulverscheidt berichtet diesmal ausführlich über die aktuellen Entwicklungen zum Thema Schwangerschaftsabbruch.
Wir informieren auch über zwei Ausstellungen:
„Seelenräume - Psychische Erkrankungen und Krisen in Graphischen Erzählungen“ sowie „Überwunden“: Wie Menschen mit Tätowierungen ihre Selbstverletzungen überdecken.
Am Schluss möchten wir Sie noch auf ein besonderes Interview hinweisen:
Seit 25 Jahren prägt Jürgen Georg als Lektor und Programmleiter beim Hogrefe Verlag die Landschaft der Pflegeliteratur im deutschsprachigen Raum. Im Gespräch mit Christoph Müller zieht er Bilanz seines beruflichen Lebens, erzählt über seine prägenden Begegnungen, die Mühen des Büchermachens und verrät auch ein paar seiner Zukunftspläne.
Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und grüßen aus der Mabuse-Redaktion!
Charlotte Fischer Jana Prokop
Hermann Löffler
Inhalt
11 Die Zeit zum Handeln ist jetzt!
Aktuelles zum Thema Schwangerschaftsabbruch| Marion Hulverscheidt
16 Alleingeburt
Pro| Jobina Schenk
Contra| Sabine Kroh
20 Bunt, vielfältig, professionell und lebensbejahend
Die Messe LEBEN UND TOD feiert erfolgreich ihr 15-jähriges Jubiläum Meike Wengler
56 „Das Gras neuer Pflegethemen wachsen hören“
Christoph Müller im Gespräch mit Jürgen Georg vom Hogrefe Verlag
60 Schwingen und Klingen Regenerieren durch Musikresonanz
Regina Raab
Kunst und Kultur:
63 Botox für verkrampfte
Pianist:innenhände
Resilienzarbeit bei Musiker:innen
Joachim Göres
66 Frühzeitig mitdenken!
Wenn ein Elternteil an Krebs erkrankt: Nicht wahrgenommene Kinder sind die Patient:innen von morgen | Bianca Senf
70 „Den“ Busen gibt es nicht. Christoph Müller im Gespräch mit Anja Zimmermann
72 Eine neue Haus(un)ordnung
Gammeln als Konzept für Demenzerkrankte| Christian Löbel und Stephan Kostrzewa
76 Kranke(n)häuser
Gesundheits-Architektur für das 21. Jahrhundert| Barbara Knab
79 DigiSucht
Die digitale Revolution in der ambulanten Suchthilfe| Melanie Wolff
82 Kulturkampf auf Kosten der Patient:innen?
Über die neue Cannabisverordnung und ihre Herausforderungen Oliver Tolmein
84 Einblick in Seelenräume
Die Vermittlung von innerem Erleben im Graphischen Erzählen
Thomas Hax-Schoppenhorst
86 Wirksam und unbedenklich?
Selbstmedikation, Evidenz und „ordnungsgemäßes“ Beraten Udo Puteanus
90 Licht- und Schattenseiten
Bewegungsförderung via Virtual Reality| Viviane Scherenberg
94 Bilder, die unter die Haut gehen Das Krankenhaus-Museum Bremen zeigt Menschen, die mit Tätowierungen ihre Selbstverletzungen auf Armen und Beinen überdecken Joachim Göres
97 #ausgeliefert Angehörigenarbeit und Psychiatrie| Thomas Lampert
98 Rettungsaktion in letzter Minute? Die Krankenhausreform ist durch –der Streit darüber noch lange nicht beendet| Wolfgang Wagner
114 Besser reich und gesund als arm und krank
Joseph Randersacker
Rubriken
3 Editorial
6 Leserbriefe
7 Nachrichten
8 Cartoon
14 Neues aus dem Mabuse-Verlag
22 Bitte zur Anamnese
101 Buchbesprechungen
105 Neuerscheinungen
108 Zeitschriften
110 Termine
111 Fortbildungen/Kleinanzeigen
113 Impressum
Foto: Erik González / stock.adobe.com
Schwerpunkt
Sicherheit
26 Hebammengeleitete Geburtshilfe Physiologische Geburt bei maximaler Sicherheit und gleichzeitig hoher Berufszufriedenheit der Hebammen
Sylvia Habl
29 Transparente Psychiatrie Sicherheit durch Benchmarking
Florian Wostry
32 Besonderer Ort, besonderer Schutz Sicherheit im Krankenhaus Rainer von zur Mühlen
36 „Menschen brauchen Menschen“ Der Letzte Hilfe Kurs
Sabine Wigbers
38 Vertrauen und Eigenverantwortung Auswirkungen von Sicherheitsdiensten auf das Sicherheitsgefühl des Pflegedienstes
Miro Barp
41 Wie ist es, in Ihrer Familie Kind zu sein?
Elternkompetenzen von Menschen mit psychischen Erkrankungen stärken
Katrin Herder und Regine Groß
45 Gewalt im Alter Ein vermeidbares Problem
Rolf D. Hirsch
48 Safewards
Ein Konzept für ein sicheres und unterstützendes Umfeld für Menschen mit Demenz in der stationären Langzeitpflege?
Hanna Batzoni und Markus Witzmann
52 Im Room of Horrors Praxisnahes Training für die Patientensicherheit
Susanne Karner und Natascha Nielen
55 Sicherheit
Bücher zum Weiterlesen
Berufsstolz und kritisches Bewusstsein sollten Hand in Hand gehen!
Betreff: „Mehr Berufsstolz oder mehr Pride?“ von Ludwig Thiry, Dr. med. Mabuse 264, S. 72–75.
Die Horrorsr. des Ruhrgebiets als Kunstfigur aus dem Pflegeberuf ist eine fiktive und unkonventionelle Darstellung. Sie ist eine Gestalt, die die dunklen und belastenden Seiten des Pflegeberufs im Ruhrgebiet verkörpert, aber gleichzeitig auch die Tapferkeit und Hingabe der Pflegekräfte hervorhebt. Ihr eigens kreiertes Theaterstück „Ihr habt alle weggesehen!“ entstand im Jahr 2017 aus ihrer schwarzen Feder. Dieses Theaterstück wurde uraufgeführt in ihrer Heimatstadt Selm, vor 300 Gästen im Bürgerhaus der Stadt. Sie trägt eine Uniform, inspiriert von Florence Nightingale, jedoch mit einem düsteren und abgenutzten Touch, der die harte Realität des Berufs widerspiegelt, in Form von Blutflecken. Ihr Gesicht ist von den Belastungen und der Müdigkeit gezeichnet, die mit der Arbeit und den Verschleierungsstrategien in der Pflege einhergehen. Sie trägt ausgebrannte Köpfe von Kolleg:innen, als Symbol für eine düstere Präsenz gesundheitlicher Beeinträchtigungen und um auf Burnout/Cooldown als mögliche Erkrankungen im Pflegeberuf hinzuweisen. Diese Erkrankungsbilder treffen nicht unbedingt auf eine
kleine Gruppe ihrer/der Kolleg:innen zu. Ihre Geschichten erzählen von den Herausforderungen und Schrecken des Pflegealltags, von überfüllten Krankenhäusern, emotional belastenden Situationen und dem ständigen Kampf gegen Krankheiten und Leid, fehlende oder übertriebene Fürsorge, Vernachlässigung ihrer Selbst.
Trotz des düsteren Themas ist die Horrorsr. des Ruhrgebiets auch eine Figur der Stärke und Solidarität, die die unermüdliche Arbeit und Opferbereitschaft
der Pflegekräfte würdigt und gleichzeitig auf die dringende Notwendigkeit hinweist, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern und sie angemessen zu unterstützen. Sie plädiert dafür, sich berufspolitisch zu engagieren, in Gewerkschaften, politischen Parteien – und ja, auch in Pflegekammern mitzuwirken, sich dort kritisch zu platzieren. Der Pflegeberuf ist ein dynamischer Beruf, der dringend politische Aufwertung benötigt, etwa durch eine Reformierung des Gesundheitssystems insgesamt.
Die Debatte über Berufsstolz oder „Pride“ in den Pflegeberufen ist eine wichtige, aber auch komplexe Angelegenheit. Einerseits ist es wichtig, dass Pflegekräfte stolz auf ihre Arbeit sind und Anerkennung für ihre harte Arbeit und Hingabe erhalten. Andererseits kann ein übermäßiger Fokus auf Stolz zu Schwierigkeiten führen, insbesondere wenn er dazu verwendet wird, strukturelle Probleme oder Missstände in der Pflege zu verschleiern oder zu relativieren. Berufsstolz kann dazu beitragen, das Selbstwertgefühl und die Motivation der Pflegekräfte zu stärken, was wiederum ihre Leistungsfähigkeit und die Qualität der Pflege verbes-
sern kann. Er kann auch dazu beitragen, das öffentliche Bewusstsein für die Bedeutung der Pflege zu erhöhen und die Wertschätzung für Pflegekräfte zu steigern.
Allerdings darf Berufsstolz nicht dazu führen, dass Missstände in der Pflege ignoriert werden. Es ist wichtig, dass Pflegekräfte und die Gesellschaft insgesamt kritisch bleiben und auf Probleme wie Personalmangel, unzureichende Ressourcen, schlechte Arbeitsbedingungen und mangelnde Anerkennung hinweisen. Eine konstruktive Debatte über diese Probleme ist entscheidend, um positive Veränderungen herbeizuführen und die Pflege zu verbessern.
Letztendlich sollten Berufsstolz und kritisches Bewusstsein Hand in Hand gehen. Pflegekräfte sollten stolz auf ihre Arbeit sein können, aber gleichzeitig sollten sie nicht zögern, Missstände anzusprechen und für Veränderungen einzutreten, um die Pflegequalität zu verbessern. Eine ausgewogene Perspektive, die sowohl den Stolz auf die geleistete Arbeit als auch die Notwendigkeit von Veränderungen berücksichtigt, ist entscheidend für eine gesunde und produktive Diskussion in den Pflegeberufen.
Gruß
Jasmina Liebling
Berichtigung
Betreff: „Dr. med. Mabuses Anamnesebogen“, Dr. med. Mabuse 264, S. 13. Bei dem Erfinder der Letzten Hilfe Kurse handelt es sich selbstverständlich um Dr. med. Georg Bollig (siehe auch S. 38 u. 57 in dieser Ausgabe). Die Redaktion bittet vielmals um Entschuldigung für die Verwendung eines falschen Vornamens.
Ukraine
Psychiatrische Versorgung nach zwei Jahren Krieg
Wie schon im vergangenen Jahr an gleicher Stelle soll hier über den Stand der psychiatrischen Versorgung in der westukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk berichtet werden. Mit der Dauer des Krieges steigt der Bedarf an psychiatrischer Behandlung namentlich von Traumafolgestörungen sowohl bei der Zivilbevölkerung als auch bei Soldat:innen exponenziell an. Dem hat das regionale klinische Zentrum für medizinische Gesundheit des Iwano-Frankiwsker Regionalrates durch die Einrichtung einer neuen Abteilung zur Behandlung von Traumafolgestörungen innerhalb der psychiatrischen Klinik Rechnung getragen. Hierzu wurden, wie hier bereits berichtet, Anfang
Spenden
Spenden an das Projekt sind weiterhin möglich unter www.gip-global.org/support oder per Banküberweisung an Federation Global Initiative on Psychiatry
IBAN: NL46 INGB 0006 0707 13
BIC: INGBNL2A
Verwendungszweck: Ukraine help
Auf der Website der GIP finden Sie auch Informationen zu den laufenden Aktivitäten.
des Jahres 2023 14 vollstationäre Betten und 15 Tagesklinikplätze eingerichtet und mit dem erforderlichen Fachpersonal ausgestattet. Die Nachfrage ist groß, die Abteilung ist voll ausgelastet und eine Erweiterung ist geplant. Das ukrainische Ministerium für Veteranenangelegenheiten hat die Arbeit der Klinik mit einem Vertrag gewürdigt, wonach seit dem 1. September 2023 auch die Kosten für die Behandlung von Veteran:innen übernommen werden, was vorher nicht möglich war. Veteran:innen sind ehemalige Soldat:innen, die wegen Dienstunfähigkeit aus dem aktiven Dienst ausscheiden mussten. In der Regel sind dies Menschen mit Traumafolgestö-
rungen, die deshalb nicht mehr in der Lage sind, an die Front zurückzukehren. Soldat:innen im aktiven Dienst werden weiterhin in der Klinik behandelt. Die Kosten hierfür werden aber von der Armee übernommen.
Im Unterschied zu den Soldat:innen, die unabhängig von der Schwere ihrer seelischen Störung zur Behandlung nur drei Wochen vom aktiven Militärdienst befreit sind, können Veteran:innen dem Bedarf entsprechend auch länger behandelt werden. Zusätzlich stehen ihnen für die Behandlung komorbider psychischer Störungen Leistungen der allgemeinen Krankenversicherung zur Verfügung. Weiterhin hat eine private Klinik am Rande der Stadt, die vor dem Krieg für ausländische Interessierte schönheitschirurgische Eingriffe anbot, die Räume und Personal für die Rehabilitation von Veteran:innen zur Verfügung gestellt. Die psychiatrische Klinik arbeitet auch eng mit Corus zusammen, einer ehrenamtlichen Einrichtung, die mobile Krisendienste für die Kriegsgebiete zur Verfügung und dort allgemeinmedizinische, chirurgische und notfallpsychiatrische Hilfen für die Zivilbevölkerung bereitstellt.
Am Rande der benachbarten Stadt Lviv wurde im Mai 2023 eine Klinik für die prothetische Versorgung von Kriegsverletzten mit 55 Plätzen eingerichtet, deren psychologischer Leiter eng mit der psychiatrischen Klinik in Ivano-Frankiwsk kooperiert. Die Einrichtung (superhumans.com) wird von einer privaten ukrainischen Stiftung und von Spenden u. a. von der Howard BuffettStiftung getragen. Ebenfalls von Spenden, auch aus dem Kreis der Mabuse-Leserschaft, getragen wurde Anfang 2024 die erste psychiatrische Abteilung in einer Haftanstalt in der Ukraine in Drohobytsch eröffnet, die sich wie das Superhumans Center in der Nachbarschaft von Ivano-Frankiwsk befindet.
Die Versorgungslandschaft bewegt sich also mit Hilfe von Sponsoren und staatlicher Finanzierung in die notwendige Richtung, wenngleich nicht verkannt werden darf, dass alle bisher realisierten Maßnahmen nur ein Tropfen auf dem heißen Stein des immensen Bedarfs an psychiatrisch-psychotherapeutischen und rehabilitativen Hilfen sind.
Deshalb sind auch weiterhin Spenden nötiger als je, insbesondere im Hinblick auf die geplante Erweiterung der psychiatrischen Klinik Ivano-Frankiwsk. Jenseits dieses Versorgungsalltags erfreuen sich die jährlich von Prof. Pustovyot und dem Unterzeichner durchgeführten Summerschools großer Beliebtheit. An der einwöchigen Weiterbildung nahmen in diesem Jahr 500 Mitarbeiter:innen offline und online teil. Wiederum konnten Expert:innen des Faches aus Deutschland und der Ukraine unentgeltlich als Referent:innen gewonnen werden. Trotz mehrerer Luftschutzalarme konnte die Summerschool wie geplant durchgeführt werden. Im September ist eine weitere einwöchige Weiterbildung mit einem kanadischen Spezialisten für die Behandlung von Traumafolgestörungen geplant, die bemerkenswerterweise von der Nato finanziert wird. Die Summerschool soll auch im nächsten Jahr wieder stattfinden.
Prof. Dr. Hartmut Berger
Online-Petition Reproduktive und sexuelle Gesundheit im Präventionsgesetz verankern
Aktuell läuft die Zeichnungsphase der von 21 Organisationen sowie gemeinnützigen und beruflichen Verbänden aus dem Gesundheitswesen ins Leben gerufenen Online-Petition zur Unterstützung der Forderung, auch die Prävention sexueller und repoduktiver Gesundheit als 5. Handlungsfeld in die Neufassung des Präventionsgesetzes aufzunehmen. Die Ärztliche Gesellschaft zur Gesundheitsförderung (ÄGGF e. V.) machte den Vorstoß – mit Beitritt des Deutschen Ärztinnenbundes, der Stiftung Kin-
dergesundheit und dem Verein NALA unterstützen weitere namhafte Organisationen die Forderung nach einer Überarbeitung des Präventionsgesetzes. Ziel dabei sind verbesserte Voraussetzungen für Präventionund Gesundheitsförerung in jedem Lebensalter und in allen Lebensbereichen. Aktuell umfassen die Handlungsfelder des Präventionsgesetzes Ernährung, Bewegung, Stressregulation und Sucht, ein wichtiges Handlungsfeld wird dabei ausgespart: Die sexuelle und reproduktive Gesundheit.
Vor dem Hintergrund der zunehmend schwierigeren Situation im Gesundheitswesen kommt der Präventions- und Aufklärungsarbeit eine immer entscheidendere Rolle zu. Es ist wichtig, gesundheitsförderliches Wissen und Handlungskompetenzen aufzubauen, und dafür müsse die sexuelle und reproduktive Gesundheit unbedingt in den Handlungsfeldern des PrävG berücksichtigt werden, so die Petitionsverfassenden.
Für eine Finanzierung vieler wichtiger Präventionsprojekte u. a. von gemeinnützigen Organisationen durch Krankenkassen und andere Institutionen stellt eine gesetztliche Verankerung die Voraussetzung dar. „Niedrigschwellige, verlässliche Angebote zur Aufklärung helfen, Wissen zielgruppengerecht zu vermitteln und Brücken zum Gesundheits- und Beratungssystem zu bauen. Insbesondere dort, wo der Bildungsstand niedrig und das Bewusstsein für Prävention nur unzureichend vorhanden sind, stellen gemennützige Präventionsprojekte eine unverzichtbare Ergänzung dar, die nur mit Fördermitteln aufrechterhalten und weiter ausgebaut werden kann“, sagt Dr. med. Heike Kramer, eine der Vorsitzenden der Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung.
Quelle: äggf.de
Dr. med. Heike Kramer
Neue Liste
Pflegetätigkeit in der klin. ErwachsenenPsychiatrie
Endlich einvernehmlich konsentiert: Am 8. März 2024 konnten im Rahmen der Sitzung des Verbändedialogs psychiatrischer Pflege alle in Deutschland aktiven Verbände der psychiatrischen Pflege eine Einigung bezüglich des Pflegerischen Handlungsfelds in der stationären Erwachsenenpsychiatrie finden – eine diesbezügliche Liste wurde herausgegeben, wobei eine Überprüfung hinsichtlich Aktualität im 5-Jahres-Rythmus wünschenswert ist. Unter den beteiligten Verbänden finden sich beispielsweise die Deutsche Fachgesellschaft Psychiatrischer Pflege e. V. (DFPP), die Bundesfachvereinigung leitender Krankenpflegepersonen der Psychiatrie e. V. (BFLK) sowie der Arbeitskreis Pflege der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie. e. V. (DGSP).
Die Liste der Pflegetätigkeiten zeigt, dass das Handlungsfeld der Pflege breit, anspruchsvoll und vielseitig ist und verdeutlicht die Unverzichtbarkeit der Pflegeangebote in der Krankenhausbehandlung. Die Liste ist nicht abschließend und enthält weder Angaben zu Frequenz oder Dauer der Tätigkeiten noch zu den pflegerischen Qualifikationsstufen.
Aufgegliedert in drei größere Unterpunkte sind in der Liste alle Tätigkeiten der Pflege in den psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken der Erwachsenenpsychiatrie aufgeführt. Grundlage der Liste ist die 2019 im Rahmen einer Studie zur Personalbemessung der voll- und
teilstationären psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhauspflege erstellte Listung relevanter Pflegetätigkeiten („PPRPP-Studie“).Zwei Literaturrecherchen sowie Konsentierungs- und Validierungsprozesse liegen der aktuellen Version zugrunde.
„Es wäre schön, wenn (die Liste, Anm. d. Red.) an vielen Orten dazu beiträgt, dass viele Menschen den Aufgabenumfang und die Bedeutung der Pflege angemessener einschätzen können“, so Dorothea Sauter, die Präsidentin der Deutschen Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege (DFPP e. V.). Quelle: Verbändedialog Psychiatrische Pflege
Karibik
Erfolgreiche HIV- und Syphillis-Prävention
Die karibischen Länder Belize, Jamaika sowie Sankt Vincent und die Grenadinen erhielten von der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) eine Auszeichnung für die erfolgreiche Eindämmung der Mutter-Kind-Übertragungen von HIV und Syphillis. Laut WHOkonnte die Zahl der HIVNeuinfektionen bei Neugeborenen seit 2010 um 25 % gesenkt werden. Diese Errungenschaften markieren einen Meilenstein im Bereich Public Health und wurden im Rahmen einer von der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (Pan American Health Organization, PAHO) in Kingston, Jamaika, organisiertenGedenkfeier gewürdigt. Die von UNICEF und UNAIDS unterstützte Gedenkfeier fand in Anwesenheit der drei Gesundheitsminister der jeweiligen Länder statt (Foto unten).
Seit 2010 hatten sich die Länder zu dem Plan, eine MutterKind-Übertragung von Aids und Syphillis einzudämmen, zusammengefunden und dafür jeweils regionale Strategiepläne entwickelt. 2016 wurden diese unter der Federführung des PAHO-Aktionsplanes für Prävention und Eindämmung von HIV und sexuell übertragbaren Erkrankungen aktualisiert. Schlüsselstrategien beinhalteten einen Ausbau der Präventions- und Behandlungsangebote im Bereich der medizinischen Grundversorgung, ein effizientes Screening schwangerer Frauen und die engmaschige Kontrolle ungeschützter Kinder.
Damit haben nun weltweit 19 Länder und Territorien das entsprechende WHO-Zertifikat für die Eliminierung der MutterKind-Übertragung erhalten; davon 11 Länder allein in Lateinamerika.
Quelle: Caribbean National Weekly
Inklusionstage in Berlin Barrierefreie Mobilität für mehr Teilhabe
Anlässlich der Inklusionstage des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales am 4. und 5. Juni in Berlin haben die Fachverbände für Menschen mit Behinderung ein Positionspapier zu Mobiliät vorgelegt.
Als zentrale Voraussetzung für eine uneingeschänkte gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung ist ein barrierefreies und inklusives Mobilitätsangebot unverzichtbar. Das 17-seitige Positionspapier verdeutlicht etwa, dass Tausende Kinder und Erwachsene mit Behinderung auf spezielle Fahrdienste angewiesen sind, die bisherigen Angebote sind dabei für viele Betroffene unzumutbar. Auch ein speziell notwendiger Schutz vor Gewalt und sexuellen Übergriffen bzw. eine hohe Sensibilität der Fahrer:innen für die erhöhte Risikolage von Menschen mit Behinderungen wird betont. Die Fachverbände wollen, dass Leistungen, wie spezielle „Mobilitätstrainings“, Assistenzleistungen zur Nutzung von Bussen/Bahnen oder anderen Verkehrsmitteln bezahlt und im Sozialgesetz-
Quelle: diefachverbaende.de
Clowns und Clowns e. V.
Ein Lächeln für die
Helden der Pflege
Zum internationalen Tag der Pflege (12. Mai) wurden die Pflegeheime in Leipzig um eine besonders fröhliche und bunte Note bereichert – Mitarbeiter:innen in den Pflegeheimen der Stadt erhielten clownesken Besuch. „Die Arbeit in den Pflegeheimen ist oft herausfordernd und anspruchsvoll. Wir möchten den Pflegekräften unseren Respekt und unsere Wertschätzung entgegenbringen, indem wir ihnen einen Moment der Freude und des Lachens schenken“, sagt Anke Klöpsch, Geschäftsführerin von Clowns und Clowns e. V. Der gemeinnützige Verein, der in Zusammenarbeit mit der LEIPZIGSTIFTUNGarbeitet, sieht die Aktion am Tag der Pflege als Teil seines Engagements für die Verbesserung von Lebensqualität und Wohlbefinden der Menschen, zu diesem Anlass insbesondere der Mitarbeiter:innen in der Pflege. Tag für Tag investieren diese ihr Herzblut in die Pflege und Betreuung älterer Menschen – oftmals ohne Würdigung ihrer anspruchsvollen Tätigkeit in der Öffentlichkeit. „Unser Ziel ist es, mit unserem Besuch nicht nur für Unterhaltung zu sorgen, sondern auch ein Lächeln auf die Gesichter der Menschen zu zaubern, die so viel für unsere Gesellschaft leisten.“ Durch einfühlsame und humorvolle Interaktionen schaffen die „Leipziger Gesundheitsclowns“ positive Momente und berühren das Herz der Pflegenden. So war es den Mitarbeiter:innen in den Pflegeheimen am buch IX festgeschrieben werden. „Die Barrierefreiheit im Öffentlichen Personennahverkehr muss endlich ohne Wenn und Aber umgesetzt werden“, stellt Beate Bettenhausen, Vorsitzende des Bundesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte Menschen (bvkm) klar. Die fünf Fachverbände repräsentieren etwa 90 % der Einrichtungen und Dienste für Menschen mit geistiger, seelischer, körperlicher oder mehrfacher Behinderung in Deutschland.
Tag der internationalen Pflege möglich, für einen Augenblick dem Alltag zu entfliehen und gemeinsam mit Clowns und Kolleg:innen eine fröhliche Zeit zu verbringen.
Clowns und Clowns e. V. ist ein gemeinnütziger Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Menschen durch humorvolle Aktionen zu unterstützen. Mit einem Team von professionellen Clowns besucht der Verein regelmäßig soziale Einrichtungen, Krankenhäuser und Pflegeheime, um Lachen und Freude zu verbreiten.
Quelle: Clowns und Clowns e. V.
IPPNW
Öffnung für neue Berufsgruppe
Seit ihrer Gründung im Jahr 1982 engagiert sich die IPPNW –Internationale Ärzt:innen für die Verhütung des Atomkriegs/ Ärzt:innen in sozialer Verantwortung – in vielfältiger Form für weltweiten Frieden, die Abschaffung atomarer Bedrohung und ein soziales und humanes Gesundheitswesen. Das zentrale Anliegen dabei ist der Friedenserhalt. In über 60 Staaten ist die IPPNW aktiv und setzt sich gemeinsam mit Schwesterorganisationen für die internationale Ächtung von Atomwaffen ein; die deutsche Sektion steht dabei weltweit im Austausch mit ärztlichen Friedensorganisationen.
Auch das Thema „Medizin in sozialer Verantwortung“ wird in der Organisation großgeschrieben, denn der Ökonomisierungsdruck lässt den Mensch hinter zunehmend kommerzialisierten
Interessen zurücktreten. Für dieses Engagement erhielt die Organisation im Jahr 1985 den Friedensnobelpreis.
Nun haben Ärzt:innen und Medizinstudierende auf der Mitgliederversammlung der deutschen Sektion am 27. April 2024 eine Öffnung der Ärzt:innenorganisation für andere Berufsgruppen aus dem Gesundheitswesen beschlossen. Neben Medizinstudierenden und approbierten Psycholog:innen sind jetzt auch Pflegekräfte, Apotheker:innen, medizinisch-technische Assistent:innen, Hebammen und Notfallsanitäter:innen eingeladen, Vollmitglied bei der IPPNW zu werden. In der Begründung zu dieser Entscheidung heißt es, dass die ärztliche Sonderstellung, welche die Ärzt:innenschaft im medizinischenSystem einmal hatte, so aktuell keinen Bestand mehr habe. Die britische Sektion „Medact“, die amerikanische Sektion „Physicians for Social Responsibility“ sowie
med. Mabuse 2024/2025
weitere Sektionen sind diesen Schritt bereits gegangen.
Quelle: ippnw.de
Sachsenhausen Geburtshilfe schließt
Zum ersten Juli diesen Jahres schließt die Geburtshilfestation des DGD Krankenhauses Sachsenhausen – aus möglichem Szenario wird traurige Gewissheit. Vor dem Hintergrund der bevorstehenden Krankenhausreform müsse sich das Haus neu aufstellen und auf bestimmte Leistungsbereiche fokussieren. „Dieser Schritt fällt alles andere als leicht“, so Dr. Claudia Fremder, die gemeinsam mit Hubertus Jaeger in Doppelspitze die Geschäftsführung des Frankfurter Hauses bildet. Seit 1927 gibt es die Abteilung im Krankenhaus, seitdem seien hier mehr als 82 000 Kinder auf die Welt gekommen, so Fremder. Die Schließlung der Abteilung sei
Die kommenden vier Schwerpunkt-Themen im Überblick
• 266 Gesundheit von morgen (4/2024)
• 267 Nacht (1/2025)
• 268 Bewegung (2/2025)
• 269 Schweigen (3/2025)
ein emotionales Thema, nicht zuletzt auch, „weil es in Frankfurt dann keine Sachsenhäuser mehr geben wird“. Die gynäkologische Abteilung bleibt dem Haus jedoch erhalten. Hubertus Jaeger hat dabei sowohl für das Personal, als auch für werdende Eltern eine wichtige Botschaft: „Wir lassen niemanden alleine. Allen Frauen, die bei uns entbinden wollen (...) werden wir zur Seite stehen. Denn wir werden mit unserem Nachbar-Krankenhaus, dem Hospital zum Heiligen Geist, kooperieren – dieses liegt nur knapp einen Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Mains.“ In Richtung des Personals geht die Botschaft, dass alle Mitarbeitenden der Geburtshilfe ein Weiterbeschäftigungsangebot erhalten werden. „Denn es handelt sich durchweg um hervorragend ausgebildete Kräfte, die wir auf jeden Fall in unserem DGD Krankenhaus Sachsenhausen halten wollen“, so Hubertus Jaeger. Deutschlandweit sind zahlreiche weitere Geburtshilfe-Stationen von Schließungen betroffen oder akut davon bedroht. So schloss beispielsweise die Geburtshilfe in Templin (Uckermark, Stand April 2024), die Geburtenstation der Klinik Preetz (SchleswigHolstein, Stand März 2024) und die Helios-Klinik St. Elisabeth in Hünfeld (Hessen) ab Ende Juni 2024. Auch akut von Schließungen bedroht sind deutschlandweit zahlreiche Geburtshilfe-Stationen, wie etwa in der Helios-Klinik in Müllheim oder am Kreiskrankenhaus in Emmendingen.
Dr. med. Mabuse ist die unabfür alle Gesundheitsberufe.
Vier Ausgaben im www.mabuse-verlag.de
Foto: Clowns und Clowns e. V.
Dr.
Marion Hulverscheidt
Unsere Autorin informiert über die aktuellen Entwicklungen zum Thema Schwangerschaftsabbruch.
Der Bericht der von der Bundesregierung eingesetzten zweigeteilten Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und zur Fortpflanzungsmedizin hat die aktuelle Regelung des Schwangerschaftsabbruchs (SSA) sowie die Legalisierung von Eizellspende und Leihmutterschaft ausführlich diskutiert und seine Einschätzung schriftlich auf über 600 Seiten dargelegt: Der Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen nach der Empfängnis –Paukenschlag! – sei zu legalisieren, sprich: aus dem Strafgesetzbuch zu entfernen –so die einstimmige (!) Bewertung der Kommission.1 Auch die zahlreichen fundierten Publikationen aus der ELSA-Studie „Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer – Angebote der Beratung und Versorgung“2 sind einen Blick wert. Für die eher kulturell Interessierten lohnt sich vielleicht die Lektüre einer aktuellen Publikation aus Großbritannien von Juni Carey, die den sprechenden Titel trägt: „A necessary kindness. Stories from the frontline of Abortion care.“ Und für diejenigen, die noch nicht genug Informationen haben über den Abortion-War in den USA, sei der Dokumentarfilm „Preconceived“ empfohlen.3 Darin werden die Aktivitäten sogenannter „crisis pregnancy centers“ ausführlich beleuchtet. Eine in Polen erschienene Graphic Novel „Abortion Tales“ von Beata Rojek und Sonja Sobiech, die die Situation von Frauen, die nach der Möglichkeit eines SSA in Polen suchen, beschreibt, soll in diesem Jahr auch in deutscher Übersetzung erscheinen. Eine Adaption fürs Theater wurde in Wien im Mai uraufgeführt.4
Warten oder Handeln?!
Die Zeit zum Handeln ist jetzt!
Aktuelles zum Thema
Schwangerschaftsabbruch
schloss, Deutschland zu regieren. Und auch auf diesen Gebieten wird gehandelt, Geld in die Hand genommen, diskutiert und sich auseinandergesetzt. Beim Schwangerschaftsabbruch heißt es jetzt abwarten, das dränge nicht.
Lesen ist auch das, was Deutsche am liebsten machen, während sie warten müssen. Und Warten scheint nun angesagt: Vornehmlich männliche Mitglieder der Bundesregierung vertreten die Auffassung, dass mit der Entgegennahme des Kommissionsberichts nun erstmal die im Koalitionsvertrag gestellte Aufgabe erfüllt sei. Nur ja nicht mehr machen als versprochen – doch so bleibt man in gefährlicher Genügsamkeit stecken. Diese Regierungskoalition könnte auch anders, denn weder der Ukraine-Krieg noch der Hamas-Terror waren abzusehen, als sich diese Koalition ent-
Es ist gesellschaftlich nicht mehr vermittelbar, warum die Regularien zum Schwangerschaftsabbruch im Strafgesetzbuch zwischen Mord und fahrlässiger Tötung stehen. Nach einer repräsentativen Umfrage, die das Bundesfrauenministerium BMFSFJ in Auftrag gegeben hat, halten 80 % der Befragten es für falsch, dass ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen rechtswidrig sein soll.5 Die Bundesregierung hat für ein neues Gesetz die Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung hinter sich, und das Wohlwollen der benachbarten europäischen Staaten obendrein. Doch so wie es scheint, lassen sie sich von der Opposition treiben.
Die Faktenlage
Doch der Reihe nach – lassen wir die Ereignisse seit Anfang April 2024 Revue passieren: Die im
Die Expert:innen-Kommission stellt ihren Abschlussbericht vor. Foto: picture alliance / SZ Photo / Jürgen Heinrich
März 2023 durch die Ampelkoalition eingesetzte Kommission hatte ihren Bericht pünktlich nach zwölf Monaten an alle Bundestagsabgeordneten verschickt, eine Pressekonferenz wurde für den 15. April anberaumt. Der SPIEGEL leakte Teile des Kommissionsberichts bereits eine Woche zuvor, worauf die mediale Berichterstattung ansprang, anstatt die offizielle Pressekonferenz abzuwarten, insbesondere die Opposition äußerte sich in schrillen Tönen.6
Am 10. April wurden in einer achtstündigen (!) Zoom-Konferenz die Ergebnisse der ELSA-Studie dem Fachpublikum und Interessierten präsentiert, ein Marathon, doch ein guter. Das Projekt ELSA (elsastudie.de) hat auf einer breiten Datenlage wissenschaftlich basierte Erkenntnisse zu maßgeblichen Einflussfaktoren auf das Erleben und die Verarbeitung einer ungewollten Schwangerschaft herausgearbeitet und die Versorgungssituation in Deutschland analysiert. Projektleiterin Daphne Hahn, Professorin für Gesundheitswissenschaften und empirische Sozialforschung in Fulda, referierte über die Angst vor Stigmatisierung, die sowohl bei ungewollt Schwangeren als auch bei Ärzt:innen besteht, und bei Erstgenannten dazu führen kann, dass sie sich keine Unterstützung holen und im engen Familienkreis den Eingriff verheimlichen. Bei den Ärzt:innen führt sie dazu, dass sie keine Schwangerschaftsabbrüche anbieten. Zur Stigmatisierung trägt v. a. die Kriminalisierung bei, also die schlichte Tatsache, dass der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland im Strafgesetzbuch geregelt ist.
Hinsichtlich der deutschen Versorgungslage wurden im Rahmen der ELSA-Studie Strukturdatenanalysen von regionalen Unterschieden im Zugang zum Schwangerschaftsabbruch durchgeführt. Die Datenlage ist komplex, denn das Statistische Bundesamt erfasst nicht einzelne Praxen oder Ärzt:innen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, sondern sogenannte Meldestellen. Eine Meldestelle kann aber mehrere Praxen und Einrichtungen umfassen, außerdem werden sie in der Statistik auch noch drei Jahre nach dem letzten gemeldeten SSA aufgeführt. Das bedeutet, dass es viele Meldestellen gibt, die im Laufe einesJahres null bis fünf SSA durchführen. 7 % aller Meldestellen führen bundesweit fast die Hälfte aller SSA durch. Diese Daten liefern starke Hinweise auf eine problematische Versorgungslage in bestimmten Gebieten.
Das Deutsche Ärzteblatt veröffentlichte am 12. April, also vor der Vorstellung der Daten aus der ELSA-Studie, einen Beitrag von Florian Dienerowitz und Matthias David über eine Analyse von Konfliktursachen beim SSA.7 Darin werden „Konfliktursachen“ für den SSA analysiert. Datenlage sind hier die statistischen Meldungen aus den Beratungsstellen, die die notwendigen Beratungen durchführen, ohne die in Deutschland kein SSA möglich ist. Dies ist erneut ein Beispiel für die unterschiedliche Verwendung von Begrifflichkeiten: Geht es darum, eine konflikthafte Situation durch staatliche Regulierungen zu ordnen, oder geht es um die Vermeidung von Stigmatisierung und das Schaffen von
Lieferung bequem nach Hause
Räumen, in denen frei gesprochen und verantwortungsvoll gehandelt werden kann?!
Handeln!
Am 15. April übergaben im Rahmen einer Pressekonferenz einige Mitglieder der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und zur Fortpflanzungsmedizin ihren 600-seitigen Bericht an die die drei Minister:innen Paus, Lauterbach und Buschmann. Diese hochkarätige, interdisziplinär besetzte Kommission unterbreitete ihre konsensual getroffenen Vorschläge, wonach der SSA bis zur 12. SSW p. c. rechtmäßig sein sollte. Auch die juristischen Mitglieder dieser Kommission sehenkeinen Grund mehr für die Verankerung im Strafrecht. Hinsichtlich der reproduktiven Rechte wäre nach der konsensualen Auffassung der Kommission die Eizellspende unter streng formulierten Voraussetzungen zu legalisieren. Die Leihmutterschaft wäre lediglich unter sehr engenKautelen, die genauer zu bestimmen und zu formulieren wäre, zu ermöglichen.
Die Minister:innen nahmen den Bericht entgegen, bedankten sich für das (ehrenamtliche) Engagement der Kommissionsmitglieder, versprachen zu lesen und plädierten dafür, keine weitere Debatte anzustoßen, die die Gesellschaft noch stärker spalte. Die CDU hätte ja schon damit gedroht, das Bundesverfassungsgericht anzurufen.
Doch dann folgt: Schweigen der Bundesregierung. Und der Deutsche Ärztetag duckt sich weg, anstatt eines gar nicht so mutigen Votums wird die Befassung mit
dem SSA auf das kommende Jahr vertagt.8
Andere sprechen und fordern: Die drei Justizministerinnen aus den Bundesländern Hamburg, Niedersachsen und Sachsen mokieren die Verschleppung einer neuen, klaren, offenen gesetzlichen Regelung zum SSA.9 Im Koalitionsvertrag wurde versprochen, sich für sexuelle und reproduktive Rechte einzusetzen, und das ist bislang noch nicht hinreichend erfüllt. Die nötige Datenlage dazu liegt mit dem Kommissionsbericht jetzt vor. Auch die Frauen- und Gleichstellungsministerkonferenz hat eine Legalisierung des SSA gefordert.10 Kompromisse, das Ergebnis von demokratischen Aushandlungen und die Basis des demokratischen Staates, halten eine Weile und dann wird es Zeit, sie wieder neu auszuhandeln. Sie bilden die Infrastruktur unserer Demokratie, so wie öffentliche Straßen. An diesem Punkt stehen wir in Deutschland jetzt. Wir erneuern auch die Autobahnbrücken der Sauerlandlinie, dann kann auch ein neuer Kompromiss zum Schwangerschaftsabbruch gefunden werden.
Fundamentalreligiöse Kräfte
Wenn jetzt Angehörige der CSU – vorneweg Dorothee Bär – „den Grünen“ vorwerfen, eine befriedete Situation zu torpedieren, so sei ihnen entgegnet, dass sie ihrer Aufgabe der Einhegung fundamentalreligiöser Kräfte nicht nachkommen. Aus katholischer Sicht für das Leben zu sprechen ist das eine, doch die radikalen Forderungen und Provokationen einer „Initiative Nie wieder“ von Klaus Günter Annen nicht Einhalt zu gebieten, kann nur als ein Versagen der Konservativen gesehen werden. Es sind die Aktivitäten aus diesen Kreisen, die Ärzt:innen mit Anzeigen wegen des § 219a seit den Nullerjahren
überzogen haben und es sind die massiven finanziellen Unterstützungen der evangelikalen Lebensschützer aus den USA, die einen „March for Life“ in Deutschland organisieren, und Beatrix von Storch schön dabei. Erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Annen in seine Schranken gewiesen. Dieser agiert nun nicht mehr auf der Internetseite babykaust.de, sondern auf der Seite menschenrechte.online, und agitiert aktuell auch gegen eine Ärztin, Vorsitzende der Aids Hilfe in Wien, wo die Gesetzeslage zum SSA schon vor Jahren liberalisiert wurde. Eine Umgangsweise mit radikalen Evangelikalen in Deutschland ist im Koalitionsvertrag nicht formuliert. Droht nun vielleicht das, was unlängst im Parlament in Arizona durch Senator Anthony Kern mit initiiert wurde, bevor dort eines der härtesten Gesetze zum SSA verabschiedet wurde?11
Rückschritte andernorts! Gehsteigbelästigungen, also Demonstrationen von Abtreibungsgegnern mit dem Ziel, Schwangere auf dem Weg zur Praxis, Klinik oder Beratungsstelle von einem SSA abzubringen und das Personal einzuschüchtern, werden in Deutschland breit diskutiert und es ist ein bundesweit geltendes Gesetz unterwegs, dies zu verbieten, wie das Land Bremen vormacht. International gibt es auch europaweit gegenläufige Entwicklungen: In Italien hat die rechte Regierungschefin Giorgia Meloni verfügt, dass Abtreibungsgegner:innen direkt Zugang zu Kliniken und Beratungsgesprächen haben.12 In Italien können Schwangere in den ersten 12 Wochen der Schwangerschaft, insofern sie sich sieben (!) Tage vor dem Eingriff beraten lassen, einen SSA durchführen lassen – wenn
sie eine Ärzt:in finden, die den Eingriff vornimmt, denn in Italien machen 80 bis 90 % der Ärzt:innen von ihrem Recht Gebrauch, ihn aus Gewissensgründen nicht anzubieten. Meloni hat auch auf dem G7Gipfel im Abschlussdokument verhindert, dass dort das Recht auf einen sicheren und legalen Zugang zum SSA wörtlich erwähnt wird.13 Diese selbstherrliche Aktion steht eher im Sinne ihrer ultrakonservativen Gesinnung als in einer Einlassung zur Anwesenheit des Papstes beim G7-Gipfel in Apulien.
Die Fußnoten zum Text finden Sie unter www.mabuse-verlag.de
Dr. med. Marion Hulverscheidt ist Ärztin und Medizinhistorikerin in Kassel. m.hulverscheidt@web.de
Zugang zu Informationen sichern Eine feine positive Meldung zum Schluss: Seit dem 5. Juni gibt es unabhängige, evidenzbasierte und gut verständliche Informationen zum SSA im Netz.14 Die vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) verantwortete Webseite gesundheitsinformation.de erfüllt den gesetzlichen Auftrag, allgemeinverständliche Informationen zu gesundheitlichen Fragen bereitzustellen. Dort werden Informationen und Entscheidungshilfen zu Diagnosen, Therapien und Abläufen im Gesundheitswesen gegeben, nun endlich auch zum SSA. So können Ärzt:innen, die diese Informationen nicht auf ihrer eigenen Homepage veröffentlichenwollen, auf diese Seiten verweisen. Und die allgemeine Öffentlichkeit wird dort informiert über den Ablauf der verschiedenen Methoden des SSA, deren Vorteile und Bedingungen. ■ NATUR T MODE
Das Buchhaltungspuzzle
Neues aus dem Mabuse-Verlag
Kinderfachbuch:
Superkraft für übergewichtige
Liebe Julia Schneider, du bist Psychologin –und schreibst Kinderfachbücher. Wie kam es dazu?
Kinder
niges ableiten, was wir Erwachsene berücksichtigen sollten, um Kinder zu schützen und bestmöglich zu unterstützen. Über diese Punkte schreibe ich. Es geht um eine bindungsorientierte Begleitung von übergewichtigen Kindern.
Es wird höchste Zeit, dass wir in dieser Rubrik unsere Kollegin Manuela Winter vorstellen. Sie kümmert sich seit 2018 um die komplette Buchhaltung von Zeitschrift, Buchversand und Verlag und betreut die Abos der Zeitschrift. Papierstapel, Zahlenkolonnen und Monatsabschlüsse schrecken sie nicht. Vielleicht liegt das an ihrer Leidenschaft für Puzzles, die mit vielen kleinen Teilen und herausfordernden Details einige Parallelen zum Büroalltag aufweisen. Denn am Monatsende muss alles zusammenpassen! Zum Ausgleich probiert sie in ihrer Freizeit neue Kochrezepte aus, pflanzt und erntet aus dem Hochbeet und macht gern Urlaub am Atlantik.
In meiner Praxis berichten Menschen immer wieder von einem ähnlichen Erleben: nämlich einer Art leeren Stelle im Herzen, die Kummer machen kann. Sie ist Ausdruck unserer wunderbaren Fähigkeit zur Bindung und verdeutlicht, wie wichtig Beziehungen zu unseren Lieblingsmenschen sind. Kinder brauchen besonders die Hilfe von vertrauten Personen, wenn sie Bindungsverletzungen erfahren haben. Auf dieser Basis ist „Ela, Elmo und die Zaubermomente“ entstanden.
„Luca und das Flugabzeichen“ ist dein zweites Mabuse-Buch. Warum liegt dir dessen Thematik am Herzen?
Traumberuf Hebamme
Dass Hebammen Frauen bei der Entbindung ihrer Babys helfen, weiß Vicky bereits. Aber was genau da alles zu tun ist, erfährt sie im Kinderbuch „Vicky möchte Hebamme werden“ von Anna Möllers. Die Autorin beleuchtet anhand von farbenfrohen und liebevollen Bildern, wie vielfältig und spannend der Alltag einer Hebamme aussieht. Ein Buch für große Geschwisterkinder, Hebammen und alle, die ihn finden wollen – den schönsten Beruf der Welt.
Anna Möllers: Vicky möchte Hebamme werden. Ein Bilderbuch über einen der schönsten Berufe der Welt
ISBN 9783863216498 38 S., 19 Euro
In meiner Zeit in der Darmstädter Kinderklinik habe ich Kinder und ihre Eltern therapeutisch begleitet, die von Übergewicht und Gewichtsdiskriminierung betroffen waren. Dicke Kinder werden oft gemobbt, erhalten ungefragt Ernährungstipps, werden anders behandelt als andere. Sie verstehen die Welt nicht mehr und die Eltern leiden mit und suchen nach Wegen der Unterstützung. Ich erinnere michauch an die Geschichte einer „Abnehmkur“, zu der ein Familienmitglied als Kind geschickt wurde. Da lief es wenig würdevoll ab. Und der Weg zu einem wirklich würdevollen Umgang mit mehrgewichtigen Kindern ist noch lang. Hier möchte das Buch einen Beitrag leisten.
Was erwartet die kleinen und großen Leser:innen konkret?
Eine spannende Geschichte und Mitmachseiten, auf denen gemalt, geschrieben und gerätselt werden darf. Hier bekommen auch die Gefühle ihren Platz. Der Weg zu einem starken Umgang mit Mobbing führt nicht nur über den Verstand – die Gefühle der Kinder gehören mit ins „Gepäck“. Das gilt auch für uns begleitende Erwachsene. Gefühle sind unsere Wegweiser, um auf eine hilfreiche Spur zu kommen, wenn es im Miteinander mal holprig läuft. Der Fachteil für die Großen bietet hierzu Infos und praktische Tipps.
Aus welcher Grundidee heraus entstand die Geschichte um Luca?
Viele Kinder leiden sehr unter den Ausgrenzungen. An einigen hingegen prallt jeder fiese Spruch ab, als würden sie einen unsichtbaren Schutzmantel tragen. Im Gedächtnis geblieben ist mir ein Junge, der mit beeindruckender Gelassenheit sagte, ihn störten negative Aussagen über sein Aussehen kaum, und dies so begründete: „Ich konzentriere mich auf die Meinung der Menschen, die mir wichtig sind. Und die finden mich gut. Sie sagen das gar nichtso direkt, ich merke das daran, wie sie mit mir umgehen.“ Daraus lässt sich ei-
Hast du einen Rat für alle, die angesichts von Übergewicht und Mobbing manchmal selbst gerne Superheld:innen wären?
Die tollste Superkraft ist, sich Hilfe zu holen, wenn wir als kleiner oder großer Mensch Kummer haben!
Das Interview führte Simone Holz.
Julia Schneider und Lena Walter: Luca und das Flugabzeichen. Ein Kinderfachbuch zu Übergewicht und Mobbing
ISBN 9783863216436
63 S., 22 Euro
Sheldon
Bedürfnisse:
Übersetzt
Alice Sheldon, Alice
Was, wenn ich diese Art von Hilfe nicht (mehr) will?
Jobina Schenk ist Mutter von drei Kindern, Buchautorin und Initiatorin der Alleingeburten-Studie. www.Meisterin-der-Geburt.de
Wir haben´s geschafft, wir haben´s geschafft!“ Glücklich und mit lieblicher Stimme begrüßte ich mein zweites Kind, welches ich gerade auf dem hellen Teppich in meinem eigenen Schlafzimmer zur Welt gebracht hatte. Die Eröffnungsarbeit noch stehend im Türrahmen, war ich schließlich im wahrsten Sinne des Wortes niedergekommen: kniend auf dem Boden, die Hände zwischen Matratze und Bettrahmen geklemmt, den Worten hinter meiner Stirn folgend. „Lass los!“ stand dort geschrieben – und ich hatte es einfach getan.
Als ich meine Augen wieder öffnete, lag mein Baby dampfend und glucksend vor mir. Ich wickelte die Nabelschnur von seinem Hals, nahm es direkt hoch, führte es instinktiv zu meinem Mund und saugte etwas Fruchtwasser aus Mund und Nase, welches ich wie selbstverständlich neben mich spuckte. Die Geburt war viel leichter als gedacht gewesen. Völlig frei von Schmerz, stattdessen ekstatisch und geradezu lustvoll. Komplikationen und die meinem Mann prophezeite „Sauerei“ – mit der man versucht hatte, wenigstens das vernünftigere Elternteil vom Gang ins Krankenhaus zu überzeugen – waren ausgeblieben: Keine Blutungen, keine Geburtsverletzungen. Mein Mann quittierte diese Gebärreise mit dem Wort „majestätisch“ und lachte, als er mich schon wenige Stunden nach der Geburt mit dem Wischmopp in der Hand durch die Wohnung sausen sah.
Zwei Seiten der Medaille
Obwohl diese Alleingeburt bewusst geplant war, erkannte ich erst nach und nach die kostbaren Geschenke, die mir die gesamte Schwangerschaft und die Geburt im Alleingang beschert hatten, denn ich hatte einen direkten Vergleich: meine erste Geburt.
Meine erste Geburt war zwar außerklinisch geplant, aber – da war ich noch vernünftig – mit Hebamme. Leider drohte diese sorgsam ausgewählte Geburtsbegleitung wegen einer simplen Terminüberschreitung und der Tatsache, dass die Haftpflichtversicherung meiner Hebamme bestimmte Grenzen setzte, wegzubrechen. Bedingungen, die sie an mich weitergab, sodass ich mich zu diversen Versuchen, die Geburt einzuleiten, überreden ließ. Was dann geschah, war eine Folge von Zeitdruck und Interventionen. Nachdem mein Kind endlich geboren war, konnte ich es kaum festhalten, denn mein Kreislauf war schwach und ich verlor zu viel Blut. Schnell wurde ich hingelegt, bekam synthetisches Oxytocin gespritzt, den Labien- und Dammriss zweiten Grades genäht. Mein Kind war in der Zwischenzeit untersucht worden und wurde mir fertig angezogen, mit den Worten, es sei nicht übertragen, es hätte auch noch ein paar Tage drinbleiben können, ins Bett gelegt.
Moment, hatte man mir nicht 13 Tage lang wegen der Terminüberschreitung massiven Stress gemacht, mich alle zwei Tage zu Ultraschall und CTG geordert, von Oligohydramnion und verkalkter Plazenta gesprochen, zum Kaiserschnitt geraten … und dann war das Kind doch noch nicht so weit?
Ich weiß nicht genau, an welchem konkreten Punkt das Geburtshilfesystem mein Vertrauen verloren hatte, aber diese Erfahrung war definitiv nicht des Wiederholens wert. Je intensiver ich mich mit der Frage auseinandersetzte, was die Geburtshilfe in Deutschland überhaupt zu bieten hat, desto mehr erschreckende Zahlen fand ich: 92 Prozent der Schwangeren, die zur Entbindung ins Krankenhaus gehen, erleben dort eine intervenierte Geburt; jede fünfte Geburt wird eingeleitet, jede dritte endet im Kaiserschnitt. Zwar mag der Routine-Dammschnitt selten geworden sein, dennoch erleiden 8 von 10 Müttern eine Geburtsverletzung. Schätzungen zufolge erlebt jede dritte Mutter Gewalt unter der Geburt.
Gut gemeinte Ratschläge, keine Evidenz Wenn eine deutsche Frau im Durchschnitt nur 1,5 Kinder bekommt: Wie viele Chancen soll sie der Geburtshilfe geben?
Nicht nur ich, auch andere Mütter haben ihr Vertrauen in diese Art von Geburtshilfe verloren. In einer selbstinitiierten Studie fand ich innerhalb von zehn Jahren 1 084 geplante Alleingeburten, wobei 84 Prozent der Mütter auf mindestens eine Geburtserfahrung innerhalb des Systems zurückgreifen konnten. Sie wussten also, auf was sie ver-
zichteten. Mit ihrer Wahl einer Geburt in Eigenregie wollten sie Störungen und Komplikationen vermeiden, die ihrer Erfahrung nach erst durch Geburtshilfe entstanden.
Doch jede Frau, die eine Alleingeburt plant, muss sich die immer gleichlautenden pauschalen Vorwürfe anhören: „Eine Alleingeburt ist gefährlich und verantwortungslos! Du weißt die Geburtshilfe nicht zu schätzen, denk nur an früher, da sind Frauen und Kinder bei der Geburt gestorben. Und schau nach Entwicklungsland XY, da sterben sie immer noch!“
Warum werden Vergleiche mit anderen Kontinenten oder Zeitepochen gezogen? Weil es keine anerkannten und aktuellen Studien zu Alleingeburten gibt. Wenn Kritiker also vor einer Alleingeburt warnen, ist es eine Warnung ohne Evidenz.
Intuitiv, selbstbestimmt und verantwortungsvoll
Ich habe in meiner Beobachtungsstudie nicht feststellen können, dass eine unbegleitete Geburt gefährlicher wäre als eine ärztlich- oder hebammengeleitete. Die Intuition der Mütter war herausragend und veranlasste sie in 5,9 Prozent der Fälle, ihr Vorhaben abzubrechen, wenn sie wahrnahmen, dass etwas nicht stimmte. 4,5 Prozent der Alleingebärenden entschieden sich selbstbestimmt für eine Verlegung ins Krankenhaus. Es wurde also nicht um jeden Preis allein geboren, sondern bewusst entschieden, ab welchem Punkt Hilfe bei der Geburt gewünscht und/oder angebracht war. Sie reagierten also absolut verantwortungsvoll.
Mütter, die zu keinem Zeitpunkt Hilfe für das Hervorbringen ihrer Kinder benötigten, lieferten jedoch Ergebnisse, die vorherrschende Glaubenssätze in Frage stellen, denn sie bewiesen, dass sie keine Anleitung von außen brauchten, um das perfekte Gebärmedium (Wasser oder Land), den richtigen Ort und die ideale Gebärposition zu finden. Dass sie nicht zum Atmen und Pressen angewiesen werden mussten und in der Lage waren, ganz natürlich und mit einer Wahrscheinlichkeit von 86 Prozent verletzungsfrei zu gebären. Alleingebärende brechen zudem Mythen auf, wenn sie mit ihren Berichten sichtbar machen, dass Gebären auch ohne Schmerz möglich ist, dass es lustvolle Momente und sogar Geburtsorgasmen geben kann. Wenn also die natürliche Geburt ein sogenanntes Weltkulturerbe darstellen soll, dann sind es diese Mütter, denen man zuhören sollte, statt sie für ihren radikalen Geburtswegzur verurteilen. ■
CONTRA Alleingeburt
Denn
sie wissen nicht, was sie tun
Foto: privat
Sabine Kroh ist Hebamme. www.thebamme.com www.instagram.com/thebamme
Alle zwei Minuten stirbt auf dieser Welt eine Frau an den Komplikationen in der Schwangerschaft oder in Verbindung mit dem Prozess der Geburt ihres Babys. 99 Prozent dieser Todesfälle finden wir in Ländern der Südhalbkugel des Planeten Erde, die wiederum 70 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Die häufigste Todesursache sind dabei Blutungen.
Es mangelt an Personal, Material, funktionierenden Gesundheitsversorgungssystemen – oder diese sind schlicht nicht existent. Der Südsudan in Subsahara-Afrika bildet mit der höchsten Müttersterblichkeitsrate von 1 150 Frauen pro 100 000 Geburten das Schlusslicht der Welt. Wobei wir hier davon ausgehen können, dass nur diejenigen Frauen gezählt werden, die es in ein Krankenhaus geschafft haben. Die Dunkelziffer der verstorbenen Frauen, die nicht gezählt wurden, wird sicherlich deutlich höher ausfallen. In Deutschland sind es immerhin noch 7 Frauen pro 100 000 Geburten – Stand 2020. Vor ungefähr 100 Jahren waren es aber noch zwischen 300 und 500 Frauen pro 100 000 Geburten. Es gibt also in unseren Familien noch ein Gedächtnis für die Erfahrungen aus dieser Zeit.
Die Wahl kommt mit dem Luxus
Es wäre jetzt ja wirklich unfair, in den Diskussionen um die Alleingeburt die toten Frauen und Babys des afrikanischen Kontinents als Totschlagargument anzuführen. – Wirklich? Es sind keine Zahlen aus dem letzten Jahrhundert, nein, diese Frauen sterben wirklich Zuhause oder auf dem dreitägigen Fußmarsch in ein Zeltkrankenhaus. Sie haben keine Wahl, keinen leihbaren Gebär-
pool und das Stück Plazenta unter der Zunge, das die Blutungen stoppen soll, wird ihnen auch nicht helfen.
Die felsenfeste Überzeugung, dass man nun wirklich keine Folsäure in der Schwangerschaft nehmen muss, ist eine klare Empfehlung der Birthkeeperin Antonia Unger auf ihrem Instagram-Kanal. Ein Folsäuremangel kann zu Entwicklungsstörungen des Zentralnervensystems führen und als Folge einen offenen Rücken, Herzfehler und Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten begünstigen.
Für Frauen, die keinen Zugang zu Folsäure als Nahrungsergänzung haben, ist diese Aussage ein Schlag ins Gesicht, denn diese Babys können eben nicht nach der Geburt operiert werden und versterben häufig kurz nach der Geburt an einer simplen Infektion des offenen Rückens.
Geschäftsmodell „Selbstbestimmung“
Die Alleingeburt ist nicht die Lösung für die Probleme, die es ganz sicher in unserem Geburtssystem gibt. Dass es ein Umdenken geben muss, das wissen wir alle, die wir jeden Tag genau in diesem System arbeiten.
Eine Ärztin der Allgemeinmedizin, die selbst einige Kinder zu Hause allein geboren hat, versichert den Frauen, dass allein der Wille und der Glaube an die Kraft der Natur der Geburt die Lösungen aller Probleme seien: „Du kannst allein gebären. Du bist dafür gemacht. Du brauchst keine Hebamme oder Ärzte.“ – Die Alleingeburt als ein Akt des Ungehorsams!
Es gibt zahlreiche Kurse und Seminare, natürlich online, in denen man sich auf die Alleingeburt vorbereiten kann. Und wenn Frau will, dann kann sie auch gleich noch selbst lernen, wie man andere ausbildet. Als Alleingeburt-Mentorin oder besser -Coach wird ordentlich Geld verdient, mit dem Slogan „Selbstbestimmung“ und „gegen das System“ zu gebären. Aussagen wie „Solange es dir gut geht, ist die Blutung normal.“ oder „Wenn du das Blut anschreist, stoppt die Blutung!“ lösen in mir nicht nur Traurigkeit, sondern auch Besorgnis aus.
Wissen bedeutet Verantwortung
Ich denke an all die Frauen aus dem Südsudan, um die wir im Team mit den Hebammen des Landes lange gekämpft haben. Ich denke an diese Frauen, die den Kampf verloren haben. Frauen, die nie eine Wahl hatten. Falls hier in Deutschland etwas schief geht mit der Naturgeburt, dann ist das nächstgelegene gut ausgestattete Krankenhaus ja um die Ecke. Natürlich wird hier auch bei Alleingeburten weniger passieren, denn es gibt eine Vorsorge, wir sind gut ernährt, gesund und viele der Frauen, die sich für die Geburt ohne Hilfe und Unterstützung entscheiden, haben dann doch ein Ultraschall-Bild ihres Babys in der Tasche. Die schwangere Frau aus den Ländern der Südhalbkugel hat dieses Bild sicherlich nicht.
Das Recht der Selbstbestimmung der Geburt wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 14. Dezember 2010 und im Urteil vom 11. Dezember 2014 verankert – und das ist auch gut so. Dieses Selbstbestimmungsrecht ist jedoch nicht schrankenlos, denn gegenüber Dritten – insbesondere gegenüber dem ungeborenen Kind – obliegt dem Staat eine ebenso ultimative Schutzpflicht. Alleingeburt ist deshalb erlaubt, aber ein Strafbarkeitsrisiko bleibt (vgl. Deutsche Hebammenzeitschrift 4/21).
Auf den bekannten Social Media-Kanälen der vorwiegend weißen privilegierten Retterinnen der Geburt ist für konstruktive Diskussionen kein Platz. Bislang sind es immer noch wenige Frauen, die sich für diesen Weg der Geburt entscheiden. Geburten, welche in der Mehrzahl glücklich enden. Wenn man ein bisschen statistisch denkt, dann ist das auch erklärbar.
Eine Kollegin macht sich bei Instagram (@beatrixhabusta) mit diesen Worten auf eine andere Art Luft: „Liebe Gebärpopulistin, wenn du eine Möglichkeit gefunden hast, dieses Leid zu beenden, ist es ein Gebot der Menschlichkeit, dein Wissen nicht geschäftstüchtig zu verkaufen, sondern an die WHO zu verschenken. Die warten dort dringend auf deinen Anruf!“ ■
Wir brauchen 500 neue Abos!
Die guten Nachrichten:
• Im 49. (!) Jahrgang setzt sich unsere Zeitschrift immer noch berufsübergreifend für ein solidarisches Gesundheitswesen ein.
• Sie als Abonnentin oder Abonnent halten uns die Treue und das tut uns gut!
Die schlechten Nachrichten:
• Stark gestiegene Druckpreise sowie Porto- und Vertriebskosten
• Politisch sehr raue Zeiten der Entsolidarisierung und Krise der linken Bewegung
Damit wir gesichert in das nächste halbe Jahrhundert Dr. med. Mabuse hinübergleiten können, brauchen wir dringend 500 Neuabos!
Ein Abo verschenken und eine Prämie erhalten!
GESCHENKABO nur 39 Euro pro Jahr! (statt 47 Euro)
Verschenken Sie einfach ein Abo und motivieren Sie Freunde und Kollegen, Dr. med. Mabuse zu abonnieren.
• Kosten: Ein Geschenkabo kostet nur 39 Euro statt 47 Euro.
• Ohne Kündigung: Das Geschenkabo endet automatisch nach einem Jahr!
• Prämie: Sie können sich unter allen Titeln unseres Verlages eine Buchprämie aussuchen.
Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Solidarität.
Hermann Löffler (Geschäftsführer)
Hier geht’s zum Abo:
Bunt, vielfältig, professionell und lebensbejahend
Die Messe LEBEN UND TOD feiert erfolgreich ihr 15-jähriges Jubiläum!
Meike Wengler
Schöner kann man ein Jubiläum wohl nicht feiern. Mehr Menschen als jemals zuvor haben die Messe LEBEN UND TOD am 3. und 4. Mai in Bremen besucht. Allein die Anzahl der Fachbesuchenden hat sich im Vergleich zum Vorjahr um 25 Prozent gesteigert. Insgesamt kamen 5 249 Besucher:innen in die Hansestadt.
Meike Wengler, Erfinderin und Projektleiterin der LEBEN UND TOD, ist erwartungsgemäß hochzufrieden: „Es waren zwei berauschende Tage. Die Ausstellenden kamen kaum zum Luftholen und freuten sich über die vielen intensiven Gespräche.“ 153 Firmen, Institutionen und Vereine waren in diesem Jahr auf der Ausstellungsfläche präsent und boten den Besuchenden hilfreiche Tipps und Ansprechpartner:innen zu Themen wie Patientenverfügung, Vorsorge, Trauerbewältigung und Bestattungsmöglichkeiten. Abgerundet wurde die Messe von einem musikalischen Begleitprogramm, Lesungen und einer prominent besetzten Diskussionsrunde, unter anderem mit
Gaby Köster und Samuel Koch. Was sofort auffiel: Die Verkaufs- und Infostände werden bunter, die Angebote noch vielfältiger. Dabei hält das Team der LEBEN UND TOD an seinem Konzept fest, sowohl kommerzielle Anbieter:innen mit handgefertigten Urnen, Trauerschmuck oder Fortbildungsangeboten zu präsentieren als auch kleine Vereine, Selbsthilfegruppen oder junge Start-Ups vorzustellen. „Uns erreichen immer wieder Anfragen von Kleinstunternehmen, jungen Künstlerinnen und Künstlern oder Personen mit einer innovativen Idee. Oft können diese Menschen sich die klassische Standmiete nicht leisten. Da versuchen wir Lösungen zu finden und subventionieren auch schon mal den ein oder anderen kleinen Marktstand.“
Die Idee dahinter, die Ausstellung so vielfältig und bereichernd sowohl für Fachleute als auch Betroffene zu gestalten und auch die Branche zu bereichern, funktioniert und zeigt sich in den steigenden Anmeldezahlen. Das Vortragsprogramm mit rund 60 Vorträgen und Workshops an zwei
Tagen war prallgefüllt mit praxisnahen Vorträgen und reichhaltigen Diskussionen. Unter dem Titel „Halt braucht Wurzeln!“ widmeten sich professionell Begleitende aus den unterschiedlichsten Bereichen Themen zu Selbstsorge und Resilienz in der Sterbe- und Trauerbegleitung. Der Bedarf ist hoch: Noch immer ist die Burn-out-Rate bei Pflegekräften alarmierend. Auch haupt- und ehrenamtlich Begleitende in Hospiz und Palliative Care suchen nach Impulsen und Anregungen, um gleichzeitig gut begleiten aber auch auf sich achten zu können.
Die Kraft der Bilder
Britta Ullrich etwa setzt auf die Kraft der Bilder. Sie weiß: Das Gute im Alltag wahrzunehmen, fällt uns häufig schwer, aber wir können diese Fähigkeit trainieren, einfach machen und darüber lachen. Ganz besonders gut funktioniert das mit kleinen Zeichnungen – Soulshine Sketchnotes nennt sie die Dipl. Wirtschaftspsychologin. Über die Kraft dieser kleinen Skizzen hat sie ein Buch geschrieben. Es erklärtderen Effekte und beinhaltet gleichzeitig eine Anleitung zum Selbermachen. Den gut besuchten Vortrag wird Britta Ullrich auch auf der kommenden LEBEN UND TOD in Freiburg halten.
Professionelle Selbstsorge
Auch Monica Lonoce, Gründerin eines Schweizer Ausbildungsinstituts für Trauerbegleitung, war eine der Vortragenden, die auch in Freiburg wieder dabei sein werden. Sie erläuterte in Bremen, wie professionell Begleitende ihre Selbstsorge im Blick behalten, wenn sie persönlich von einem Verlust betroffen sind. „Wir alle ken-
nen den Schmerz von Verlust. Es geht jedoch nicht nur darum, ihn zu kennen, sondern ihm tatsächlich zu begegnen und ihm eine sinnvolle Bedeutung zu geben. Das gilt unabhängig davon, ob man Fachperson oder Laie ist“, sagt Lonoce. Sie betont, dass es wichtig sei, sich bewusst mit den eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen, insbesondere mit den schmerzhaften. Dadurch könne die eigene Resilienz erhalten und gestärkt werden.
Passende Sonderausstellungen
Eine weitere Besonderheit der LEBEN UND TOD sind neben klassischer Messe auch immer die Sonderausstellungen. „In den letzten Jahren hat sich eine wertvolle Kooperation mit der Stiftung Deutsche Bestattungskultur entwickelt in deren Zuge wir sehr wertvolle Foto- und Kunstausstellungen auf der LEBEN UND TOD zeigen dürften“, freut sich Meike Wengler. In diesem Jahr präsentiert die Fotografin Annika Eliane Krause ihre Ausstellung „Hallo und Auf Wiedersehen – Frauen in den Grenzgängen des Lebens.“ Über zwei Jahre wurden neun mutige Frauen von der jungen Fotografin begleitet, die geboren haben oder durch eine Krankheit mit ihrem Tod konfrontiert wurden. Die Frauen bereiteten sich bewusst auf ihre Prozesse vor und beschäftigten sich intensiv damit,wie sie ihre Grenzgänge beschreiten wollten. Die Ausstellung berührt und wird nach der erfolgreichen Premiere in Bremen auch in Freiburg zu sehen sein.
Das erklärte Ziel der LEBEN UND TOD ist es, die Themen am Lebensende zu enttabuisieren. Darum ist Meike Wengler besonders glücklich über den hohen Anteil eines jüngeren Publikums in diesem Jahr.
„Ich habe viele junge Menschen gesehen, die sich offen dem Thema Lebensende nähern“, so Wengler. Das zeige, welchen gesellschaftlichen Wert die LEBEN UND TOD biete, „und ich freue mich aus tiefstem Herzen, dass wir weitermachen werden!“
Die 15. LEBEN UND TOD war unter besonderen Vorzeichen gestartet, weil sie letztmalig von der M3B GmbH, zu der neben anderen auch die Marken MESSE BREMEN und CONGRESS BREMEN gehören, veranstaltet wurde. In Zukunft wird sie von der Ahorn Kultur GmbH aus Berlin veranstaltet. „Es ist ein großer Schritt für uns alle, und es ist ein folgerichtiger Schritt“, sagt Tobias Zimmermann, Vorstandsmitglied der Ahorn Gruppe, zur Übernahme der LEBEN UND TOD. Als Dreiklang aus Fachkongress, offenem Forum und klassischer Messe ist das beliebte Format europaweit einzigartig und hat in den vergangenen 14 Jahren eine beachtliche Erfolgsgeschichte geschrieben.
Projektleiterin Meike Wengler und ihr Mitarbeiter Alexander Kim wechseln zum 1. August ins Berliner Team und führen die LEBEN UND TOD dort federführend weiter. Ausgerichtet wird die LEBEN UND TOD – dann als Gastveranstaltung – aber zunächst weiterhin an den Standorten Bremen und Freiburg.
So steht auch bereits die dritte Messe LEBEN UND TOD am 18. und 19. Oktober 2024 in Freiburg vor der Tür. Der Themenschwerpunkt wird wie in Bremen Resilienz und Selbstsorge sein. In Bremen öffnet sie wieder im Mai 2025.
Mehr Infos unter www.leben-und-tod.de
Meike Wengler
Projektleiterin der Messe LEBEN UND TOD.
Fröhliche Stimmung und intensive Begegnungen auf der Messe LEBEN UND TOD. Fotos: Victoria Müller/dotsnboxes
Dr. med. Mabuses Anamnesebogen für Gesundheits-Wesen mit besonders ausgeprägtem Eigensinn +++ aufgezeichnet von Hanna Lucassen
Bitte zurAnamnese, HerrLeiner
Ihr Beruf?
Arzt und Schriftsteller.
Ihre Berufung?
Heilkünstler.
Worauf reagieren Sie allergisch?
Jakob Leiner, geb. 1992, verbindet Medizin, Musik und Literatur. Als Assistenzarzt am Freiburger Institut für Musikermedizin behandelt er Musiker:innen mit typischen Erkrankungen wie spielbezogenen Belastungssyndromen oder Auftrittsängsten und befindet sich in der Facharztweiterbildung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Daneben ist Leiner als Dichter und Schriftsteller erfolgreich. Und als Herausgeber: Im Herbst 2024 erscheint „AH, EIN HERZ, VERSTEHE“ (Quintus Verlag), eine Anthologie zu Medizin und Lyrik.
Auf Gräserpollen und den Spruch: „Wenn das alle machen würden ...“
Ein wunder Punkt? Eine alte Narbe.
Leiden Sie an Visionen?
Selten, denn meistens werden die Visionen zu einem Gedicht oder Buchprojekt. Also Genuss statt Leiden.
Welche Forderungen haben Sie an die Politik? Eine strukturell verbesserte psychotherapeutische Versorgung, Stärkung der ärztlichen Psychotherapie, Entbürokratisierung. Strukturelle Förderung der unabhängigen Verlagsszene, Mindeststandards für Honorare von freien Künstlern, Verteidigung der Kunstfreiheit.
Welche Wünsche haben Sie an Ihre Berufskolleg:innen in der Medizin?
Ich wünsche Ihnen nur das Beste.
Ihr schönster Moment in Ihrem Berufsleben?
Sogenannte „Release Days“, wenn das eigene Buch den Buchmarkt erobert, das Paket mit den Belegexemplaren bereits angekommen ist und beim Durchblättern der Seiten und Bestreicheln des Deckels klar wird: Es gibt dich wirklich.
Ihre witzigste Situation in Ihrem Berufsleben?
Zuletzt ein Patient, der in unserer Ambulanzsprechstunde zur Untersuchung am Instrument partout Klavier spielen wollte, obwohl er doch eigentlich Hobby-Fagottist war.
Welche Ungerechtigkeit tut Ihnen besonders weh?
Dass die Werke des surrealistischen Dichters Paul Éluard im deutschen Sprachraum so stiefmütterlich behandelt werden und nach wie vor wenig bekannt sind.
Was soll im Arztberuf unbedingt so bleiben, wie es ist?
Der humanistische beziehungsorientierte Ansatz.
Welche Grunderkrankungen sehen Sie im Gesundheitswesen in Deutschland?
Die auf Wachstumslogik basierende Ökonomisierungszwangsstörung.
Wenn Sie nicht Mediziner und Schriftsteller geworden wären, wären Sie heute vielleicht … … Schreiner oder Baumpfleger.
en. a utisstiehknar 0 K 2 r 6 e u übn z e s r e Z hciergnaf e um iwos3, 202o
00.82F1H C / ) T T)A 0 ( (A 8,20€ 1 / )E E)D .b,G.b a 5 T Ta , 1.bb . 420.2flu.Awr.e.ubr a takinum omK
77- 4268-6 5
fl d en un enoit ür fe tsilgsunnd -issal r K e n d e tretiewr n e eso
-orpegeflPür h f t iebrazipsoH sa e D dnegros r H eedffirgeB
m onotu d A un tsre u vn z ,en girö eh gnA
sa f d u h a n s e nie d sn un ehc
em hts L d ,noit en I erd tim
b , S tätniärevuo , S edür . W nehe
e reirtnezno e k e C vitailla d P un c sne n M ednebret n s e n um d .eraeCvitailladPtuniebrazipso ni n s ehcsne n M ednebret s s e e d i
t iehtmmitsebtsb -en b ert S d en
e dnegeldunr d g
S7.14202 norehicnSitraM ge ozeb ge eflP uluhcsorkiM li tlä rh ek 96- 2368 67 7. F 3HC / ) T T)A 0 ( (A 8,8 2 . t,K.b a , 7 T Ta .bb ene et negn hii td bih -neirogsunldnah nenoitr n in flPdiit
r P e n dn i oit
Blaigellodknnuoisiv
€
che amu ch StergraM e ükBm hicaoJz-nieH on r r / o o eB ah ucA 5 4-3-87 9NBSI
r opsnessi Wnen n oitaukdenetneitaP
€ / )E E) D0(0,5€ 2 , 2.0S6.14202 reupeSi,wrov u s Z evitkd a un bierhcse , b nie
54-3-87 9NBSI
h t lettimrevg unluhcsorkiMur zh c
r en degaldunre Gindn ierhüe fge e tamrofshcärps e hitapm e E i , w n oitakunimmoK
e e G treisidradnat n s ellet , s nerö h n eznetepmo e K vitakunimmo n k e b
.t,K.b a , 6 T Ta .bb6 A 2 . guntaree
05.4F3H C / ) T T)A 0 ( (A 7,5 2
-8 6336 -865
eB ah ucA
li tlä rh ek
erhcse d b un r . E gunluhcs kre n M etgsit e Wnielt kreit o o eB ah ucA 5 4-3-87 9NBSI
cser botur Ae DnenoitropsnessiW li tlä rh ek -8 6695 -86
.t,K.b a , 9 T Ta .bb1 A d t un ednewna n edneluhc n S -orkir M eni r e e -hcie w i t d bierhc
€ / )E E) D0(0,5€ 3 , 1 .0S0.24202 .tre lui ave n egunluhcsorki n M a e m i , w tbi n eznetepmoKe gidnewtont nnen ld efztasni d Ee un tnemel , E elam
09.6F4H C / ) T T)A 0 ( (A 36
Schwerpunkt
Sicherheit
Sicherheit bedeutet nicht nur das Freisein von Gefährdung, sondern auch ein inneres Empfinden des Behütetseins. Es stellt sich ein, wenn unsere Grundbedürfnisse und Würde geschützt sind. Dieser Schwerpunkt widmet sich den vielfältigen Faktoren, die für mehr gesundheitliche Sicherheit sorgen.
Die Beiträge zeigen, wie hebammengeleitete Kreißsäle eine sichere und geborgene Geburt gewährleisten und wie Elternkompetenzen von Menschen mit psychischen Erkrankungen gestärkt werden können. Sie gehen den Fragen nach, wie Gewalt im Alter verhindert werden kann und wie Letzte Hilfe Kurse zu einem sichereren Umgang mit den Themen Tod und Sterben beitragen.
Von den Stationen berichten unsere Autor:innen darüber, wie das Konzept der Transparenten Psychiatrie zum Abbau von Zwang beiträgt, wie Sicherheitsdienste Pflegeeinrichtungen sinnvoll entlasten können, wie mittels Safewards ein unterstützendes Umfeld für
Menschen mit Demenz eingerichtet werden kann und wie der Room of Horrors als praxisnahes Training mehr Patientensicherheit ermöglicht.
Ein Artikel erörtert zudem die verschiedenen Aspekte der Gebäudesicherheit in Kliniken.
Hebammengeleitete Geburtshilfe
Physiologische Geburt bei maximaler Sicherheit und gleichzeitig hoher Berufszufriedenheit der Hebammen
Sylvia Habl
Eine durch Hebammen eigenständig verantwortete Durchführung von Geburten ist in Deutschland vor allem in Geburtshäusern möglich, in den Kliniken ist eine ärztliche Mitverantwortung bei Geburten die Regel. Unsere Autorin stellt ein Münchner Pilotprojekt vor: Das dortige Rotkreuzklinikum eröffnete im Herbst einen ausschließlich von Hebammen geleiteten Kreißsaal (HGK).
Die Geburtshilfe des Rotkreuzklinikums München hat im vergangenen Herbst als erste Einrichtung in der Landeshauptstadt München einen von Hebammen geleiteten Kreißsaal eröffnet. In dem an den regulären Kreißsaalbereich angrenzenden Raum führen Hebammen eigenverantwortlich interventionsarme Geburten durch.
Die Frauenklinik des Rotkreuzklinikums zählt mit jährlich rund 3 000 Babys zu den geburtenstärksten Kliniken Münchens. „Die Rückbesinnung auf die Geburt als natürlichen Vorgang liegt im Trend“, sagt Dr. med. Ina Rühl, die an der Entwicklung des Vorhabens maßgeblich beteiligt gewesen ist. „Mit dem von Hebammen geleiteten
Kreißsaal sprechen wir Frauen mit einer Normalschwangerschaft an. Unsere Zielgruppe sind besonders diejenigen, die zwar eine interventionsarme Geburt wünschen, sich jedoch eine außerklinische Entbindung in einem Geburtshaus oder eine Hausgeburt nicht vorstellen können. Mit diesem Modell können wir werdenden Müttern eine deutlich individuellere, stressfreiere Betreuung mit mehr Ruhephasen anbieten“, so die Chefärztin der Geburtshilfe in der Münchner Taxisstraße. Für sie und ihr ärztliches Team ist klar, dass Geburtshilfe ohne Hebammen nicht vorstellbar ist. „Hebammen arbeiten mit den Händen. Sie beherrschen ihr Handwerk und die geburtshilflichen Handgriffe, während wir uns stärker auf die Technik fokussieren“, sagt Rühl zur klinischen Aufgabenteilung.
Spezielle Geburtsvorbereitung als Erfolgsgarant
Die Initiative für das Projekt Hebammengeleiteter Kreißsaal stammt von Silvia Kiel. „Wir nehmen häufig Verlegungen aus dem nahe gelegenen Geburtshaus München auf. Diese Frauen haben meist
schon eine sehr lange Geburtsphase hinter sich. Sie sind erschöpft und frustriert, weil sie jetzt doch in der Klinik ihr Kind bekommen“, so die Hebamme zu ihren Beweggründen. Mit der Berufung von Rühl als Chefärztin im April 2023 nahm Kiels Wunsch eines Kreißsaals in alleiniger Hebammenverantwortung konkrete Gestalt an. Als Basis für das gemeinsam erarbeitete Konzept diente das vom Verbund Hebammenforschung Osnabrück und der Arbeitsgruppe Hebammenkreißsaal (von 1998 bis Ende 2003) im Bund Deutscher Hebammen erarbeitete Handbuch Hebammenkreißsaal.1 Seit Herbst 2023 bietet die Frauenklinik nunmehr selbstbestimmte, familienzentrierte Geburten vor dem Sicherheitshintergrund eines Perinatalzentrums an. Kiel und ihre Kolleginnen schätzen die intensive Zuwendung zur Familie. Sie und ihre 17 freiberuflichen Kolleginnen im Belegsystem haben seit dem Start des Projekts rund 70 Geburten eigenverantwortlich betreut. Voraussetzung für eine Begleitung im HGK ist für das Hebammenteam neben einer physiologischen Schwangerschaft eine spezielle Geburtsvorbereitung. „Wir haben dafür einen eige-
nen Kurs mit Atem- und Mentaltraining konzipiert. Auch fordern wir körperliche Aktivität und eine gesunde Ernährung von den Schwangeren.“ Ein täglicher Spaziergang und so wenig Zucker wie möglich stehen mit im Anforderungskatalog. „Zucker erhöht die Schmerzempfindlichkeit“, erklärt die Hebamme. „Wir empfehlen stattdessen Datteln. Sie reduzieren nicht nur das Schmerzempfinden, sie halten auch den Blutzucker konstant“, lobt sie die Vorzüge dieser Trockenfrüchte. „Um für den natürlichen Geburtsvorgang vorbereitet zu sein, muss die werdende Mutter fit sein. Gut vorbereitete Schwangere haben nicht nur die erforderliche Kondition, sie kommen auch mit dem Wehenschmerz besser zurecht. Die Wehen übermannen sie nicht, sondern sind ein Mittel, um den Geburtsvorgang voranzutreiben“, erläutert Kiel. Neben alternativen Methoden wie Aromatherapie, Akupunktur und Homöopathie setzen die Hebammen im HGK als geburtserleichternde Maßnahme in Ausnahmefällen und in Absprache mit Chefärztin Rühl auch Lachgas ein.
Ihre Erfolgsquote im hebammengeleiteten Kreißsaal liegt – auch dank der gu-
Schwerpunkt:
ten Vorbereitung – bei etwa 85 %, lediglich 15 % der kreißenden Frauen wechseln in den konventionellen Kreißsaal. Zu den Gründen für den Wechsel zählen hauptsächlich zu starke Schmerzen während der Wehenphasen, eine Zustandsverschlechterung des Ungeborenen oder eine Verzögerung des Geburtsvorgangs. Von intravenös verabreichten Schmerzoder Wehenmitteln über eine Epiduraloder Periduralanästhesie (PDA) bis hin zum Kaiserschnitt und zur Neugeborenen-Intensivstation steht in solchen Fällen die Infrastruktur eines Perinatalzentrums zur Verfügung.
Erfüllende Arbeitsumgebung, zufriedene Gebärende und Hebammen Eine Ein-zu-eins-Hebammenbetreuung reduziert nicht nur die Kaiserschnittquote, auch der Schmerz- und Wehenmitteleinsatz sinkt ebenso wie vaginal-operative Entbindungsmethoden.2 Sogar Stillrate sowie Stilldauer sind erhöht bei Frauen, die im Hebammenkreißsaal entbunden haben. Bei allem Respekt vor dem Wunsch nach selbstbestimmter und natürlicher Geburt – die Sicherheit von Mutter und
HYBRID
NEHMEN SIE VOR ORT ODER ONLINE TEIL!
Kind hat auch für Kiel höchste Priorität.
„Der hebammengeleitete Kreißsaal liegt in unmittelbarer Nähe des regulären Kreißsaalbereichs und des Sectio-Operationssaals“, erzählt Kiel. „Sollten Komplikationen im Geburtsverlauf auftreten, sind nicht nur die ärztlichen Kolleginnen und Kollegen sofort zu Stelle, auch auf medizinisch-technische Ressourcen sowie OPKapazität besteht jederzeit Zugriff“, versichert sie.
Neben der durch Studien belegten Zufriedenheit der werdenden Mütter zeigt sich, dass durch die Tätigkeit in einem hebammengeleiteten Kreißsaal die Berufszufriedenheit der nichtärztlichen Geburtshelferinnen signifikant ansteigt.3 Das Kernelement der beruflichen Hebammentätigkeit ist eine durchgängige, intensive Geburtsbegleitung. Das Konzept mit der Eins-zu-eins-Betreuung schafft eine zufriedenstellende und erfüllende Arbeitsumgebung, in der Fachkenntnisse und Erfahrung optimal eingesetzt werden können. Diese Berufsautonomie wirkt sich nicht nur positiv auf die Arbeitszufriedenheit aus, sie schlägt sich wiederum positiv auf die Betreuungsatmosphäre im interprofessionellen Kreißsaal nieder.
„In der Geburtshilfe muss man sehr viel wissen, um wenig zu tun. Wir als Hebammen können uns auf die Begleitung des physiologischen Geburtsvorgangs konzentrieren“, sagt Kiel und plädiert dafür, „den Dingen ihren Lauf zu lassen.“ Sie ist begeistert von der Arbeit nah an den werdenden Müttern. „Ein positives, friedliches Geburtserlebnis ist für alle Beteiligten sehr, sehr schön. Ich bin dankbar, dass ich, auch dank unseres hebammengeleiteten Kreißsaals, zu diesen Erfahrungen beitragen kann.“
Patientensicherheit und Qualität der stationären Geburtshilfe
„Die Betreuung im Kreißsaal ist lediglich ein Teilbereich der klinischen Hebammentätigkeit. Zum vollständigen Prozess gehören auch Vorgespräche, Aufnahme und die stationäre Wochenbettbetreuung“, erklärt Kiel. Im Rahmen dieser Vorgespräche, anhand der Anamnese und der Wünsche der Schwangeren entscheidet sich, ob eine Geburt im hebammengeleiteten Kreißsaal für die Gebärende grundsätzlich der richtige Weg ist.
„In unserer gesamten geburtshilflichen Abteilung arbeiten wir deshalb so gut zusammen, weil jede Berufsgruppe ihre be-
rufliche Rolle kennt, akzeptiert und sich mitihrem beruflichen Selbstverständnis auseinandersetzt. Eine flache Hierarchie und eine tolle Kooperation im interdisziplinären Team sind weitere, sehr positive Faktoren.“ Das bestätigt auch Chefärztin Rühl: „Durch eine klare Festlegung der Verantwortlichkeiten und die Einbeziehung der Frauen bzw. Eltern fördern wir die Patientensicherheit in der stationären Geburtshilfe ebenso wie die Qualität unserer interprofessionellen Zusammenarbeit. Das Verständnis füreinander und das Vertrauen zueinander ist dadurch kontinuierlich gewachsen.“
Vorreiterrolle in der bayerischen Landeshauptstadt
Das Konzept ist nicht komplett neu, der erste Kreißsaal dieser Art wurde bereits 2003 in Bremen Reinekenheide4 eröffnet. Entwickelt wurde es Anfang der 1990erJahre in Skandinavien und Großbritannien. In der bayerischen Landeshauptstadt hat die Frauenklinik jetzt eine Vorreiterrolle übernommen, davon konnte sich unlängst auch eine Delegation von vier Münchner Stadträten der GrünenFraktion überzeugen. „Für uns ist der hebammengeleitete Kreißsaal ein Vorbild,“ so Grünen-Stadträtin Clara Nitsche beim Ortstermin. Der hebammengeleitete Kreißsaal des Rotkreuzklinikums München wird über die Richtlinie zur Förderung der Geburtshilfe Bayern vom Freistaat Bayern sowie vom Gesundheitsreferat der Landeshauptstadt München gefördert.
Hoher Qualitätsstandard und Familienzentrierung
In der momentanen gesundheitspolitisch und finanziell herausfordernden Gesamtsituation gilt der Hebammenkreißsaal als eine medizinisch und auch wirtschaftlich sinnvolle Strategie. Sowohl die ärztliche Geburtshilfe als auch die Hebammen können sich durch die Trennung der Risikogeburtshilfe von physiologischen Geburten auf ihre jeweiligen Kernkompetenzen konzentrieren. Der hohe Qualitätsstandard und der Fokus auf die Familienzentrierung haben eine sehr positive Außenwirkung.
Trotz der mehrmonatigen Projektphase mit zusätzlichem Fortbildungsaufwand beider Einführung des hebammengeleiteten Kreißsaals zahlt sich die Investition auf lange Sicht aus. Die für 2025 geplante Übernahme der Hebammen ins Pflegebudget stellt die Refinanzierung der personal-
intensiven Eins-zu-eins-Betreuung in Aussicht. Geschäftsführerin Alexandra Zottmann betont: „Durch die Etablierung dieses neuen Konzepts können wir die Kapazitäten des ärztlichen Personals und der Pflege noch stärker auf die Betreuung von Risikoschwangerschaften und -entbindungen lenken. Wir sehen darin eine wichtige Bereicherung im Portfolio unseres geburtshilflichen Spektrums. Mit dem hebammengeleiteten Kreißsaal bieten wir zusätzlich Entbindungen wie in einem Geburtshaus an – inklusive der bereits vorhandenen sicheren klinischen Infrastruktur.“ ■
Die Fußnoten zum Text finden Sie unter www.mabuse-verlag.de
Was gibt Ihnen Selbstvertrauen?
„Ich bin sehr dankbar für unser stabiles, interdisziplinäres Kreißsaalteam. In Kombination mit meiner jahrelangen Erfahrung als Hebamme ziehe ich daraus das Bewusstsein, herausfordernde Situationen und Aufgaben erfolgreich bewältigen zu können. Das andere, wichtige ‚Standbein‘ ist der Rückhalt und das Verständnis, das meine Familie meiner beruflichen Tätigkeit mit nicht immer familienfreundlichen Arbeitszeiten entgegen bringt.“
Silvia Kiel
Silvia Kiel ist stellvertretende Leiterin des Kreißsaals des Rotkreuzklinikum München Frauenklinik, Pilates- und Fitnesstrainerin und Hebamme. silvia.kiel @swmbrk.de
„Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Kräfte ist eine wichtige Ressource. Als berufstätige Mutter von mittlerweile zwei fast erwachsenen Kindern habe ich immer versucht, das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen. Die Unterstützung meines Arbeitgebers, der Schwesternschaft München vom BRK e. V., hat mich dabei auch über herausfordernde Phasen getragen. Für die persönliche Ausgeglichenheit kann ich moderaten, aber regelmäßigem Ausdauersport nur empfehlen.“
Sylvia Habl
Sylvia Habl ist Mitglied der Schwesternschaft München vom BRK e. V., Krankenschwester und Dipl. Pflegewirtin (FH) in der Abteilung Kommunikation & Öffentlichkeitsarbeit. presse@swmbrk.de
Transparente Psychiatrie
Sicherheit durch Benchmarking
Florian Wostry
Eine menschenrechtsbasierte Psychiatrie sollte in der heutigen Zeit selbstverständlich sein und eine von Zwang befreite Behandlung als ethischer Standard gelten. Unser Autor zeigt, dass das Benchmarking-Konzept bei der Einhaltung ethischer Standards als Hilfestellung dienen kann.
Betrachten wir die Zukunft optimistisch und gehen von einer demokratiefreundlichen Entwicklung aus, in der speziell die psychiatrische Betroffenenperspektive und Recovery* an Bedeutung gewinnen, dann werden die Ziele der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) einer sicheren, menschenrechtsbasierten Psychiatrie verwirklicht sein. Eine psychiatrische Behandlung frei von Zwang stellt dabei den ethischen Rahmen dar. Dies erfordert ein Umdenken hinsichtlich der Anwendungvon Zwangsmaßnahmen wie unfreiwillige Unterbringungen, mechanische Fixierungen, Isolierungen, körperliches Festhalten und Zwangsmedikation.
Die aktuelle Situation und Bedarf für Wandel
Im Jahr 2022 waren in Österreich 26 816 Menschen unfreiwillig in der Psychiatrie untergebracht und 9 308 Personen wurden davon weitergehend mechanisch fixiert oder in einem verschlossenen Zimmer isoliert (IFS 2023, VertretungsNetz 2023). Im Vergleich mit 22 europäischen Ländern, Australien und Neuseeland ist Österreich das Land mit den meisten psychiatrischen Zwangsunterbringungen (Sheridan Rains et al. 2019).
Obwohl die UN-BRK Zwangsmaßnahmen als Menschenrechtsverletzung einstuft, gestalten sich internationale Vergleiche im Bereich psychiatrischer Zwangsmaßnahmen schwierig. Daten zu Art, Dauer und Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen werden von den Psychiatrien zwar weitgehend dokumentiert, jedoch sind diese Daten nicht öffentlich zugänglich. Darüber hinaus werden diese Daten nicht systematisch als Reflexionsgrundlage für das Fachpersonal genutzt, um aus ihnen zu lernen
Blick in die psychiatrische Klinik am Bezirkskrankenhaus Haar. Foto: picture-alliance / Sueddeutsche Zeitung Photo | Rumpf, Stephan
und Zwangsmaßnahmen effektiv zu reduzieren oder idealerweise abzuschaffen.
Es entsteht häufig der Eindruck, dass psychiatrische Einrichtungen eine gewisse Zurückhaltung gegenüber einem statistischen Vergleich zeigen. Ein möglicher Grund hierfür könnte die Befürchtung sein, dass solche Vergleiche die Reputation der Einrichtungen negativ beeinflussen. Des Weiteren erschweren gesetzliche Rahmenbedingungen eine Veröffentlichung dieser Daten. Dabei gilt es zu beachten, dass solche Gesetzgebungen oftmals unter Einbezug von Fachexpert:innen aus der Psychiatrie entwickelt werden, was die Frage aufwirft, inwieweit bestehende institutionelle Interessen die Transparenz in diesem kritischen Bereich beeinflussen können.
Eine in Österreich von Zwangsmaßnahmen betroffene Person findet zu dieser Thematik folgende Worte: „Damit ist die Fixierung ein Thema, was viel zu selten auf den Tisch kommt, sondern nur noch eine Handlung, die man kennt, aber auch nicht abschaffen will, letztendlich. Es gibt Mängel, und warum gibt es die Mängel bei der Fixierung schon so lange, weil das ein uraltes, gewachsenes System ist mit der Fixierung.“ (Wostry 2021)
Die Kritik an der Macht der Psychiatrie und der medizinisch geprägten DiskursAllmachtstellung, die der amerikanische Psychiater Thomas Szasz wie auch der französische Philosoph Michel Foucault bereits in den 1960er-Jahren äußerten, ist trotz Betroffenenvereinigungen sowie alternativen Ansätzen wie Trialog und Soteria, insbesondere in Österreich, ungebrochen. Bei diesem ethisch sensiblen Thema ist eine objektive, multiperspektivische Betrachtung wünschenswert, in der auch Betroffene, EX-IN Genesungsbegleiter:innen und Pflegefachpersonen, die Zwangsmaßnahmen durchführen und zugleich den intensivsten therapeutischen Kontakt zu den Patient:innen haben, zu Wort kommen.
Transparente Psychiatrie:
Ein Verein für Wandel
Als Reaktion auf diese Problematik wurde in Österreich der Verein „Transparente Psychiatrie“ gegründet. Durch die von Vereinsmitgliedern generierte Schwarmintelligenz,welche die Expertise verschiedener psychiatrischer Berufsgruppen und vor allem die der Betroffenen beinhaltet, soll ein vielfältiger Diskurs gefördert werden, der eine menschenrechtsbasierte Psychiatrie ohne Zwangsmaßnahmen zum Ziel hat. Als
erster aktiver Schritt möchte der Verein ein öffentliches Benchmarking von Zwangsmaßnahmen etablieren, da die Transparenz der Zwangsmaßnahmen eine Möglichkeit der Reflexion bietet, die das Potenzial hat, Zwangsmaßnahmen zu minimieren.
Was ist ein Benchmarking?
Die Bezeichnung Benchmarking kommt aus der Wettbewerbsanalyse und beschreibt den fortlaufenden Prozess, die eigene Leistungsfähigkeit mit der des Branchenführers zu vergleichen. Das Benchmarking von Zwangsmaßnahmen zielt darauf ab, die Art, Dauer und Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen zu erfassen und damit die einzelnen Psychiatrien und Stationen zu vergleichen.
Wie funktioniert Benchmarking in der Praxis?
Zunächst bedarf es für jede psychiatrische Station einer digitalen standardisierten Erfassung der exakten Art, Dauer und Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen. Diese Daten werden in einem öffentlichen Melderegister zusammengeführt, automatisiert, statistisch ausgewertet und online der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Zudem erhalten alle psychiatrischen Stationen und deren Mitarbeiter:innen eine monatliche Auswertung dieser Daten. Diese Daten werden dann im Stationsteam moderiert sowie strukturiert diskutiert und reflektiert. Dies fördert eine Haltung und eine Kultur, die Zwangsmaßnahmen reduziert. Diesbezüglich macht es auch Sinn, mit den jeweiligen Patient:innengruppen auf den Stationen transparent über die aktuelle Rate von Zwangsmaßnahmen zu diskutieren, um gemeinsam Wege zu suchen, wie diese
zukünftig verhindert werden können. Jene Stationen, die wenige Zwangsmaßnahmen aufweisen, werden als Best-Practice-Beispiele für Stationen herangezogen, welche auffällig viele Zwangsmaßnahmen anwenden. Für diesen Austausch und Wissenstransfer stehen Expert:innen bereit, die helfen, Brennpunkte auf den Stationen zu analysieren um diese dann gemeinsam mit dem Stationsteam durch Eindämmungsinterventionen zu reduzieren.
Balletttänzer:innen und Bulldozer:innen
Als Leser:in dieses Artikels haben Sie vermutlich einen Bezug zur Psychiatrie und es ist Ihnen sicherlich bewusst, dass auf psychiatrischen Stationen deutliche Unterschiede im Umgang mit Zwangsmaßnahmen bestehen. Der Umgang mit Zwangsmaßnahmen wird maßgeblich von der Kultur und Tradition des jeweiligen Stationsteams und dessen Mitarbeiter:innen geprägt. Björkdahl et al. (2010) verdeutlichendies, indem dem Pflegefachpersonal unterschiedliche Eigenschaften zugeschrieben werden.
Es gibt sogenannte Bulldozer:innen und Balletttänzer:innen. Bulldozer:innen sind sehr regelkonform und die Sicherheit der Station hat oberste Priorität. Dementsprechend werden Regelverstöße schnell geahndet, dafür wird auch Zwang angewendet. Die Balletttänzer:innen besitzen eine hohe Empathiefähigkeit, nehmen sich Zeit für die Patient:innen und signalisieren auchin schwierigen Situationen eine Deeskalationsbereitschaft. Diese Studie lässt sich vermutlich problemlos auf die behandelnde Ärzt:innen und auf weitere psychiatrische Berufsgruppen umlegen.
Stellen Sie sich nun vor, dass Sie selbst einen stationären psychiatrischen Aufenthalt benötigen. Freund:innen von Ihnen haben Ihnen den Hinweis gegeben, dass sie Psychiatrien kennen, in denen man schnell unfreiwillig untergebracht wird undwo Zwangsmaßnahmen häufig und über einen längeren Zeitraum angewendet werden. Somit würden Sie es als hilfesuchende Person als legitim und als Grundrecht erachten, sich vor potenziellen Traumatisierungen aufgrund von Zwangsmaßnahmen zu schützen. Deshalb besuchen Sie sicherheitshalber die Webseite www. transparente-psychiatrie.at, um für Ihren stationären Aufenthalt eine Psychiatrie auszuwählen, die nur wenige Zwangsmaßnahmen anwendet.
Wettbewerb fördert Investitionen in Prävention
Im Rahmen des Benchmarkings sind die einzelnen Psychiatrien zukünftig danach bestrebt, als vorbildlich eingestuft zu werden. Einen großen Anreiz dafür stellt die Reputation dar, da hohe Zahlen an Zwangsmaßnahmen eine negative Medienberichterstattung nach sich ziehen können. Vor diesem Hintergrund wird das Management vermehrt in moderne Aus- und Weiterbildung ihrer Mitarbeiter:innen als auch in Stationskonzepte, die einen Kulturwandel ermöglichen, investieren, um Zwangsmaßnahmen bestmöglich einzudämmen.
Um die Stationen dabei optimal zu unterstützen, kann im Rahmen eines modifizierten Benchmarkings zusätzlich dokumentiert werden, in welchem Ausmaß die klinische S3-Leitlinie „Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie und aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen“ auf den jeweiligen Stationen umgesetzt wurde. Dazu kann man sich an den zwölf Implementierungsempfehlungen der pre-VCoStudie (2024) orientieren.
Zum Beispiel: Wurde das Safewardsoder das Weddinger-Modell auf der jeweili-
Quellen
Björkdahl, A./Palmstierna, T./Hansebo, G. (2010): The bulldozer and the ballet dancer: aspects of nurses' caring approaches in acute psychiatric intensive care. In: Journal of Psychiatric and Mental Health Nursing 17(6), S. 510–518. IFS. Institut für Sozialdienste (2023): Jahresbericht 2022. Erwachsenenvertretung Patientenanwaltschaft Bewohnervertretung. Online unter: https://kurzlinks.de/ioa8 preVCo Studie (2024): Empfehlungen für psychiatrische Stationen (12 Punkte-Programm). Online unter: https://kurzlinks.de/c59d
gen Station implementiert? Finden moderierte und strukturiere Nachbesprechungen zu Zwangsmaßnahmen statt und werden präventiv Behandlungsvereinbarungen erstellt? Arbeiten im Team EX-IN Genesungsbegleiter:innen? Wird das Benchmarking wöchentlich im Team reflektiert und erhalten alle Mitarbeiter:innen regelmäßige Deeskalationsschulungen? Schlussendlich erfährt durch weniger Aggression auch das Fachpersonal mehr Sicherheit und Zufriedenheit, was wiederum zu einer besseren Personalbindung führt.
Optimistisch in die Zukunft
Die Einführung eines Benchmarkings kann dazu beitragen, die Praktiken in psychiatrischen Einrichtungen schneller an menschenrechtsbasierte Standards anzupassen. Dieses Konzept des offenen Austausches von Daten und Praktiken fördert nicht nur die Transparenz und das Verantwortungsbewusstsein, sondern schafft auch eine Plattform für systematische Verbesserungen in der psychiatrischen Versorgung. ■
*Therapie-Konzept, welches das Genesungspotential der Betroffenen hervorhebt und unterstützt.
Was gibt Ihnen Selbstvertrauen?
„Selbstvertrauen ist ein lebenslanger Prozess, in dem es Höhen und Tiefen gibt. Es geht nicht nur um Erfolge die einen stärken, sondern darum, Fehler als Chance zur kreativen Selbstoptimierung zu betrachten.“
Schwerpunkt:
Florian Wostry ist Gründungsmitglied des Vereins Transparente Psychiatrie, Doktorand Pflegewissenschaft Universität Wien, Gastdozent und Keynotespeaker. florian.wostry @transparentepsychiatrie.at www.transparentepsychiatrie.at
Sheridan Rains, L./Zenina, T./Dias, M. C./Jones, R./ Jeffreys, S./Branthonne-Foster, S./Lloyd-Evans, B./Johnson, S. (2019): Variations in patterns of involuntary hospitalisation and in legal frameworks: an international comparative study. In: The Lancet Psychiatry 6(5), S. 403–417. VertretungsNetz (2023): Jahresbericht 2022. Online unter: https://kurzlinks.de/acgg Wostry, F. (2021): Das Erleben von mechanischer Fixierung in der österreichischen Erwachsenenpsychiatrie aus Sicht der Patient*innen. Masterarbeit. Universität Wien.
Besonderer Ort, besonderer Schutz
Feuerwehreinsatz im Klinikum
Sicherheit im Krankenhaus
Rainer von zur Mühlen
Sichere Umgebungen und strukturierte Vorsorgemaßnahmen für Ausnahmesituationen sind essenziell für die Versorgung von Patient:innen in Krankenhäusern. Unser Autor hat jahrzehntelange Erfahrung als Sicherheitsberater, kennt die Schwachstellen in den Kliniken und stellt uns vor, wie sich einige dieser Gefahrenpotenziale beseitigen lassen, um Menschenleben zu schützen.
Sicherheit, und insbesondere die Sicherheit im Krankenhaus ist eines der komplexesten Themen, wenn man sich professionell mit Sicherheit beschäftigt, denn: Krankenhäuser müssen öffentlich erreichbar sein. Sie müssen offen sein wegen der Vielzahl an Besuchern*, deren Kontakte zu den Patienten Teil der Genesungsförderung sind. In den Hochzeiten der Corona-Infektionsgefahren der Patienten wurden Krankenhäuser für Besucher gesperrt. Der Aufwand war gewaltig und die psychische Belastung aller Beteiligten unerträglich. Es gibt aber auch außerhalb einer solchen Pandemie-Sondersituation und in der üblichen Kran-
kenhausroutine Herausforderungen, über die sich die Verantwortlichen permanent Gedanken machen müssen. Denken wir nur an die Probleme der Sicherheit der Stromversorgung. Energie muss in einem Krankenhaus ohne Unterbrechung zur Verfügung stehen. Sie muss extrem verlässlich sein. Man stelle sich nur vor, während einer OP ginge das Licht aus.
Ganz viele Fachleute tragen in allen Kliniken dafür Sorge, dass die erforderlichen, der Sicherheit dienenden Techniken immer funktionieren. Immer? Störfälle kann man nie ganz ausschließen. Über einige, nur wenige, soll hier gesprochen werden.
Schadensfälle und Planungsfehler
Wenn man im Internet die Begriffe Krankenhaus und Brandstiftung in die Suchmaschine eingibt, ist man erstaunt, wie viele Ergebnisse zeigen, dass mutwillig herbeigeführte Krankenhausbrände in Deutschland an der Tagesordnung sind. Hinzu kommen technisch verursachte Schwelbrände,
Nord in Hamburg-Ochsenzoll. Foto: picture-alliance/ dpa | Jens Holgerson
manchmal mit gewaltiger Rauchentwicklung und leider auch starker Rauchverteilung im Haus, denndie Brandabschnitte in vielen Häusern sind einem Schweizer Käse nicht unähnlich. Und manch teure Rauchschottung ist ihr Geld nicht wert. Vorschriften- und Zertifizierungsgläubigkeit sind das Problem. Es gibt immer wieder Schadensfälle, wo die Beteiligten hinterher sagen: „... dass sowas passieren kann? Da kommt doch niemand drauf.“ – Irrtum! Sicherheitsplanung ist eine Frage des analytischen Denkens und eine komplexe Wissenschaft für sich. Ich will das an wenigen Beispielen verdeutlichen.
Unverträglichkeit von Nachbarschaften Unter Unverträglichkeit von Nachbarschaften versteht man Techniken, die man nebeneinander etwa in einer Installationsdecke verlegt hat – das aber besser nicht hätte tun sollen.
Wir kennen alle die Leuchtstofflampen, die am Ende ihrer Lebensdauer ein Flackern oder Dauerglühen zeigen. Da ist höchste Alarmstufe angesagt. Die Symptome sind das Ergebnis von Fehlstartversuchen. Dabei entstehen hohe Temperaturen. Was kann passieren? Bei Flackern oder Dauerglühen der Leuchtstofflampen wird viel Strom gezogen, der die Leuchte bis ca. 450°C erwärmt. Wenn neben den Leuchten in der abgehängten Decke beispielsweise Druckluftleitungen verlegt wurden, dann können sich diese Leitungen in einem Schadensfall erwärmen. Wenn zugleich Polystyrolschäume oder andere brennbare Stoffe im Umfeld sind, dann können aus diesen brennbare Gase austreten. Die Erwärmung der Druckluftlei-
tungen kann zu einer Ausdehnung an den Quetschverbindungen führen und es tritt Druckluft aus dem System in den Deckenhohlraum aus. Die gefährliche Mischung führt manchmal zu einer gewaltigen Verpuffung. Das untenstehende Bild (Abb. 1) zeigt das Ergebnis im Technikgeschoss einer Kinderklinik. Die Verpuffung war so stark, dass die Tragkonstruktion der abgehängten Decke aus dem Beton gesprengt wurde. Die Dübel nahmen den Beton bis etwa fünf Zentimeter Kratertiefe gleich mit. Hinzu kommen häufig Planungsfehler bei der Schottung von Kabeltrassen. Brandwände, durch die Kabel- oder Rohrtrassen verlegt werden, verfügen über normierte Brandschotts. In dem Verpuffungsfall waren es Weichschotts. Sie hielten dem Verpuffungsdruck nicht stand. So konnte sich der Rauch nach der Verpuffung ungehindert in die Nachbarschaft ausbreiten.
Aber auch Brandschutzdecken sind problematisch, obgleich sie stets auf Rauchdichtigkeit nach Norm getestet werden und eine Zulassung haben. Wir kennen alle die Platten- oder Streifenpaneele. Sie werden auf eine seitliche Tragkonstruktion aufgelegt und etwa mit Lippen ineinander verklinkt. Im Labor ist das gut – nicht in der Praxis. Wenn vier oder mehr Nachinstallationen stattgefunden haben, bei denen die Paneele entfernt und wieder eingebaut werden mussten, passiert es leicht, dass sie sich geringfügig verdrillen. Sie werden undicht.
Und auch das noch: Die Brandschutzklappen der Kinderklinik schlossen sich nicht. Sie waren mit Schmelzloten versehen, die bei Hitze abschmelzen und die Klappen selbsttätig zufallen lassen. Das ist
nach Norm zulässig, setzt haber hohe Temperaturen voraus. Der Rauch war nicht warm genug. Die Schmelzlote erreichten die erforderliche Temperatur nicht und die Klappen fielen nicht zu. Übrigens durften bei der Sanierung des Hauses keine besseren Klappen angeschafft werden. Nur die preiswertesten, der Norm entsprechenden Klappen wurden genehmigt: solche mit Schmelzlotauslösung vom Anfang des vorigen Jahrhunderts. Deutsche Krankenhäuser haben eben normgerecht zu brennen ...
Schottung über Türen und Fluren Ein weiterer Planungsfehler sind unsichereKreuzungspunkte. Das untenstehende Bild (Abb. 2) zeigt die dichte Ausnutzung des knappen Platzes in einer Installationsdecke. Die Verlegung über der Tür zum Treppenhaus, also zum ultimativen Flucht und Rettungsweg einer Klinik, hatte keinen Platz für eine Rauchabdichtung. Null Chance.
Notstromversorgung
Wenn wir von Notstrom sprechen, meinen die meisten Menschen den Netzersatz. Also die Situation, dass es keine Netz-Stromversorgung mehr gibt und der Strom für eine begrenzte Zeit selbst erzeugt werden muss. Dafür hat jedes Krankenhaus leistungsfähige Netzersatz-Anlagen (NEA), die automatisch anlaufen, wenn der Stadtstrom ausfällt. In Krankenhäusern reicht das aber nicht. Wenn der Strom ausfällt, wird es nicht nur dunkel, es fällt auch die gesamte Elektronik aus. Ausfall des Lichts während einer OP ist nicht trivial, aber ein Ausfall von elektronischen Operati-
Abb. 1: Tragekonstruktion nach VerpuffungAbb. 2: Schottung in einer Installationsdecke
onstechniken mitten in der Arbeit ist sehr wahrscheinlich tödlich. Daher halten Krankenhäuser für kritischen Stromverbrauch neben dem Netzersatz auch eine Unterbrechungsfreie Stromversorgung (USV) vor. Das bedeutet, dass Strom zwischengespeichert wird und zumindest die Umschaltzeit bei Netzausfall auf die autarke Technik ohne Unterbrechung sichergestellt ist. Dabei wird der Strom etwa über Batterien verfügbar gemacht.
Das klingt alles ganz einfach, ist aber hochkomplex. Außerdem löst die Notstromversorgung nicht alle Probleme, die die Sicherheit des Krankenhauses betreffen. In dem erwähnten Brandfall des Kinderkrankenhauses musste ein ganzer Gebäudeflügel mit etwa 130 Betten komplett geräumt werden. Da stellt sich dann die Frage, wie man etwa die Brutkästen von neugeborenen, untergewichtigen Kindern nach einer Herz-OP ohne Strom versorgen kann. – Gar nicht! Elektrische Energie muss immer verfügbar gemacht werden. Das geht durchaus, ist aber aufwendig und muss geübt und getestet werden, damit im Ernstfall jeder Handgriff sitzt.
Evakuierung
Die Evakuierung eines Krankenhauses ist für alle Beteiligten ein Albtraum. Fast alle Evakuierungen, die ich kenne und teilweise auch selbst analysiert habe, sind dennoch perfekt abgelaufen.
Dass die Evakuierungen oft gut funktionieren, liegt am Bildungsgrad der Mitarbeiter. Ärzte, Pflegepersonal – ja, auch das Hilfspersonal und natürlich die Krankenhaustechniker – sind überdurchschnittlich ausgebildet. Sie alle tragen jeden Tag Verantwortung und sind es gewohnt, in ihrem Aufgabenumfeld Entscheidungen zu treffen. Sie kennen Prioritäten und handeln routiniert.
Verlegungen von Patienten sind einer Evakuierung in ihren Abläufen oft gleich oder zumindest ähnlich. Einige Kliniken lassen Routineverlegungen gelegentlich begleiten, analysieren und immer wieder optimieren. Manchmal ergeben sich aus den Erkenntnissen auch Umbauten, um Bettenverlegung zu beschleunigen.
Sicherheitshandbuch und Alarmierungspläne Für Alarmierungspläne gibt es Standards, die ich hier nicht behandeln möchte. Die kennen alle Krankenhäuser. Aber einige Besonderheiten will ich nennen.
Abb. 3: Schaden im Außenbereich der Südpfalzklinik in Kandel
Der Alarmierungsplan in der Kinderklinik, die eingangs erwähnt wurde, hatte eine Besonderheit: Eltern-Hilfsalarm. Zum einen mussten natürlich alle Eltern stationär versorgter Kinder sowie ambulanter Patienten informiert werden. Aber die Kinder waren unerwartet in völlig fremder Umgebung. Sie bekamen die Hektik mit und waren teilweise beunruhigt.
Evakuierung während der Anwesenheit von Eltern ist problematisch, da man nicht weiß, ob und wie die Eltern reagieren und mögliche Fehlmaßnahmen ergreifen, weil sie in Panik geraten. Darauf muss sich das Krankenhauspersonal einstellen und vorbereitet sein. Das erfordert eine entsprechende Schulung.
Der Eltern-Alarmplan gab Hinweise, welche Tätigkeiten des Pflegepersonals durch die Eltern übernommen werden und wie sie die kleinen Patienten ablenken konnten. Das klappte hervorragend. Von gut 20 Kindern übernahmen Eltern Teilpflegedienste. Einige der Eltern waren medizinisch vorgebildet und leisteten vorbildliche Hilfe – nicht nur für ihr eigenes Kind, sondern auch für andere.
Sicherheitsregeln
Bei einer Brandstiftung in Kandern/Pfalz hatte der Brandstifter nahe der Notaufnahme unterhalb der Intensivstation einen Gittercontainer für Wäsche mit Benzin angezündet. Es entstand ein gewaltiger Sachschaden (Abb. 3).
In fast allen Krankenhäusern gibt es strenge Brandschutzvorschriften, nach denen leere Betten nicht in Gängen stehen sollen und Wäschesammlungen in Gitterboxen immer in verschlossenen Räumen, nie auf Fluren oder in allgemein leicht zugänglichen Bereichen, gelagert oder zwischengelagert werden dürfen. Sie sind unzulässige Brandlasten und blockieren die Fluchtwege, die immer für bettlägerige Patienten – auch in einer Evakuierungssituation – frei sein müssen. So frei, dass das Evakuieren eines Betts von einer Einzelperson gehandhabt werden kann. Es gibt weitere Regeln, die oft in Vergessenheit geraten:
— Autos dürfen auf keinen Fall unbeaufsichtigt nahe an den Gebäuden abgestellt werden. Es passiert viel häufiger als man denkt, dass die Fahrzeuge aufgrund eines sich nicht ankündigenden elektrischen Defekts in Brand geraten. In letzter Zeit häufiger auch Elektroautos.
— Der Abstand von Brandlasten nahe Krankenhausgebäuden muss erfahrungsgemäß mindestens sechs, besser acht Meter betragen.
— Das gilt auch für Mulden, die im Zuge von Umbauten oder Sanierungen benötigt werden.
— Fassaden-Bauteile müssen unbrennbar sein. Verbundbaustoffe mit Polystyrolen oder Holz-Kunststoff-Platten haben sich nicht bewährt. Zahlreiche Fassadenbrände beweisen das, auch wenn die Baustoffe
zugelassen sein sollten! Die Hochhausbrände der letzten Zeit haben gezeigt, dass harmlos erscheinende Verbundbaustoffe mit brennbaren Komponenten erhebliche Gefahren bergen.
Im Fall Kandern entstand hoher Sachschaden, aber glücklicherweise kein Personenschaden. Die Evakuierung klappte und zeigte anschaulich, dass die Mitarbeiter wussten, wie sie sich bei einer Evakuierung zielgerichtet zu verhalten hatten.
Sicherheitsbegehungen
Es gibt Krankenhäuser, die einen Wachund Sicherheitsdienst beschäftigen, der regelmäßig Begehungen macht und darauf trainiert ist, Gefahren frühzeitig zu erkennen – innen und außen.
Der Sicherheitsdienst muss unbedingt informiert sein, wo im Haus Baustellen sind. Mit der technischen Leitung muss der Dienst abstimmen, wie intensiv Kontrollen (Verschluss, Brandschutz, Unfallgefahren etc.) stattfinden sollen. Nicht jeder Mitarbeiter eines solchen Sicherheitsdienstes ist Fachmann. Man muss daher auch ein Konzept erarbeiten, wie der Sicherheitsdienst welche Gefahren erkennen kann und zu beurteilen lernt.
Sicherheits-Personal
Den Begriff Fachkräftemangel mag man nicht mehr hören, muss man aber. In Krankenhäusern ist er eklatant. Kliniken sind im Grunde sehr komplexe und gigantische Maschinen. Noch vor 30 Jahren konnte man mit qualifizierten Haustechnikern ein Krankenhaus betreiben. Heute sind durch die anspruchsvollen Umgebungs- und Versorgungsbedingungen Spezialisten einerseits mit immer tieferem Spezialwissen gefordert, andererseits mit einem gewaltigen, die Technik des Hauses betreffenden Allgemeinwissen. Es gibt Hochschulen, die die Ausbildung klassischer Krankenhausingenieure eingestellt haben, weil sie nicht mehr in der Lage sind, die notwendigen Wissensbereiche abzudecken und zu unterrichten. Die Krankenhausingenieure müssen die Interdependenzen der Techniken für den verlässlichen Betrieb beherrschen. Wo solche „Überflieger“ fehlen – und sie fehlen überall – , werden die Lücken mit Dienstleistern der Hersteller gestopft, die auch mit Fluktuation, Fachkräftemangel und Überlastung zu kämpfen haben.
Es gibt immer mehr Kliniken, die für die Gebäudesicherheit, die technische Be-
triebsführung und das Monitoring von Bereichen bis hin zum Parkplatzmanagement komplexe Leitzentralen betreiben. Das hat einen großen Vorteil: Man kann die Technische Überwachung der Gebäudetechnik und die Zutrittssicherung, um nur zwei der Bereiche zu benennen, konzentrieren und dabei gelegentlich auch personelle Einsparungen, zumindest aber Effizienzverbesserungen erreichen.
Fernwartung
Die Medizintechnik und viele Komponenten der Gebäudetechnik werden von den Herstellern mit Fernwartungsmöglichkeiten ausgeliefert. Fernwartung ist aber ein Einfallstor für Unbefugte.
Es gibt im Darknet Portale, die Schwachstellen der Software verschiedener Fernwartungen beschreiben und Tipps geben, diese zu nutzen. Ich selbst hatte einmal Kontakt zu einem Studenten der Informatik in Bonn, der das Internet systematisch nach Unternehmen durchsuchte, die für irgendwelche Systeme Dienstleistungen in Fernwartung anboten. Eine Spielerei von ihm – wie er sagte – war es, Kirchen daraufhin zu untersuchen, ob die Steuerungen der Glocken überall nach dem gleichen Prinzip funktionierten. Er meinte, er hätte wohl schon so manchen Pfarrer zur Raserei gebracht, wenn er per Fernwartungshack das Geläut aktivierte.
Seiner Wohnung gegenüber lag eine Tankstelle. Heute steigt kein Pächter mehr auf eine Leiter, um die Preisanzeige durch Tausch der Ziffern zu aktualisieren. Das geht zentral von der Mineralölgesellschaft per Fernwartung. Er machte es mir vor und verstellte zur Demonstration für mich den Benzinpreis um einen Cent. Als ein Auto einfuhr, machte er sofort die Korrektur, damit kein Schaden entstand.
Man stelle sich vor, dass die Parameter der Geräte einer Intensivstation auf solche Weise manipuliert werden oder dass die heute schon praktizierte minimalinvasive und teilautomatisierte Operationstechnik bei der Einführung einer Herzklappe von der Leiste zum Herzen durch Fernwartung in Fehlfunktion gerät. ■
* Aus Platzgründen wurde im Text die männliche Form gewählt, dennoch beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter. Foto: LAVILLE Fotografie/VZM
Was gibt Ihnen Selbstvertrauen?
„Ich habe in Peter Stürmann seit 1978 einen Partner, der mich vom ersten Jahr an kritisch und steuernd, oft mäßigend beriet. Sein Rat erwies sich als immer fundiert. Und es klingt widersinnig: Ein wesentlicher Teil meines Selbstvertrauens resultiert aus der Tatsache, dass ich während meines ganzen Berufslebens stark von vielen meiner Wettbewerber unterschätzt worden bin. Ich habe immer die Absichten und Ziele meines Handelns klar gesagt. Glaubte niemandem. Alle geheimnisten irgendwelche versteckten Tricks in meine Aussagen, waren immer bereit, darin Täuschungsversuche zu vermuten und handelten dann genau so, wie ich das wollte –falsch. Der Einfluss auf meine Wettbewerber war erfolgreich. Manchmal war mir das Selbstvertrauen aber auch peinlich. Aber jeder unternehmerische Erfolg, der keine Eintagsfliege ist, sondern 50 Jahre und mehr anhält, gibt Selbstvertrauen.“
Rainer von zur Mühlen ist Gründer der VZM Sicherheitsberatung (www.vzm.de), die sich schon 1969 auf Sicherheit im HighTech-Umfeld spezialisiert hat, etwa die Planung von Leitzentralen für Sicherheit und Haustechnik sowie von Rechenzentren.
„Menschen brauchen Menschen“
Foto: istockphoto.com/pondsaksit
Der Letzte Hilfe Kurs
Unter dem Begriff Erste Hilfe kann sich jede:r sofort etwas vorstellen. Aber Letzte Hilfe? Was ist damit gemeint? Dazu haben wir ein Gespräch mit Svenja Jacobsen, stellvertretende Leiterin des ambulanten Malteser Hospiz-Zentrums in Hamburg, geführt. Die Krankenschwester und Palliativfachkraft ist zudem Letzte Hilfe-Kursleiterin.
Was versteht man unter Letzter Hilfe?
Svenja Jacobsen: Im Prinzip ist es schnell erklärt: In den kompakten vierstündigen Letzte Hilfe Kursen vermitteln wir ein gut durchdachtes Paket voller Tipps für das Ende des Lebens. Wir Malteser arbeiten nach dem Kurskonzept von Dr. Georg Bollig. Er hat die Letzte Hilfe Kurse ins Leben gerufen. In seiner Definition der Ersten Hilfe, die darauf abzielt bei akuter Verletzung und Erkrankung das Überleben der Betroffenen zu sichern, beschreibt er die Letzte Hilfe dementsprechend mit Maßnahmen zur Hilfe bei lebensbedrohlichen Erkrankungen mit dem Ziel der Linderung von Leiden und Erhaltung von Lebensqualität. Es geht also darum,
die letzte Lebensphase der Sterbenden und auch die Zeit ihrer Zugehörigen so angenehm wie möglich zu gestalten.
An wen richten sich Letzte Hilfe Kurse?
Letzte Hilfe Kurse richten sich grundsätzlich an alle und jeden. Vorkenntnisse sind nicht notwenig. Die Kurse möchten von Grund auf über die Themen Sterben, Tod und Trauer und einen guten Umgang damit informieren. Es geht quasi um das kleine 1x1 der Sterbebegleitung. Teilnehmen können neben Einzelpersonen auch Gruppen, Vereine und auch ganze Betriebe.
Warum sind die Themen so wichtig?
Noch ist die Thematik Tod und Sterben mit einem Tabu belegt und es schwingen bei den meisten Menschen Ängste und Unsicherheiten mit. Dabei ist eigentlich jedem klar: Der Tod ist Teil des Lebens. Jeder Mensch wird zwangsläufig sterben und auch in seinem direkten Umfeld mit Verlust und Trauer konfrontiert werden. Und obwohl dies der Lauf der Dinge ist, möchten sich viele Menschen
nicht damit auseinandersetzen. Auch das ist ganz normal und menschlich. Aber die Auseinandersetzung mit dem Thema ist der erste Schritt hin zu einem angstfreien Umgang damit. Denn es ist ein sehr beruhigendes Gefühl, wenn ich weiß, ich habe meine Themen geregelt und mit meinen Liebsten besprochen, wie ich mir meine letzte Lebensphase wünsche. Natürlich kann man das Leben nicht gänzlich planen, oftmals kommt es doch anders, als gedacht. Aber seine Wünsche und Bedürfnisse mit den Zugehörigen besprochen zu haben, vereinfacht vieles.
Was wird in den Kursen konkret behandelt?
Die Kurse sind in vier Module gegliedert. Sie vermitteln Basiswissen zu den Themengebieten „Sterben als ein Teil des Lebens“, „Vorsorgen und entscheiden“, wo wir konkret über die Patientenverfügung sprechen, „Leiden lindern“ und „Abschied nehmen“. Wir sprechen über die Normalität des Sterbens, um die Angst davor zu nehmen. So ist ein wichtiger Aspekt in den Kursen das Wissen um die Unterstützungsmöglichkeiten, die es gibt.Viele Familien stehen vor der Situation, entscheiden zu müssen, ob sie den Sterbenden nach Hause holen können. Denn die große Mehrheit der Menschen möchte zu Hause sterben. Aber dabei spielen viele Aspekte eine Rolle. In erster Linie natürlich der Gesundheitszustand und die sogenannte Symptomlast. Was ist eigentlich eine Palliativstation, was ist ein Hospiz, ein spezialisierter ambulanter Palliativdienst und wie arbeitet eine allgemeine ambulante Palliativversorgung? Diese Fragen klären wir. Auch zeigen wir konkrete Maßnahmen auf, die jeder, der einen Menschen in der letzten Lebensphase zu Hause begleitet, ganz einfach durchführen kann. Denn viele Menschen fragen sich, was sie für ihre Liebsten konkret tun können. Wir vermitteln hier – in Ergänzung zu den medikamentösen Maßnahmen der Palliativmedizin
– ganz einfache, aber sehr wirksame Methoden, die jeder selbst anwenden kann.
Was können Zugehörige konkret tun?
Erstmal ist wichtig: Menschen brauchen Menschen. Da sein ist entscheidend, aber auch konkrete einfache Handgriffe sind entscheidend: Eine Handmassage zum Beispiel oder das Einreiben mit einem Öl in der Duftrichtung, die der Sterbende immer gern gemocht hat. Auch die Mundpflege am Lebensende ist wichtig. Weil Sterbende überwiegend durch den Mund atmen, ist der Mund oftmals offen. Da die meisten keine oder nur noch sehr wenig Nahrung und Flüssigkeit zu sich nehmen können, droht der Mundraum auszutrocknen. Eine ganz einfache Mundpflege kann dies verhindern.
Und das probieren Sie in den Kursen direkt aus?
Genau. Wir bieten den Kursteilnehmern an, dies selbst bei sich oder einem anderen Teilnehmer auszuprobieren. So haben wir festgestellt, dass eine Mischung aus Butter, Honig und Zitrone einfach köstlich ist. Wir möchten dem Thema mit einer gewissen Leichtigkeit begegnen und den Kursteilnehmern die Unsicherheit nehmen, etwas falsch zu machen.
Wir sprechen aber auch über Schmerzen und Luftnot. Natürlich steht hier die medizinische Komponente im Vordergrund. Aber es gibt ergänzend ganz niedrigschwellige Maßnahmen, die jeder selbst durchführen kann. Kennen Sie diese kleinen Handventilatoren? Die kommen in unseren Kursen auch zum Einsatz. Mit solch einfachen Mitteln zeigen wir: Jeder kann selbst etwas tun, um die Lebensqualität in der letzten Phase zu verbessern. Das Entscheidende ist: Menschen brauchen Menschen.
Nach dem Tod kommt die Trauer. Was besprechen Sie zum Thema Abschied nehmen?
Das Abschiednehmen und Trauern bildet den letzten Teil des Kurses. Wir erläutern, dass jeder Mensch anders trauert, sich dafür die Zeit nehmen sollte, die er benötigt und geben auch hier Hinweise auf die verschiedenen Unterstützungsmöglichkeiten, die es gibt. Wir Malteser in Hamburg bieten zum Beispiel individuelle Trauerberatung an. Auch Gruppentreffen oder besondere Aktionen wie Trauercafés, gemeinsames Kochen, Spaziergänge, Wanderungen und Kindertrauergruppen stehen auf unserem umfangreichen Programm. ■
Text und Foto: Sabine Wigbers
Letzte Hilfe Kurse
Der nächste Letzte Hilfe Kurs der Malteser Hamburg findet am 5.9.2024 statt. Infos unter: www.malteser-hamburg.de
Die Kurse finden bundesweit statt, nicht nur durch die Malteser. Termine finden Sie unter: www.letztehilfe.info
Was gibt Ihnen Selbstvertrauen?
„Selbstvertrauen habe ich schon früh von meinen Eltern mit auf dem Weg mitbekommen, sie haben mir beim Tun und Handeln Freiheiten gelassen, bei Unsicherheiten zur Seite gestanden und mir das Gefühl gegeben, ich bin gut so, wie ich bin. Heute wird mein Selbstvertrauen durch meine Arbeit, die unterschiedlichen Begegnungen mit Menschen, meist am Lebensende, bestärkt. Neues auszuprobieren, selbst an Grenzen zu stoßen und daraus zu wachsen. Meine Familie und mein eigenes Pferd geben mir dabei sehr viel Kraft und Energie.“
Wir sind Bestatterinnen & ‘Seelen-Hebammen’ Liebevolle Begleitung ist unser Herzensanliegen
Bundesweit mobiles Bestattungsunternehmen
Bestattung&Begleitung in Frauenhänden
Ajana Holz & BARKE-Team Büro mobil www.die-barke.de info@die-barke.de
Svenja Jacobsen svenja.jacobsen@ malteser.org
Malteser Hilfsdienst e. V.Hospiz-Zentrum Bruder Gerhard www.malteserhamburg.de hospiz-zentrum. hamburg@ malteser.org
Vertrauen und Eigenverantwortung
Sicherheitsbeamter in der Forensisch-Psychiatrischen
Auswirkungen
von Sicherheitsdiensten auf das Sicherheitsgefühl des Pflegedienstes
Miro Barp
Der Einsatz von Sicherheitsdiensten kann das Sicherheitsgefühl von Pflegekräften verbessern. Unser Autor stellt die Ergebnisse einer entsprechenden Studie aus der Schweiz vor.
Weltweit sehen sich Mitarbeitende des Gesundheitswesens, insbesondere die Pflegefachkräfte, zunehmend Aggressionen seitens der Patient:innen ausgesetzt. Das oft aggressive Klima wirkt sich ungünstig auf die Arbeitszufriedenheit des Pflegefachpersonals aus und hat vermehrte Personalfluktuation zur Folge. Darauf reagieren die betroffenen Einrichtungen unter anderem durch das Engagement von Sicherheitsdiensten. Im Rahmen einer Untersuchung konnte gezeigt werden, dass das Sicherheitsgefühl des Pflegefachpersonals durch den Einsatz eines Sicherheitsdienstes dann verbessert werden kann, wenn zwischen dem Pflegefachpersonal und dem Sicherheitspersonal ein Vertrauensverhältnis besteht
und wenn sowohl Kompetenzen als auch Verantwortlichkeiten klar geregelt sind.
Sicherheitsdienst und Sicherheitsgefühl
Ziel der Studie war es, zu beschreiben, wie die Pflegefachpersonen den Sicherheitsdienst wahrnehmenund welchen Einfluss er auf ihr Sicherheitsgefühl hat. Die Datensammlung erfolgte in semistrukturierten Interviews, die entlang eines Leitfadens mit Pflegefachpersonen und sozialpädagogischen Mitarbeitenden im Zentrum für Forensische Psychiatrie Stationär (ZFPS) der Psychiatrischen Dienste Aargau AG (PDAG) durchgeführt wurden. Dabei handelt es sich um die größte nichtuniversitäre forensisch-psychiatrische Klinik der Schweiz. Sie verfügt über 75 Betten für Krisenintervention von Patient:innen im Strafvollzug sowie für den Vollzug von Maßregeln bei psychisch kranken Straftätern.
Interviewt wurden elf Pflegefachpersonen und vier sozialpädagogische Mitarbeitende (n=15), wovon 13 weiblichen und zwei männlichen Geschlechts waren. Dies entsprach in etwa dem Geschlechterverhältnis des Stationspersonals. Die jüngste Teilnehmende war 22 Jahre und der älteste 62 Jahre alt.
Dreh- und Angelpunkte
Im Verlauf der Studie kristallisierten sich vier Kategorien heraus, die sich als entscheidend für eine hilfreiche Zusammenarbeit zwischen dem Pflegefachpersonal und den Sicherheitskräften einer (forensisch-)psychiatrischen Klinik erwiesen haben.
1. Sicherheit – Sicherheitsgefühl
Unter Sicherheit verstehen wir das objektive Geschütztsein vor Gefahren. Als Sicherheitsgefühl bezeichnen wir das subjektive Empfinden des Geschütztseins. Die Ergebnisse zeigen, dass die Begriffe Sicherheit und Sicherheitsgefühl für die Teilnehmenden nicht deckungsgleich sind. Das subjektive Sicherheitsgefühl spiegelt nicht zwingend ihre objektive Gefährdungslage (das Risiko, Gewalt an Leib und Leben zu erfahren) wider.
„Das
subjektive Sicherheitsgefühl spiegelt nicht zwingend die objektive Gefährdungslage
wider.“
Vom Sicherheitsdienst erwarten die Teilnehmenden, dass er beides vermittelt: sowohl eine Verbesserung des Sicherheitsgefühls (das zur Verbesserung ihrer Arbeitszufriedenheit beiträgt) als auch eine Erhöhung der realen Sicherheit (die eine Kernaufgabe der forensisch-psychiatrischen Station ist). Viele Teilnehmende weisen darauf hin, dass bereits die schlichte Anwesenheit eines Sicherheitsdienstes das Sicherheitsgefühl der Pflegefachpersonen verbessert. Außerdem wird festgestellt, dass die Anwesenheit des Sicherheitsdienstes auf die Patient:innen auch dann einen deeskalierenden Einfluss ausübt, wenn sie
nicht zum Einsatz kommen. Damit wird die Sicherheit der Pflegefachpersonen präventiv verbessert.
Eine Teilnehmende äußerte sich dazu wie folgt: „Ja, zum Beispiel, wenn Maßnahmenpatienten gerade angespannt sind und ich sie nicht einschätzen kann, einfach, dass sie anwesend sind, sie müssen – dumm gesagt – gar nichts groß machen, aber die Präsenz wirkt schon mega viel, auch – ich habe das Gefühl – auch bei den Patienten, also, wenn der Sicherheitsdienst dabei ist, dann machen sie eher das, was man verlangt, als wenn der Sicherheitsdienst nicht da ist.“ Diese Aussage zeigt, dass sich die Pflegefachpersonen dank des verbesserten Sicherheitsgefühls angstfrei ihren Kernaufgaben zuwenden können.
2. Vertrauen
Im allgemeinen Sprachgebrauch verstehen wir unter Vertrauen das subjektive Gefühl, dass eine andere Person aufrichtig, nach bestem Wissen und Gewissen handelt (Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit). Aus den Interviews geht hervor, dass sich eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Pflegefachpersonen und Sicherheitskräften nur auf der Basis eines gegenseitigen Vertrauens entwickeln kann. Vertrauen wird von den interviewten Pflegefachpersonen als eine Art Vorleistung verstanden, die Voraussetzung für eine gelingende Kooperation ist. Zwischen den in der Psychiatrie sozialisierten Pflegefachpersonen und den von außen kommenden Sicherheitsleuten ist Vertrauen nicht selbstverständlich, sondern muss zu Beginn der Zusammenarbeit aufgebaut werden.
Eine Wirkung des Vertrauens ist, dass die Notwendigkeit von Kontrollen teilweise entfällt. Aus Sicht der Teilnehmenden wird das notwendige Vertrauen durch Gespräche und gemeinsame Erlebnisse aufgebaut. Je besser sich Pflegefachpersonen und Sicherheitsfachleute kennen, desto eher entsteht eine vertrauensvolle Beziehung. Eine Pflegefachperson drückt dies wie folgt aus: „Ich denke, zum Teil tut auch der Austausch gut miteinander, (...) wenn man sich ein bisschen kennt, ich habe das Gefühl, das trägt schon noch dazu bei, wenn man auch vielleicht gewisse Situationen auch miteinander erlebt hat, man hat sicher mehr Vertrauen zu jemanden, ja, der einem bekannt ist.“ Aus Sicht und der Erfahrung der Teilnehmenden ist Vertrauen das Fundament der Zusammenarbeit. Es entsteht vor allem durch informelle
Schwerpunkt:
Begegnungen und gemeinsame Erlebnisse, also indem man sich durch persönliche Kontakte gegenseitig kennenlernt.
3. Schnittstellenarbeit
Die Aussagen in der Kategorie „Schnittstellen“ belegen, dass die vom Sicherheitsdienst geschaffene Sicherheit die pflegerischeArbeit nicht behindern darf. Unter Schnittstellenarbeit verstehen wir hier das Management von Problemen an Transferpunkten, die durch die Arbeitsteilung zwischen Sicherheitsdienst und Pflegedienst entstehen.
„Zwischen den in der Psychiatrie sozialisierten Pflegefach-
personen und den von außen kommenden Sicherheitsleuten ist Vertrauen nicht selbstverständlich.“
Die Einführung eines klinikinternen Sicherheitsdienstes führt dazu, dass Pflegefachpersonen einen Teil der Aufgaben, für die sie früher selbst verantwortlich waren (etwa Deeskalation von aggressiven Patient:innen), abgeben können und müssen. Das kann insofern zu Friktionen führen, als Sicherheitsfachleute ganz anders sozialisiert sind als Pflegefachleute und sich die Zuständigkeit dieser beiden Professionen nicht messerscharf voneinander trennen lässt. Die Veränderungen von Kompetenzen und Verantwortlichkeiten kann zu einer Verunsicherung der Pflegefachperson führen.
In diesem Zusammenhang betonen die Pflegefachpersonen, dass sie ihre Verantwortung nie vollständig abgeben. Eine interviewte Pflegefachperson drückt sich so aus: „Sagen wir es so, ich persönlich gebe die Verantwortung nie zu 100 % ab. Also auch wenn ich mit dem Sicherheitsdienst in der Situation bin – ich gebe nie zu 100 % an den Sicherheitsdienst ab und sage, die schauen dann schon für mich. (...) Das hat aber nichts mit einem Misstrauen zu tun, ich ticke halt einfach so, oder. Ich kann das
nicht einfach die Kontrolle 100-prozentig abgeben. Weil, ich habe ja ein Stück auch noch Eigenverantwortung über meine Person, oder, ja.“
4. Mitwirkung bei Zwangsmaßnahmen
Abb. 1: Sicherheit in der Interaktion zwischen Sicherheitsdienst und Pflegedienst
Unter der Mitwirkung des Sicherheitsdienst bei Zwangsmaßnahmen verstehen wir, dass die Sicherheitsfachleute die Sicherheit der Pflegefachpersonen bei Maßnahmen im Zwangskontext gewährleisten und die Pflegefachpersonen bei ihrer Arbeit unterstützen. Die Durchführung von Zwangsmaßnahmen, zu denen Zwangsmedikationen bei fremd- und selbstgefährdenden Patient:innen, aber auch freiheitsbeschränkende Maßnahmen wie Fixierungen und Isolation gehören, sind Kristallisationspunkte der Zusammenarbeit von Pflegefachpersonal und Sicherheitspersonal. Es handelt sich um medizinisch indizierte Handlungen, bei denen Pflegefachpersonen besonders häufig Gewalt durch Patient:innen ausgesetzt sind. So kommt es zu einer engen Verzahnung der Aufgaben des Pflegefachpersonals und des Sicherheitspersonals.
Als besonders hilfreich bezeichnet eine Teilnehmende die Unterstützung des Sicherheitsdienstes bei Behandlungen im Zwangskontext. Sie drückt das so aus: „Alsoim Umgang mit aggressiven Patienten wirklich, wenn es um eine Zwangsmaßnahme ging oder eben ein schwieriges Gespräch, schlechte Mitteilungen also wirklichin den hoch angespannten Situationen, dass sie dann vor Ort waren.“
Eine Gefährdung ihrer persönlichen Sicherheit erleben die Pflegfachpersonen auch dann, wenn sie bei Patient:innen persönlich Hand anlegen müssen, zum Beispiel bei Leibesvisitationen und Fixierungen. In solchen Situationen beschreiben sie die Unterstützung durch den Sicherheitsdienst ebenfalls als hilfreich. Das zeigt sich in dieser Aussage zu ihren Erwartungen an den Sicherheitsdienst: „Schutz, präsent (...) – gerade jetzt in einer IVZ-Situation (Zwangsbehandlung im „Intensiv-Pflegezimmer“, Anm. d. A.), wie aber auch wenn es jetzt darum geht einen Patienten (zu, Anm. d. Red.) filzen (Leibesvisitation) müssen bei einem Eintritt etc.“
Eigene Darstellung.
Interaktion in der erfolgreichen Zusammenarbeit
Abbildung 1 stellt den Zusammenhang zwischen Sicherheit – Sicherheitsgefühl, Vertrauen, Schnittstellenarbeit und Mitwirkung bei Zwangsmaßnahmen in der Zusammenarbeit des Sicherheitsdienstes und des Pflegedienstes dar. Sicherheit ist das Produkt des Sicherheitsdienstes zugunsten des Pflegedienstes und somit die Basis der Zusammenarbeit (siehe dicker blauer Pfeil) zwischen diesen beiden Diensten. Die angebotene Sicherheit steht in Wechselwirkung mit dem Sicherheitsgefühl der Pflegefachpersonen. Mehr Sicherheit bedeutet ein höheres Sicherheitsgefühl. Umgekehrt können sich sicherfühlende Pflegefachpersonen ihre Arbeit professioneller verrichten und somit ihrerseits einen Beitrag an die Sicherheit leisten. Weiterhin besteht eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem Sicherheitsgefühl und dem Vertrauensverhältnis zwischen den Pflegefachpersonen und den Sicherheitsmitarbeitenden.
Sowohl der Sicherheitsdienst als auch der Pflegedienst schaffen die Voraussetzungen dafür, dass ein solches entsteht (siehe grüne Pfeile im Schema). Wesentliche Voraussetzung für das Entstehen eines Vertrauensverhältnisses ist eine professionelle Schnittstellenarbeit beider Dienste, die wiederum das gegenseitige Vertrauen verbessert (graue Pfeile in der Grafik stellen die klare Abgrenzung von Verantwortung und Kompetenzen dar). Nur dann, wenn die Schnittstellen geregelt sind, kön-
nen Maßnahmen im Zwangskontext („Zwangsmaßnahmen“) professionell und sicher durchgeführt werden.
Feuerprobe Zwangsmaßnahmen Für die Pflegefachpersonen sind gegenseitiges Vertrauen und sorgfältige Schnittstellenarbeit die unverzichtbare Basis für eine hilfreiche Zusammenarbeit mit dem Sicherheitsdienst. Als Dreh- und Angelpunkt der Zusammenarbeit von Pflegefachpersonen und Sicherheitsfachleuten wird die Behandlung im Zwangskontext genannt. Bei diesen manifestieren sich Stärken und Schwächen des Sicherheitskonzepts einer Klinik in besonderer Weise. Wenn Pflegefachpersonen bei den belastenden Behandlungen im Zwangskontext durch einen Sicherheitsdienst unterstützt werden, fühlen sie sich sicherer und können ihrem Kernauftrag angstfrei nachgehen. Der Sicherheitsdienst sollte gemäß den Forschungsergebnissen nicht ausgelagert, sondern intern organisiert werden. Weitere Forschung könnte sich damit beschäftigen, in welchem Maß ein Sicherheitsdienst die Zahl der Gewaltzwischenfälle in einer Klinik zu verringern vermag und ob sich dadurch die Personalfluktuation in einer Klinik reduzieren lässt. Generell gibt es im internationalen Umfeld nur vereinzelt Studien, welche die Sicherheitsorganisation in Gesundheitseinrichtungen zum Gegenstand haben. ■
Die Literatur zum Text finden Sie unter www.mabuse-verlag.de
Was gibt Ihnen Selbstvertrauen?
„Selbstvertrauen schöpfe ich aus meiner Lebenserfahrung aus Beruf, Militär, Sport und ehrenamtlicher Tätigkeit. Voraussetzung dafür ist meine Kindheit und Jugendzeit in einer stabilen Gesellschaft.“
Miro Barp arbeitet seit über 37 Jahren in der Psychiatrie im Schweizerischen Kanton Aargau. Er hat berufsbegleitend Pflege- und forensische Wissenschaften studiert. Heute leitet er den Sicherheitsdienst einer Klinik. Er ist CoAutor des „Forensiklexikons“ und nebenberuflich als Dozent tätig.
Wie ist es, in Ihrer Familie Kind zu sein?
Elternkompetenzen von Menschen mit psychischen Erkrankungen stärken
Katrin Herder und Regine Groß
Eltern mit der Erfahrung psychischer Krisen unterscheiden sich in vielen Punkten nicht von allen anderen Eltern. Sie wünschen sich, dass es ihren Kindern gut geht, dass diese in der Schule klarkommen und Freunde finden, dass sie eine gute Ausbildung absolvieren und als Erwachsene mit der eigenen Familie und dem Beruf glücklich werden.
Eltern ist daran gelegen, Kinder in ihren Bedürfnissen nach Existenz, sozialer Bindung, Verbundenheit und Wachstum zu unterstützen (Brazelton/Greenspan 2002, zitiert nach Ziegenhain 2023). Sie sehen sich in ihrer Elternrolle vergleichbar mit anderen Eltern. Diese Eltern unterscheiden sich jedoch nach Erfahrungswerten in einigen Punkten von gesunden Eltern: Sie stehen vor zusätzlichen Herausforderungen. Dazu gehören das eigene Krisenmanagement, gesellschaftliche Stigmatisierung und Selbststigmatisierung, Scham
und obendrein die Wahrnehmung der Elternrolle mit den dazugehörigen Erziehungsaufgaben. Aufgrund dieser Phänomene kann es zu unterschiedlich ausgeprägten Verhaltensweisen kommen. „Viele psychisch kranke Eltern gehen adäquat mit ihren Kindern um bzw. zeigen in unterschiedlichen Krankheitsphasen unterschiedlich kompetente Erziehungs- und Beziehungskompetenzen“ (Ziegenhain 2023, S. 85).
Isolation als Schutzimpuls Einige Betroffene verschweigen aus Scham ihre möglichen Einschränkungen durch eine Erkrankung im Kontakt zu anderen Eltern und Lehrer:innen. Einige vermeiden, dass ihre Kinder Freunde oder Freundinnen mit nach Hause bringen – sie können sich nicht sicher sein, sich selbst oder ihre Wohnung vorzeigbar zu präsentieren. Die betroffenen Eltern möchten ihre Kinder vor schulischer Ausgrenzung schützen. Einige Eltern nehmen an,
Foto: istockphoto.com/ljubaphoto
dass nur ihre Kinder ihre Zimmer und Schulsachen nicht aufräumen, nicht gehorchen oder Widerworte geben. Die Mütter und Väter gehen davon aus, dass dies nur ihnen geschieht, eben weil sie eine psychiatrische Diagnose haben. Da viele von ihnen nicht mit anderen Eltern über ihren Alltag mit Kindern sprechen, wissen sie nicht, dass in fast allen Familien ähnliche Themen für Auseinandersetzungen sorgen.
Manche Mütter sind überrascht, dass zu bestimmten Zeiten im Leben ihrer Kinder Abgrenzung gegenüber den Eltern eine wichtige Aufgabe ihrer Heranwachsenden darstellen. Viele der Eltern sehen sich nicht in der Lage, den emotionalen Druck einer Auseinandersetzung mit ihren Kindern auszuhalten. Es kann geschehen, dass sie mit eigenen Prozessen so absorbiert sind, dass ihnen erzieherische Aufgaben, wie die Einhaltung der Familienregeln einzufordern, durchgehen (Herder/Sauter 2023). Der zusätzliche unreflektierte Konsum von Social Media-Content von Mommy- oder Daddy-Influencern, in dem häufig ein idealisiertes Bild vom Elternsein und vom familiären Zusammenleben präsentiert wird, kann Ängste und Stress bei Eltern auslösen, was wiederum eine geringere elterliche Selbstwirksamkeit bedingen kann (Oesterreich 2024).
Der tägliche Spagat
Zusätzlich zu den Herausforderungen des Eltern- oder Mutteralltags haben Eltern mit Diagnosen das Management ihrer Störung zu bewältigen: regelmäßige Arztbesuche, Medikamenteneinnahme und Apothekenbesuche, die Suche nach Psycho- oder auch Ergo- und Physiotherapeut:innen, den Kontakt zu Helfer:innen. Eltern nehmen das alles auf sich, wenn sie davon ausgehen, dass ihre Kinder davon profitieren. Falls sie jedoch im Zwiespalt zwischen den Bedürfnissen ihrer Kinder und den eigenen Managementaufgaben stehen, stellen sie häufig die Interessen der Kinder über die eigenen.
Das ist möglicherweise langfristig der Einstieg in eine dann auch plötzlich erforderliche Krisenintervention. Ihre Handicaps kommen im Kontakt mit Helfer:innen aus dem Bereich der psychiatrischen Hilfen zur Sprache – oder im Kontakt mit besorgten Angehörigen, die die erzieherischen Fertigkeiten des erkrankten Elternteils wegen der Diagnose, auch egal welcher, oder in phasenweisen Krisensituationen in Frage stellen.
Kinder, die mit ihren chronisch erkrankten Eltern zusammenleben, sind – insbesondere bei Alleinerziehenden –die ersten Ansprechpartner in beinahe jeder Lebenslage. Sie erleben hautnah die körperlichen Einschränkungen der Eltern. Sie helfen, auch bei pflegerischen Handreichungen oder emotionalen Einbrüchen und das24/7 (Metzing 2007).
Die Kinder sind immer da, Helfer:innen nur zu verabredeten Zeiten. Mütter, die mit ihrem Kind zusammenleben, haben oftmals keinen anderen nahen Ansprechpartner. So berichten sie häufig in der kleinen
Risiken und Resilienzfaktoren
Diese Kontakte mit Helfersystemen ermöglichen dann aber mitunter, einen differenzierteren Blick auf die Kinder zu nehmen. Die Familie ist immer als System zu betrachten (Wagenblass 2023), so dass die Behandlung und Beratung von Erwachsenen mit minderjährigen Kindern nie losgelöst von der Betrachtung der Elternrolle und der Einbeziehung der Kinder erfolgen sollten. Kinder, die in Familien mit mindestens einem psychisch erkrankten Elternteil leben, haben aufgrund der genetischen Disposition und der psychosozialen Belastungen ein erhöhtes Risiko, selbst eine psychische Erkrankung zu entwickeln (Bienioschek et al. 2024) und im Jugendalter auch die Angst, selbst zu erkranken (Ziegenhain 2023). Sie werden von ihren Eltern, bezogen auf ihr Verhalten, doppelt so häufig als auffällig beschrieben wie Kinder von nicht betroffenen Eltern. Studien zeigen, dass die soziale Teilhabe und die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Kinder eingeschränkt ist (Bienioschek et al. 2024). Sie können Anzeichen einer Rollenkonfusion oder Parentifizierung zeigen. Unter Parentifizierung versteht man „entwicklungsunangemessenes und übertrieben fürsorgliches Verhalten“ der Kinder, bei dem intuitiv versucht wird, das betroffene Elternteil zu erfreuen, um dessen Aufmerksamkeit herzustellen und wieder emotionale Präsenz zu spüren (Ziegenhain 2023, S. 82).
Neben den möglichen Belastungen und Risiken der Kinder gehen neuere Betrachtungsmodelle aber auch auf Resilienzfaktoren, sprich personale, familiale und soziale protektive Faktoren ein (Wagenblass 2023). Ein sicheres Selbstvertrauen und
Familie von ihrem Erleben, lassen hoffentlich das Schrecklichste (wie sexuelle Übergriffe) aus, erzählen jedoch möglicherweise von ihren suizidalen Gedanken oder auch Handlungen.
Die Mutter eines Teenager-Sohns war sehr empört. Sie berichtete, dass ihr Sohn sie kontrolliere, sie inquisitorisch befrage, wenn sie zu spät komme und es nicht toleriere, dass sie „auch mal die Zeit vergesse“, wenn es gerade nett sei. Ihr war nicht präsent, dass ihr Sohn jeden Tag, wenn sie nicht zur verabredeten Zeit erschien, befürchtete, sie hätte sich etwas angetan.
Selbstbewusstsein sowie sichere Bezugspersonen in der Familie und dem erweiterten sozialen Umfeld wirken sich supportiv auf die Kinder aus (Wagenblass 2023). Sie können in familiären Systemen als Puffer in elterlichen Krisen wirken. Die individuelle Belastung der Kinder hängt demnach vom Ausmaß der Resilienz, der Ressourcen und vom Schweregrad der elterlichen Erkrankung sowie vom Vorhandensein oder dem Ausmaß einer möglichen Chronifizierung ab (Ziegenhain 2023).
Niedrigschwellige und passgenaue Hilfe
Es gibt zahlreiche Bestrebungen und Studien rund um die Thematik Kinder psychisch erkrankter und suchterkrankter Eltern. Nicht zuletzt die Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder psychisch erkrankter Eltern (BAG KipE) und der AFET-Bundesverband für Erziehungshilfe e. V. haben ausgehend aus dem Auftrag des Deutschen Bundestages klare Empfehlungen für eine bessere Versorgung der familiären Systeme von Kindern mit psychisch erkrankten Elternteilen herausgegeben. Ziel soll es sein, dass betroffene Familien, die Hilfen benötigen, diese frühzeitig, niedrigschwellig, passgenau und ohne rechtliche und praktische Schwierigkeiten bekommen. Zudem sollen die Hilfen interdisziplinär entwickelt, gesteuert und umgesetzt werden, um die Kooperation und Vernetzung der Akteure zu fördern, so der AFET-Bundesverband für Erziehungshilfe e. V. (2020).
Die Bundesrepublik verfügt über ein vielfältiges Unterstützungs- und Versorgungsangebot, dass sich aus unterschiedlichen Sozialgesetzbüchern zusammensetzt und sich von niedrigschwelligen Hilfen bis zu intensiven stationären Maßnah-
men erstreckt (Bienioschek et al. 2024). Jedoch hängt es immer noch von vielen Faktoren ab, ob die Hilfen auch bei den Familien ankommen.
Fragmentiertes Hilfesystem
Hilfen für Eltern mit körperlichen Erkrankungen wie Schlaganfall, Tumoren, Multipler Sklerose, Sinneseinschränkungen, kognitiven oder auch seelischen Behinderungen sind im SGB V (Gesetzliche Krankenversicherung) nicht dargestellt. Eltern müssen ihre erzieherische (In-) Kompetenz erklären, um Hilfen nach dem SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) zu erhalten. Hilfen für Familien, die mit besonderen, erkrankungsbedingten Einschränkungen leben (müssen), sind in den Sozialgesetzbüchern nicht vorgesehen.
Die Bestimmung von Krankheit und damit „Normalität“ erfolgt, trotz der Definition von Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO), im Alltag von außen, von den Profis. Die WHO definiert Gesundheit als „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“ (WHO 1986).
Die Fragmentierung möglicher Hilfen für Familien mit medizinischen Diagnosen in die einzelnen Sozialgesetzbücher Krankenversicherung, Jugendhilfe und Sozialhilfe ist hier eher hinderlich denn hilfreich. Studien zeigen, dass Familien deren Kinder eher weniger belastet sind, primär Hilfen nach dem SGB V (etwa psychologische Hilfe) nutzen. Familien, in denen die Kinder stärkere Auffälligkeiten zeigen, nutzen auch hochschwelligere Hilfen nach dem SGB VIII (Bienioschek et al. 2024).
Die ganze Familie einbeziehen An das Versorgungssystem der Erwachsenenpsychiatrie nach dem SGBV sind in allen Bereichen, ob ambulant, teilstationär oder stationär, immer auch Eltern und somit Familien angebunden. Diese Erkenntnis findet noch nicht in allen Behandlungs- und Unterstützungssettings die gebührende Aufmerksamkeit. Das Thema gewinnt erst langsam an Bedeutung in der medizinischen Therapie.
Eltern – oder besser Familien – mit elterlichen Diagnosen benötigen möglicherweise Hilfen auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichem Ausmaß. Die Erwachsenen können Unterstützung bei der Bewältigung ihrer Einschränkung
und der Auseinandersetzung mit ihrer Erkrankung erfahren. Als Eltern können sie sich ohne negative Be- oder Verurteilung über die Auswirkungen ihrer häuslichen Situation auf den Alltag ihrer Kinder beraten. Sie können lernen, wie die Welt durch die Brille ihrer Kinder aussieht und ihreKinder in deren Bewältigung unterstützen.
Elternschaft
im Behandlungskontext
Mitarbeitende im Gesundheitswesen und im Speziellen in der psychiatrischen Arbeit sind gefordert, Schwierigkeiten im System Familie zu erkennen, zu diagnostizieren, anzusprechen und einen gegebenenfalls vorliegenden Unterstützungsbedarf und im äußersten Falle eine Kindeswohlgefährdung zu eruieren. Hierzu ist es wichtig, bereits bei der Aufnahme von Patient:innen in die psychiatrische Behandlung differenziert zu hinterfragen, ob es minderjährige Kinder gibt und ob diese im elterlichen Haushalt leben.
Des Weiteren müssen die häuslichen Versorgungssysteme differenziert hinterfragt werden, nicht zuletzt bei stationären Aufenthalten. Nicht nur die existenzielle Versorgung der Kinder hinsichtlich Nahrung und Körperpflege gilt es zu betrachten. Auch und gerade die emotionalen Bedürfnisse der Kinder müssen anvisiert werden. „Wie ist es, in Ihrer Familie Kind zu sein?“, „Wie geht es Ihren Kindern mit Ihrer Erkrankung?“ Die Anamnese der familiären Situation darf kein Zufallsbefund sein, sondern bedarf einer systematischen Erfassung aller am Patienten tätigen Berufsgruppen.
Gerade bei längeren stationären Aufenthalten und der damit einhergehenden Abwesenheit der Eltern in der häuslichen Umgebung brauchen die Kinder eine verlässiche Bezugsperson und Ansprechpartner:innen, um über ihre Fragen zu sprechen. Informelle Unterstützung durch Familie und Freunde stellt den größten Teil an genutzten Hilfen von psychisch erkrankten Eltern dar (Bienioschek et al. 2024). Dafür ist es elementar, eine Vertrauensbasis herzustellen, die enttabuisiert und die Eltern befähigt, geeignete Hilfen in Anspruch zu nehmen, um die Erziehungskompetenz zu stärken und die Bedürfnisse der Kinder zu fokussieren.
Ängste und Vorurteile hindern Eltern an der Inanspruchnahme von Leistungen (Bienioschek et al. 2024). So sind Eltern
Allerdings überschätzen Eltern mit psychiatrischen Diagnosen oftmals auch die „Macht“ ihrer Kinder. In ihrem Erleben und den Beschreibungen erscheinen ihnen die Kinder riesig von Gestalt und übermächtig in Sprache und Handlung. Lernt man die Kinder kennen, kann der oder die Riesin zu einem freundlich lächelnden Grundschulkind im Zahnwechsel schrumpfen. Eltern mit depressiven Verstimmungen dagegen neigen dazu, ihre Kinder durch ihre eigene „Schwarze-Hund-Brille„ zu betrachten, ihre Beschreibungen sind getrübt durch ihr elendiges Empfinden. Es fällt ihnen schwer, positive Eigenschaften ihrer Kinder zu benennen, ihre Kinder unabhängig von der eigenen Stimmungslage zu beschreiben und wahrzunehmen.
zur Herstellung einer Arbeitsbeziehung auch als Eltern anzusprechen und nicht auf ihre psychiatrische Diagnosen zu reduzieren, die stets unterschiedliche Ausprägungen und Schweregrade haben (Ader 2024), und somit auch auf ihre Pflichten hinzuweisen. Bestehende Angebote im Behandlungskontext sollten das Thema der Elternschaft miteinbeziehen und von allen Berufsgruppen mitgedacht werden. So können und sollten Einzel- und Paargespräche mit Bezugspflegenden oder Therapeut:innen, Zielgespräche, Krisenpläne, Skillstrainings sowie das Soziale Kompetenztraining auch die Komponente der Elternschaft beeinhalten. Elterngesprächsgruppen mit Themen rund um die Wahrnehmung der elterlichen Rolle trotz psychischer Erkrankung können die SelbstEntstigmatisierung fördern und den Selbsthilfeeffekt fördern. Die Notwendigkeit des Zurateziehens von Akteuren aus anderen Hilfesystemen, wie der Kinder- und Jugendhilfe, der Eingliederungshilfe oder poststationärer Anlaufstellen, sollte besprochen werden.
Die Kinder einbeziehen Eine wohlwollende und offene Haltung der Helfer:innen gegenüber Familien mit Eltern mit Diagnosen setzt den Ton der Gespräche. „Wie ist es, wenn Deine Mutter/ Dein Vater besonders ist?“ ist das Pendant für Kinder zur Frage an die Eltern. Diese Frage können alle Kinder beantworten, meist mit einem kleinen Blick zum betreffenden Elternteil – ob sie die Frage offen
beantworten dürfen. Die Kinder sind vor allem loyal. Sie öffnen sich, wenn sie den Eindruck gewinnen, dass auch ihre Eltern in ihrer Besonderheit angenommen werden.
Die Beschreibungen sind in der Regel präzise und oft überraschend. Sie können als Grundlage weiterer Gespräche dienen, die gemeinsam oder auch getrennt mit Eltern und Kindern geführt werden können. Ein Junge beantwortete die Frage nach der Besonderheit der Mutter nach einem kryptischen Blick in die Kiste mit Handpuppen: „Nee, da ist nichts bei, wie die Mama ist, wenn sie besonders ist.“ Auf Nachfrage erzählte er: „Sie ist dann wie ein riesiger schwarzer Drache mit drei Köpfen. Der große Kopf schreit und spuckt Feuer, der mittlere weint und der allerkleinste lacht.“
Für Eltern ist oft nicht vorstellbar, wie bescheiden und basal die Wünsche der Kinder an sie sind: die Kinder wollen mit ihren Eltern spielen, mit ihnen plaudern und gemeinsam unbeschwerte Zeit erleben.Es kann eine Aufgabe der Helfer:innen sein, die Eltern dabei zu unterstützen – denn so einfach ist es für die Eltern doch nicht immer.
Vernetzung überwindet Grenzen
In der gemeindepsychiatrischen Arbeit (SGB XII) mit Eltern mit Diagnosen können Eltern wie Helfer:innen an persönliche wie institutionelle Grenzen stoßen, aber auch in professionellen Netzwerken Unterstützung erfahren, je nach regionalen Gepflogenheiten. In Kommunen, die sich in bereichsübergreifenden Netzwerken wie zum Thema Kinder und Jugendliche mit psychisch erkrankten Eltern, Kinderschutz und/oder Gewalt- Prävention organisieren oder auch gemeinsame Fortbildungen veranstalten, sind die Wegezwi-
„Mama ist dann wie ein riesiger schwarzer Drache mit drei Köpfen. Der große Kopf schreit und spuckt Feuer, der mittlere weint und der
aller-
kleinste lacht.“
schen den Institutionen gebahnt. Im Idealfall können die Hilfen für Familien den individuellen Bedarfen angepasst werden, statt die institutionellen Einschränkungenzu wahren.
Die ersten Ansprechpartner:innen der Familien im Hilfesystem können eine Art Lotsenfunktion einnehmen und Kinder, Jugendliche und ihre Eltern durch den Dschungel der Institutionen begleiten. Beispielsweise können psychiatrische wie Jugendhilfekolleg:innen in diesen Familien zusammenarbeiten. Wünschenswert wäre darüber hinaus eine gemeinsame Einschätzung in Krisensituationen. Produktiv erweist sich ebenfalls ein kurzer Draht zu den Kolleg:innen der Wohlfahrtsverbände und dem Jugendamt, die ausgebildet sind, Gewalt in Familien einschätzen zu helfen. Entscheidungen dieser Qualität sollte keine Helfer:in allein treffen müssen, eine anonyme Beratung nach § 8 b des Jugendschutzgesetzes ist dort möglich. Ein großer Teil der gemeindepsychiatrischen Arbeit mit Eltern mit Diagnosen besteht im „Übersetzen“, im Verständlich machen für das Gegenüber (und die Eltern selbst). Dazu zählt auch, mit Eltern und Kindern eine der Familie angemessenen Sprache zu finden, in der sie sich über Gefühle und Befindlichkeiten austauschen können, ohne in psychiatrische Fachsprache oder Entwertungen zu verfallen. Eltern wie Kinder können beispielsweise Kinderbücher zum Thema als Vorbild nehmen –oder sie lesen sie zusammen. „Wie ist es, in Ihrer Einrichtung ein Elternteil mit körperlichen, kognitiven oder seelischen Besonderheiten zu sein?“ ist die Frage, die sich die Institutionen stellen können. ■
Die Literatur zum Text finden Sie unter www.mabuse-verlag.de
Herder
Was gibt Ihnen Selbstvertrauen?
„Wenn ich ‚ein Etwas‘ so durchdrungen habe, dass ich spielerisch damit umgehen kann. Und manchmal wache ich morgens so auf.“
Katrin Herder ist Pflegewissenschaftlerin MScN, Fachkrankenschwester für Psychiatrie, Lehrende für Systemisches Arbeiten (SG) und hat 15 Jahre in der Beratung von Kindern, Jugendlichen und ihren psychisch erkrankten Eltern gearbeitet. Foto: Maxine
Foto: Jutta Westerkamp
„Meine Familie und meine Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, die ich im Leben gemacht habe.“
Regine Groß ist Bachelor of Arts Psychiatrische Pflege Gesundheits- und Krankenpflegerin.
Gewalt im Alter
Ein vermeidbares Problem
Rolf D. Hirsch
Im Alter nimmt nicht nur die Sorge vor gewalttätigen Übergriffen, sondern auch deren Wahrscheinlichkeit zu. Unser Autor zeigt, wie es dazu kommt und welche vorbeugenden Maßnahmen ergriffen werden können.
Jeder Mensch dürfte in seinem Leben schon einmal Gewalterfahrungen gemacht haben und die Gefühle, Opfer und wehrlos zu sein, kennen. Natürlich ist keiner für Gewalt und dennoch dürften die meisten Menschen in ihrem Leben schon einmal „Täter“ gewesen sein.
Gewalt gegen alte Menschen, insbesondere gegen hilfe- und schutzbedürftige Menschen, ist zwar verpönt – wird sie bekannt, haben häufig das soziale Umfeld und die Kontrollorgane (Heimaufsicht, medizinischer Dienst, Gerichte) im Vorfeld „nichts bemerkt“. Allerdings sind Opfer auch beschämt, dass ihnen das passiert ist und sie holen sich keine Hilfe. Gewalthandlungen werden auch – insbesondere in Institutionen – vertuscht, als „Einzelfälle“ verharmlost oder totgeschwiegen.
Gewalt tritt subtil, aber auch offen, besonders gegen auf Hilfe angewiesene Menschen, auf.
Die Verletzlichkeit des alten Menschen
Einzubeziehen beim Verstehen des Phänomens Gewalt gegen alte Menschen sind altersspezifische Aspekte wie Verringerung von körperlicher, kognitiver und sozialer Mobilität, Beeinträchtigung der Sinne, Verlust sozialer Kontakte und Multimorbidität sowie die Angst vor Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit. Ist auch jeder Mensch permanent verletzlich „durch Handlungen anderer, seine Verletzungsoffenheit, die Fragilität und Ausgesetztheit seines Körpers, seiner Person“ (Popitz 1992, S.43ff.), so ist die Verletzlichkeit, Vulnerabilität und Anfälligkeit beim alten Menschen erhöht. Meistbesteht auch eine Beziehungs-Asymmetrie (alter Mensch – junger Mensch; Helfer:in – Hilfsbedürftige:r; körperliche Überlegenheit).
Verbunden mit reduzierten Leistungs-, Kompensations-, Restitutions- und Abwehrreserven bestehen beim alten Menschen „eine erhöhte An-
Foto: www.martinglauser.ch
fälligkeit und Verwundbarkeit, mithin das deutliche Hervortreten von Schwächen, meint verringerte Potenziale zur Abwehr, Kompensation und Überwindung körperlicher und kognitiver Schwächen“ (Kruse 2017, S.4). Zudem tritt eine deutlich erhöhte Anfälligkeit für Erkrankungen und funktionelle Einbußen auf sowie eine psychosoziale Verletzlichkeit (Emotion, Verhalten). Im Kontext psychosomatischer Vorgänge kann sich etwa die Reizbarkeit erhöhen, die Frustrationstoleranz verringern und im Zusammenspiel mit einer körperlichen Erkrankung erhebliche Auswirkungen haben. Besonders verletzlich sind Menschen mit einer schweren körperlichen Einschränkung oder einer psychischen Störung (z.B. Demenz oder Depression). Trotz hoher Verletzlichkeit können dennoch bemerkenswerte Potenziale vorhanden sein wie etwa psychische Widerstandsfähigkeit und Lebensweisheit. Die Spannbreite der individuellen Unterschiede ist sehr groß.
„Gewalt gegen alte Menschen ist zwar im öffentlichen Raum seltener, jedoch im häuslichen Bereich und in Institutionen häufiger vorzufinden als man glaubt. Mit kleinen – meist verbalen –Grausamkeiten kann sie beginnen und bei Tätlichkeiten enden.“
Gewalt: Ein komplexes Phänomen
Eine Gewalthandlung ist ein akuter oder chronisch verlaufender dynamischer Prozess, der meist eine Vorgeschichte hat. Jede Situation, in der eine Gewalthandlung gegen einen alten Menschen auftritt, ist komplex und wird von vielen Faktoren, die sich gegenseitig verstärken können, beein-
flusst. Oft entscheiden die individuelle aktuelle Situation, die Räumlichkeit, die emotionale Verfassung der Betroffenen, die jeweils möglichen Handlungszwänge oder die Einengung der vorstellbaren Handlungsmöglichkeiten mit, ob es zu einer Gewalthandlung kommt. Anwesende Dritte können durch ihr Tun oder Nicht-Tun eine kritische Situation erheblich beeinflussen. Auch wenn der Begriff „Gewalt“ leicht zur Skandalisierung verführt, „emotionalisiert, Angst macht und politisch instrumentalisierbar ist“ (Heitmeyer/Hagan 2002, S. 21), nivellieren Bezeichnungen wie „Misshandlung“ oder „Vernachlässigung“ eher ein Gewaltgeschehen. Um das, was unter Gewalt zu verstehen ist, einzugrenzen, halte ich folgende Aspekte zum Verständnis für hilfreich:
—Gewalt (i. S. v. „vis“, „violentia“) ist eine elementare destruktive, intrapsychische, dominante und einengende Kraft, die alternative Handlungsmöglichkeiten verunmöglicht, eine Grenzüberschreitung gegenüber einem anderen bedeutet, rechtswidrig ist und körperlich, psychisch oder sozial verletzt.
—Sie entsteht lebensgeschichtlich individuell unterschiedlich aus unbewältigten bzw. nicht ausreichend bewältigten psychosozialen Krisen, Fantasien, Bedürfnissen und Gefühlen sowie meist frühkindlichen Beziehungsstörungen.
—Sie führt zu Einschränkung, Schädigung, Leid und Schmerz einer anderen Person. Befriedigt werden soll ein narzisstisches Unterwerfungsbedürfnis („Gehorsam“), das den Willen von „Täter:innen“ durchsetzen und den Widerstand von „Opfern“ brechen will. Um dies zu erreichen bzw. zu erzwingen, ist jedes Mittel recht.
—Gewalt gegen alte Menschen kann ermöglicht werden durch eine asymmetrische Beziehung (alt–jung/Hilfeabhängige:r–Helfer:in), durch eine größere Verletzbarkeit und psychosozial destruktive Komponenten.
—Gewalt ist immer ein destruktiver sozio-psycho-somatischer Prozess (vgl. Hirsch 2010, Steinert/Whittington 2013).
Sehr eindringlich mahnt Gandhi (2003, S. 41): „Eine Gewalthandlung ist begrenzt und kann fehlschlagen. Gewaltlosigkeit kennt keine Grenzen und schlägt niemals fehl.“
Auftreten, Formen und Ursachen Gewalt gegen alte Menschen ist zwar im öffentlichen Raum seltener, jedoch im häus-
lichen Bereich und in Institutionen häufiger vorzufinden als man glaubt. Mit kleinen – meist verbalen – Grausamkeiten kann sie beginnen und bei Tätlichkeiten enden. Vielfältige Missverständnisse, Fehlinterpretationen und -handlungen, Ängste und Hilflosigkeit zwischen alten Menschen, ihren Angehörigen oder Fremden sowie Mitarbeiter:innen in der ambulanten und stationären Pflege und Medizin können den Weg zur Gewalt bahnen und sich interaktiv verstärken (Hirsch 2016).
Um Gewalt gegen alte Menschen erfassen zu können, bedarf es der Einbeziehung von direkter, indirekter (struktureller) und kultureller (invarianter) Aspekte (Galtung 1993, Hirsch 2016):
—Die Bereiche der direkten Gewalt gegen alte Menschen lassen sich unterteilen in körperliche, psychische, verbale und sexuelle, Freiheitseinschränkung, finanzielle Ausnutzung, Vernachlässigung und Vorenthalten (aktiv und passiv), Missbrauch von Gesetzen, Altersdiskriminierung (Kleinschmidt 1997, National Council on Elder Abuse 2009, WHO 2002).
Strukturelle (indirekte) Gewalt ist verdeckter und weniger fassbar als direkte („Schreibtischtäter:in“). Sie wirkt sich eher langsam und generalisierend aus, ohne dass eine bestimmte Person als Täter:in verantwortlich gemacht werden kann. —Kulturelle (invariante) Gewalt bezieht sich auf immanente Wertvorstellungen undkollektive Vorurteile. Beispiele sind: Ageism, Akzeptanz von Gewalt, weibliche Pflegeverpflichtung, „Sendungsbewusstsein“ der Helfer:innen, Überfürsorglichkeit und Bevormundung aufgrund des Lebensalters.
Die Ursachen für Gewalt können vielfältig sein. Meist konfluieren mehrere Aspekte destruktiv. Wolfgang Sofsky (2002, S. 174) schreibt treffend, dass Gewalt „mit Willfährigkeit oder mit Lust an der Willkür, mit Wut oder Ekel, Stolz oder Liebe, mit Gleichgültigkeit, Disziplin oder Pflichtgefühl, mit Geltungsdrang und Ehrgefühl, mit Abenteuerlust oder Langeweile, mit Berechnung, Beflissenheit oder Begeisterung“ ausgeübt werden kann. Zudem hängt es auch von der sozialen Dynamik ab, „ob einMensch rücksichtsvoll und schonend mit einem Wehrlosen umgeht, oder gleichgültig, ja grausam und sadistisch“ (Schmidbauer 1992, S. 108). Es bedarf schon einer sehr ausgeglichenen Persönlichkeit, um dem Einfluss äußerer Umstände, die eine schlummernde Bereitschaft zur Verletzung
und Schädigung eines Abhängigen wecken, zu widerstehen. Gewalthandlungen können auch als Gewohnheiten und Rituale, insbesondere in Institutionen, normativ fungieren und mit Bedeutung gefüllt werden.
Wer Gewalt verringern will, muss professionell einen Handlungsrahmen schaffen, um akut handeln und gleichzeitig auf längerfristige Veränderungen im Beziehungs- und Struktursystem hinwirken zu können.
Sicherheit
Mit zunehmendem Alter fühlen sich viele alte Menschen nicht mehr sicher und verletzlicher als früher. Es wächst Misstrauen. Zudem fühlen sie sich nicht mehr ernst genommen, haben Angst vor Einsamkeit sowie vor Gewalt im öffentlichen Raum, in der Familie oder in Institutionen. Diesen Problembereichen sind alte Menschen allerdings nicht einfach ausgeliefert, denn sie können zu ihrer Sicherheit selbst beitragen. So können sie sich intensiver um ihre körperliche, kognitive und emotionale Beweglichkeit kümmern sowie um ein stabiles soziales Umfeld. Zur Sicherheit im Alter gibt es zahlreiche Informationen und Broschüren von Kommunen, Bundesministerium, Landesministerien, Polizei- und Beratungsstellen sowie dem Weißen Ring – wie z.B. „Sicher leben im Alter“ (BMFSJ 2022), „Im Alter sicher leben“ (Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes 2023). Zudem gibt es je nach Kommune Seniorenberatungsstellen sowie die bundesweiten Krisen- und Notruftelefone und -Beratungsstellen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Krisentelefone (http://www.beschwerdestellen-pflege.de). Je nach Pflegebedürftigkeit oder Krankheitsbild (z. B. Demenz) gibt es die Stellen der Pflege- und Krankenkassen, spezifisch etwa auch die Deutsche Alzheimergesellschaft e. V., die ihre Unterstützung und Hilfe anbieten.
Beispiele für Maßnahmen zur eigenen Sicherheit:
—Möglichst selbstständig und autark bleiben(Unterstützung nur da holen, wo es unbedingt notwendig ist) und sich Neuerungen (z. B. Handy, Internet, Hilfsgeräte) anpassen bzw. neugierig auf diese Hilfen werden,
—Kontakt zu Familienangehören, Nachbarn und Bekannten (soziales Netzwerk
Gewaltprävention im Alter
oder „Telefonkette“ schaffen bzw. ergänzen) mehr schätzen als früher, —aktive Mitgliedschaft in Vereinen und ehrenamtlichen Aktivitäten zur Stärkung sozialer Kontakte und der Gesellschaft zur Verhinderung von Einsamkeit, —Teilnahme an VHS-Kursen, kulturellen und gesellschaftlichen Veranstaltungen.
—Selbstverteidigungsaktivitäten lernen und Empowerment schulen, —kontinuierliche körperliche Aktivitäten wie Wandern, Radfahren, Gymnastik und Sport zum festen Teil des Alltags machen,
—Entspannungsverfahren kontinuierlich anwenden,
—finanzielle Situation klären und optimieren,
—Informationsveranstaltungen zur Kriminalprävention der Polizei besuchen. —Trickbetrüger:innen („Enkeltrick“) und Abzockmaschen an der Haustür erkennen und Unterstützungsmöglichkeiten wahrnehmen.
—In kritischen oder unsicheren Situationen frühzeitig Hilfe holen, —nach einer erlittenen Gewalthandlung darüber sprechen und u.U. Anzeige erstatten, —frühzeitig Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht/Betreuungsverfügung sowie Testament-Abfassung erstellen, —u.U. Sicherheitssystem in Wohnung installieren, —Nutzung von Hausnotrufsystemen oder medizinischen Alarmgeräten (Armband, Druckknopf u.a.),
—Erstellen eines Notfallvorsorgeplans überwichtige Kontakte, Bezugspersonen und Medikamente, —frühzeitig bei Pflegebedürftigkeit/Unterstützungsnotwendigkeit für professionelle Hilfen und Beratung sorgen.
Beispiele für besondere Maßnahmen bei Menschen mit Demenz
Aufklären und Sensibilisieren über Demenzen und ihre unterschiedlichen Verläufe, Verständnis für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen fördern, —sicheres, freundliches und orientierungsförderndes Milieu schaffen, —Fortbildungsveranstaltungen zu diesem Themenbereich besuchen, Unterstützung von Angehörigen durch Beratung, Schulung und Entlastungsmöglichkeiten, Förderung von ehrenamtlichen Hilfen
und Einrichtungen, wie etwa der DeutschenAlzheimer Gesellschaft e.V., Intensivierung von ambulanten und hauswirtschaftlichen Hilfen im häuslichen Bereich,
Schulung der Mitarbeiter:innen in ambulanten und stationären Bereichen und Unterstützung und Beratung über barrierefreie Umwelt (im häuslichen und öffentlichen Bereich).
Ausblick
Mag auch Gewaltlosigkeit eine utopische Vorstellung sein, so gibt es doch Möglichkeiten, Gewalthandlungen in Beziehungen zu verringern. Jeder Mensch kann in seinem Umfeld hierzu seinen Beitrag leisten. Gewalthandlungen dürfen nicht als alltäglich und unvermeidbar hingenommen oder vertuscht werden. Cicero (2011, S. 77) mahnt in seiner Schrift „Cato maior de senectute“: „Achtung gebietend ist nämlich das Greisenalter nur dann, wenn ein alter Mensch sich selbst zu schützen weiß, wenn er sein Recht behauptet, wenn er sich Niemandem unterordnet, wenn er bis zum letzten Atemzug Herr über seine eigene Domäne ist.“ ■
Die Literatur zum Text finden Sie unter www.mabuse-verlag.de
Was gibt Ihnen Selbstvertrauen?
„Dass ich schon manche Krisen gut bewältigt habe und mich (fast) nichts mehr erschüttern kann. Manches Scheitern hat mir neue unverhoffte Chancen eröffnet. Humor hilft mir, mich und auch die Welt nicht zu ernst zu nehmen. Wenn ich manchmal grüble, was alles in nächster Zeit schief gehen könnte, drehe ich es um: Schlimmstenfalls wird’s gut! Ich versuche, meine Schwächen als Stärken zu erleben, die einmalig sind. Ein bisschen etwas geht immer!“
Rolf D. Hirsch
ist Prof. Dr. phil. Dr. med. und Dipl.-Psych., Arzt für Nervenheilkunde, psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker und Gerontologe. Niedergelassen in Privatpraxis und an der FAU-Universität Erlangen-Nürnberg. Präsident der Deutschen Akademie für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie, Koordinator der Arbeitsgruppe „Altern ohne Gewalt“. Interessenschwerpunkte: Heiterkeit und Humor im Alter; Aggression, Gewalt und Diskriminierung im Alter. r.d.hirsch@ t-online.de
Safewards
Ein Konzept für ein sicheres und unterstützendes Umfeld für Menschen mit Demenz in der stationären Langzeitpflege?
Hanna Batzoni und Markus Witzmann
Eine beziehungszentrierte Langzeitpflege, insbesondere im stationären Settig, stellt Pflegende oftmals vor große Herausforderungen. Unsere Autor:innen zeigen, wie dieser Prozess durch die praktische Anwendung des Safewards-Modells unterstützt werden kann.
Safewards als Konzept für ein unterstützendes Pflegeumfeld hat seinen Ursprung in der akutpsychiatrischen klinischen Versorgung; doch die Autor:innen sind der Ansicht, dass die Prinzipien und Methoden des Safewards-Modells auch im Bereich der stat. Langzeitpflege, insbesondere bei der Betreuung von Menschen mit Demenz „eine gute Chance bieten. Ziel ist, möglichst aggressions- und gewaltfreie Lebensräume für Bewohner und Bewohnerinnen, deren Angehörige sowie Mitarbeitende zu schaffen“(Auerbach et al. 2023, S. 216). Vor diesem Hintergrund ergibt sich
die Notwendigkeit, das Safewards-Modell in der stationären Langzeitpflege hinsichtlich seiner Umsetzbarkeit und Wirksamkeit genauer zu betrachten und ggf. zu adaptieren.
Die Alterung der Gesellschaft und die damit verbundene Zunahme von Menschen mit einer demenziellen Erkrankung stellen nicht nur das Gesundheits- und Pflegesystem vor Herausforderungen, sondern auch das soziale Umfeld der betroffenen Personen. „In Deutschland leben rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenz.“ (BMFSF 2022). Schätzungen zufolge wird es im Jahr 2050 über 50 % mehr Menschen mit einer demenziellen Erkrankung in Deutschland geben (ebd.).
Demenzielle Erkrankungen sind komplex, da zu ihrem Erscheinungsbild diverse „Verhaltensweisen und Handlungsmuster (...)“ gehören (Bundesministerium für Gesundheit 2021, S.1). Die kognitiven Veränderungen, die demenzielle Erkran-
kungen mit sich bringen, führen bei den betroffenen Menschen auch zu Veränderungen in ihrem Empfinden und in der Steuerung ihrer Affekte. Dies kann unmittelbare Auswirkungen auf die Sicherheit und das Wohlbefinden in Pflegesituationen haben.
Das Safewards-Modell verbindet verschiedene (gewalt-)präventive Ansätze und bietet evidenzbasierte Interventionen an, welche ein sicheres und entschleunigtes Pflegesetting schaffen sollen. Zudem soll das Safewards-Modell die Interaktion von Mitarbeitenden und Patient:innen verbessern und somit die Häufigkeit und die Intensität von herausfordernden Situationen reduzieren.
Aggressives und herausforderndes Verhalten Aggressives und herausforderndes Verhalten und die ggf. damit einhergehenden Gewaltsituationen können von jeder Person verursacht, ausgeübt und auch erlebt werden. Im Bereich der stationären Langzeitpflege umfasst dies Bewohner:innen, Mitarbeitende, An- und Zugehörige und/ oder externe Dienstleister:innen. Es gibt verschiedene Formen von Gewalt. Laut der WHO zählen darunter neben der physischen und psychischen Gewalt auch die sexuelle Gewalt, die Vernachlässigung, die Einschränkung des freien Willens und/ oder die finanzielle Ausbeutung von Menschen (u. a. Jungnitz et al. 2014). Nicht zu vernachlässigen sind auch die interne und externe strukturelle Gewalt. „Strukturelle Gewalt ist eher verdeckt und weniger fassbar als direkte Gewalt“ (Hirsch 2018, S. 6). Hierunter werden etwa Rahmenbedingungen von Einrichtungen verstanden, wie intern festgelegte institutionelle Abläufe, die Kompetenzen einschränken und Einzelpersonen oder Gruppen benachteiligen oder die von außen vorgegeben werden. Herausforderndes Verhalten kann auch als Störung der Beziehungsfähigkeit zu sich und zu anderen Personen verstanden werden. Unter Berücksichtigung professioneller Gesichtspunkte ist herausforderndes Verhalten der missglückte und oftmals sozial nicht erwünschte Versuch einer Kommunikation und somit als Beziehungsversuch zu verstehen (Wesuls 2011).
Herausforderungen bei Demenz
Menschen mit Demenz zeigen häufig Stimmungs- und Verhaltensstörungen. Etwa 76% aller Menschen mit Demenz leiden
an einer Apathie, 65% weisen ein „aberrant motor behavior“ (auf Deutsch etwa „abweichendes motorisches Verhalten“, Weissenberger-Leduc/Weiberg 2011) auf, gefolgt von Essstörungen (64%), Gereiztheit/Labilität (63%) sowie Agitation/Aggression (63%). Es sind vor allem „zwischenmenschliche Missverständnisse, Konfliktsituationen, Bewältigungsdefizite, Ängste durch Orientierungsstörungen und akustische wie optische Defizite, die zu Aggressionen und Agitation (sowie herausforderndem Verhalten) führen“ (ebd., S.12). Depressive Stimmungen und Schlafprobleme treten bei bis zu 66% bzw. 54 bis 60% aller Menschen mit Demenz auf. Ängste, Wahnvorstellungen und Halluzinationen sind bei etwa der Hälfte der Betroffenen präsent, wobei Scham und soziale Isolation mögliche Auslöser darstellen können. Es scheint wichtig zu betonen, dass Menschen mit Demenz weiterhin ein soziales Bedürfnis haben und versuchen, eine gemeinsame Realität mit den Menschen in ihrem Umfeld zu schaffen. Mit fortschreitender Erkrankung nimmt jedoch die Anpassungsfähigkeit ab und es entstehen Kommunikationsschwierigkeiten. Um Verhaltensstörungen, die aus Unsicherheit und Angst resultieren, zu reduzieren, ist es notwendig, die Umgebung den Bedürfnissen der demenzerkrankten Personen anzupassen (ebd.).
Das Safewards-Modell
Im stationären Setting – insbesondere in Einrichtungen der stationären Langzeitpflege – kann es etwa aufgrund räumlicher Gegebenheiten, etablierter Abläufe, fehlender Kompetenzen und des Zusammenseins vieler unterschiedlicher Menschen in den Wohn- und Pflegebereichen zu Missverständnissen, Stress und/oder Streitigkeiten kommen. Das SafewardsModell setzt hier an und „fasst Faktoren zusammen, die sowohl die Entstehung als auch die Eindämmung von Konflikten auf Station (jeweils Bezug nehmend auf den klinischen Ursprung des Modells, Anm. d. A.) beeinflussen“ (Bowers o. J., Löhr et al. 2023).
Das Safewards-Modell verwendet hierfür sechs Haupteinflussfaktoren:
1. Patientengruppe
2. Patientencharakteristika
3. Regulatorische Rahmenbedingungen
4. Stationsteam
5. Räumliche Umgebung
6. (Krankenhaus-)externe Faktoren
Schwerpunkt:
Abbildung 1 (S. 52) zeigt die verschiedenen Aspekte, die beeinflussen, wie oft Konflikte auf Station vorkommen und wie sie gehandhabt werden. Zudem erklärt sie, weshalb es in manchen Bereichen häufiger zu Konflikten und ihrer Bewältigung kommt, als in anderen.
Einen besonderen Fokus nehmen im Modell die Mitarbeiter-/Patientenmodifikatoren und die Krisenherde ein. Die Mitarbeitermodifikatoren sind „Eigenschaften, Handlungsweisen und Haltungen einzelner Mitarbeiter oder Teams, die sich auf den Umgang mit Patienten oder deren Umfeld beziehen sowie auf die vom Personal initiierten Interaktionen und Interventionen“ (Bowers o. J., S. 5). Die Patientenmodifikatoren sind „jene Verhaltensweisen der Patienten im Umgang miteinander, die die Häufigkeit von herausfordernden Situationen und/oder Konflikteindämmung beeinflussen können, doch auf die das Personal wahrscheinlich reagiert“ (ebd., S. 5).
„Herausforderndes Verhalten kann als missglückter und sozial nicht erwünschter
Versuch einer Kommunikation und somit als Beziehungsversuch verstanden werden.“
Krisenherde sind „die Zuspitzung von sozialen und psychologischen Situationen, die sich aus den Ursprungsfaktoren ergeben und die auf ein potenziell bevorstehendes Konfliktverhalten hindeuten“ (ebd., S. 5).
Die Autoren sind der Ansicht, dass sich das Safewards-Modell mit dem Six-Senses-Framework von Mike Nolan gut verbinden lässt. Beide fokussieren die Erfahrungen der im Setting beteiligten Zielgruppen, die Rahmenbedingungen, die in den Pflegehandlungen bereitgestellt werden, die Beziehungsgestaltung sowie die Art und Weise, wie Begegnung im Alltag auf der Station/im Wohn- und Pflegebereich erlebt wird. Beide Modelle haben das Ziel, das Wohlbefinden aller Beteiligten durch
die Förderung eines sicheren Umfeldes zu stärken.
Six-Senses-Framework und Safewards
Das Six-Senses-Framework von Nolan ist ein in der stationären Langzeitpflege „anerkanntes Modell, das einen Wechsel von einer personenzentrierten hin zu einer beziehungszentrierten Pflege beschreibt“ (Auerbach et al. 2023). Das Modell soll positive Pflegeerfahrungen für Bewohner:innen und deren soziales Umfeld fördern, indem sechs zentrale Bedürfnisse/Gefühle angesprochen werden: Sicherheit, Zugehörigkeit, Kontinuität, Intentionalität, wertvolle Leistungen bzw. Erfolg, Wertschätzung (Auerbach et al. 2023, Nolan et al. 2006) – und dadurch alle beteiligten Personen in ihrem Wohlbefinden gefördert werden.
Das Six-Senses-Framework kann im Rahmen des Safewards-Modells angewendet werden bzw. es entsprechend ergänzen, um etwa das psychosoziale Umfeld für Menschen mit Demenz in Einrichtungen der stationäre Langzeitpflege zu fördern. Dies trägt auch dazu bei, Unsicherheiten, Stress und/ oder herausfordernde Situationen zu verringern. Bewohne-
Vereinfachte
Variante des SafewardModells
Quellen
Auerbach, T./Batzoni, H./Witzmann, M. (2023): Eine neue Perspektive: Safewards in der Altenpflege. In: Löhr, M./Schulz, M./Nienaber, A.: Safewards. Sicherheit durch Beziehung und Milieu. Köln: Psychiatrie Verlag, S. 206–216. BMFSFJ (2022): Nationale Demenzstrategie. Online unter: https://kurzlinks.de/vi64 Bowers, L. (o. J.): Safewards: Ein neues Modell für Konflikte und deren Eindämmung auf psychiatrischen Stationen. Verfügbar über: https://kurzlinks.de/7j2x Bundesministerium für Gesundheit (2021): Demenz. Besondere Verhaltensweisen. Online unter: https://kurzlinks.de/a68o
r:innen, welche sich beispielsweise sicher, zugehörig und wertgeschätzt fühlt (SixSenses-Framework), zeigen wahr scheinlich weniger Ängste und Unsicherheiten, so dass die Umsetzung der Interventionen des Safewards-Modells erleichtert wird.
Möglichkeiten der Umsetzung/der Adaption des Safewards-Modells Auerbach et al. (2023) beschreiben verschiedene personelle, strukturelle und kulturelle Rahmenbedingungen in der stationären Langzeitpflege, welche „zu einer Förderung gewaltgeneigter Handlungen aufseiten der Mitarbeitenden gegen Bewohner (...) führen können“(S. 207):
veränderte Strukturen im Wohnbereich führen zu Unsicherheiten, —wenig gemeinsame Aktivitäten und/ oder Austausch mit anderen Bewohner:innen, —„wahrnehmbarer Zeitdruck beim Ausführen pflegerischer Handlungen, das Gefühl, als Bewohnerin eine Belastung zu sein, was negative Gefühle entstehen lässt“(ebd., S. 208).
Die zehn Interventionen des SafewardsModells umfassen: die Klärung gegenseitiger Erwartungen, verständnisvolle Kommunikation, deeskalierende Kommunikation, positive Kommunikation, unterstützende Kommunikation, gegenseitiges
Hirsch, R. D. (2018): Gewalt gegen alte Menschen: Wann Sie Verdacht schöpfen sollten. In: Geriatrie-Report 13(2), S. 6–8. Online unter: https://kurzlinks.de/f9rz Jungnitz, L./ Neise, M./Brucker, U./Kimmel, A./ Zank, S./Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (MDS) (Hg.). Abschlussbericht. Projekt. Gewaltfreie Pflege. Prävention von Gewalt gegen Ältere in der pflegerischen Langzeitversorgung. Verfügbar über: https://kurzlinks.de/3rwp Löhr, M./Schulz, M./Nienaber, A. (2023): Das Safewards Modell. In: Löhr, M./Schulz, M./ Nienaber, A.: Safewards. Sicherheit durch Be-
ziehung und Milieu. Köln: Psychiatrie Verlag, S. 39–55.
Nolan, M./Brown, J./Davies, S./Nolan, J./Keady, J. (2006): Improving Care For Older People Through a Relationship-Centred Approach. Getting Research into Practice (GRiP) Report No 2. Project Report. University of Sheffield. Weissenberger-Leduc, M./Weiberg, A. (2011): Gewalt und Demenz. Ursachen und Lösungsansätze für ein Tabuthema in der Pflege. Wien/New York: Springer-Verlag. Wesuls, R. (2011). Herbsttagung 2011. Netzwerk Beschwerdemanagement. Verfügbar über: https://kurzlinks.de/80jx
Eigene Darstellung 2024 nach Bowers o. J., S. 8.
Kennenlernen, gemeinsame Unterstützungskonferenz, Methoden zur Beruhigung, Sicherheit bieten und Entlassnachrichten (Bowers o. J.).
Beispiel ‚Sicherheit bieten‘
Die Intervention ‚Sicherheit bieten‘ zielt darauf ab, ein Gefühl von Sicherheit zu schaffen und das Risiko von Folgekonflikten zu vermeiden, die nach gewaltsamen Ereignissen oder in Krisensituationen entstehen können. Es geht darum, Panik und Angst in der Gemeinschaft vorzubeugen, indem nach solchen Vor-/ Zwischenfällen eine beruhigende Umgebung geschaffen wird und insbesondere unmittelbar betroffene Bewohner:innen unterstützt werden. Kolleg:innen und An-/Zugehörige sollen zur Stabilisierung der Lage beitragen, indem sie ebenfalls Ruhe vermitteln. Durch klare Absprachen und koordiniertes Handeln kann ein sicheres Umfeld gewährleistet werden, welches das Wohlbefinden und das Gemeinschaftsgefühl stärkt (Auerbach etal. 2023, Bowers o. J.).
Gewaltpräventive Maßnahmen sind im Bereich der Langzeitpflege sinnvoll Zusammenfassend sind die Autoren der Ansicht, dass alle gewaltpräventiven Maß-
nahmen, die auf einer guten Evidenzlage begründet sind, nicht nur im Feld der psychiatrischen Versorgung vollumfänglich zur Anwendung gebracht werden sollen, sondern auch im Bereich der Langzeitpflege. Diese unterliegt seit den letzten Jahren einem steten Wandel. Dieser Wandel sollte maßgeblich zur Verbesserung der Versorgungssituation der Bewohner:innen und der Arbeitssituation der Mitarbeitenden beitragen. Die Verbindung des SafewardsModells mit dem Six-Senses-Framework schafft eine Grundlage, sowohl den Besonderheiten der Langzeitpflege Rechnung zu tragen als auch den Verantwortlichen und Mitarbeitenden in den Einrichtungen der Langzeitpflege eine Orientierungshilfe für eine systematische Beschäftigung mit den Möglichkeiten gewaltpräventiven Wirkens bereitzustellen. Wenn wir auf die Prognosen zu den steigenden Zahlen von Menschen mit demenzieller Erkrankung und die damit einhergehenden Versorgungsbedarfe und Herausforderungen an eine gelingende Pflege blicken sowie auf die Bemühungen der Einrichtungen, gute und sichere Arbeitsmöglichkeiten anzubieten, stellt eine intensive Beschäftigung mit gewaltpräventiven Maßnahmen eine wesentliche Grundlage dar. ■
Was gibt Ihnen Selbstvertrauen?
„Ich schöpfe mitunter Selbstvertrauen, wenn mein wissenschaftliches Team und ich unsere gesetzten Ziele erreichen, Herausforderungen gemeinsam meistern und aus diesen lernen. Wir mit unseren wissenschaftlichen Vorhaben einen wertvollen Beitrag leisten und dieser auch in der Praxis angenommen wird; wir auch ein positives Feedback erhalten. Wichtig ist mir aber noch, dass wir auch unsere Fähigkeiten und Stärken kennen. Diese im Team gemeinsam nutzen, aber auch unsere Grenzen akzeptieren – also auch anzuerkennen, dass wir nicht alle in allem perfekt sein können.“
Markus Witzmann
ist Prof. Dr. phil., M.A., M.S.M., M.A., Forschungsprofessor und Studiengangsleiter Master Mental Health sowie Mitglied der Ethikkommission und wissenschaftlicher Leiter des Weiterbildungszentrums der Hochschule München, Safewards-Trainer (IBevGe).
„Mir geht es hier ähnlich. Ich fühle mich bestärkt, wenn ich sehe wie die Forschungsprojekte in unserem Team, die gemeinsame Lehre oder externe Vorträge einen Beitrag für die Praxis leisten, indem z.B. das kritische Denken der Studierenden angeregt wird oder eine Auseinandersetzung mit sensiblen Themen auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet. Selbstvertrauen gewinne ich aber auch durch das Teamumfeld – wir entwickeln uns gemeinsam durch konstruktive Diskussionen und die gegenseitige Unterstützung weiter.“
Hanna Batzoni
Schwerpunkt:
es / Georg Endr d Bergmann Gerhar es enzieller Str Exist Impulsefürdie ss: Impulse für die axis emische Pr syst en und en, Haltung Grundlag Handlungsräume ehendchgen, dur 24. 498 Seit 20farbig, .,abT Ta . und eichen Abb mit zahlr ebunden € 55,– D g 7-48-3-525-4086 ISBN 97 uch als E-Book erhältlich. A enundGlobaleEntwicklungen und Globale Entwicklung eltw eignisse in der Um Er eaktionen enzielle R anis im menschlichen Orgönnen wir dieses Wie k. mus en? – eduzierelresslevStr e, insagre F Eine wichtige in äftachkre für Fbesonder cho apeutischen, psy therzialen und erzieherisc so Arbeitsfeldern. hen
ist M.Sc. ANP, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule München, Doktorandin über das Bayerische Wissenschaftsforum (BayWISS) an der Universität Augsburg und der Hochschule München, SafewardsTrainerin (IBevGe), Deeskalationstrainerin (ProDeMa). hanna.batzoni0@ hm.edu
Im Room of Horrors
Praxisnahes Training für die Patientensicherheit
Susanne Karner und Natascha Nielen
Die Patientensicherheit sollte in der Pflege an oberster Stelle stehen. Ein jüngeres Konzept in diesem Zusammenhang ist der sogenannte Room of Horrors. Die Autorinnen erläutern dessen Ziel-setzung, seine praktische Anwendung durch simulative Lernmethoden und illustrieren den Einsatz anhand eines Fallbeispiels der stationären Langzeitpflege.
Die Gewährleistung der Sicherheit und Unversehrtheit pflegebedürftiger Personen steht unabhängig vom Pflegekontext im Vordergrund der Bemühungen aller Beteiligten im Gesundheitswesen. Bewohner:innen von Alters- und Pflegeheimen sowie Patient:innen in Krankenhäusern sind tagtäglich zahlreichen Gefahren ausgesetzt. Zu diesen Gefahren zählen etwa die Verabreichung falscher Medikamente, das Fehlen oder die Unzugänglichkeit wichtiger Hilfsmittel wie Rollatoren, Rollstühle und Klingeln sowie fehlerhafte
Dokumentationen. Nicht erkannte Risiken können zu ernsthaften Schäden führen, von Stürzen mit schweren Verletzungen bis hin zu fatalen Ausgängen.
Sensibilisierung für Risiken
Zur Erhöhung der Patientensicherheit setzen viele Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser auf das Critical Incident Reporting System (CIRS). Dieses Tool ermöglicht es dem medizinischen Personal, im Arbeitsalltag aufgetretene Fehler und Risiken anonym und ohne Sanktionen zu melden. Ziel ist es, aus diesen Fehlern zu lernen, indem Lösungsansätze vorgeschlagen und systematisch analysiert werden, um ähnliche Vorfälle in der Zukunft zu vermeiden. Die systematische Erfassung und Analyse nach dem Aufkommen solcher Fehler hilft dabei, deren Ursachen zu identifizieren und präventive Strategien zu entwickeln. Nach Abschluss der Bearbeitung wird über das gemeldete Ereignis informiert,
Foto: www.martinglauser.ch
was ein institutionelles Lernen und die Verbesserung der Sicherheitskultur fördert.
Das Lernen aus Fehlern durch deren Veröffentlichung oder Diskussion ist ein fundamentaler Bestandteil der Prävention unerwünschter Ereignisse und des Aufbaus einer Kultur der Sicherheit. Eine Schlüsselstrategie zur Verstärkung dieses Ansatzes ist die Sensibilisierung und Befähigung der Mitarbeitenden. Der sogenannte Room of Horrors (RoH) bietet hierfür einen innovativen, spielerischen Ansatz. Das Konzept zielt darauf ab, eine typische Versorgungssituation nachzustellen, in der bewusst Fehler und Gefahren integriert sind, um einen Perspektivenwechsel zu initiieren. Im Unterschied zu traditionellen Lernmethoden liegt der Fokus nicht darauf, korrekte Handlungsweisen zu üben, sondern vielmehr darauf, die Wahrnehmung für alltägliche Risiken zu schärfen und Gefahren proaktiv zu erkennen (Schwappbach 2023)
Der RoH ermöglicht es den Mitarbeitenden, in sicherer Umgebung Beobachtungsgabe, kritisches Denken und Situationsbewusstsein zu trainieren, ohne dass Bewohnende oder Patient:innen dabei Schaden erleiden. Eine Besonderheit dieses Ansatzes ist das gruppenbasierte Lernen, wobei die Gruppenzusammensetzung variieren kann: von homogenen Berufsgruppen bis hin zu interdisziplinären Teams. Untersuchungen zeigen, dass der Lerneffekt in Gruppenkonstellationen und interprofessionellen Teams deutlich höher ist als bei Einzelpersonen (Schwappbach 2023).
Zahlreiche Evaluationen und Praxisberichte unterstreichen die hohe Akzeptanz und Effektivität dieses Konzepts (Dieter 2023, Steenken 2023). Experten wie Zimmermann et al. (2021) bewerten den RoH als äußerst empfehlenswert und lehrreich für die Sensibilisierung bezüglich Gefahren und Risiken in der Pflege. Das Konzept ist zudem flexibel auf verschiedene Settings und Fachbereiche anwendbar.
Das primäre Ziel des RoH ist die Verbesserung der Patienten- bzw. Bewohnersicherheit durch: —Sensibilisierung für erkennbare und versteckte Gefahren und Risiken, Training der Beobachtungsfähigkeit und des Situationsbewusstseins in Bezug auf potenzielle Gefahren, Förderung von kritischem Denken und Hinterfragen, —Entwicklung einer positiven Fehlerkultur sowie
—Stärkung der interprofessionellen und interdisziplinären Zusammenarbeit.
Simulatives Lernen
Simulatives Lernen im Kontext des RoH ist eine innovative Lehrmethode, die auf der Simulation von Versorgungssituationen beruht, in denen bewusst Fehler und Risiken integriert sind (SimNAT Pflege o. J.). Diese Methode, die eng mit dem Konzept des arbeitsorientierten Lernens verbunden ist, erweist sich als besonders effektiv im Umgang mit sicherheitsrelevanten Themen in der Pflege. Durch die Nachstellung realitätsnaher Szenarien, wie etwa der Verabreichung falscher Medikamente oder der Unzugänglichkeit notwendiger Gehhilfen, werden die Teilnehmenden sensibilisiert, trainiert und dazu angeregt, ihre Aufmerksamkeit zu schärfen und gemeinsam Problemlösungen zu erarbeiten (vgl. Zimmermann/Schwappach 2019).
Die Stiftung für Patientensicherheit (2024, S. 1) beschreibt den RoH folgendermaßen: „Die Trainingsmethode sensibilisiert, trainiert auf spielerische Art und Weise die Aufmerksamkeit und fördert das gemeinsame Problemlösen. Im Gegensatz zu theoretischen Schulungen werden die Situationen, in denen sich Gefährdungen im klinischen Alltag manifestieren, konkret erlebbar."
Das Simulations-Netzwerk Ausbildung und Training in der Pflege (SimNAT Pflege o. J.) hebt hervor, dass Simulationen darauf abzielen, realistische Bedingungen zu schaffen, die das reale Leben widerspiegeln und die evidenzbasierte Praxis fördern. Gemäß der International Nursing Association for Clinical Simulation and Learning (INACSL 2016) unterstützt simulatives Lernen die Verbesserung oder Validierung der Leistung der Teilnehmenden. Eine hohe Realitätsnähe der Simulationen, auch als Fidelity bekannt, ist dabei von entscheidender Bedeutung. Diese Realitätsnähe umfasst nicht nur die sinnvolle Gestaltung der Simulationssituation und eine authentische Einrichtung des Simulationsraums, sondern auch die Integration passender Umgebungsgeräusche.
Für die Schaffung authentischer und realitätsnaher Situationen kommen unterschiedliche Hilfsmittel zum Einsatz, von einfachen Puppen (Dummies) über Schauspieler:innen bis hin zu komplexen Simulatoren. Ziel ist es, den Teilnehmenden zu ermöglichen, umfassende Erfahrungen zu sammeln und ihre Wissensbasis, Fertig-
Schwerpunkt:
keiten und Einstellungen gezielt weiterzuentwickeln. Der Fokus der Simulation kann dabei je nach Lernziel variieren und beispielsweise auf Verhaltensweisen, Interaktion oder Kommunikation liegen (Kim et al. 2016, Lei et al., 2022).
Die Relevanz von Simulationen geht über den reinen Wissenstransfer hinaus. Sie bieten eine wertvolle Möglichkeit, den Lernstand und Lernerfolg zu überprüfen, Entscheidungen zu treffen, Problemlösungskompetenzen zu entwickeln, Prioritäten zu setzen und die eigene Selbstwahrnehmung zu schärfen. Dieses Lernformat ermöglicht es zudem, mit anderen effektiv zu interagieren und in simulierten Notfallsituationen zu agieren (Jürgensen/ Dauer 2021, Kim et al. 2016).
„Durch die Nachstellung realitätsnaher
Szenarien werden die Teilnehmenden sensibilisiert, trainiert und dazu angeregt, ihre Aufmerksamkeit zu schärfen und gemeinsam Problemlösungen zu erarbeiten.“
Zahlreiche Studien belegen die Effektivität von simulativem Lernen in der Ausbildung. Es verbessert nicht nur klinische Fähigkeiten und fördert das klinische Urteilsvermögen, sondern erweitert auch psychomotorische Kompetenzen, was die breite Anwendbarkeit und den Nutzen dieser Lernmethode unterstreicht (Hanshaw/ Dickerson 2020, Kim et al. 2016).
Wie sollte eine Simulationsübung umgesetzt werden?
Im Rahmen des Simulationstrainings empfehlen Obermaier und Süßmann (2022) einen dreiphasigen Ablauf, der sich als essenziell für den Lernerfolg erwiesen hat: Briefing, Durchführung der Simulation und Debriefing. Diese Struktur fördert eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Lernmaterial und sichert den Transfer der
gewonnenen Erkenntnisse in die Praxis. Während allen Phasen werden die Teilnehmenden von einer Person im Lernprozess begleitet. Diese Person legt die Lernziele fest, gestaltet die Simulation und unterstützt die Teilnehmenden durchgehend. Als Mentor:in und Facilitator:in fördert sie die aktive Auseinandersetzung mit dem Lernmaterial und sorgt für eine strukturierte und zielgerichtete Durchführung derÜbung sowie des anschließenden Reflexionsprozesses. Ihre Führungskompetenz ist entscheidend dafür, inwieweit die Teilnehmenden von der Simulation profitieren und wie effektiv die gewonnenen Einsichten in die berufliche Praxis transferiert werden können (Perico et al. 2021).
Briefing:
Die initiale Phase dient der Vorbereitung und Zielklärung. Hier werden die Teilnehmenden über den Ablauf informiert und erhalten alle notwendigen Unterlagen. Dieser Schritt zielt darauf ab, eine sichere und offene Lernatmosphäre zu schaffen, in der Fragen und Unsicherheiten proaktiv adressiert werden. Die Klärung des Lernauftrags und die Erläuterung des Szenarios sind zentral, um die Teilnehmenden optimal auf die Simulation vorzubereiten.
Durchführung der Simulation
Im Kern der Übung stehen das Erkennen und Dokumentieren von Fehlern und Risiken innerhalb des vorbereiteten Szenarios. Die Teilnehmenden agieren aktiv in der simulierten Umgebung und nutzen die Gelegenheit, ihre Beobachtungsgabe und ihr Problemlösungsvermögen in einem realitätsnahen Kontext zu schärfen. Die anschließende Feedbackrunde ermöglicht es, die identifizierten Risiken gemeinsam zu besprechen und Lernchancen zu identifizieren.
Debriefing
Diese abschließende Phase dient der Reflexion und Vertiefung des Gelernten. Durch gezielte Fragen und den Austausch innerhalb der Gruppe werden die Teilnehmenden angeregt, ihre Erfahrungen zu reflektieren und Schlussfolgerungen für zukünftiges Handeln zu ziehen. Der Fokus liegt dabei auf der persönlichen Reflexion und dem gegenseitigen Feedback, um das Bewusstsein für sicherheitsrelevante Aspekte zu stärken und die Übertragbarkeit der Erkenntnisse auf die Praxis zu fördern (Fanning/Gaba 2007). Fragen, welche die
Lernbegleitung im Rahmen des Debriefings stellen könnte, umfassen beispielsweise die Reflexion über wesentliche Erkenntnisse, die Bewertung der Schwierigkeit, bestimmte Risiken zu vermeiden, und die Diskussion darüber, was als besonders hilfreich empfunden wurde (Karner/Warnecke 2023).
Fallbeispiel
In der stationären Langzeitpflege ereignete sich eine Situation, die beispielhaft die alltäglichen Herausforderungen und Risiken verdeutlicht: Herr Gerhard Greis*, 91 Jahre alt und Bewohner des Pflegeheims „Zum Glück“, stolperte über mehrere Sicherheitsrisiken. Mit Diabetes Mellitus Typ 2, einer Erdbeerallergie und einer Geschichte von wiederholten Stürzen ist Herr Greis besonders gefährdet. Seine Unsicherheit beim Gehen führte in den letzten zwei Monaten zu drei Stürzen. An diesem Morgen entschied er sich, trotz Rückenschmerzen, die durch das Liegen entstanden waren, und ohne seinen notwendigen Rollator, lediglich in Badeschlappen zum Speisesaal zu gehen. Als eine Pflegefachkraft ihm seine Medikamente brachte, musste sie plötzlich wegen eines Notfalls den Raum verlassen, ohne die Medikamenteneinnahme zu überwachen. Beim Versuch, die Medikamente selbstständig einzunehmen, fielen Herrn Greis zwei Tabletten zu Boden.
Dieses Szenario wird im RoH nachgestellt, wo Herr Greis am Tisch sitzt, die Badeschlappen an den Füßen trägt, auf dem Teller Erdbeermarmelade findet und zwei Tabletten auf dem Boden liegen. Die Mitarbeitenden erhalten vor Betreten des RoH eine Einführung in diese Situation, um sie auf die Identifikation von Fehlern und Risiken vorzubereiten. Die Beobachtungsphase, die bis zu 20 Minuten dauert, mündet in ein Debriefing, in dem die entdeckten Risiken diskutiert werden.
Um aus Fehlern nachhaltig zu lernen, dient der RoH auch als Instrument zur Einführung oder Schulung des Critical Incident Reporting Systems (CIRS). Nach dem Debriefing können die Mitarbeitenden ausgewählte Risiken melden, wodurch ein direkter Bezug zur Praxis hergestellt und die Angst vor potenziellen Sanktionen abgebaut wird. Diese Methode stärkt die Teamarbeit und fördert eine positive Fehlerkultur.
* Namen geändert
Zuwachs an Patientensicherheit
Die Anwendung des RoH-Konzepts verdeutlicht beispiellos die kritische Bedeutung der Sicherheit pflegebedürftiger Menschen. Durch die Simulation realitätsnaher Versorgungssituationen mit integrierten Fehlern und Risiken werden Mitarbeitende effektiv in der Risikoerkennung und -bewältigung geschult. Die hohe Wirksamkeit und Akzeptanz des RoH, zusammen mit dem Einsatz von CIRS, unterstreichen den Mehrwert dieser Methoden für die kontinuierliche Verbesserung der Patientensicherheit und den Aufbau einer Kultur, diedas Lernen aus Fehlern zur Prävention zukünftiger Vorfälle in den Vordergrund stellt. ■
Die Literatur zum Text finden Sie unter www.mabuse-verlag.de
Foto: Tanja KibogoGmbH
Was gibt Ihnen Selbstvertrauen?
„Mutig und neugierig, immer wieder aus der gewohnten Komfortzone heraustreten und neue Wege beschreiten – beruflich als auch persönlich.“
Dr. Susanne Karner ist Gesundheits-und Pflegewissenschaftlerin und Pflegeexpertin bei „Eltern aus der Ferne unterstützen“. info@susannekarner.de www.susannekarner.de
„Selbstvertrauen gibt mir, wenn ich meine beruflichen und persönlichen Ziele erreiche, mich kontinuierlich weiterentwickle, lerne und meine Fähigkeiten erweitere. Dieser stetige Prozess wird durch die Unterstützung meiner Familie und mein Netzwerk entscheidend gefördert, was mir Halt gibt und sich positiv auf mein Selbstvertrauen auswirkt.“
Natascha Nielen ist Pflegeexpertin APN-CH, Gründerin und Geschäftsführerin InnoCare Project. natascha.nielen@ innocareproject.ch www.innocare project.ch
Sicherheit
Johannes Nau, Gernot Walter, Nico Oud (Hg.)
Aggression, Gewalt und Aggressionsmanagement
Lehr- und Praxishandbuch zur Gewaltprävention für Pflege-, Gesundheits- und Sozialberufe Pflege-, Sozial- und Gesundheitsberufe sehen sich zunehmend mit aggressiven und potenziell gewalttätigen Patienten konfrontiert. Sie müssen daher nach Möglichkeiten suchen, um Aggressionen vorzubeugen, aggressive Ausbrüche zu verhindern und im Fall von Gewalttätigkeit Schaden von sich und anderen abzuwenden. Dazu liefert das Praxishandbuch eine hervorragende Grundlage.
Hogrefe, Bern 2019, 632 S., 65 Euro
Georg Bollig, Rita Famos, Matthias Fischer, Eva Niedermann, Heinz Rüegger Letzte Hilfe Schwerkranke und sterbende Menschen begleiten
Erste Hilfe nach Unfällen zu leisten, ist in unserer Gesellschaft selbstverständlich. Doch wie steht man Schwerkranken und Sterbenden bei? Wer für Nahestehende, deren Leben zu Ende geht, da sein möchte, fühlt sich oft überfordert und hilflos. Das kleine Buch bietet eine Einführung in die Sterbebegleitung. Es vermittelt Basiswissen und Orientierung und zeigt, dass man auch ohne medizinische oder pflegerische Ausbildung viel für einen Menschen am Lebensende tun kann.
TVZ, Zürich 2020, 104 S., 14,80 Euro
Wolfgang J. Friedl Grundwissen für Brandschutzbeauftragte Kompendium zur Aus- und Weiterbildung
Der Autor ist selbst seit Jahrzehnten als Berater im Bereich des Brandschutzes tätig und erläutert präzise und auf das Wesentliche konzentriert die Aufgaben von Brandschutzbeauftragten, ihre Qualifikation und juristische Verantwortung. Besonders hilfreich sind die zahlreichen Abbildungen, Grafiken, Tabellen und Piktogramme. Inhaltlich orientiert sich das Fachbuch an der aktuellen Ausbildungsvorgabe DGUVInformation 205-003.
Richard Boorberg Verlag, Stuttgart 2023, 224 S., 29,80 Euro
Dirk Richter Menschenrechte in der Psychiatrie
Prinzipien und Perspektiven einer psychosozialen Unterstützung ohne Zwang
Die Zwangsmaßnahmen der Psychiatrie sind mit den Menschenrechten nicht zu vereinbaren und widersprechen dem Inklusionsansatz der UN-Behindertenrechtskonvention. Kann eine psychische Erkrankung Zwang begründen? Dirk Richter meint: Nein! Es gibt ein Recht auf Selbstbestimmung und damit auch auf Nichtbehandlung. Das Buch vermittelt streitbare Thesen gut durchdacht, wissenschaftlich fundiert und mit praktischen Ideen für eine Psychiatrie ohne Zwang. Psychiatrie, Köln 2023, 184 S., 25 Euro
Deutscher Hebammenverband e. V. (Hg.) Geburtsarbeit
Hebammenwissen zur Unterstützung der physiologischen Geburt
Das Praxisbuch bietet ein Konzept für eine zeitgemäße, interventionsarme und frauenzentrierte Geburtshilfe. Es verbindet vorhandene Studienergebnisse mit dem immensen Erfahrungswissen von vielen Hebammen in der klinischen und der außerklinischen Geburtshilfe. Der Schwerpunktliegt auf Hilfestellungen, Therapieempfehlungen und Praxistipps für typische Problemsituationen in den einzelnen Phasen der Geburt.
Thieme, Stuttgart 2023,396 S., 59,99 Euro
Susanne Karner, Francesca Warnecke
Simulatives Lernen im Room of Horrors
Praxisbuch mit Fallbeispielen für die generalistische Pflegeausbildung
Das Erkennen von Risiken stellt eine wesentliche pflegerische Kompetenz dar und ist Bestandteil der Rahmenpläne für die generalistische Pflegeausbildung. Um entsprechende Lernsituationen zu schaffen, bietet sich das Lernkonzept „Room of Horrors“ an. Dieses simuliert eine Versorgungssituation, in der Fehler und Risiken eingebaut sind. Das Buch liefert Hintergrundwissen, Erfahrungsberichte und konkrete Anwendungsbeispiele zur Umsetzung des Lernkonzepts „Room of Horrors“.
Kohlhammer, Stuttgart 2023, 161 S., 39 Euro
Michael Löhr, Michael Schulz, André Nienaber Safewards Sicherheit durch Beziehung und Milieu
Das Safewards-Modell bietet nicht nur eine Erklärung für die Entstehung und Eskalation von Konflikten auf Station, sondern auch konkrete Interventionen zur Prävention. Erfahrungen aus dem deutschsprachigen Raum zeigen die Praktikabilität für verschiedene Settings der Akutpsychiatrie, der Forensik, der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der stationären Altenpflege. Safewards wird da erfolgreich umgesetzt, wo die verschiedenen Berufsgruppen einbezogen werden und die Leitung den Einführungsprozess unterstützt.
Psychiatrie, Köln 2022, 232 S., 30 Euro
Dorothea Sauter, Ian Needham, Chris Abderhalden, Stephan Wolff (Hg.)
Lehrbuch Psychiatrische Pflege
Das Lehrbuch stellt pflege- und klientenorientiert die Grundlagen, Rahmenbedingungen, Werkzeuge, Fertigkeiten, Pflegekonzepte und spezifischen Settings psychiatrischer Pflege dar. Verständlich werden Phänomene und Lebensherausforderungen, denen Pflegefachpersonen in psychiatrischen Handlungsfeldern begegnen, erläutert und pflegeprozessorientiert beschrieben. Anschaulich und fundiert werden über 40 wesentliche Konzepte der psychiatrischen Pflege von A bis Z erläutert.
Hogrefe, Bern 2023, 1440 S., 120 Euro
„Das Gras neuer Pflegethemen wachsen hören“
Christoph Müller im Gespräch mit Jürgen Georg vom Hogrefe Verlag
Nur wenige Menschen kennen die publizistische Welt der Pflege so gut wie Jürgen Georg als Programmleiter beim Hogrefe Verlag. Christoph Müller hat mit ihm gesprochen.
Christoph Müller: In diesem Jahr sind Sie 60 Jahre alt geworden. Gleichzeitig prägen Sie seit 25 Jahren als Programmleiter Pflege beim Hogrefe Verlag (vormals Verlag Hans Huber) in Bern die Pflege-Literatur im deutschsprachigen Raum. Was bedeuten Ihnen die Meilensteine persönlich?
Jürgen Georg: Mein sechzigster Geburtstag war ein „Erntedankfest“, das ich mit guten Freund:innen, schönen Erinnerungen in naturnaher Umgebung mit Live-Musik feiern konnte. In den 25 Jahren Verlagsarbeit im Hogrefe Verlag durfte ich mit meinem Team unsere Autor:innen und Herausgeber:innen bei rund 500 Pflege-Publikationen begleiten und pflegerisches Wissen bündeln, prägen, verbreiten und für alle Pflegefachpersonen zugänglich machen.
Wenn ich rückblickend die Landschaft der Pflegepublikationen mit einem Garten vergleiche, dann war dieser zu Beginn der 1990er Jahre eine Brache mit wenigen bibliophilen Ruderalpflanzen. Demgegenüber ist der Garten im Jahr 2024 ein schöner Bauerngarten mit gut eingeteilten Beeten, vielfältigen Pflanzen und etlichen Komposthaufen, in denen weiter neue Ideen gären und ausgebrütet werden.
In der psychiatrischen Pflege haben Sie in der Ausbildung zum Krankenpfleger Ihre ersten beruflichen Schritte gemacht. Es folgten Stationen in der anthroposophischen Pflege und in der Humanitären Hilfe. Was waren die Gründe dafür, dass Sie in diesen besonderen Settings pflegerisch arbeiten wollten?
Nach dem Abitur wollte ich praktisch und direkt mit Menschen arbeiten. Familiäre Vorbilder fanden sich in meiner Schwester und Mutter, die beide pflegerisch tätig waren. Gleichzeitig bin ich als „Öko-Paxe“ sozialisiert worden. Die große Zeit der Friedensbewegung war in vollem Gange, Greenpeace hatte mit dem Motto „let’s make it a green peace“ seine Umweltarbeit begonnen.
Ich, 21-jährig, war zum Vorsitzenden des B.U.N.D.-Umweltverbandes in meiner Heimatstadt im Westerwald gewählt worden, und für mich persönlich stand die Entscheidung für den Zivildienst an. Aufdiesem Hintergrund war die Ausbildung an der Krankenpflegeschule in Herborn eine gute Zeit, um mich fachlich und persönlich zu entwickeln. Da ich – neben der Zeit im Akutkrankenhaus – über die Hälfte der Ausbildung mit Menschen arbeiten durfte, die an geistigen und körperlichen Behinderungen sowie psychiatrischen und Suchterkrankungen litten, war das für mein Bild des Menschen und mein Verständnis des „Menschenmöglichen“ ungemein bereichernd. Ein gutes Fundament, um zu lernen, was Beziehungsarbeit in der Pflege und respektvoller Umgang mit Menschen bedeuten kann. Dank des guten Rates meiner Pflegelehrerin Bettina Georg trat ich im Herbst 1986 meinen Zivildienst als frisch diplomierter Krankenpfleger im Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke an. Sehr zur Freude von Franz Sitzmann, meinem damaligen Pflegedienstleiter. Im Team der internistischen Station 3b traf ich zum einen auf sehr berufs- und lebenserfahrene ältere Kolleg:innen, zum anderen auf junge Kolleg:innen, die gerade ihre anthroposophisch orientierte Pflegeausbildung absolviert hatten. Von allen konnte ich sehr viel lernen über anthroposophi-
Jürgen Georg Foto: privat
sche Pflege mit Biografiearbeit, Einreibungen, Phytotherapie und Wickel sowie den würdigen Umgang mit sterbenden und verstorbenen Menschen. Lehrjahre, die ich auch auf der Intensivstation unter Bedingungen der Akutpflege vertiefen durfte.
In Herdecke begegnete ich auch Fritz Ruck, der dort als Patient weilte. Aus dem Patienten wurde ein väterlicher Freund und Förderer, der mich als einen jungen 23-jährigen Menschen ermutigte, meine Talente zu erkennen und zu entwickeln. Parallel zu all dem war ich auf die Arbeit von Rupert Neudeck und das von ihm gegründete „Komitee Cap Anamur“ gestoßen. Ich wollte unbedingt mehr über dessen „Radikale Humanität“ lernen und in der Humanitären Hilfe arbeiten. Da das erst mit 25 Jahren möglich war, habe ich die (Frei-)Zeit bis dahin für Kurse bei Yvonne Ford in Nursing und Medical English genutzt. In Yvonnes legendärem Centre for Communication in Health Care in Frankfurt konnte ich auch erste Einblicke in die angloamerikanische Pflegeliteratur gewinnen, die der deutschsprachigen Literatur in den 1990er-Jahren um zehn Jahre voraus war.
Im Tropenkurs in Hamburg lernte ich eine Kollegin kennen, die als Krankenschwester eine Krankenstation in Nordkamerun leitete. Sie konnte ich vor Ort besuchen und durfte ihr über die Schulter schauen, wenn es galt, Kinder zur Welt zur bringen, Malaria in „dicken Tropfen“ zu erkennen, Tropical Ulcers zu verbinden, Pflegeanamnesen auf Französisch zu führen und mit wenigen Mitteln viel für die Gesundheit der Menschen zu tun.
Jahre später las ich einmal, dass die Zeit der Ausbildung und der ersten Berufsjahre genauso prägend für einen Menschen sei, wie die Kindheit. Für mich stimmte das. So kam es, dass ich, während im Herbst 1989 in Deutschland die Berliner Mauer fiel, im Dezember 1989 mit dem Komitee Cap Anamur in den Südsudan ins Herz Afrikas aufbrach. Dort durfte ich am Tage als Krankenpfleger im Yambio Civil Hospital in der Kinderambulanz und -station mit sudanesischen Kindern, Müttern und sudanesischen Kolleg:innen arbeiten. Am Abend durfte ich die Narkosen bei OPs übernehmen und Säuglinge nach Not-Kaiserschnitten im Leben begrüßen. Ganz nebenbei trug die Präsenz des Cap Anamur Teams und von Ärzten ohne Grenzen dazu bei, dass die Menschen in Yambio in Zeiten des Bürgerkrieges weiter Zugang
zu medinischer Versorgung hatten und Pflege auch Friedensarbeit sein konnte.
Bis zum heutigen Tag stehen Sie für praktizierte Pflegebildung, wenn Sie Seminare in Weiterbildungen und an Hochschulen durchführen. Sie tun dies seit mehr als dreißig Jahren – früher als Lehrer für Pflegeberufe, heute unter anderem als Dozent und Experte für Pflegediagnosen. Woher kommt ihre Motivation, inhaltlich Impulse setzen zu wollen? Ich hatte gute Lehrer:innen, Trainer und Leitungspersonen und somit gute Rollenmodelle, von denen ich das Lehren lernen konnte. Meine Trainer lehrten mich, was es bedeutet, durchzuhalten und sich durchzubeißen. Meine Pflegelehrer:innen brachten mir bei, wer (Pflege-)Konzepte und Pflegeprozesse versteht, der kann pflegerische Situationen besser verstehen und beeinflussen, und wer pflegen und lehren will, muss viel lesen. Annegret Sonn durfte ich zuschauen, wie sie Pflegenden phytotherapeutisches und Wickel-Wissen vermittelte. Angelika Zegelin hat mich in die Künste des Networkings und der Patientenedukation eingeführt.
Bei Marjory Gordon und Linda Carpenito durfte ich in die Welt der Pflegediagnostik eintauchen und Pflegediagnosen anwenden und lehren lernen. Hilde Steppe hat mir gezeigt, wie wichtig historisches und pflegetheoretisches Wissen für die Pflege ist. Sie hat vorgelebt, wie unerlässlich berufspolitisches Engagement und kritisches Denken für die Pflege sind. Georges Evers war die perfekte Verkörperung und der Dreiklang eines Pflegepraktikers-, -forschers und -lehrers. Von Monika Krohwinkel durfte ich in Interviews und Gesprächen vieles über die Entstehungsgeschichte ihrer Fördernden Prozesspflege und ABEDLS aus erster Hand erfahren. Die USPflegewissenschaftlerin Phillis Kritek lieferte mir ein gutes Argument, warum man Pflege anstelle von Medizin studieren sollte: „Just because nursing is more complex“. Von Bob Price, dem Leiter des Pflege-Masterstudiengangs am Royal College of Nursing in London, habe ich gelernt, wie man „problem-based nursing“ „work-based“ anwendet und Pflegende durch kluges Fragen lehrt, die eigene Pflegepraxis besser zu verstehen und weiter zu entwickeln.
Zwei besondere Begegnungen
Fotos links u. unten: „Eins nach dem anderen“-Autor Franz Inauen präsentiert Buch und Zeichnungen.
Seite 58: Zusammenarbeit mit Richard Taylor („Alzheimer und ich“)
Alle Fotos: privat
Last but not least meine Studierenden und Kursteilnehmer:innen, die mich mit ihren Fragen immer wieder neu motivieren, Pflegephänomene genauer zu er- und begründen sowie komplexe Sachverhalte einfach und verständlich zu erklären. Als ich ab 1993 Programmleiter bei Ullstein Medical und später bei Huber und Hogrefe war, durfte ich vieles von dem zurückgeben, indem ich die Fachbücher all dieser Kolleg:innen publizierte.
Professionelle Pflege lebt von authentisch handelnden und denkenden Menschen. Als Programmleiter Pflege sind Sie vielen historischen Persönlichkeiten aus der eigenen Berufsgruppe begegnet. Inwieweit haben Menschen Sie geprägt? Inwieweit haben Begegnungen Sie zu Artikeln und Büchern ermutigt?
Einige prägende Einflüsse von Pflegepersonen für meine eigene Lehrtätigkeit habe ich eingangs geschildert. Ihnen allen war und ist eigen, was ich „professionelle Generativität“ nenne. Sich der eigenen Vorbildfunktion bewusst zu sein und ihr eigenes Wissen und ihre Erfahrung mit Freude, Engagement und Leidenschaft an andere weiterzugeben. Wenn dann noch Neugierde, Menschenfreundlichkeit, Selbstironie, Leichtigkeit und ein „going the extra mile“ dazu kamen, wie bei Ruth Schröck, Chris Abderhalden, Marjory Gordon und Hilde Steppe, dann war das ganz großes PflegeKino – Live!
Für mich in meiner Rolle als Programmleiter Pflege beim Hogrefe Verlag war und ist es wichtig, auch die publizistische und verlegerische Seite der Pflegewelt kennenzulernen und mich mit wichtigen Persönlichkeiten der Verlagswelt auszutauschen.
Dazu gehören Allison Miller, die frühere Programmleiterin von Mosby, Herrin über eine Backlist von über 1800 Pflegebüchern und das schon in den 1990er-Jahren. Jake Scott, ohne den im Lizenzmanagement für Übersetzungen aus der angloamerikanischen Pflegeliteratur nichts geht. Ursula Springer, die mit Springer Publi-
shing NY den besten US-Verlag für pflegewissenschaftliche Literatur aufgebaut hat. Michael Herrmann, von dem ich das Verlags- und Redaktionshandwerk lernte. Jürg Flury, mein erster Verlagsleiter in Bern, der den „Doenges“, das wichtigste Fachbuch für Pflegediagnosen, entdeckt hat und übersetzen ließ. Sicher ist auch Hermann Löffler, Gründer des Mabuse-Verlages zu nennen, der mit seinen Redakteur:innen von „Dr. med. Mabuse“ mit jedem Heft „Interprofessionalität von Gesundheitsberufen“ mit Leben füllt.
Besonders beeindruckt haben mich zwei meiner Autoren: Richard Taylor und Franz Inauen. Beide einte, dass sie in jungen Jahren an einer Demenz erkrankten. Richard Taylor war als Professor für Kognitionspsychologie tätig und Franz Inauen als Pfarrer und Seelsorger. Trotz dieses Handicaps gelang es Taylor noch, Fachbücher und Ratgeber über Demenz zu schreiben und begeisternde Vorträge für Betroffene, Angehörige und Fachleute zu halten. Franz Inauen rückte seiner Demenz mit bunten Stiften und kurzen Geschichten zu Leibe und verstand es auf seine volksnahe, immer um die Seele des anderen besorgte Art, Menschen in seinen Bann zu ziehen und Großes zu leisten, wenn es darum ging, Menschen mit Demenz eine Stimme zu geben.
Schließlich haben Begegnungen mit einzelnen Personen und Schicksale von Menschen den Anstoß gegeben, um deren Themen publizistisch aufzuarbeiten. Dazu gehören Werke zu Einsamkeit, Cancer Survivorship, Körperbildstörungen, Pruritus, Schreien und Rufen sowie Selbstvernachlässigung und Ungewissheit, um nur einige zu nennen. Neben den zahlreichen professionellen Fachartikeln, diktierte mitunter das Leben seine Geschichten in meinen Notizblock. Für mich selbst waren Begegnungen mit den Gedanken Heinrich Bölls zur „Poesie des Tuns“ wichtig, um dieser im pflegerischen Handeln nachzuspüren.
Der Tod meiner viel zu früh verstorbenen Schwägerin ließ mich über „fragmentarisches Leben“ nachdenken und schreiben. Meiner Tante durfte ich mit der Geschichte „Bahn frei Apfelbrei“ ein Loblied und eine Hommage auf ihre Resilienz und Renitenz im Altenheim schreiben. Schaffte sie es doch jede Woche, trotz drohender Blindheit, einen köstlichen Apfelbrei aus den nur dekorativ auf der Station herumstehenden Äpfeln zuzubereiten und ihre Mitbewohner:innen damit zu erfreuen.
Sie gehören als „Pflegetheoretiker“ zu denjenigen Pflegenden, die die Wichtigkeit und Notwendigkeit des Pflegeprozesses und der Pflegediagnostik immer wieder unterstreichen. In der pflegerischen Praxis werden diese Themen eher stiefmütterlich behandelt. Wie kann es aus Ihrer Sicht gelingen, dass der Pflegeprozess und die Pflegediagnostik in der direkten Pflege gelebt werden? Wer sich auf die Pflegediagnostik einlassen will, muss sich einer neuen Rolle und neuen Aufgaben bewusst werden. Nämlich als „Diagnostizierende:r“ die Pflegebedürftigkeit von Klienten einzuschätzen, zu unterscheiden, zu erkennen und zu benennen, um davon ausgehend über wirksame Pflegeinterventionen und pflegerisch beeinflussbare Pflegeziele- und -ergebnisse zu entscheiden. Sprich: Hier ist Köpfchen gefragt, hier werden kognitive Fähigkeiten der Problemlösung und Entscheidungsfindung von Pflegenden gefordert und gefördert, um systematisch zu erkennen, welches Pflegeproblem oder -risiko ein Patient hat, warum er dieses hat und wie dieses aussieht.
Diejenigen, die uns Pflegediagnosen jeden Tag vorleben, sind unsere Patient:innen und Klienten:innen, die sich ängstlich, einsam, machtlos, hoffnungslos, verwirrt oder traurig fühlen, die unter Atemnot, Erschöpfung, Frailty, Schmerzen oder Schlaflosigkeit leiden und sich nicht bewegen, selbst versorgen oder orientieren können. Auszubildende und Studierende kann man
über drei Jahre mit der Fachsprache all dieser Diagnosen, ihren Definitionen, Einflussfaktoren und Symptomen vertraut machen. Pflegepraktiker:innen gilt es bewusst zu machen, welche Pflegediagnosen wie Schmerz, Schlafstörungen oder Immobilität sie bereits kennen, ohne sie als „Pflegediagnosen“ zu bezeichnen. Dann gilt es, mit ihnen Core-Sets zu klären, d. h. welche Diagnosen in ihrem Arbeitsbereich am häufigsten sind. Das reduziert die Gesamtzahl von 267 Pflegediagnosen auf etwa 50 häufige Diagnosen eines Praxisfeldes. Von diesen Core-Sets können die Kenntnisse zu vertrauten Diagnosen vertieft und die Kenntnisse über unbekanntere Diagnosen – wie ineffektive Atemwegsclearance, Aktivitätstoleranz oder Frailty – neu erworben werden. All das kann in Basisund Vertiefungskursen erlernt, mit Kurzfortbildungen aufgefrischt und in Werken wie Doenges‘ „Pflegediagnosen und Pflegemaßnahmen“ nachgelesen werden. Besonders versierte Pflegende können sich peu à peu eine vertiefte Expertise zu einzelnen Diagnosen aufbauen, wie Haut- und Gewebeintegrität, Kontinenz oder Körperbild, die sie später selbst intern an ihre Kolleg:innen weitergeben können. Das wären
ein paar einfache Schritte zum Einstieg in die Pflegediagnostik.
Sie haben noch fünf Jahre vor sich, bis Sie in den Ruhestand gehen werden. Was können professionell Pflegende noch von Ihnen persönlich und vom Buchprogramm des Hogrefe Verlags bis dahin erwarten?
Für mich persönlich hoffe ich, in den verbleibenden Jahren noch mehr Eigenes schreiben zu können zu meinen Kernthemen wie Chronopflege, Frailty, Pflegeprozess, Pflegediagnosen, Pflegekonzepte, Schlaf, Schmerz sowie Wickel und Auflagen. Programmatisch kann ich in fünf Jahren noch etwa 100 Projekte begleiten, zu denen in diesem Jahr Akutpsychiatrische Pflege, Komplexizitätsmanagement, Klimafolgen, Mikroschulungen, Neuro-Palliative Care und die Pflege von LGBTQ+Personen gehören werden.
Die Krisen dieser Zeit zwingen uns darüber nachzudenken, welche Lösungen Pflegende bei der Vorbeugung und Bewältigung von Katastrophen beitragen können, wie wir mit der nächsten Epidemie oder Pandemie umgehen werden, wie wir im Krieg verletzte Menschen pflegerisch am besten versorgen und wie wir die Per-
sonalnot lindern können oder wie eine Green Care aussehen könnte. Im Pflegeprogramm des Hogrefe Verlages gilt es, die Programmbereiche der Dementia Care, Palliative Care und Psychiatrischen Pflege zu stärken, die Literatur zu Pflegeprozess und Pflegeklassifikationen (NIC & NOC) zu aktualisieren, neuere Bereiche wie die onkologische Pflege und Green Care auszubauen. Als Programmleiter werde ich versuchen, mich weiter in der Kunst zu üben, das Gras neuer Themen wachsen zu hören und die Talente junger Pflegeautor:innen zu erkennen und zu fördern. Wenn dann eines Tages noch ein:e mutige:r engagierte:r und publizistisch interessierte:r Pflegekolleg:in an meine Lektoratstür klopft, die sich die Aufgabe eines:r Programmleiter:in für Pflege zutraut, würde ich diese:n freudig in die Welt der Pflegepublizistik einführen und meine Erfahrung und mein Wissen weitergeben. ■
Vielen Dank für das Gespräch! Literatur verfügbar über juergen.georg@hogrefe.ch
Christoph Müller ist Pflegefachmann mit langjährigen Erfahrungen in der psychiatrischen Versorgung und Fachautor. arscurae@web.de
SRH Hochschule für Gesundheit
Ein Studium für eine gesunde Zukunft.
Wir sind Impulsgeberin für innovative und vielfältige Bachelor- und Masterstudiengänge in den Bereichen Gesundheit und Soziales und wenn es um berufsbegleitendes Studieren geht, auch Ihre verlässliche und erfahrene Partnerin. Studium, Privates und Berufsleben unter einen Hut bringen? Mit uns kein Problem. Lassen Sie uns gemeinsam Ihren Weg am Wachstumsmarkt Gesundheit gehen, zum Beispiel mit unseren Studiengängen:
— Medizinpädagogik, B.A.
— Pflege, B.Sc.
— Physician Assistant, B.Sc.
— Gesundheits- und Sozialmanagement, M. A. —Arbeits- und Organisationspsychologie, M. Sc. www.srh-gesundheitshochschule.de
Lernen wir uns kennen! Sie haben Großes vor und suchen das passende Studienangebot? Dann schauen Sie bei uns vorbei und lassen Sie sich inspirieren.
Schwingen und Klingen
Regenerieren durch Musikresonanz
Regina Raab
Über die basale Fähigkeit, Schwingungen wahrzunehmen und mit ihnen in Resonanz zu treten, verfügen Menschen bereits vor ihrer Geburt. Unsere Autorin stellt innovative Klangmöbel und ihre vielfältigen therapeutischen Einsatzmöglichkeiten vor.
In einer Zeit, in der die Bedeutung von psychischer Gesundheit immer mehr anerkannt wird, bietet Musikresonanz durch Instrumente – wie beispielsweise Klangschalen und Monochorde sowie Klangmöbel wie Klangwiege und Klangmassage-Schaukelstuhl – einen wirksamen Weg zur Förderung von Entspannung und innerem Wohlbefinden. In einer harmonischen Klangumgebung können Menschen leichter einen Moment der Ruhe finden und mit sich selbst und ihrer Umgebung in Einklang kommen.
Was ist Musikresonanz?
Caspar Harbeke, Entwickler und Produzent der Klangwiege, prägte den Begriff „Musikresonanz“ und erklärt diesen wie folgt:
„Bei der Definition von Resonanz werden Gegenstände gleicher Frequenz von der Frequenz der Frequenzquelle angeregt, mitzuschwingen. Wenn zum Beispiel auf einer Trompete der Ton A (440 Hz) gespielt wird und sich in dem Raum eine Gitarre befindet, fängt die A-Saite der Gitarre an, mitzuschwingen, während alle anderen Saiten nicht mitschwingen. Als Musikresonanz definiere ich beispielsweise folgende Situation: Die Person, die mit einem Klangmöbel oder Resonanzinstrument Kontakt hat und von einer anderen Person bespielt wird, nimmt die Schwingung der Frequenzen akustisch und vibratorisch über die Haut wahr. Dies ist nicht nur ein physiologischer Vorgang, sondern es entsteht dabei auch über die Musikwahrnehmung eine zwischenmenschliche emotionale Resonanz.“
Entspannung in der Klangwiege
Die Klangwiege bildet einen halbrunden Resonanzraum, in dem sowohl Kinder als auch Erwachsene mit den Saitenklängen, die auf ihr gespielt werden, intensiv fühlbar in Resonanz ge-
Die Klangwiege im pädagogischen Umfeld. Alle Fotos: Allton-Archiv
hen. In unterschiedlichen Therapiebereichen und im pädagogischen Umfeld – etwa in Kindergärten und Schulen – eröffnet sie die Möglichkeit, tiefe Entspannungszustände und Wohlbefinden zu erleben. Sie unterstützt daher ganz wesentlich den Erfolg therapeutischer Anwendung. Die Klangwiege ist ein Klangmöbel, das den Menschen als Wesen von Körper, Geist und Seele harmonisch mit sich selbst verbinden kann.
Was ist eine Klangwiege?
Die Klangwiege ist eine Verbindung von Musikinstrument und Entspannungsmöbel. Musikinstrumente werden entwickelt und gebaut, um Töne und Tonfolgen im hörbaren Bereich herzustellen, vorwiegend zum akustischen Hörgenuss. Vibroakustische Resonanzinstrumente, wie die Klangwiege, aber auch Monochorde oder Klangschalen, werden speziell für den Einsatz zum Hören und Fühlen hergestellt. Durch Körperkontakt mit der Klangwiege werden die Schwingungen der Frequenzen am ganzen Körper spürbar. Mit kleineren Instrumenten erfolgt dieser Effekt punktuell.
Wer in der Klangwiege liegt, kann gleichzeitig hören und spüren, was auf ihren Saiten gespielt wird. Eine Klangwiege hat auf der rechten und linken Außenseite jeweils 18 Klaviersaiten, die auf den gleichen Ton gestimmt sind. So können Kinder und Erwachsene ein erstaunliches Klangerlebnis mit vielen Sinnen wahrnehmen und genießen. In der Wiegeschale befindet man sich in einem Resonanz-
raum. Die Klänge sind hörbar, als säße man im Inneren einer Harfe, und sind gleichzeitig im ganzen Körper zu spüren. Dabei noch sanft gewiegt, erreicht man in kürzester Zeit eine Tiefenentspannung mit ausgleichender Wirkung.
Regeneration ist vielseitig
In der Musiktherapie, Psychotherapie und Pädagogik hat die Klangwiege in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Ihr Einsatz führt zum Beispiel zu Entspannung und Beruhigung, Bindungsförderung, Stimulation der Sinne, Förderung von Selbstregulation und Selbstbewusstsein sowie Kreativität und Ausdruck.
Die sanften Klänge der Klangwiege reduzieren Stress und haben eine beruhigende Wirkung. Dies ist besonders hilfreich für Menschen, die unter Angstzuständen, Schlafstörungen oder anderen stressbedingten Problemen leiden. Die Wiegebewegungen mit den dazu harmonischen Klängen der Klangwiege können eine emotionale Verbindung zwischen Therapeut* und Klanggästen (ob Erwachsene oder Kinder) fördern.
Gleichzeitig mehrere Sinne, einschließlich des Gehörs und des taktilen Sinns, werden durch die Arbeit mit der Klangwiege angesprochen. Dies kann besonders wirksam sein, um Menschen mit Regulationsstörungen, sensorischen Verarbeitungsstörungen oder anderen neurologischen Erkrankungen zu unterstützen. Durch das Spüren der beruhigenden Klänge und der Bewegungen der Klangwiege können Menschen lernen, sich selbst zu
beruhigen und ihre Emotionen besser zu regulieren. So wird das Selbstbewusstsein gestärkt und das allgemeine Wohlbefinden verbessert. Darüber hinaus bietet die Klangwiege Raum für kreativen Ausdruck und Improvisation, der besonders in der pädagogischen Arbeit geschätzt wird. Insgesamt bietet die Klangwiege eine einzigartige Möglichkeit, verschiedene therapeutische Ziele zu erreichen und das Wohlbefinden von Menschen auf ganzheitliche Weise zu fördern.
Vestibuläre Wahrnehmung
Vestibuläre Wahrnehmung ermöglicht dem Menschen den aufrechten Gang, Orientierung im Raum und das Halten des Gleichgewichts bei Bewegungen des Körpers. In einer Studie ließen Forscher 25 demenzerkrankte Menschen täglich mindestens eine Stunde lang schaukeln. Das Ergebnis: Die geschaukelten Menschen benötigten weniger Schmerzmittel, waren weniger ängstlich, weniger depressiv und das Gleichgewichtsorgan wurde stimuliert (Watson et al. 1998).
Die Klangwiege ist bewusst so konzipiert, dass man in ihr wiegen, schaukeln oder gewiegt werden kann. Eine gezielte Links-Rechts-Bewegung mit akustischer Begleitung auf der entsprechenden Seite kann durchgeführt werden, was unter anderem in der Neurologie Anwendung findet.
Studien mit der Klangwiege
Im Gesundheitszentrum Sokrates in der Schweiz (klinik-sokrates.ch) wird die
Dipl. Musiktherapeutin, Heilpraktikerin Psychotherapie und Psychoonkologin Cordelia Fischer mit der Klangwiege (l.). Der Klangmassage-Schaukelstuhl (r.).
Klangwiege bei Durchblutungsstörungen, Stoffwechselerkrankungen und als Therapeutikum zur Schmerzlinderung eingesetzt. Der Musiktherapeut Thomas Schröter führte in den Jahren 2003 und 2004 eine Pilotstudie mit der Klangwiege bei Schmerzpatienten durch. Die Einzelbehandlung wurde von allen Patientenwährend und zum Teil auch noch einige Tage nach der Behandlung als entspannungsfördernd und schmerzlindernd beschrieben (Bernatzky et al. 2007).
Die Entstehung der Klangwiege
Vor gut 30 Jahren wurde die erste Klangwiege von Caspar Harbeke entwickelt. Das Thema Schwingung und Gesundheit sowie die Entwicklung multisensorischer Klanginstrumente stehen heute im Mittelpunkt seiner Arbeit. Neben anderen Instrumenten wurde insbesondere die Klangwiege zu einem wichtigen Unterstützungsinstrument in unterschiedlichen Praxen. Von der Musiktherapie über Ergotherapie bis zur Psychotherapie.
„Das Instrument Klangwiege löst ein Kribbeln im ganzen Körper aus, so als würde man von Innen gestreichelt.“
Auf der europäischen MusiktherapieTagung 1994 in Aalborg (Dänemark) begegnete Caspar Harbeke dem Musiktherapeuten Eyjòlfur Melsted aus Island. Dieser fragte, ob Harbeke sich vorstellen könne, seine Idee eines neuartigen Instrumentes umzusetzen. Er zeigte ihm eine Skizze mit einer Halbröhre, die außen mit Saiten bespannt war und erklärte seine Idee wie folgt: „Schon weit vor der Geburt ist das Hörorgan des Menschen fertig ausgebildet. Es ist in der Lage, zu hören und zu schwingen sowie Schaukelbewegungen wahrzunehmen. Im geschützten Raum der Mutter sind das intensive und tiefe Sinneserlebnisse, die zumeist mit Wohlbefinden und Entspannung verbunden sind. Diese Erlebnisse möchte ich in einem Instrument auch für Erwachsene fühlbar machen und mit einem Patienten ausprobieren.“
* Aus Platzgründen wurde im Text die männliche Form gewählt, dennoch beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter.
Caspar Harbeke
Im Anschluss an seine Ausbildung zum Bankkaufmann studierte Caspar Harbeke von 1983 bis 1988 an der Gesamthochschule Kassel Architektur und schloss dieses Studium als Diplomingenieur ab. In all den Jahren begleitete ihn seine Leidenschaft für das eigene Musizieren sowie sein Interesse am Bau von Instrumenten.
Bereits im Alter von sieben Jahren spielte er Gitarre. Sein Interesse am Handwerk, speziell im Bereich der Holz- und Metallverarbeitung, wurde in seiner Jugend durch die Schmiede seines Vaters geweckt und geprägt. Während seines Studiums besuchte er einen Trommelworkshop und beschloss spontan, seine eigenen Trommeln zu bauen.
Er machte seine Leidenschaft zum Beruf und gründete nach seinem Studium 1988 gemeinsam mit Silke Hausser die Firma Allton, die sich auf die Produktion von Klangmöbeln und Musikinstrumenten spezialisiert hat. Für Allton ist er seit Gründung als Produktentwickler und gemeinsam mit Silke Hausser alsGeschäftsführer tätig. Seit gut 30 Jahren ist er darüber hinaus bundesweit als Dozent für Musik, Harmonie und Entspannung in Pädagogik und Therapie tätig. Im Oktober 2021 gründete Caspar Harbeke die Musikresonanz-Akademie in Bad Zwesten (Hessen).
Mit dieser Erklärung war das Interesse von Caspar Harbeke geweckt und er begann mit Planung und Konstruktion der heute vielfach eingesetzten Klangwiege mit einer Länge von damals 130 Zentimetern, in die sich sowohl Kinder als auch Erwachsene hineinlegen konnten. So wurde eines der ersten Musikinstrumente geschaffen, in das eine Person im Inneren des Resonanzraumes liegen und gewiegt werden kann. Durch Spielen der außen angebrachten Saiten wurden die so erzeugten Schwingen innen hör- und spürbar. Melsted nannte dieses, damals noch neuartige, Instrument „Klangwiege“, das ein Kribbeln im ganzen Körper auslöste, so als würde man von Innen gestreichelt.
Caspar Harbeke sagt heute: „Nun ist es schon 30 Jahre her, dass ich mit der Entwicklung der ersten Klangwiege begonnenhabe. Nie hätte ich damals gedacht, dass dieses Instrument in den kommenden Jahrzehnten einen so entscheidenden Einfluss auf mein Leben und Schaffen nehmen würde.“
Körperwahrnehmung und Tiefenentspannung
Die Klangwiege gibt es heute in unterschiedlichen Längen und Breiten, ausgestattet mit Stimmstöcken für die Stimmstabilität, hergestellt aus möglichst regionalen Materialien. Sie bietet durch die Eigenschaften ihrer Bauweise vielfältige Nutzungsmöglichkeiten der therapeutischen Anwendung.
Ein Jahr nach Herstellung des ersten Prototyps wurde die Klangwiege beim Musiktherapie-Weltkongress in Hamburg erstmalig einer breiten Öffentlichkeit präsen-
tiert. Dort wurde sie beim InstrumentenWettbewerb 1996 prämiert, und schnell war klar, dass dieses damals neue Instrument nicht nur für Melsted ein wichtiges Therapiegerät war, sondern auch das Interesse anderer therapeutisch tätiger Menschen weckte.
Heute ist sie in vielen Therapiepraxen, Reha-Kliniken, Kindergärten und Entspannungsstudios langjährig erfolgreich erprobt. Sie wird geschätzt wegen ihres Potenzials zur Förderung der Körperwahrnehmung und Tiefenentspannung.
Caspar Harbeke sagt dazu: „Die Klangwiege ist so konzipiert, dass sie flexibel, stabil und variabel wie kaum ein anderes Klangmöbel oder Therapie-Instrument verwendet werden kann: im Liegen als Wiege, umgedreht als Kuppel/Tunnel, senkrecht aufgestellt als ‚Klangdusche‘ oder mit einem Sitzeinsatz verbunden als Klangstuhl. Die ‚Klangmassage‘ mit der Klangwiege schafft intensive und vielfältige Erlebnisse für Menschen jeder Altersstufe.“ ■
Auf der Internetseite musemap.de erhalten Interessierte einen kleinen Überblick darüber, wer wo mit Klang und Musikresonanz arbeitet.
Quellen Bernatzky, G./Likar, R./Wendtner, F./Wenzel, G./Ausserwinkler, M./Sittl, R. (Hg.) (2007): Nichtmedikamentöse Schmerztherapie. Wien/New York: Springer VS. Watson, N. M./Wells, T. J./Cox, C. (1998): Rocking chair therapy for dementia patients: Its effect on psychosocial well-being and balance. In: American Journal of Alzheimer´s Disease 13(6), S. 296–308.
Regina Raab ist Zertifizierungsbeauftragte der Musikresonanz-Akademie. post@musikresonanz-akademie.de
Botox für verkrampfte
Pianist:innenhände
Resilienzarbeit bei Musiker:innen
Viele Instrumentalsolist:innen versuchen mit Betablockern, ihre Auftrittsangst in den Griff zu bekommen. Die Musikermedizin beschäftigt sich daher verstärkt mit den körperlichen und seelischen Belastungen der bundesweit 70 000 Berufsmusiker:innen.
Profimusiker:innen üben fast täglich mehrere Stunden, und das über Jahrzehnte. Dabei sind sie einseitigen körperlichen Belastungen ausgesetzt, die mit denen von Hochleistungssportler:innen vergleichbar sind – mit dem Unterschied, dass Musiker:innen ihren Beruf auf höchstem Niveau viel länger ausüben. Das hat Folgen: In der Studie „Älter werden im Orchester“ gaben 55 Prozent der im Jahr 2008 befragten Musiker:innen an, gegenwärtig unter körperlichen Beschwerden zu leiden. In der Zeitschrift Musikphysiologie und Musikermedizin heißt es: „Es ist anzunehmen, dass bis zu 80 Prozent der professionellen Instrumentalmusi-
kerInnen im Laufe ihres Berufslebens von verschiedenartigen musizierbezogenen Beschwerden mit temporären oder chronischen Beeinträchtigungen der Berufsausübung betroffen werden.“ (Musikphysiologie und Musikermedizin 3/2016, S. 111)
Diese Aussage stammt von Eckart Altenmüller, der als Pionier in der Musikermedizin gilt. Bei dem Neurologen, der kürzlich als Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizinan der Musikhochschule Hannover in den Ruhestand gegangen ist, haben über Jahrzehnte Profimusiker:innen Hilfe gesucht – häufig wegen chronischer Schmerzen infolge einer Überlastung, die durch das stundenlange Üben ausgelöst werden. Zu den häufigsten Symptomen zählen Schulter-, Rückenund Unterarmbeschwerden, gefolgt von Ängsten und Zwangsstörungen, Bewegungsstörungen und unwillkürlichem Zittern. Jede:r zehnte Musiker:in leidet laut Altenmüller unter permanenten Schmerzen als Folge des Berufes.
Foto: Mauritius images/MacRein
Botox-Behandlung als Weg aus einer existenzbedrohenden Krise
Eine besondere Krankheit ist die Musikerdystonie. Darunter versteht man muskuläre Verkrampfungen der Finger beim Spielen. Laut Schätzungen sind davon zwei Prozent der rund 70 000 Berufsmusiker:innen in Deutschland betroffen. Im Schnitt waren Altenmüllers Patient:innen 34 Jahre alt, wenn sie oft nach langem Leidensweg wegen dieser Krankheit zu ihm kamen. Einer Krankheit,die Zukunftspläne bedroht. „Sie sind wütend, haben Angst den Beruf zu verlieren, glauben, falsch geübt zu haben und geben sich die Schuld. Viele werden in eine tiefe Krise gestürzt“, berichtet Altenmüller.
„In den USA stehen erkrankte Musiker, die Behandlungen nicht selber
zahlen können, oft vor dem sozialen Abstieg.“
Er hat seit 1994 rund 2 000 Musiker:innen mit Botulinumtoxin behandelt, bekannt unter dem Handelsnamen Botox. Es trägt zur Entspannung bei. 70Prozent der Patient:innen können nach seinen Angaben durch die Behandlung, die regelmäßig wiederholt werden muss, Musiker:in bleiben. Einem, dem dies nicht gelang, wurde dennoch als Komponist bekannt: Robert Schumann gilt als erster Musiker, bei dem Musikerdystonie belegt ist, durch die er vom hoffnungsvollen Pianisten zum berühmten Komponisten wurde. Dies ist allerdings kein typischer Weg. „Die anderen 30 Prozent suchen sich häufig ein ganz neues Berufsfeld aus, weil sie nicht an ihr vermeintliches Versagen erinnert werden wollen. Viele werden Ärzte, Physiotherapeuten oder Logopäden und sind nach dem Umstieg zufrieden“, sagt Altenmüller,der neben Medizin auch ein Musikstudium (Hauptinstrument Querflöte) abgeschlossen hat.
Er hat sowohl Orchestermusiker:innen als auch Rapper:innen oder Death-MetalBandmitglieder behandelt. „Sie sind alle
Profis, investieren viel und betreiben ihren Beruf unglaublich verantwortungsvoll. Ich bin absolut wertfrei – ich würde mich nie über Helene Fischer erheben, sie macht sehr gute Arbeit.“
Bessere Ergonomie und gestiegene Anforderungen
Die Begeisterung legt sich, wenn Altenmüller über die Arbeitssituation der Berufsmusiker:innen in Deutschland spricht. „Die ergonomischen Bedingungen sind besser geworden, es gibt bessere Instrumente. Doch die Anforderungen sind gestiegen, durch mehr Konkurrenz, mehr Erfolgsdruck, mehr Auftritte, weniger Geld. Angst und Burnout haben zugenommen.“ Diese Verschlechterung treffe zum Beispiel auch auf Kirchenmusiker:innen zu. Musiker:innen mit einer A-Qualifikation würden mit einem B-Gehalt bezahlt, hauptberufliche seien in nebenberufliche Stellen umgewandelt worden. „Die körperliche Beanspruchung für Organisten ist extrem, auch angesichts kalter Kirchen“, sagt Altenmüller. Er lobt das deutsche Gesundheitssystem, das die Kosten für die teure Botoxbehandlung trägt: „In den USA stehen erkrankte Musiker, die diese Behandlung nicht selber zahlen können, oft vor dem sozialen Abstieg.“
Die Deutsche Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin (DGf MM) fordert mehr Prävention, insbesondere im Studium. Angehende Berufsmusiker:innen müssten frühzeitig im Fach Musikphysiologie anatomische, physiologische und biomechanische Grundkenntnisse erwerben, um auf Dauer beschwerdefrei arbeiten zu können. „Auch im Orchester selbst fehlt es häufig an engagierter Betreuung durch Betriebsmediziner oder Physiotherapeuten, welche den Musikern allgemeine und spezifische Präventionsmaßnahmen vermitteln und sie im Umgang mit gesundheitlichen Problemen schulen“, heißt es in einer DGfMM-Stellungnahme. (Musikphysiologie und Musikermedizin 1/2023, S. 61.)
Depressionsrisiko Berufsmusik
Beim diesjährigen Symposium zum 30jährigen Bestehen der Gesellschaft in Hannover ging es auch um die psychischen Belastungen als Risikofaktoren bei professionellen Musiker:innen. „Persönlichkeitsstile beeinflussen psychische Erkrankungen. Bei einem Hang zum Perfektionismus und zur Labilität erhöht sich die Angst
vor Auftritten“, sagt Isabel Fernholz, Ärztin für psychosomatische Medizin am Centrum für Musikermedizin an der Charité Berlin. Von 678 Studierenden und Lehrenden der Musik, die in ihre Sprechstunde kamen, erfolgte bei 46 eine klinische Intervention mit anschließender Psychotherapie, einem Auftrittstraining oder der Verordnung von Antidepressiva. Sie berichtet von Studien aus den Niederlanden, wonach 20 Prozent der Berufsmusiker:innen unter Angststörungen und 12 Prozent unter Depressionen leiden. „Musikstudierende sind hoch belastet. In unseren Sprechstunden wird uns immer wieder von einem niedrigen Selbstwertgefühl berichtet“, sagt Fernholz.
Dies scheint auch mit dem Studium selber zu tun zu haben. „Wir müssen auch die Lehrenden im Blick haben, die einst in ihrer Ausbildung extremem Druck ausgesetzt waren und diesen heute noch zum Teil auf Studierende ausüben“, räumt Jochen Blum ein, Professor für Musikphysiologie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main. Eine studentische Initiative gegen Machtmissbrauch an Musikhochschulen hat seit Juni 2023 von 161 Studierenden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz Berichte bekommen, in denen über Dozierende geklagt wird, die sie anschreien, beleidigen oder unpassend berühren. Ein Mitglied der Initiative, das ungenannt bleiben will, betont: „In Musikhochschulen wird Machtmissbrauch durch ein sehr starkes Machtgefälle, überwiegend Einzelunterricht und eine starke Abhängigkeit der Studierenden von den Professor:innen gegenüber begünstigt… Viele Studierende berichten, dass sie Angst vor Konsequenzen haben, wenn sie ihre Erfahrungen an der Hochschule ansprechen. Das darf nicht so weiter gehen!“
Betablocker gegen Auftrittsangst sind weit verbreitet
In der Realität geht nach erfolgreichem Studium der Stress beim Probespiel um eine freie Stelle bzw. bei Soloauftritten vor Publikum aber weiter. Altenmüller spricht von rund 60Prozent der Solospieler:innen in Orchestern, die gelegentlich oder regelmäßig Betablocker schlucken, um ihre Auftrittsangst zu bekämpfen. Bei Einsteigern beobachtet Altenmüller häufiger Schmerzen, die aus Überlastungsverletzungen durch fehlende Schonung entstehen, weil sie meinen, dass sie nur so den
Erwartungen gerecht werden. Nach seinen Worten ist dies auch ein Resultat der wachsenden Arbeitsbelastung von Orchestermitgliedern, die in den letzten 20 Jahren sehr viel schneller sehr viel mehr Repertoire proben und beherrschen müssen. Dagegen treten bei Musiker:innen ab 45 Jahren zunehmend körperliche Beschwerden infolge nachlassender körperlicher Belastbarkeit auf.
Die Psychologin Stine Alpheis vom Institut für Musizierendengesundheit der Musikhochschule Lübeck betont, dass man seine Widerstandsfähigkeit trainieren kann, um unter diesen Bedingungen gesund zu bleiben. Dazu gehören Achtsamkeits- und Kommunikationsübungen, um Belastungen besser wahrzunehmen und für Probleme gemeinsam Lösungen zu finden. Zudem tragen Selbstwertüberzeugung, das Verlassen der Opferrolle sowie Freundschaften und Netzwerke dazu bei, besser mit Stress umzugehen. „Studien zeigen, dass die Liebe zur Musik die größte Ressource für Musikerinnen und Musiker ist“, sagt Alpheis.
Positive Auswirkungen des Musizierens
Altenmüller hat sich nicht nur durch die Behandlung von Musiker:innen, sondern auch durch seine Grundlagenforschung zur Wirkung von Musik und Musizieren auf die Entwicklung von Gehirnstrukturen in der Fachwelt einen Namen gemacht. Dabei fällt seine Bilanz positiv aus, wenn es um den Einsatz von Musik bei Patient:innen mit Schlaganfall, Parkinson, Depression, Autismus und anderen Krankheiten geht. „Musiktherapie galt lange als esoterisch. Das ist heute nicht mehr so, sie spielt auch in der Prävention eine große Rolle“, sagt Altenmüller.
Er freut sich zudem, dass immer mehr Senior:innen das (Wieder-)Erlernen eines Instruments und dabei die positiven Auswirkungen auf Feinmotorik und Gedächtnis für sich entdecken. An seinem Institut haben Wissenschaftler:innen in einem Experiment festgestellt, dass Menschen um die 70, die als Anfänger ein halbes Jahr regelmäßig unter Anleitung Klavier geübt hatten, bei störenden Hintergrundgeräuschen ihr Gegenüber deutlich besser verstehen können als gleich alte Menschen aus einer Vergleichsgruppe ohne Musikunterricht. Die Klaviergruppe habe zudem Informationen schneller verarbeiten können.
„Das ist ein sehr wichtiger Effekt, denn das im Alter nachlassende Gehör führt oft dazu, dass sich Menschen im Alltag in die Einsamkeit zurückziehen, weil sie die Umgebung nicht mehr gut verstehen können. Dieser Rückzug erhöht das Risiko einer Demenz“, sagt Altenmüller. „Das Musizieren ist eine gute Methode, um den kognitiven Abbau zu verzögern“, ergänzt Institutsmitarbeiter Florian Worschech.
Ausgewogene Aktivitäten können das Demenzrisiko verringern Altenmüller verweist in seinem Buch „Vom Neandertal in die Philharmonie. Warum der Mensch nicht ohne Musik leben kann“ (Springer 2018) darauf, dass es nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen zu der Frage gebe, ob Musikhören und Musizieren einer Demenz vorbeugen können. Dazu gehört eine im New Yorker Stadtteil Bronx durchgeführte Studie, bei der knapp 500 Menschen über 75 Jahre ohne Demenz über fünf Jahre immer wieder befragt und untersucht wurden. In dieser Zeit entwickelten 27 Prozent von ihnen eine Demenz. Bei denen, die wöchentlich mehrfach Musik machten, erkrankten nur 24 Prozent an einer Demenz. Noch seltener von einer Demenz waren der „Bronx Aging Study“ zufolge diejenigen betroffen, die häufig Kreuzworträtsel lösten (11 Prozent), Schach spielten (16 Prozent), tanzten (17 Prozent) oder lasen (22 Prozent).
„Eine Kombination verschiedener Aktivitäten ist optimal“, sagt Altenmüllerund verweist auf die 5-L-Regel. Danach können neben dem Lernen auch das Laufen (jede Form körperlicher Aktivität führtzu besserer Durchblutung und Stoffwechsel im Kopf), das Lieben und Lachen (bessere Stimmung und ständige Forderung des Gehirns durch Sozialkontakte und emotionale Anteilnahme) sowie das Leben (gesunder Lebensstil durch Mischkost, wenig Alkohol und kein Nikotin) zur Vermeidung einer Demenz beitragen. ■
Weitere Informationen zum Thema Musikergesundheit und musikmedizinische Institute in Deutschland gibt es auf der Homepage von unisono Deutsche Musik- und Orchestervereinigung unter https://uni-sono.org/projektkampagnen/ musikergesundheit
Joachim Göres ist Diplom-Politologe und arbeitet als freier Journalist in Celle. joachim.goeres@t-online.de
Frühzeitig mitdenken!
Wenn ein Elternteil an Krebs erkrankt: Nicht wahrgenommene
Kinder sind die Patient:innen von morgen
Bianca Senf
Erkrankt ein Elternteil an Krebs, betrifft das immer auch unmittelbar die Kinder. Fachkräfte im Gesundheitswesen haben heute viele Möglichkeiten, die ganze Familie zu unterstützen. Unsere Autorin erläutert altersabhängige Reaktionen von Kindern und Jugendlichen eines krebskranken Elternteils und erklärt, was Kinder benötigen und als hilfreich wahrnehmen.
Vor allem Fachkräften kommt eine wichtige Schlüsselfunktion zu, wenn es darum geht, von Krebs betroffene Eltern für die Bedürfnisse ihrer Kinder zu sensibilisieren. Werden Eltern von ihren Behandler:innen oder Pflegefachkräften frühzeitig auf das Zusammenfallen von Krebserkrankung und Elternschaft angesprochen, hat dies einerseits positiv zur Folge, dass auch Eltern sich von Beginn an erlauben können, die Diagnose als Familienangelegenheit zu begreifen, andererseits bekommen sie das Signal, dass ihre Kinder vom Behandlungsteam mitgedacht und mitbedacht werden und die Familie sich mit ihren Fragen an das Behandlungsteam wenden kann. Damit Fachkräfte ihre Patient:innen motivieren können, sich frühzeitig damit zu beschäftigen, wie sie in der Situation hilfreich mit ihren Kindern kommunizieren können und wo sie Hilfe und Unterstützung finden, sollten sie selbst über Grundlagenwissen verfügen und in der Lage sein, offen mit den betroffenen Eltern zu sprechen –denn: Die beste Hilfe für Kinder ist die Stabilität der Eltern.
Health Professionals zwischen Unsicherheit und dem Wunsch, zu helfen Frau Müller* ist Krankenpflegerin auf der gynäkologischen Station eines Krankenhauses der Maximalversorgung. Die Betreuung von Menschen mit einer Krebserkrankung gehört zu ihrem All-
tag. Dass ihre Patient:innen häufig auch noch schulpflichtige Kinder haben, ist ebenso normal. Immer wieder kommt es darüber hinaus vor, dass sie noch junge Frauen betreut, die progredient erkrankt sind oder deren Befinden sich innerhalb der stationären Versorgung ganz plötzlich so verschlechtert, dass sie auf der Station versterben. In der Supervision berichtet sie darüber, wie schwer ihr die Betreuung so ernst erkrankter Frauen fällt, da sie ständig auch die Kinder vor sich sähe, die in absehbarer Zeit ihre Mutter verlieren würden.
„Bei Patientinnen, die operiert werden und oft nur zwei Tage bei uns liegen, macht mir das nichts aus.Da mache ich auch oft mit den Kindern nur Quatsch. Was soll ich auch sagen? Bei den Kindern, die bei ihren schwer erkrankten Müttern zu Besuch sind, oft ja über eine längere Zeit, könnte ich selbst in Tränen ausbrechen. Was sagt man denn da? Ich bin mir total unsicher.“
So wie es Frau Müller geht, fühlen sich viele Kolleg:innen. Hier ist zentral, sich die eigene Betroffenheit bewusst zu machen und eine mögliche Identifizierung mit der Situation von Patient:innen zu reflektieren. Kann man sich dies nicht erlauben oder gibt es keinen Raum für Reflexion, geschieht es schnell, dass man aus dem Bauch heraus handelt, ohne konkrete Kenntnisse und Wissen über das Thema zu besitzen – oder dass man unbewusst oder aber auch bewusst Fragen und Anliegen von Eltern abwehrt. Dies äußert sich oft in einem Ausweichen oder Abbruch der Kommunikation mit Patient:innen über mitbetroffene Kinder. Häufig kommt es vor, dass Kinder und Jugendliche vor der Situation stehen, dass ein Elternteil stirbt, ohne dass irgendwer sie darauf vorbereitet hätte. Dies bedeutet, dass man den Kindern und ihren Familien jegliche Möglichkeit nimmt, Abschied zu nehmen, was zu weitreichenden negativen Konsequenzen für die Kinder führen kann.
Eltern in Not
In einer Untersuchung von Trabert und Kolleg:innen (2007) sehen 50 % aller Eltern von Kindern unter fünf Jahren keine Notwendigkeit, mit ihren Kindern über die Diagnose Krebs zu sprechen. Eltern möchten ihre Kinder nachvollziehbarerweise nicht belasten. Sie sorgen sich, dass es den Kindern schadet, wenn sie sich mit dem Thema Krebs auseinandersetzen müssen und das Thema ihnen unnötig Angst macht. Eine qualitative Studie aus dem Jahr 2023 bestätigt, dass Eltern Schwierigkeiten haben, die Reaktionen ihrer Kinder auf ihre Krebserkrankung zu verstehen. Häufig erkennen sie die Stressreaktionen ihrer Kinder, vermeiden aber die Kommunikation darüber mit ihnen. Die meisten Eltern beurteilten in der Studie das Wohlbefinden der Kinder im Hinblick auf deren tägliche Aktivitäten und Verhalten mit der eigenen Interpretation, was „normales“ Verhalten aus ihrer Perspektive im Hinblick auf die Erkrankung ist (Hauskov Graungaard et al. 2023). Je jünger Kinder sind, desto eher sind Erwachsene der Auffassung, dass Kinder noch zu klein sind, um zu verstehen, was Krebs ist oder auch, was Sterben bedeutet.
Dies trifft auch auf Behandlungsteams in Kliniken oder onkologischen Schwerpunktpraxen zu. Vorbehalte, wenn es darum geht, Eltern zu motivieren, mit ihren Kindern offen zu sprechen und sie miteinzubeziehen, werden immer wieder formuliert – vor allem dann, wenn Patient:innen fortgeschritten erkrankt und die Kinder noch jung sind.
Normale Anpassungsreaktion versus psychische Störung
Joris* ist fünf Jahre alt, als seine Mutter mit 33 Jahren an Brustkrebs erkrankt. Joris hat zwei ältere Geschwister aus der ersten Beziehung seiner Mutter. In der aktuellen Partnerschaft gibt es seit längerer Zeit heftige Spannungen. Joris' Mutter spielt mit dem Gedanken, sich zu trennen, als sie die Diagnose erhält. Von einem Tag auf den anderen ändert sich alles im Leben der Familie. Spontan entscheidet das Paar, zu heiraten. Die Patientin erhält eine Chemotherapie, wird operiert und bekommt eine Bestrahlungsbehandlung. Da sie niemanden hat, der Joris während der Chemotherapie betreut, nimmt sie ihn oft mit in die Klinik, obwohl ihr davon abgeraten wird, das Kind dieser Situation auszuset-
zen. Joris erlebt viele Patient:innen im Chemotherapie-Zimmer, hört ihre Gespräche mit und erlebt viele verschiedenen Gefühlsäußerungen der Mitpatient:innen. Joris beginnt plötzlich, sich in die Arme zu kneifen. Dann möchte er nichtmehr alleine schlafen. Albträume quälen ihn. Im weiteren Verlauf wird er aggressiv, schlägt die Mutter. Die Mutter ist nicht davon zu überzeugen, dass es ihrem Kind emotional zunehmend schlechter geht und es durch die Situation überfordert ist. Die Symptome nehmen zu. Joris beginnt, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen, er nässt wieder ein, weint viel. Nun ist die Mutter bereit, eine Beratung aufzusuchen. Der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, dem Joris vorgestellt wird, stellt die vorläufige Verdachtsdiagnose: Posttraumatische Belastungsstörung. Joris geht nun regelmäßig zur Psychotherapie. Die ambulante Behandlung zeigt nicht den erhofften Erfolg und Joris muss stationär in der Kinderpsychiatrie aufgenommen werden. Die Behandlung dauert sechs Monate, bis er wieder nach Hause kann.
Wie im Beispiel von Joris, verändern sich Kinder oft schleichend. Wenn auf Veränderungen nicht reagiert, die Not des Kindes also übersehen wird, beginnen sich Symptome und Verhaltensänderungen zu verstärken oder zu chronifizieren. Es kann eine lange Latenzzeit bestehen, bis psychische Erkrankungen so offensichtlich werden, dass Eltern nicht mehr über sie hinwegsehen können. Die Diagnose einer psychischen Erkrankung ist der Endpunkt einer oft sehr langen Leidenszeit des Kindes.
Praktisch alle Kinder von Krebspatient:innen erleben zum Zeitpunkt der Diagnose ein erhöhtes Maß an Sorgen und
Ängsten, die ihr psychosoziales Wohlbefinden beeinträchtigen. Dies auch, wenn die Krebserkrankung gut behandelbar ist oder eine Remission vorliegt (Alexander et al. 2023). Viele Eltern, aber auch Begleiter:innen von betroffenen Kindern fragen sich zwischenzeitlich vielleicht, ob die Reaktionen des Kindes als „normal“ zu werten sind, oder Störungscharakter im Sinne einer psychopathologischen Störung aufweisen.
In der Tat ist es schon prinzipiell nicht ganz einfach, Reaktionen auf die Situation mit der Krebserkrankung von obligatorischen Entwicklungsthemen wie beispielsweise der Pubertät zu unterscheiden. Ganz gleich jedoch, woher bestimmte problematische Verhaltensweisen oder Stimmungen rühren, man sollte auf sie reagieren, sie ernst nehmen und sich um das Kind oder die Kinder kümmern. Prinzipiell können alle Gefühlsreaktionen bis zum „scheinbar gar nicht reagieren“ vorkommen. Wenn Eltern oder bedeutsame andere Personen im Umfeld des Kindes beginnen, sich Sorgen aufgrund von Verhaltensänderungen zu machen, ist das ein wichtiger Hinweis, der ernst genommen werden sollte.
Typische Verhaltensänderungen oder veränderte Emotionalität zeigen sich recht häufig im Schlaf- und Essverhalten. Kinder möchten beispielsweise nicht mehr alleine schlafen oder nur noch mit Licht, klagen möglicherweise über Albträume, beginnen sich zwanghaft gesund zu ernähren etc. Häufig klagen die Kinder auch vermehrt über Kopf- oder Bauchschmerzen. Solche Reaktionen zeigen Auswirkungen im Kindergarten- oder Schulalltag oder beim Ausüben von Hobbys. Halten Verhaltensänderungen an oder verstärken
sich wie im Fallbeispiel von Joris, liegt die Vermutung nahe, dass sich eine Belastungsstörung entwickelt hat.
Eine Orientierung bietet die „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ ICD-10 GM. Hier werden psychische Symptome und Verlaufsmerkmale beschrieben und zu einer Diagnose zusammengefasst. Eine Diagnose nach dem ICD-10 bildet die Voraussetzung, dass die Krankenkasse die Kosten für eine Kinderspieltherapie übernimmt.
Sterben eines Elternteils
Der Vater des neunjährigen Saymon* begann sich langsam große Sorgen um seinen Sohn zu machen. Seitdem bei der Mutter die Krebserkrankung fortschritt, sich Metastasen entwickelt hatten, wurde Saymon zunehmend aggressiv, hörte nicht mehr richtig zu und schlug grundlos andere Kinder. Wie sich in der Beratung herausstellte, wurde mit Saymon nicht über die Erkrankung der Mutter und die hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie bald sterben würde, gesprochen.
Für Kinder und Jugendliche ist jedoch jede noch so bedrückende Wahrheit besser zu verkraften als zu erfahren, dass alle um sie herum Bescheid wussten, nur sie selbst nicht, oder aber, dass sie angelogen wurden. Mit einer „geschönten Wahrheit“ nimmt man Kindern darüber hinaus jede Form einer gesunden und altersgerechten Verarbeitung. Zudem gehen Kinder mit Wahrheiten, die für sie unannehmbar sind, ähnlich um wie Erwachsene auch. Sie schieben weg (verleugnen), was momentan nicht verkraftbar ist. Die Verarbeitung kann sich so „schrittweise“ an die Realität anpassen. Abwehrmechanismen wie Verdrängen, Verleugnen, oder Rationalisieren sind für uns Menschen enorm wichtig. Sie dienen dazu, innerseelische und/ oder Konflikte mit bedeutsamen, anderen Personen so zu regulieren, dass sie der seelischen Verfassung der betreffenden Person Entlastung verschaffen.
McCaughan und Kollegen (2021) führten 79 qualitative Interviews mit fortgeschritten erkrankten Eltern sowie Eltern, deren Partner:in verstorben war, und mit Health Professionals durch. Die Ergebnisse zeigten, dass sich Eltern oft nicht in der Lage fühlten, ihre Kinder auf den Krebstod eines Elternteils vorzubereiten. Sie wünschten sich eine unterstützende Anleitung durch Health Professionals. Die
Hilfreiches Wissen für Health Professionals
● Verständnis von Krebs und seinen psychischen, psychosozialen und ökonomischen Auswirkungen auf Betroffene, Partner:innen und Kinder vertiefen.
● Information über Ressourcen und Unterstützungsmöglichkeiten für Kinder krebskranker Eltern vorhalten.
● Die Zusammenarbeit im interdisziplinären Team ermöglichen, um die bestmögliche Unterstützung für die Kinder und ihre Familien zu gewährleisten.
● Im Wartezimmer kann umfangreiches Material zum Thema Kinder krebskranker Eltern sowie Adressen von Unterstützungsmöglichkeiten ausgelegt werden, um Betroffenen zu vermitteln, dass sie sich mit Fragen an das Behandlungsteam wenden können.
● Es ist hilfreich, betroffene Eltern nach ihrer aktuellen Situation zu fragen und auf Unterstützungsmöglichkeiten wie Krebsberatungsstellen, von der Krankenkasse finanzierte Kinderbetreuungs- und Haushaltshilfen oder Härtefonds der Deutschen Krebshilfe e. V. hinzuweisen.
● Eltern sollten flexible Behandlungstermine angeboten werden. Jedes Festhalten an Regeln wie bestimmte Sprechzeiten sind für die Familie eine zusätzliche Belastung.
● Manche Behandler:innen können sich nicht gut vorstellen, was die elterliche Krebserkrankung bei einem Kind bewirken kann und reagieren zu starr und damit unflexibel, wenn es um Besuchszeiten geht. Hier hilft es, sich mit Kolleg:innen aus der Psychoonkologie zu beraten und sich Wissen anzueignen.
● Ob die Symptome, die ein Kind zeigt, schon Störungscharakter im Sinne einer psychopathologischen Diagnose aufweisen oder noch subsyndromal eingeordnet werden können, ist nicht immer einfach.
überwiegende Anzahl dieser waren sich der Herausforderungen, mit denen Eltern am Lebensende konfrontiert sind, jedoch gar nicht bewusst.
Kindzentrierte
Unterstützungsangebote
Lea* ist 15 Jahre alt, als ihre Mutter verstirbt. Der Tod der Mutter kommt für sie plötzlich, da diese mit ihr über das nahende Lebensende nicht sprechen konnte. Auch die behandelnden Ärzt:innen hatten sich ziemlich „bedeckt“ gehalten und waren weit davon entfernt, offen und ehrlich mit der Familie zu sprechen. Das Gegenteil war der Fall: Es wurde, so nahm es Lea wahr, immer wieder Hoffnung vermittelt, indem diese oder jene weitere Therapie angeboten wurde. Dies nimmt Lea ihnen auch lange nach dem Tod der Mutter sehr übel. „Hätten sie doch einmal zu mir gesagt, dass Mama nur noch wenige Wochen zu leben hat“, äußert sie in späteren Trauergesprächen. „Dann hätte ich mich vielleicht ein bisschen vorbereiten können und wäre nicht noch in den Urlaub gefahren. Das werfe ich mir vor.“
Kinder und Jugendliche benötigen klare und direkte Informationen und diese nicht nur von den Eltern, sondern auch vonHealth Professionals. Dies bestätigt auch die Studie von McCaughan und Kollegen: Health Professionals müssen die Balance finden, um einerseits ein „Hoffnungsfenster“ offen zu lassen und andererseits
klare und ehrliche Informationen über eine schlechte Prognose zu vermitteln: Sie sollten auch sicherstellen, dass Eltern die Schwere ihrer Erkrankung verstehen. Betroffene Eltern müssen realistische Zeitpläne entwickeln können, um sich und ihre Kinder auf das, was wahrscheinlich eintreten wird, nämlich das Sterben, vorbereiten zu können.
Außerhalb einer klassischen Kinderpsychotherapie gibt es eine Reihe von auf Kinder oder auch betroffene Eltern und Familien zentrierte Unterstützungsangebote. Diese folgen in der Regel einem präventiven Ansatz. Bei den meisten Angeboten geht es darum, die kognitive Orientierung von Kindern im Hinblick auf die Krebserkrankung zunächst zu erfassen und im Weiteren zu unterstützen. Den Familien soll ein sicherer und verlässlicher Rahmen geboten werden, der hilft, die Krankheitsverarbeitung in der Familie zu fördern. Ein wichtiger Pfeiler der Beratung ist, die verschiedensten Situationen besprechund begreifbar zu machen und die Kinder in das Geschehen altersgerecht zu integrieren. Kinder werden hier ermutigt, ihre Gefühle, die oft ambivalent sind, auszudrücken, zu akzeptieren und aktive Bewältigungsmöglichkeiten auszuprobieren. Auch der Ausdruck von Trauer um verloren gegangene „Normalität“ wird gefördert. Mittlerweile stehen auch validierte Manuale zur Verfügung (siehe Literaturempfehlungen online). Begleiter:innen der Si-
tuation können Eltern ermuntern und motivieren, sich jegliche Unterstützung mit ins „Boot“ zu holen, die verfügbar ist. Hilfreich sind hier Krebsberatungsstellen mit speziellen Angeboten für Kinder und Eltern, Beratungsstellen, die sich auf das Thema Kinder krebskranker Eltern spezialisiert haben, Palliativ- und Hospiz-Dienste, Erziehungsberatungsstellen, Krankenkassen zur Beantragung von Haushaltshilfen sowie Härtefonds der Deutschen Krebshilfe e. V.
Familienbezogene Unterstützungsmöglichkeiten Familie Buta* fühlt sich hoffnungslos überfordert mit der akuten Krankheitssituation von Frau Buta. Sie ist gerade erst als Flüchtlingsfamilie in Deutschland angekommen. Es gibt keine erweiterte Familie, die unterstützen kann, Freunde sind noch nicht gefunden. Der behandelnde Arzt hat eine Liste von Beratungsstellen und auch eine Liste von Psychoonkolog:innen, die er Frau Buta aushändigt. Ein Angebot für die ganze Familie findet die Patientin am besten geeignet, da ihr das Sprechen über die Erkrankung innerhalb der Familie schwerfällt. „Wissen Sie, in unserem Land spricht man nicht über Krankheiten und schon gar nicht über Krebs und Tod.“
Die Erfahrung zeigt, dass es Familienmitgliedern oft schwerfällt, miteinander und untereinander ihre Gedanken und Gefühle zu teilen, wie auch Frau Buta. Deshalb ist das oberste Ziel von familienbezogener Unterstützung, die offene Kommunikation über die Erkrankung, über die Behandlung und über das, was sich in der Familie verändert hat, zu fördern. Die Familienmitglieder werden ermuntert und motiviert, die unterschiedlichen Haltungen und Denkweisen zuzulassen und als förderlich für die ganze Familie wahrzunehmen. Des Weiteren wird innerhalb der Familie thematisiert, dass einer Übernahme von altersunangemessener Verantwortung entgegengewirkt werden muss.
Elternbezogene Unterstützungsmöglichkeiten
Frau und Herr Meier* haben große Probleme, seit Herr Meier an Prostatakrebs erkrankt ist. Er geht völlig anders mit der Diagnose um als seine Frau, die vor ein paar Jahren ebenfalls eine Krebserkrankung durchmachte. Frau Meier war es damals wichtig, mit guten Freundinnen zu sprechen und auch intensiv mit ihrem
Mann. Das tat ihr sehr gut. Ihr Mann dagegen ist sehr still, möchte gar nicht viel reden, lehnt eine Rehabilitationsmaßnahme ab und er möchte auch nicht mit seinen beiden Söhnen über die Erkrankung sprechen. Dies erzeugt zunehmend Spannungen, so dass eine Praxisassistentin, der sich Frau Meier anvertraut, zu einer Paarberatung in der Psychoonkologie rät. Hier geht es vor allem darum, Eltern in ihrer Verarbeitungskompetenz und in ihrer Fähigkeit, unterschiedliche Umgangsweisen akzeptieren zu lernen, zu stärken sowie einen Raum zur Verfügung zu stellen, der Entlastung von ambivalenten Gefühlen und Schuldgefühlen bietet. Des Weiteren werden Eltern ermutigt, für ihre Kinder weiterhin bestmöglich verfügbar zu sein. Auch werden von speziell aus- oder fortgebildeten Psychoonkolog:innen Möglichkeiten angeboten, Gesprächssituationen über schwierige Themen im geschützten Beratungsrahmen zu erproben. Eltern sollten ermutigt werden, sich jegliche Unterstützung mit ins Boot zu holen, die sie entlastet. Eine Krebserkrankung ist ein Marathon, kein Kurzstreckenlauf.
Last but not least:
Achtsam mit sich selbst sein Frau Kaiser* ist eine noch junge Assistenzärztin. Sie arbeitet seit drei Wochen in einer onkologischen Tagesklinik. Der Fall einer jungen Frau, gerade frisch verheiratet mit einem tollen Job und in der achten Woche schwanger, geht ihr sehr an die „Nieren“, wie sie sagt. Die Patientin hat die Diagnose eines schon metastasierten Melanoms erhalten. Frau Kaiser berichtet, dass sie nicht mehr schlafen könne und ständig kreisten ihr Gedanken im Kopf herum, wie es wäre, wenn sie jetzt diese Diagnose bekommen würde. Sie habe das Gefühl, dass sie mit niemandem offen sprechen könne. Auf der Station gelte man schnell als schwach und unprofessionell, wenn man Betroffenheit äußere.
Wichtig zu wissen und zu akzeptieren: Wir alle sind betroffen, wenn im näheren Umkreis oder aber auch im Arbeitskontext,sei es Praxis oder Klinik, ein Mensch eine Krebsdiagnose erhält. Hat die betroffene Person noch schulpflichtige Kinder, für die sie verantwortlich ist, geht uns dies oft besonders nah. Die Gefahr, dass unsere Abwehrmechanismen aktiviert werden, ist groß. Sind wir uns darüber nicht bewusst, besteht die Gefahr, dass wir nicht förderlich auf die betroffenen Kinder und/ oder Eltern reagieren. Aus diesem Grund ist es wichtig, das Thema und die verschiedenen Perspektiven auf die Situation und das betroffene Kind im Team zu besprechen und zu reflektieren.
Mittlerweile gibt es Beratungsangebote, die sich auf die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen von an Krebs erkrankten Eltern spezialisiert haben. Diese bieten Informationen, Beratung, Unterstützung und unterschiedliche Aktivitäten für betroffene Familien. Diese Information sollten Eltern möglichst unmittelbar erhalten, ohne aktiv nachfragen zu müssen. Betroffene sollten wissen, dass es verschiedene Hilfs- und Unterstützungsangebote gibt, damit die Herausforderungen, denen alle Eltern ausgesetzt sind, nicht in völlige Überforderung münden und Kinder psychische Erkrankungen entwickeln. ■
* Namen geändert
Die Literatur zum Text sowie weitere Literaturempfehlungen finden Sie unter www.mabuse-verlag.de
Bianca Senf ist Psychologische Psychotherapeutin und Psychoonkologin. Seit über 30 Jahren arbeitet sie als Psychoonkologin mit Krebspatient:innen und ihren Familien sowohl in eigener Praxis als auch in der Klinik. 2021 wurde sie auf die Stiftungsprofessur „Psychoonkologie“ der Carls Stiftung an der Evangelischen Hochschule in Darmstadt berufen. Im Mabuse-Verlag erschien dieses Jahr ihr Buch „Krebs erklärt für Klein und Groß. Ein Fachbuch nicht nur für Kinder“. www.bianca-senf.de
Alle Abbildungen aus: Bianca Senf / Kirsten Grabowski, „Krebs erklärt für Klein und Groß“
„Den“
Busen gibt es nicht.
Foto: istockphoto.com/justhavealook
Christoph Müller im Gespräch mit Anja Zimmermann
Anja Zimmermann ist habilitierte Kunsthistorikerin und arbeitet als Geschlechterforscherin.
Da liegt es nahe, sich mit der (weiblichen) Brust zu beschäftigen. In dem Buch „Brust – Geschichte eines politischen Körperteils“ geht es nicht nur um Verhüllung und Enthüllung. Christoph Müller hat mit ihr über die Inhalte ihres Buches gesprochen.
Christoph Müller: In einer Zeit, in der weibliche Brüste zunehmend sichtbar werden, schreiben Sie das Buch „Brust – Geschichte eines politischen Körperteils“. Was war Ihre Motivation, sich an den Schreibtisch zu setzen, während Frauen häufiger mit enthüllter Brust in Schwimmbäder gehen?
Anja Zimmermann: Mir fiel auf, dass es ein Missverhältnis gibt. Einerseits ist die Brust sehr sichtbar und wird in Kunst, Mode, Werbung ständig thematisiert. Andererseits aber ist sie auch tabuisiert. Das Beispiel mit den Schwimmbädern passt dazu, denn erst jüngst klagte eine Frau in Berlin dagegen, dass sie wegen ihres entblößten Oberkörpers einen Wasserspielplatz verlassen musste, den sie mit Kindern besucht hatte.
Die Konflikte, die um die Brust entstehen, haben ihren Ursprung auch darin, dass die Brust in unserer Gesellschaft so vieles gleichzeitig sein soll: Symbol für Mutterschaft, Sexualität oder Freiheit. Herauszufinden, warum dies so ist, war ein Grund, das Buch zu schreiben.
Sie kritisieren die Fetischisierung des weiblichen Busens als erotisches Objekt, die für Sie die Ungleichbehandlung von weiblichen und männlichen Nippeln begründet. Wie kommt es aus Ihrer Sicht zu einem scheinbar natürlichen Umgang mit der weiblichen Brust?
Es ist ein Missverständnis anzunehmen, dass es einen ganz und gar „natürlichen“ Umgang mit dem Busen geben kann. Denn, wie ich auch in meinem Buch zeige, der Blick auf die Brust ist ebenso wie der Körper insgesamt immer schon durch Vorstellungen, Stereotype und Ideale stark beeinflusst.
Das betrifft übrigens auch den Begriff des Natürlichen, unter dem man im Laufe der Geschichte sehr Unterschiedliches verstanden hat. So galten zum Beispiel noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts Ziegen, die man als Ammen einsetzte, mitunter
Anja Zimmermann ist habilitierte Kunsthistorikerin und Vertretungsprofessorin für Kunstgeschichte an der Universität Nürnberg-Erlangen. Sie lehrte an den Universitäten Hamburg, Oldenburg, München und Zürich. Heute lebt sie mit ihrer Familie südlich von Frankfurt am Main.
als „natürliche“ Alternative zum Stillen durch die Mutter. Auch die Geschichte der Schönheitschirurgie zeigt dies. Dort gilt ebenfalls „Natürlichkeit“ als erstrebenswert. Allerdings muss man sich klarmachen, dass diese Natürlichkeit überhaupt erst durch kunstvolle, d.h. „künstliche“ Veränderung des Körpers zustande kommt.
Als Geschlechterforscherin haben Sie den Mut, die weibliche Brust als politisches Körperteil zu beschreiben. Anhängerinnen und Anhänger der Freikörperkultur scheinen sich dies in der Gegenwart nicht zu eigen zu machen. Was braucht es gesellschaftlich, dass zugunsten von Gelassenheit und Lockerheit Prüderie und Verschnürtheit weichen? Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass es beim Busen als politischem Körperteil nicht nur um Prüderie vs. Offenheit geht. Beide Haltungen können Ausdruck von Geschlechterpolitik sein, die Weiblichkeit und Männlichkeit auf eine ganz bestimmte Weise definieren wollen. Die Forderung nach Offenheit und sexueller Freiheit in den 1960er-Jahren bedeutete nicht zwangsläufig auch einen Zugewinn an weiblicher Emanzipation. Erst das Eintreten der Frauen für ihre Rechte verbesserte diese. Auch in anderen historischen Phasen garantierte die „freigelegte“ Brust keinesfalls einen Zugewinn an politischem Einfluss für Frauen. Während der französischen Revolution wurden weibliche nackte Brüste gefeiert, aber Frauen von politischen Ämtern ausgeschlossen. Wichtig erscheint mir, anzuerkennen, dass jede und jeder selbst die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper ausüben kann – dazu kann auch gehören, den Busen zu bedecken.
Sie wagen als Kunsthistorikerin den Rückblick in die Geschichte. Gab es in vergangenen Jahrhunderten einen gelasseneren Umgang mit der Nacktheit der weiblichen Brust?
Gab es in der Vergangenheit möglicherweise mehr spielerischen Umgang mit Verhüllung und Enthüllung?
Da muss man differenzieren. Denn „den“ Busen gibt es nicht. Wenn zum Beispiel Malerinnen des 18. Jahrhunderts sich selbst als Amazonen malten, mit nur lose um dieBrust geschlungenem Tuch, dann beanspruchten sie damit durchaus ihre Teilnahme am selbstbestimmten Spiel mit Enthüllung und Verhüllung. Gleichzeitig jedoch gab es viele Busen, die von vornherein davon ausgeschlossen waren, etwa
weil sie als „primitiv“ galten. In meinem Buch beschäftige ich mich daher auch mit der rassistischen Abwertung des „anderen“ Busen, zum Beispiel dem jüdischen oder dem Schwarzer Frauen. Befreiung, Aufund Abwertung bestanden oft gleichzeitig und bedeuteten nicht für alle das Gleiche.
Der Blick in die Geschichte aber zeigt, dass der Umgang mit dem Busen sich immer wieder radikal änderte und heutige Vorstellungen keinesfalls in Stein gemeißelt sind. Es geht auch anders!
Sie zeigen auf, dass der Busen gleichfalls die Aufgabe eines Protestorgans übernommen hatte. So weisen Sie darauf hin, dass die weibliche Brust als Signal der Wut und des Angriffs mit eigener Ikonografie galt. Lassen Sie uns doch einmal an Ihren Erkenntnissen teilhaben.
Tatsächlich ist in der westlichen Kunst der nackte weibliche Busen auch ein Körperteil von Wut und Aggression. Giotto stellte in der Arenakapelle die Wut als weibliche Figur dar, die sich die Kleidung des Oberkörpers vom Leib reißt. Auch später noch tritt Ira, wie die Wut lateinisch heißt, als barbusige Kämpferin auf und von den Amazonen berichten antike Mythen, sie hätten sich eine Brust abgeschnitten, um besser mit Pfeil und Bogen hantieren zu können. Allerdings waren das alles keine positiven Identifikationsbilder, sondern dienten der Warnung und Abschreckung. Zorn ist eine der sieben Todsünden.
Wenn Frauen heute ihren Busen zeigen, um damit politischen Protest zu artikulieren, funktioniert das auch deswegen, weil es diese sehr alte visuelle Tradition gibt. Die Frage ist daher, inwiefern es den Protestierenden gelingt, mit ihrem Protest diese nicht nur fortzusetzen, sondern auch umzuschreiben.
Überzeugend sind Ihre Beschreibungen, dass nicht bloß der Umgang mit der Brust die Geschlechtertrennung prägt. Sie gehen auch auf gesellschaftliche Kleiderordnungen ein. Inwieweit sind Kleiderordnungen gleichzeitig Disziplinierungsmomente?
Gerade der Busen zeigt das sehr deutlich. Denn es geht keinesfalls immer nur darum, dass seine Sichtbarkeit sanktioniert wird. Das zeigt der Fall des sogenannten „Burkiniverbots“, das in Frankreich erlassen wurde. Immer wieder wird vor Gericht darüber gestritten. Es legt fest, dass sich Frauen an Stränden oder Schwimmbädern gerade nicht vollständig verhüllen dürfen
und ihr Dekolleté zeigen müssen. Kleiderordnungen sind also längst noch nicht passé. Und selbstverständlich disziplinieren sie auch.
Es ist bezeichnend, dass sie in der Regel nur den weiblichen Körper betreffen und sehr oft mit Sexualität verbunden sind. Wenn zum Beispiel Männer in Restaurants aufgefordert sind, nicht in kurzen Hosen zu erscheinen, dann werden auch sie diszipliniert. Allerdings bezieht sich diese Regel dann nicht auf die potentiell gefährliche Verführungskraft ihres Körpers oder ihre Sexualität.
Mit welchen Reaktionen waren Sie nach der Veröffentlichung des Buchs konfrontiert? Dürfen Brust-Aktivistinnen und Brust-Aktivisten, die die Enthüllung als natürliches Phänomen verstehen, mit neuen Überlegungen und Büchern aus Ihrer Feder rechnen? Glücklicherweise mit sehr positiven. Ich habe viel Rückmeldung von Frauen, aber auch Männern erhalten, denen es wie mir ging: sie berichteten mir von ihrer Verwunderung über das große Bohei, das um den Busen gemacht wird und wie wenig die Widersprüche, die sich dabei auftun, reflektiert werden.
Über den Busen ließen sich noch viele Bücher schreiben! Die Themen, auf die ich im Zusammenhang mit dem Buch gestoßen bin, werden mich sicher noch länger beschäftigen. Wie die Kulturwissenschaftlerin und Autorin Mithu Sanyal in ihrem sehr lesenswerten Buch „Vulva: Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ (Wagenbach Verlag 2009) geschrieben hat, gibt es allerdings noch ein anderes Körperteil, dessen politische Kulturgeschichte dringend geschrieben werden sollte: den Penis. ■
Vielen Dank für das Gespräch!
Zum Weiterlesen:
Anja Zimmermann: BRUST – Geschichte eines politischen Körperteils. Verlag Klaus Wagenbach 2023, 272 S., 28 Euro
Christoph Müller lebt und arbeitet als psychiatrisch Pflegender und Fachautor im Raum Köln/Bonn.
Eine neue Haus(un)ordnung
Gammeln als Konzept für Demenzerkrankte
und Stephan Kostrzewa
Menschen mit Demenz sind in ihren Wünschen und Bedürfnissen so individuell wie Menschen ohne Demenz. Unsere Autoren berichten von einem neuen Konzept zur Betreuung von DemenzBetroffenen, das die Menschen dort abholt, wo sie sind.
Aktuell leben etwa 1,8 Millionen Menschen mit Demenz in Deutschland – Tendenz steigend. Die meisten Betroffenen erleben im fortgeschrittenen Stadium der Demenz neben vielen anderen kognitiven Einschränkungen einen Sprachzerfall. Erst schwindet das Sprachvermögen und im weiteren Verlauf das Sprachverständnis. Hierdurch können Menschen mit Demenz nun nicht mehr ihre Wünsche und Bedürfnisse klar verbal zum Ausdruck bringen. Treten jetzt Unruhe oder andere sogenannte herausfordernde Verhaltensweisen hinzu, suchen die völlig überforderten An-
gehörigen dann für die Betroffenen einen Platz im stationären Bereich. Hier wiederum treffen Demenzerkrankte auf die Überforderung und Not des Pflege- und Betreuungssystems der stationären Altenarbeit. Nur wenige Einrichtungen sind spezialisiert auf diese Aufgabe, obwohl in den meisten Pflegeeinrichtungen etwa 70 % der Bewohner:innen eine Demenz aufweisen. Nur wenige Häuser haben ein eigenes Konzept hierzu und selten können diese Häuser auf Mitarbeiter:innen mit einer Fachweiterbildung in Gerontopsychiatrischer Pflege verweisen.
Therapeutischer Wildwuchs
Diese Not nutzt der sogenannte „Demenzmarkt“ (Gronemeyer 2014) schamlos aus. Hier werden wohlfeil (im Sinne des Geistlosen) diverse Trainings und Therapieansätze neben unendlich vielen Demenz-Utensilien (Tovertafel oder Demenz-
In der Gammel-Oase übernehmen Menschen mit Demenz die Regie über Pflege und Betreuung. Alle Fotos: Stephan Kostrzewa
Puppen) angeboten. Zu den wenigsten dieser Ansätze gibt es einen wissenschaftlichen Beleg der Wirksamkeit. Dennoch überflügeln sich die Anbieter von Nahrungsergänzungsmitteln bis Demenz-Spielzeug und Demenz-Scheinwelten (Bushaltestelle hinter dem Haus im Garten) mit den wildesten Versprechen bezüglich deren Nützlichkeit.
Auch die Mitarbeiter:innen der Betreuungsarbeit fühlen sich für den Bereich der Demenz Care wenig ausgebildet und qualifiziert. Irgendwie wollen die unruhigen und wuseligen Menschen mit fortgeschrittener Demenz dann nicht zum Wochenplan passen, der aus „Froher Runde“, „Bewegung nach Musik“ und Werkeln besteht. Mitunter müssen „störende Bewohner:innen“, so möchte es manche Pflegekraft, mit in das ein oder andere Gruppenangebot integriert werden, da sie die Ablaufoptimierung im Wohnbereich stören. Orientierte Bewohner:innen stimmen in diesen Tenor mit ein, wenn sie das Personal bitten, die „Bekloppten“ doch bitte auf ihre Zimmer zu bringen.
Selbst wenn Bewohner:innen sich gegen die Zwangs-Bespaßung wehren, wird diese Willensäußerung nicht als Ausdruck der Autonomie interpretiert, sondern als herausforderndes Verhalten. Dieses wird dann auf der nächsten Eskalationsstufe auch mit Psychopharmaka (Pflege-Report 2023) beantwortet. Mit „Bitter für den Mund – für den Körper gesund“ wurde früher den kleinen Kindern die Medikamenteneinnahme als Sachzwang begründet. Heute finden sich Menschen mit Demenz im Gedächtnistraining („Heute spielen wir Stadt – Land – Fluss“) wieder, ohne hierüber mitentscheiden zu dürfen. Die Begründung lautet dann: Er hat eine Demenz, also braucht er Gedächtnistraining. Wochenpläne, die von den externen Kontrollinstanzen gefordert werden, bestimmen die Angebotspalette. Dass diese bevormundende Versorgung oftmals nicht den Wünschen der zu pflegenden Menschen entspricht, ist vielen Pflegenden leider nicht bewusst.
Die Innenwelt der Betroffenen
Seit mehr als 25 Jahren liegen Selbstauskünfte in Form von Interviews, Reportagen oder Publikationen (vgl. Richard Taylor 2008) von Personen mit Demenz vor. Auf Grundlage dieser vielen Informationen könnten wir uns nun an den Bedarfen der Betroffenen orientieren.
Obwohl es auf Grundlage der Selbstauskünfte der Demenz-Betroffenen bekannt ist, dass diese erfüllt sind von Angst, Unsicherheit und Hilflosigkeit, werden diese Emotionen durch die Programme vor Ort nicht aufgefangen. Obendrein gesellt sich auch noch eine ausgeprägte Trauer auf Seiten der Erkrankten dazu. Aber auch hierfür gibt es kein professionelles Angebot. Trauer wird mithilfe von Schlagern einfach weggeschunkelt. Wer seine gewohnten Alltagsaktivitäten nicht mehr ausführen kann, erlebt Scham, Versagensangst und ein verringertes Selbstwertgefühl. Betroffene befürchten einen kompletten Kontrollverlust und völlige Fremdbestimmung.
Der zunehmende Verlust kommunikativer Fähigkeiten betrifft die eigenen Bedürfnisse und sozialen Beziehungen gleichermaßen. Das zu beobachtende Rückzugsverhalten und die Ängste der Betroffenen sind damit erklärbar. Viele Demenz-Betroffene schildern, dass ihre Welt zunehmend aus den Fugen gerät. Die nachstehende Übersicht zeigt auf, mit welchen Nöten sich Demenz-Betroffene konfrontiert sehen.
Was gilt es zu tun?
Den beschriebenen Unzulänglichkeiten in der Versorgung von Menschen mit fortgeschrittener Demenz in der stationären Altenarbeit hat das Julie-Kolb-Seniorenzentrum in Marl das Konzept des „Therapeutischen Gammelns“ (Kostrzewa 2023)
entgegengesetzt. Nach langem Suchen war dieses Seniorenzentrum der einzige stationäre Betrieb in der Region, der sich getraut hat, diesen radikalen Ansatz in die Praxis zu überführen.
Das Therapeutische Gammeln folgt der Devise: „Lasst sie in Ruhe und gebt ihnen die Autonomie wieder zurück!“ Damit ist der Versuch gemeint, die Demenz Care vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen. Der Mensch mit Demenz mit all´ seinen Bedürfnissen und Wünschen steht im Mittelpunkt der Versorgungskultur. Er führt somit die Regie über Pflege, Betreuung undVersorgung.
Seit Ende Mai 2023 gibt es nun Deutschlands 1. Gammel-Oase. Sie bezeichnet einen Wohnbereich, der von den übrigen sechs „klassischen“ Wohnbereichen (Integratives Modell) des Seniorenzentrums segregiert ist und in dem 14 Menschen mit meist fortgeschrittener Demenz leben. Aber was ist das Besondere? Die GammelOase orientiert sich radikal an den Bedarfen der Bewohner:innen. Hier die wesentlichen Prämissen:
Segregation
In „gemischten“ Wohnbereichen (orientierte mit desorientierten Menschen) kann immer wieder beobachtet werden, dass die eigentlichen Konflikte (auch Aggressionen) von orientierten Mitbewohner:innen ausgehen. Demenz-Betroffene haben dem nichts entgegenzusetzen und sind den
Das sind die emotionalen Nöte des Demenz-Betroffenen
Anfeindungen schutzlos ausgeliefert. Daher leben in der Gammel-Oase nur Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz und sogenannten herausfordernden Verhaltensweisen. Es kann schon nach wenigen Wochen beobachtet werden, dass dieses Verhalten zunehmend nachlässt.
„Therapeutisches
Gammeln hält dazu an, sich ausschließlich an den WohlbefindensÄußerungen von Menschen mit Demenz zu orientieren. So können sie selbst Regie über Pflege und Betreuung führen.“
Keine feste Tages- und Wochenstruktur
Die Bewohner:innen der Gammel-Oase unterliegen keiner festen Zeitstruktur. Das Aufstehen, die Mahlzeiten oder das Zubettgehen richten sich individuell nach den Bedarfen des jeweiligen Menschen mit Demenz.
Pflege und Betreuung auf Wunsch
Die pflegerische Versorgung wird den Bewohner:innen über den Tag hinweg (wenn der Wunsch besteht auch nachts) immer wieder (unaufdringlich) angeboten. Pflege und Toilettengänge stellen einen Eingriff in die Integrität des Menschen dar. Ablehnung dieser Angebote werden grundsätzlich als ein „Nein“ akzeptiert; sie werden dann zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal angeboten. Im Extremfall wird auch eine tagelange Ablehnung akzeptiert.
Ein Bewohner lässt die grundpflegerische Versorgung beispielsweise meist nicht zu. Anfangs reagierte er mit stark abwehrendem Verhalten gegenüber dem Pflegepersonal. Das Ablehnen wurde akzeptiert, nach einer Woche ohne pflegerische Versorgung kam der Bewohner auf das Pflegepersonal zu und sagte, er müsse ins Krankenhaus, weil er Schuppen habe. Das Duschen wurde sofort mit Anti-Schuppen-
Shampoo durchgeführt und auf seinen Wunsch hin wurde die Kopfhaut mit Körperlotion eingecremt. Ziel: Er hatte keine Beschwerden mehr. Sein Hautzustand war intakt, er hat nicht nach Urin gerochen. Mittlerweile hat sich eine pflegerische Versorgung alle sieben bis 14 Tage eingependelt; sie wird mehrmals täglich angeboten, meist aber von ihm abgelehnt.
Den Alltag gemeinsam erfahren
Die Mitarbeiter:innen gammeln mit den zu Pflegenden in den Tag hinein. Häufig sitzen alle Mitarbeiter:innen (Pflege, Betreuung und Hauswirtschaft) zwischen den Bewohner:innen. Auch Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen, in sehr ausgedehnten Zeitkorridoren.
Gewährende und suchende Haltung der Mitarbeiter:innen Grundsätzlich werden Eigeninitiativen der Bewohner:innen zugelassen, lediglich bei Gefahrensituationen reagiert das Team. Der Hauptfokus aller Berufsgruppen liegt daher auf der Betreuungsarbeit. Hier reagieren die Mitarbeiter:innen auf die Aktionen der Bewohner:innen. Dafür ist eine gewährende Haltung des Teams notwendig. Zudem wird ständig überlegt, was Bewohner:innen in ihrem Handeln motiviert.
Fallbesprechungen als Steuerelement
Diese Suche nach den Motiven macht immer wieder kleine, über den Tag verteilte Fallbesprechungen notwendig. Hierbei entwickelt das Team sogenannte Verstehenshypothesen (DNQP 2018), die dabei helfen sollen, herauszufinden, warum sich Bewohner:innen in einer bestimmten Art und Weise verhalten. Sogenannte herausfordernde Verhaltensweisen werden erst einmal als Ausdruck von Not (Angst, Unsicherheit, Hilflosigkeit, Suche nach Vertrautem, Schmerzen) identifiziert. Diese Not gilt es dann entsprechend zu beantworten, etwa mit menschlicher Nähe oder Schmerzmitteln (Bedarfsmedikation).
Von Vorteil ist, wenn Teams regelmäßig an Fortbildungen in Palliative Care (Lindernde Pflege – nicht Sterbebegleitung!) teilnehmen. Hierüber findet eine Sensibilisierung, auch für somatische Nöte der Betroffenen, statt.
Es muss bedacht werden, dass 60 bis 85 % der Pflegeheimbewohner:innen in Deutschland unter chronischen Schmerzen leiden. Lediglich 40 bis 50 % der Betroffenen erhalten eine dauerhafte Schmerz-
therapie. Es fällt auf: Je dementer, desto weniger Schmerzmittel!
Kein Aktivierungswahnsinn
Das Team gibt keine Aktivierung vor. Da die Tische und weitere Ablageflächen voll sind mit Utensilien mit Aufforderungscharakter, finden die Bewohner:innen ausreichend Beschäftigungsmöglichkeiten. Sehr aktive Bewohner:innen können aber auch auf Wunsch an den Aktivitäten, die in der übrigen Einrichtung angeboten werden, teilnehmen.
Äußerungen des Wohlbefindens als Maßstab
Das Konzept des Therapeutischen Gammelns hält das Team dazu an, sich ausschließlich an den Wohlbefindens-Äußerungen der Bewohner:innen zu orientieren. Hierüber können auch Menschen mit Demenz und komplettem Sprachzerfall selbst Regie über Pflege und Betreuung führen.
Menschliche Not geht vor
Die Priorisierung der täglichen Aufgaben für das Team orientiert sich an der Not der Bewohner:innen. Auch ein Berg Geschirr muss mal einige Stunden warten können, wenn einzelne Menschen mit Demenz eine sehr enge Eins-zu-eins-Betreuung benötigen. Hier springt dann auch unsere Hauswirtschaftsmitarbeiterin (wir nennen diese Mamsell) ein.
Engmaschige Integration von Angehörigen In der Gammel-Oase wird eine zugehende Angehörigenarbeit praktiziert. Das bedeutet, dass Mitarbeiter:innen immer wieder auf Angehörige zugehen und sich nach deren Befinden erkundigen. Sehr oft werden bei den Angehörigen von Menschen mit Demenz Trauerreaktionen beobachtet. Diese werden mit einer aktiven Trauerarbeit beantwortet. Mitunter benötigen Angehörige in den ersten Wochen mehr Aufmerksamkeit als die Bewohner:innen. Eine ausdrückliche Willkommenskultur in der Gammel-Oase führt dazu, dass hier recht viele Angehörige zugegen sind. Selbstverständlich werden diese im Vorfeld mit dem Konzept des Therapeutischen Gammelns vertraut gemacht.
Reduktion von Psychopharmaka durch Verstehenshypothesen
Das Bestreben des Teams ist es, den Einsatz von Psychopharmaka auf das abso-
lut Notwendigste zu beschränken. Die bisherige Erfahrung zeigt, dass bei fast allen Bewohner:innen mit Demenz entsprechende Psychopharmaka gesenkt – mitunter sogar ganz abgesetzt – werden konnten. Hierbei helfen Fallbesprechungen mit der sogenannten „erweiterten STI-Methode“ (Kostrzewa/Kocks-Kostrzewa 2018), die Not der Bewohner:innen richtig einzuschätzen. Die Devisen lauten: „Erst nichtmedikamentöse Maßnahmen ausprobieren, bevor Psychopharmaka zum Einsatz kommen“ und „Schmerzmittel vor Psychopharmaka“.
Lediglich bei psychotischen Zuständen oder bei stark beängstigenden Halluzinationen (etwa der Lewy-Body-Demenz) kommen diese Medikamente zum Einsatz. Sicherlich ist die enge (mitunter auch konstruktiv-kontroverse) Zusammenarbeit mit Gerontopsychiater:innen, die ihre Praxis unmittelbar in der Nähe haben, sehrhilfreich. Ein großer Vorteil ist, dass der Leiter der Gammel-Oase eine entsprechende Fachweiterbildung hat. Aktuell besucht eine Betreuungsassistentin (!) der Gammel-Oase die gleiche Fachweiterbildung.
Räumliche Gestaltung
Entgegen dem Trend der letzten Jahre, dass in vielen stationären Pflegeeinrichtungen die Zwei-Bett-Zimmer zu Einzelzimmern umgewandelt wurden, haben wir in der Gammel-Oase nur Zwei-Bett-Zimmer im Angebot. Die Erfahrung in entsprechenden Modellprojekten (Kostrzewa 2023, S. 167 f.) zeigt nämlich, dass Menschen mit Demenz sehr wohl von Zimmernachbarn profitieren. Die Wandlung der Zimmer zu Einzelzimmern in den letzten Jahren bedient – nach unserer Interpretation – das Bedürfnis der Angehörigen. Deren schlechtes Gewissen ist nämlich kleiner, wenn sie beispielsweise Mutter in ein hotelähnliches Umfeld geben können. Auf die Bedürfnisse eines Menschen mit Demenz wird hierbei nur am Rande geachtet. Neben dieser Ausrichtung können wir in der Gammel-Oase aber auch auf große gemütliche Räume verweisen, die mit Stressless-Sesseln und einigen Sofas (mit Kissen und Decken versehen) bestückt sind und viel über den Tag (aber auch in der Nacht) frequentiert werden.
Da wir auch in der Nacht eine Betreuungsassistenz (neben der eigentlichen Nachtwache) haben, ist es – anders als in klassischen Pflegeeinrichtungen – nicht
nötig, dass die Bewohner:innen sich dem Dienstplan der Mitarbeiter:innen anpassen und schon um 19:00 Uhr in den Betten liegen. In der Gammel-Oase wird nicht darauf geachtet, wann Bewohner:innen schlafen, dösen oder aktiv sind. Hier kann eigenen Bedürfnissen 24 Stunden lang nachgegangen werden.
Haus(un)ordnung
Ja, es bleibt auch etwas auf der Strecke: Ordnung ist in der Gammel-Oase nicht ganz so wichtig. Nicht selten stellen die Bewohner:innen selbst die Möbel um und schleppen Gegenstände an einen anderen Ort. Mitunter ist die Ehefrau eines Bewohners irritiert, dass ihr Mann eine fremde Hose trägt. Wir machen die Erfahrung, dass die Bewohner:innen untereinander die Kleidung tauschen – ganz wie es beliebt.
Auch wissen wir nicht immer sofort, wer da bei wem im Bett liegt. Aktuell haben wir ein Doppel-Herrenzimmer, in dem sich die beiden Bewohner jeden Abend neu entscheiden, in welchem Bett sie liegen möchten. Das alles regelt unsere Haus(un)ordnung! Diese wird den Angehörigen schon direkt beim Erstgespräch ausgehändigt.
Ein Team – ein Konzept In vielen Einrichtungen der klassischen stationären Altenarbeit erleben wir eher ein Neben- als ein Miteinander der einzelnen Funktionsbereiche und Berufsgruppen, etwa von Pflege und Sozialem Dienst. Das ist auch kein Wunder, wenn jeder Bereich sein eigenes Konzept hat. In der Gammel-Oase gibt es nur ein Konzept, in dem sich alle Berufsgruppen wiederfinden. Was aber das Allerwichtigste ist: Die Leitung muss das Therapeutische Gammeln wollen! Daher war der erste Schritt zu Beginn des Projekts, die Einrichtungsleitung bedingungslos mit in das Therapeutische Gammeln einzubeziehen. Im Julie-Kolb-Seniorenzentrum hat das wunderbar funktioniert.
Zum Schluss:
Was ist eigentlich Gammeln?
Im etymologischen Wörterbuch (Bertelsmann 1998) finden sich verschiedene Erläuterungen zum Begriff „Gammeln“. Dort steht, dass Gammeln vom althochdeutschen gaman abstammt und so viel wie „Lust“ bedeutet. Gehen wir in der Geschichte der Sprache noch weiter zurück, dann findet sich im Urgermanischen das Wort gamaną. Hier wäre die Ableitung: „Spaß“, „Fröhlichkeit“ oder „Genuss“. Keine schlechten Begriffe für ein würdevolles Leben von Menschen mit Demenz, oder? ■
Die Literatur zum Text finden Sie unter www.mabuse-verlag.de
Christian Löbel ist exam. Altenpfleger,gerontopsychiatrischer Fachpfleger, Leiter der Gammel-Oase, Wohnbereichsleiter sowie Praxisanleiter und Hygienebeauftragter. c-loebel@gmx.de
Stephan Kostrzewa ist Dr. rer. medic., Dipl. Sozialwissenschaftler und exam. Altenpfleger sowie Palliative Care Fachkraft und Chefredakteur „Palliativpflege heute“ (PPM Verlag). Darüber hinaus ist er als Fachbuchautor, Podcaster („Der Palli-Ticker“), Dozent und Referent tätig. st.kostrzewa@arcor.de
Kranke(n)häuser
Gesundheits-Architektur für das 21. Jahrhundert
Barbara Knab
Krankenhausarchitektur wird selten unter primär psychologischen Aspekten betrachtet. Warum jedoch genau dieser Blickwinkel wichtig ist und was es mit den„heilenden Sieben“ auf sich hat, berichtet unsere Autorin.
Seit dem 1. Mai 2024 ist er online, der Krankenhausatlas.1 Man kann dort die eigene Postleitzahl eingeben und eine Erkrankung, dann meldet die Datenbank die Auswahl aus den knapp 1 700 deutschen Krankenhäusern, die diese Erkrankung behandeln können und in der Umgebung liegen. Akutell führt sie auch auf, wie häufig die Einrichtung das im letzten Jahr getan hat, ob das im Vergleich zu anderen viele oder wenige sind und wie viele Pflegekräfte insgesamt im Haus zur Verfügung stehen. Es gibt ein Kontaktformular, über das man neue Informationen melden kann. Zweck des Klinikatlas ist nicht nur, dass sich alle rechtzeitig informieren und so eine bessere Wahl treffen können. Man geht auch davon aus, dass sich daraus von selbst ergeben wird, welche Häuser man schließen kann. Stichwort „Überversorgung abbauen“. Die Idee: Je niedriger die Nachfrage, umso größer die Qualitätsmängel, umso gerechtfertigter die Schließung.
Das klingt transparent und demokratisch. Aber auch ziemlich betriebswirtschaftlich. Viele, die im Gesundheitswesen arbeiten, sagen etwa, dass hier Qualität mit Quantität verwechselt wird. Eugen Brysch, Vorsitzender der Deutschen Stiftung Patientenschutz, kritisiert, es setze lediglich „die Zahl der Beschäftigten zu den vorhandenen Betten, der Behandlungshäufigkeit sowie der Komplikations- und Sterblichkeitsrate ins Verhältnis“.2 Dagegen fehlten Kriterien für die „Arbeit am und mit dem Patienten.“ Selbst wenn man wollte, ließe sich so diese Qualität gar nicht erfassen.
Versorgungsqualität und Architektur Noch ein Kriterium bleibt außen vor: die Qualität der Gebäude, in denen Kranke behandelt werden. Dabei diskutiert die Architektur-Zunft längst darüber, welche Merkmale am Gebäude selbst dieVersorgungsqualität beeinflussen. Zu diesem Thema hat kürzlich das Architekturmuseum der Technischen Universität München eine Ausstellung mit dem Titel KRANKE(N)HÄUSER gezeigt, die ab dem
23. Mai 2024 in Dornbirn/Vorarlberg zu sehen sein wird.6
Der Katalog zu dieser Ausstellung5 ist eine Fundgrube für alle Fragen rund um Gebäude, in denen kranke Menschen behandelt werden. In der neoliberalen Denke sind gute Krankenhäuser eine Art Luxus, den man sich entweder leisten kann oder eben nicht. Die Herausgeber:innen betonen das Gegenteil: Demnach gehörten Krankenhäuser zur kritischen Infrastruktur eines Landes wie Straßen, Brücken und Flughäfen. Als solche seien sie nicht nur kein Luxus, sondern schlicht und einfach „Gradmesser sozial verantwortlicher Politik“(5, S. 8 ). Eine solche Politik interessiert sich dafür, wie Krankenhäuser gebaut sein sollten, damit schwerkranke Patient:innen keinem überflüssigen Stress ausgesetzt sind. Denn Stress und Heilung sind eng verzahnt, das ist empirisch überzeugend belegt: Stressfreiheit unterstützt die Heilung, Stresserleben behindert sie.
Umgebungsvariablen des Gebäudes
Sieben „Umgebungsvariablen“ im Gebäude Krankenhaus hängen besonders stark mit Heilung zusammen. Jede dieser „heilenden Sieben“ wird in einem Kapitel vorgestellt und mit insgesamt 13 Beispielen gelungener zeitgenössischer Krankenhäuser illustriert. Zehn davon stehen in Europa, eines in Asien (Bangladesch) und zwei in Afrika (Ruanda und Burkina Faso).
Die drei nichteuropäischen Beispiele zeigen, dass ein Gebäude für Kranke auch mit Low-Tech
„heilend“ sein kann – ohne flächendeckende Klimaanlagen, Aufzugsysteme und andere Stromfresser. Die einführenden Kapitel beleuchten Grundlagen wie Bautechnik und Baugeschichte von Krankenhäusern, das Konzept des „Evidence-based Design“ des US-Architekten Roger S. Ulrich oder das Krankenhaus als Arbeitsplatz.
Konzept der „heilenden Sieben“ Hinter dem Konzept der „heilenden Sieben“ stehen die Berliner Architektin Gemma Koppen und die Münchner Architekturpsychologin Tanja C. Vollmer, eine der Kurator:innen der Ausstellung. Sie haben sich mit dem Konzept des „evidenzbasierten Designs“ beschäftigt und außerdem gesichtet, was die Wissenschaft zum Thema Architektur und Genesung herausgefunden hat. Daraus haben sie die wichtigsten Aspekte extrahiert und operationalisiert. Damit kann man bestehende Häuser analysieren oder im Neu- und Umbau angemessener planen.
Die Umgebungsvariablen werden unten genauer beschrieben, in Kurzfassung heißen sie so: Orientierung, Geruchskulisse, Geräuschkulisse, Privatheit und Rückzugsraum, Kraftorte, Aussicht und Weitsicht, Menschliches Maß. Ausstellung und Katalog präzisieren, wie sie genauer aus-
sehen sollten, damit sie „heilend“ wirken können. Außerdem haben Koppen und Vollmer inzwischen eine „Entwurfslehre für den evidenzbasierten Gesundheitsbau“ vorgestellt, die angehende Architekt:innennutzen können.4
Gebäude spiegeln Technikgläubigeit
Die meisten der 1700 Krankenhäuser in Deutschland wurden zwischen 1950 und 1989 gebaut. Die Gebäude spiegeln bis heute die Technikgläubigkeit ihrer Zeit, Großkrankenhäuser sogar die Logik von Industriebauten: autofreundliche Lage, Stahlbeton, Hochhaus-Stil, Aufzüge für maximal viel vertikalen Transport, energetisch verschwenderisch. Berüchtigte frühe Beispiele sind die Kliniken Berlin Steglitz und München Großhadern. Erst 1985 wurde das Uniklinikum Aachen eingeweiht, über dessen Ästhetik Hans Halter 1983 im Spiegel schrieb: „Es ist, als erkläre das Klinikum seinen Kranken den Krieg“ (zitiert nach 9, S. 35). Ganz allgemein stellen Andres Lepik und Tanja Vollmer die Frage: „Warum findet sich unsere Gesellschaft immer mehr mit der Unwirtlichkeit der Kliniken ab?“ (5, S. 9)
Tatsächlich sind diese Krankenhäuser mehr als unwirtlich, sie sind auch veraltet, noch bevor der Beton nach 15 bis 30 Jahren zu
bröckeln beginnt. Für die Erneuerung investierten die Bundesländer, wie der Katalog berichtet, im Jahr 1972 zwar noch 25 % der erwirtschafteten Krankenhauserlöse (nicht Gewinne, 5, S. 74) zurück in die Häuser, auch in das Gebäude selbst. Im Jahr 2020 war es nur noch ein Bruchteil davon, nämlich 3,4 %. Diese „eingesparten“ Investitionen erhöhen die Betriebskosten teils drastisch. Zum einen verbessert sich die extrem schlechte Energieeffizienz nicht, was die Energiekosten überproportional steigen lässt. Zum anderen erfordern die unergonomischen Arbeitsgegebenheiten Zusatzarbeit des Personals, was Arbeitszeit und damit sinnlos Geld kostet. Betriebskosten bezahlen aber die Krankenkassen, nicht die Länder.
Patient:innen durch Gebäude eingeschüchtert
Gleichzeitig haben sich die Bedürfnisse der Bevölkerung massiv verändert: Die möchteseit Jahren ihre Krankenhäuser zurück in der Stadt haben und sie möchte, dass sich ihr Maßstab am Menschen orientiert. Nachweislich fühlen sich schon Gesunde von riesigen Gebäuden eingeschüchtert, klein und verängstigt.3 Bei Kranken ist das noch viel schlimmer. Fragt man Patient:innen, so wünschen sie (5, S.52): a) Beziehungsmedizin b) Krankenhaus vor Ort c) kurze Wartezeiten d) Ein- oder Zweibettzimmer e) keine Massenabfertigung f) kein Durchschleusen, keine vorzeitige Entlassung g) keine Hetze.
Umgebungsvariablen
Das kann natürlich nicht alles die Architektur leisten. Ihre „heilende“ Aufgabe besteht darin, die Räume so zu konzipieren, dass sie Stress mindern. Das erreichen sie umso leichter, je besser die Umgebungsvariablen (im folgenden: UV) den Anforderungen der „Heilenden Sieben“ gerecht werden.
UV 1: Orientierung.
Drei Zelltypen im Gehirn sorgen dafür, dass wir leicht erkennen, wo wir uns im Raum befinden und wie wir uns darin bewegen. Werden sie geschädigt, beeinträchtigt das die Orientierung. Zusätzlich orientieren wir uns direkt am eigenen Körper, indem wir Orte danach beurteilen, wo sie relativ zu uns sind: rechts oder links, oben oder unten, vorne oder hinten. Und wir nutzen Landmarken, also alles, was im Raumauffällt, geometrische Körper, For-
men und Farben, um uns räumlich zurechtzufinden. Körperorientierung und Landmarken funktionieren etwa bei Alzheimer-Demenz länger als die Orientierungszellen. UV 1 ist deshalb gut geplant, wenn Kranke Körperorientierung nutzen können und eindeutige Landmarken existieren. Das ist so, wenn Wege klar markiert sind und verschiedene Bereiche gut unterscheidbar sind. Dann finden auch Kranke leicht heraus, wo sie sind und wo sie hin müssen.
UV 2: Geruchskulisse.
Die Nasenschleimhaut analysiert die Chemie der Geruchsstoffe nicht nur, der Organismus nimmt die Moleküle auch auf. Subjektiv sind Gerüche angenehm oder unangenehm. Das Gedächtnis bewahrt sie, und zwar mit Räumen verknüpft. UV 2 hilft heilen, wenn die Geruchskulisse angenehm ist. Das ist etwa der Fall, wenn man das Fenster öffnen kann, oder wenn die Lüftung Gerüche wie Schweiß, Erbrochenes, Essen, Desinfektion schnell absorbiert.
UV 3: Geräuschkulisse.
Absolute Stille macht Angst, es gibt sie nicht in der Natur. Im Krankenhaus geht es geräuschtechnisch meist um das Gegenteil: Lärm. Lärm ist Schall, den man unangenehm findet. Lärm bereitet Stress, deshalb ist die wichtigste Anforderung an UV 3, die Räume so leise zu gestalten wie möglich. Zusätzlich sollte man den akustischen Hintergrund aktiv regulieren oder Lärm zumindest „maskieren“ können, also akustisch neutralisieren.
UV 4: Privatheit und Rückzugsraum. Ich genieße Privatheit, wenn ich selbst entscheiden kann, „wer etwas über mich weiß“ (5, S.187). Im Krankenhaus heißt das vor allem: wer sieht und hört in welcher Situation wie viel von mir? UV 4 ist deshalb gelungen, wenn Kranke zwei Dinge im Raum tun können: a) selbst bestimmen, wer ihn oder sie wie gut sehen und hören kann, und b) selbst entscheiden, wensie oder er selbst sehen oder hören möchte: andere Kranke, Besuch und Personal.
UV 5: PowerPoints/Kraftpunkte. Kraftpunkte sind Orte, an denen man sich regenerieren und Kräfte schonen kann. So muss man in Krankenhäusern immer wieder lange warten, auf Personal, Behandlungen, diagnostische Maßnahmen oder Ergebnisse. Das dehnt die Zeit, und gedehnte Zeit bereitet Stress. Es reduziert den Stress und entspricht damit UV 5, wenn es im Haus schöne Orte gibt, wo man beruhigt verweilen oder umgekehrt angenehm aktiv sein kann. Sie sind geprägt von ästhetischen Raumelementen, einem sehr guten Lichtmanagement mit maximal viel Tageslicht und einer guten Farbgestaltung.
UV 6: Aussicht und Weitsicht
Vorlieben kontrollieren können, etwa die Belüftung.
Leuchtturmprojekt Agatharied
Quellen
1) Bundesministerium für Gesundheit (BMG): https://bundes-klinik-atlas.de/
2) Deutsche Stiftung Patientenschutz. Krankenhäuser: Umbau der Fallpauschalen nötig. Pressemeldung vom 16. 4. 2024 https://kurzlinks.de/xnhw
3) Joye, Y., Dewitte, S.(2016): Up speeds you down. Awe-evoking monumental buildings trigger behavioral and perceived freezing. Journal of Environmental Psychology, Vol. 47, S. 112–125
4) Koppen, G., Vollmer, T. C. (2022): Architektur als zweiter Körper. Eine Entwurfslehre für den evidenzbasierten Gesundheitsbau. Berlin: Gebrüder Mann Verlag
5) Vollmer, T. C., Lepik, A., Leik, Luksch, L. (Hrsg.) (2023): Das Kranke(n)haus. Wie Architektur heilen hilft. Katalog zur Ausstellung. Architekturmuseum der Technischen Universität München
6) Vorarlberger Architektur Institut – Das Kranke(n)haus. Wie Architektur heilen hilft. https://kurzlinks.de/p229
Die Vorgaben der UV 6 reagieren auf die Erkenntnis, dass Menschen unglücklich und unruhig werden, wenn sie sich in zu kleinen Räumen aufhalten, vor allem, wenn sie – wie Bettlägerige – ihnen nicht entkommen können. Deshalb ist es positiv, wenn gerade Schwerkranke aus dem Fenster schauen können. Und es hilft, wenn Kranke den Raum innen aus verschiedenen Perspektiven betrachten können, und ihre Sichtlinien mindestens eine Raumgrenze überschreiten.
UV 7: Menschliches Maß.
Schwerkranke nehmen den Raum anders wahr als Gesunde, weil sich die subjektiven Raumproportionen ändern. Das haben die Autor:innen in ein Modell eingepasst. UV 7 beschreibt, wie der Raum dieser Wahrnehmung angepasst werden kann. Dazu gehört vor allem, dass die Abstände zwischen Kranken (etwa bei Chemotherapie-Räumen) ausreichen oder dass die Proportion von eigenem Körper und Umgebung verhindert, dass sich die Kranken im Liegen verloren fühlen. Schließlich sollten sie punktuell eigene
Das Kreiskrankenhaus Agatharied südlich von München wird im Katalog als letztes vorgestellt, als „Leuchtturmprojekt“. Das Architekturbüro Nickl & Partner hat das Haus auf sieben Pavillons verteilt. Die fügen sich mit viel Holz, Glas und Tageslicht stilistisch in den oberbayerischen Baustil ein, was den Kranken „ein heimisches Gefühl“ (5, S. 258) vermittle. Und sich zu Hause fühlen senkt den Stress wirksam. Schon demnächst müssen die „überlebenden“ Krankenhäuser umgebaut oder ersetzt werden. Eine neue Generation von Architekt:innen sollte dabei mehr als frühere auch die „heilenden Sieben“ im Blick haben. Die Anleitung dazu gibt es, nicht nur für Kreiskrankenhäuser ■
Zum Weiterlesen: Tanja C. Vollmer, Andres Lepik & Lisa Luksch (Hg.): Das Kranke(n)haus. Wie Architektur heilen hilft. ArchiTangle 2024, 275 S., 55 Euro
Dr. Barbara Knab ist Wissenschaftsautorin und approbierte Psychotherapeutin. https://barbara-knab.de
DigiSucht
Die digitale Revolution in der ambulanten Suchthilfe
Melanie Wolff
Die fortschreitende Digitalisierung bringt auch neue Beratungsmöglichkeiten mit sich. Betroffene von Abhängigkeitserkrankungen und ihre Angehörigen erhalten so flexible Unterstützung. Unsere Autorin stellt die Arbeit auf der Plattform DigiSucht vor.
I n einer Zeit, in der die Digitalisierung alle Lebensbereiche durchdringt, ist es folgerichtig, dass auch in der professionellen Suchthilfe innovative Lösungen Einzug halten. DigiSucht als Beratungsplattform für Betroffene und Angehörige ist eine solche Lösung. Im Anschluss an die vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderte Entwicklungs- und Modellphase ermöglicht seit dem 1. Januar 2024 die gemeinsame Finanzierung der Länder den nahtlosen Weiterbetrieb der Plattform DigiSucht.
Die Koordination der Ausweitung der Beratungsmöglichkeiten über DigiSucht übernehmen in den einzelnen Bundesländern sogenannte Landeskoordinierungsstellen. Diese sind sowohl für
den flächendeckenden Ausbau der zu beteiligenden kommunalen Suchtberatungsstellen als auch für die fachliche Qualitätssicherung der Plattform verantwortlich. Dazu gehört die Auswahl, Schulung und Betreuung von Beratungsstellen für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen und deren Angehörige, die Sicherung der fachlichen Standards, der technische Support für die Beratenden, die Administration der Plattform für das jeweilige Bundesland und die landesweite Kommunikation des Angebots an Kommunen, Träger der Freien Wohlfahrtspflege und auch an die Zielgruppe der Bürger:innen. Die Beratung auf DigiSucht erfolgt ausschließlich durch professionell ausgebildete und im Umgang mit der Plattform geschulte Fachkräfte, die auch in den Suchtberatungsstellen vor Ort tätig sind.
Tragfähigkeit und Reichweite
Ziel der bundesweiten, qualitätsgesicherten und datengeschützten Suchtberatungsplattform ist ein niedrigschwelliger Zugang zu Hilfsangeboten.
DigiSucht ist ein träger- und länderübergreifendes Projekt. Es basiert auf dem Konzept der digitalen Suchtberatung, das im Vorfeld mit einem Expert:innenpool entwickelt wurde und die wissenschaftliche Grundlage für die Beratungspraxis auf der Plattform bildet.
Für Anbietende von Suchtberatung bringt das zunächst ungewohnte Herausforderungen mit sich. Betrachtet man die Herangehensweise jedoch aus der Perspektive der Ratsuchenden, überzeugen Tragfähigkeit und Reichweite der Beratungsplattform schnell: DigiSucht wurde für die Ratsuchenden bewusst so einfach wie möglich gestaltet. Sie müssen sich nicht erst in einem ihnen oft unbekannten SystemDschungel zurechtfinden, sondern erhalten direkt das, was sie brauchen: Suchtberatung.
Die Suchtberatungsplattform bringt Ratsuchende mit professionellen Beratenden in Kontakt und unterstützt Betroffene und Angehörige bei Fragen zu legalen und illegalen Substanzen, Glücksspiel oder digitalen Medien.
chen können. Auch eine völlig anonyme Beratung ist bei DigiSucht möglich. Das Beratungsangebot ist mit allen Endgeräten (Laptop, Smartphone, Tablet) direkt über das Internet nutzbar, es werden keine Apps oder zusätzliche Software benötigt. Die Beratungsinhalte werden von den Suchtberater:innen vertraulich behandelt.
Entlastung für alle Zielgruppen
Die Onlinesuchtberatung bietet Zeit- und Ortsunabhängigkeit, so dass Ratsuchende auch außerhalb der üblichen Öffnungszeiten ihre Anliegen platzieren können. Die Betroffenen können sich dadurch oftmals schon etwas entlasten und erhalten im Nachgang eine Rückmeldung von den Expert:innen. Darüber hinaus können im Rahmen der Onlineberatung auch Zielgruppen erreicht werden, die über eine Beratung vor Ort schwerer zu adressieren sind, seien es jüngere Menschen oder auch weibliche Betroffene – sowohl Selbstbetroffene als auch Angehörige.
Grundsätzlich findet die bisher terrestrische Suchtberatung nun zusätzlich im digitalen Raum statt. Sowohl Ratsuchende als auch Mitarbeitende der Suchtberatungsstellen sollen durch DigiSucht die Möglichkeit weiterer Zugangswege erhalten, um die gemeinsame Beratungsarbeit flexibler zu gestalten. Diese Kombination von digitalen und analogen Kommunikationskanälen wird als Blended Counseling (dt. etwa „Gemischte Beratung“) bezeichnet. Durch Onlineberatung können Kontaktabbrüche vermieden und Krisenzeiten individueller begleitet werden. Zudem kann auf die persönlichen Lebensumstände der Ratsuchenden eingegangen werden. So erschwert etwa ein schlecht ausgebautes öffentliches Verkehrsnetz die Anreise zu einer Beratungsstelle. Auch die Betreuung von Kindern oder anderen Angehörigen kann den persönlichen Kontakt erschweren. Darüber hinaus ist Onlineberatung auch für Menschen attraktiv, die im Schichtdienst oder auf Montage arbeiten, um nur einige Beispiele zu nennen.1
Neue Selbstverständlichkeit
Susanne Junker, Diplom Sozialarbeiterin der Drogenberatung komm-pass des SKFM Düsseldorf e. V. hat bereits umfassende Erfahrung in der Onlineberatung gesammelt und fasst zusammen: „Als ich vor ca. neun Jahren eingestiegen bin bei der Ca„Junge Männer mit problematischem Konsum melden sich relativ häufig online. Sie bleiben oft auch beim digitalen Format, persönlicher Kontakt liegt vielen nicht.“
ritas-Onlineberatung, habe ich den Bereich von einem Kollegen übernommen. Zunächst war der Auftrag, die Menschen, die online Kontakt aufnehmen, zu motivieren, in die Beratungsstelle zu kommen. Dass jemand ausschließlich online beraten wird, war jedenfalls nicht so selbstverständlich wie heute. Ich hatte als neue Kollegin vor allem Sorge, Dinge missverständlich weiterzugeben oder wichtige Informationen zu vergessen. Im Laufe der Zeit haben sich viele Bedenken aufgelöst. Bei DigiSucht können alle Berater:innen Einblick in die laufenden Betreuungen nehmen, die Arbeit ist transparenter geworden. Grundsätzlich bietet die Onlineberatung den Vorteil, Menschen zu erreichen, die sich sonst nicht an uns gewandt hätten oder erst viel später im Suchtverlauf. Junge Männer mit problematischem Konsum melden sich relativ häufig online. Die bleiben oft auch beim digitalen Format, persönlicher Kontakt liegt vielen nicht. Oft nehmen auch Angehörige online Kontakt auf, um sich erstmal allgemein zu informieren und dann gerne persönlich in die Beratungsstelle zu kommen – manchmal mit dem konsumierenden Angehörigen zusammen.“
Auf die Frage, wie sich die digitale Beratung in ihren Arbeitsalltag integriert, antwortet sie: „Ich habe keine festen Zeiten für die Onlineberatung. Aufgrund der (noch) geringen Anfragezahlen würde sich das aktuell nicht lohnen. Wenn eine Anfrage reinkommt, verständigen wir uns kurz untereinander. Wer am schnellsten antworten kann, übernimmt. Wenn man die Ratsuchenden länger betreut, kann man feste Antwortzeiten vereinbaren oder Zeiten für die Betreuung blocken.“
Schulung im Doppelpack
Ratsuchende können sich auf der Webseite www.suchtberatung.digital kostenfrei registrieren und eine passende Beratungsstelle in ihrer Nähe auswählen. Die Beratung kann über verschiedene digitale Wege wie E-Mailberatung, Text- oder Videochat erfolgen. Die Beratungsplattform stellt neben den verschiedenen Kommunikationswegen auch digitale Tools für die gemeinsame Arbeit und Selbsttests für Ratsuchende zur Verfügung. Durch die Eingabe der Postleitzahl wird sichergestellt, dass Ratsuchende während des Beratungsprozesses auf Wunsch auch persönlich in der zuständigen Beratungsstelle vorspre-
In Nordrhein-Westfalen übernimmt die Geschäftsstelle der Suchtkooperation NRW das Schulungsvorgehen: In zwei OnlineSeminaren werden die Suchtberater:innen fit für die Plattform gemacht. Der erste Schulungstag umfasst die technische Einführung und die Handhabung der Plattform. Neben vielen praktischen Übungen werden auch wichtige Informationen zu Datenschutz und Qualitätssicherung vermittelt. Am zweiten Tag erhalten die Beratenden dann inhaltliches Wissen zur Onlinesuchtberatung im Allgemeinen sowie zu speziellen Themen wie dem Umgang mit Krisen und Notfällen und der Durchführung von Blended Counseling.
„Am Anfang hatte ich schon Bedenken, weil ich noch nicht so viel Erfahrung mit der schriftlichen Form der Beratung hatte. Aber das hat sich im Laufe der Zeit verbessert. Wir haben für uns Standards entwickelt, auch für Dinge, die sich wiederholen, damit man das nicht immer wieder neu erfinden muss.“
der Beratung hatte. Aber das hat sich im Laufe der Zeit verbessert. Wir haben für uns Standards entwickelt, auch für Dinge, die sich wiederholen, damit man das nicht immer wieder neu erfinden muss.“
Ein großer Vorteil der Plattform sei, dass auch Ratsuchende angesprochen werden, die bisher in der Beratungsstelle nicht sichtbar waren. Zudem könnten auch Dateien datensicher ausgetauscht werden, so dass für solche Maßnahmen kein zusätzlicher Besuch in der Beratungsstelle notwendig sei.
Susanne Junker, Diplom Sozialarbeiterin
Die Drogenberatungsstelle komm-pass ist seit über 20 Jahren Teil des Sozialdienst katholischer Frauen und Männer Düsseldorf e. V. an zwei Standorten (Mitte, Flingern).
Beide Schulungsteile sind in NRW verpflichtend, um auf der Plattform als Berater:in freigeschaltet zu werden. In anderen beteiligten Bundesländern gibt es ähnliche Vorgehensweisen, da sich bundeseinheitlich auf Qualitätsstandards geeinigt wurde.
Flexibilität für alle Beteiligten Die Ausgestaltung von Art und Umfang der Onlinesuchtberatung obliegt den einzelnen Beratungsstellenteams. Da die Nutzung der Plattform auch für die Suchtberater:innen attraktiv und praktikabel sein soll, sei es durch flexible Arbeitszeiten oder die Möglichkeit, von Zuhause aus zu arbeiten, liegt es ganz im Ermessen der Beratenden, die Onlineberatung gut in ihre persönliche Struktur zu integrieren.
An der Entwicklung und Erprobung der Plattform DigiSucht waren sogenannte Modellberatungsstellen beteiligt. Eine von vier Modellberatungsstellen in NRW war die Diakonie Fachstelle Sucht der Suchtberatungsstelle Plettenberg, in der auch Sabine Schneider, Diplom Sozialarbeiterin und Suchttherapeutin, arbeitet. Sie berichtet: „Am Anfang hatte ich schon Bedenken, weil ich noch nicht so viel Erfahrung mit der schriftlichen Form
Inzwischen haben Sabine Schneider und ihr Kollege ein System entwickelt, wie sie die Onlineberatung in ihren eigenen Arbeitsalltag integrieren: „Also bei uns hat jeder einen festen mobilen Arbeitstag, das ist bei mir der Dienstag. Und wenn ich jetzt eine Videoberatung habe, dann lege ich das natürlich gerne auf den Dienstag. Und da wissen auch die Leute, mit denen ich über DigiSucht mehr schreibe, dass sie am Dienstag auch immer eine längere Antwort von mir bekommen. Dann hat sich das oft so eingespielt, dass jemand am Wochenende schreibt und ich dann dienstags antworte. Aber ich schaue zwischendurch – wir kriegen ja immer eine Benachrichtigung per Mail, wenn eine neue Anfrage kommt oder wenn eine Beratung von mir eine neue Nachricht geschickt hat – ob ich mich da schnell drum kümmern muss oder ob ich am nächsten Tag schaue. Also die Nachrichtenfunktion bauen wir so in die Woche ein, wenn zwischendurch mal Zeit ist, da reinzuschauen und zu antworten – längere Sachen und Videoberatung dann an einem mobilen Arbeitstag. Ich nutze das auch für viele Leute, die ich in der Präsenz habe, die dann über die Plattform noch was schicken oder nachfragen, wann der Termin war oder auch mal einen Termin verschieben. Dafür nutzen sie dann auch DigiSucht, weil sie wissen, dass sie mich da manchmal schneller erreichen als am Telefon, weil da oft der Anrufbeantworter läuft.“ ■
Das Team besteht aus zwölf Beratenden. Neben der psychosozialen Betreuung für Substituierte werden Beratung und Therapievermittlung angeboten. Komm-pass ist FitKids-Standort und hat regelmäßig Angebote für Familien im Programm.
Sabine Schneider, Diplom Sozialarbeiterin
Die Suchtberatungsstelle Plettenberg bietet Hilfe für Menschen ab 18 Jahren, die Probleme mit Alkohol, Medikamenten, Drogen, Nikotin, Kauf- und/ oder Spielsucht haben sowie für deren Angehörige.
Die Aufgabenbereiche umfassen Offene Sprechstunden, Beratungs- und Therapiegespräche, digitale Suchtberatung (DigiSucht), Paar- und Familiengespräche, Motivationsarbeit, Krisenintervention, Rückfallprophylaxe, ambulante Suchtgruppen, Vorbereitung und Vermittlung in die Entgiftung, ambulante oder stationäre Therapie, Ambulante Rehabilitation Suchtkranker (im Therapieverbund ARS-MK), ambulante Nachsorge, Prävention, Multiplikatoren-Schulung und Öffentlichkeitsarbeit.
1 Hörmann, M./Aeberhardt, D./Flammer, P./ Tanner, A./Tschopp, D./Wenzel, J. (2018): Blended Counseling in der Suchtberatung. Handlungsempfehlungen für die Praxis. Auszug aus dem Schlussbericht des Projektes Face-to-Face und mehr – neue Modelle für Mediennutzung in der Beratung. Online unter: https://kurzlinks.de/1x86
Melanie Wolff ist Dipl. Sozialwissenschaftlerin und Suchttherapeutin M.Sc. und arbeitet als Referentin in der Geschäftsstelle der Suchtkooperation NRW. m.wolff@suchtkooperation.nrw
Kulturkampf auf Kosten der Patient:innen?
Über die neue Cannabisverordnung und ihre Herausforderungen
Cannabis hat als Medizin allen Widrigkeiten und jahrelangen Prozessen zum Trotz, die bis zum Bundesverfassungsgericht und wieder zurück führten, aufsehenerregende Erfolge erzielt. Keine zehn Jahres ist es her, da war es noch eine nicht verkehrs- und nicht verschreibungsfähige Droge, deren Besitz in „nicht geringer Menge“ schwerkranke Patient:innen als Verbrecher:innen dastehen lassen konnte. Heute darf jede:r volljährige Bundesbürger:in davon drei Pflanzen in der Wohnung pflegen. Menschen mit schwerwiegenden Erkrankungen, denen die Schulmedizin mit ihren evidenzbasierten Behandlungsstandards nicht helfen kann, können sich die THC-haltigen Blüten oder Extrakte nach einmaliger Genehmigung bei Therapiebeginn zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verschreiben lassen.
Dr. Oliver Tolmein ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht. Er lehrt als Honorarprofessor an der Georg-August-Universität Göttingen und arbeitet in dem von ihm mitbegründeten Netzwerk „Menschen und Rechte. Assoziation freier Rechtsanwält*innen“ in Hamburg. www.menschenundrechte.de
Steigende Beliebtheit
Die Verschreibungs- und Umsatzzahlen zeigen, wie beliebt diese Naturheilmedizin ist: Die Zahl der Verordnungen cannabinoidhaltiger Arzneimittel stieg innerhalb von vier Jahren von 185 370 im Jahr 2018 auf 393 187 stetig an. Die meisten dieser Verordnungen entfielen auf cannabinoidhaltige Stoffe oder Fertigarzneimittel in Zubereitungen (128 781), dicht gefolgt von Cannabisblüten in unverändertem Zustand (111 567) und mit deutlichem Abstand zu den Arzneimitteln Sativex, Epidyolex und Canemes (84 774).
2022 setzten Pharma-Unternehmen mit Cannabisblüten, die in unverändertem Zustand durch ärztliche Verordnungen für gesetzlich krankenversicherte Patient:innen verschrieben wurden, 78,26 Mio. Euro um. Für die Arzneimittel Sativex, Epidyolex und Canemes betrug der Umsatz weitere 50,65 Mio Euro. Für den milliardenschweren Arzneimittelmarkt ist das eine überschaubare Summe – angesichts der hohen Hürden, die Gesetzgebung und Rechtsprechung für die Verordnung von Cannabis errichtet haben, und mit Blick auf
die Tatsache, dass es derzeit noch wenige Ärzt:innen gibt, die von sich aus die Verschreibung von Cannabis anregen, ist es aber ein beachtlicher Erfolg. Genuss oder Therapie?
Dass Cannabis seit dem 1. April 2024 nun auch als Konsumgut – wenn auch in limitierter Menge und unter besonderen Voraussetzungen – gehandelt werden darf, wirft die Fragen auf, wie medizinischer Bedarf und lustvoller Genuss zueinander stehen, wie sich ärztlich verordneter Gebrauch und privat bezahlter Konsum miteinander vertragen und eventuell auch gegenseitig beeinflussen. Dabei soll es hier nicht um die Frage gehen, ob die Cannabis-Genießer:innen den Cannabis-Patient:innenen ggf. die auf dem deutschen Markt noch knappe Ware Cannabis streitig machen (vorerst soll der Konsum durch individuell gezogene sowie Ware aus Anbaugenossenschaften abgedeckt werden). Und auch die Frage, ob sich genusssüchtige Menschen ihren Stoff zu Lasten der sozialversicherten Gemeinschaft besorgen könnten, wird hier als weniger relevant ausgeblendet (vor allem mit Blick auf die aktuell noch erheblichen Schwierigkeiten, Cannabis tatsächlich von Vertragsärzt:innen verordnet und danach von der Krankenkasse genehmigt zu bekommen).
Interessant ist dagegen, dass durch die TeilLegalisierung und Teil-Entkriminalisierung von Cannabis, die bislang als Betäubungsmittel geführte Pflanze und das THC nicht mehr dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen. Damit gilt auch die Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung nicht mehr. Die ärztliche Verschreibung von Cannabis erfolgt nunmehr auf einem ganz gewöhnlichen Rezept. Das sind keine reinen Formalitäten. Der Gesetzgeber konnte Cannabis als Genussmittel nur legalisieren, weil er zu einer neuen Bewertung der von Cannabis ausgehenden Gefahren gekommen ist: Es handelt sich dabei zwar nach wie vor um eine (auch) schädliche Substanz, dieser wird aber nicht mehr die besonders hohe Gefährlichkeit beigemessen, die den Gesetzgeber motivierte, mit dem Betäubungsmittelgesetz von 1972 dem weltweit ausgerufenen „war on drugs“ beizutreten – in der nicht völlig überraschenderweise restlos enttäuschten Hoffnung, diesen durch scharfe Repression schnell zu gewinnen.
Foto: Cordula
Kropke
Im Konflikt mit dem Betäubungsmittelgesetz Einer der maßgeblichen Kommentatoren des Betäubungsmittelgesetzes, der ehemalige Oberstaatsanwalt und jetzt Leitende Regierungsdirektor Prof. Peter Patzak, kommentiert diesen Schritt im Rückblick: „Unzureichende Kenntnisse und Schreckensberichte über die Droge Cannabis verführten dazu die sog. Weiche Droge Cannabis zusammen mit Opium, Morphin, Thebain, Codein und Kokain als Betäubungsmitteln in § 1 BtmG aufzuzählen und einheitlichen Strafbestimmungen zu unterwerfen.“ Diese Verbindung von Cannabis und BtmG hatte nicht nur strafrechtliche, sondern auch sozialrechtliche Konsequenzen, denn das Bundessozialgericht hat in seinen wenigen, aber grundlegenden Entscheidungen von November 2022 diese Verknüpfung zum Anlass genommen, die Verschreibung von Cannabis erheblich zu erschweren.
Die höchsten Sozialrichter:innen stellen in ihren Entscheidungen fest, dass an die im Gesetz geforderte „begründete Einschätzung“, die Ärzt:innen einer Verschreibung von Cannabis zugrunde legen müssen, wenn es – was in der Praxis häufig vorkommt – eine Standardtherapie gibt, die sie nicht anwenden möchten, „hohe Anforderungen“ zu stellen sind. Das ist angesichts des Wortlauts der Formulierung des Gesetzes nicht naheliegend, denn „Einschätzung“ klingt eher nach „über den Daumen gepeilt“, als nach gründlicher Analyse.
Das BSG verweist hier aber ausdrücklich auf die Geltung des Betäubungsmittelgesetzes auch für Cannabis und auf das in § 13 BtmG formulierte „ultima ratio“-Prinzip, demzufolge angesichts der besonderen Gefährlichkeit von Betäubungsmitteln, deren Verordnung nur erlaubt werden darf, wenn es keine andere Möglichkeit gibt. Mit dem Wegfall der Geltung des BtmG für Cannabis, so sollte man meinen, fällt auch dieses entscheidende Argument für die hohen Anforderungen
an die begründete Einschätzung weg – denn an den medizinischen Gebrauch eines Ex-Betäubungsmittels, das aktuell nach Feierabend im trauten Kreis konsumiert werden darf, können unmöglich besonders „hohe Anforderungen“ gestellt werden. Ob die Rechtsprechung diesen – an sich naheliegenden und patientenfreundlichen – Weg tatsächlich einschlagen wird, sei dahin gestellt. Es wird davon abhängen, was für Fälle demnächst das BSG erreichen.
Ärzt:innen vor neuen Herausforderungen
Die BGH-Strafsenate sind in dieser Hinsicht jedenfalls schlechte Vorbilder: Bei der Frage, wann im nach wie vor verbotenen kommerziellen Handel mit Cannabis das Maß der „nicht geringen Menge“ erreicht ist, an die auch in § 34 CanG ein erhöhtes Strafmaß geknüpft wird, bleiben die Bundesrichter bei der Marge, die sie schon 1984 zu Zeiten des BtMG festgelegt haben: 7,5 Gramm THC sollen es sein. Damit stellen sie sich gegen den Gesetzgeber, der in der Gesetzesbegründung eine Anpassung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „nicht geringen Menge“ an die „geänderten Risikobewertung“ gefordert hatte.
Es bleibt zu hoffen, dass die mit dem Sozialrecht befassten Bundesrichter:innen hier flexibler und anpassungsfähiger sind. Zumal der Gemeinsame Bundesausschuss in der Arzneimittelrichtlinie den Ärzt:innen, die Cannabis verordnen, für die ersten drei Monate bereits eine gesteigerte Dokumentationspflicht auferlegen, um festzustellen, ob die Cannabisverordnung, die Erwartungen erfüllen kann oder nicht. Damit flankieren dann konkrete ärztliche Beobachtungen die nach Plausibilitätskriterien festzustellende „begründete Einschätzung“ – der Patientenschutz verlangt nichts anderes, wie sich aus den Erkenntnissen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte ergibt. Dieses hat im Rahmen seiner Begleitforschung festgestellt: Cannabis kann dort, wo es den erwachsenen Patient:innen nicht hilft, problemlos abgesetzt werden, und wird es auch (so wie es der Gesetzgeber angenommen und deswegen in den Wortlaut der „begründeten Einschätzung“ gefasst hat).
Die Autor:innen der Begleitstudie resümieren: „Die Therapie mit Cannabisarzneimitteln wird deutlich häufiger aufgrund fehlender Wirksamkeit als aufgrund nicht tolerabler Nebenwirkungen abgebrochen.“ Die Teilfreigabe von Cannabis für den Konsum könnte so die Auseinandersetzung um Cannabis entspannen – und damit der Gesundheit der schwerkranken Patient:innen dienen, indem es die Frage, welche Medikation verordnet wird ,nicht zu einem Element des Kulturkampfes um Drogenkonsum macht. ■
Bild:
Seyfried
Einblick in Seelenräume
Die Vermittlung von innerem Erleben im Graphischen Erzählen
Hax-Schoppenhorst
Seelische Krisen und psychische Erkrankungen werden gesellschaftlich immer noch tabuisiert. Um das zu ändern, geben zahlreiche Künstler:innen in der diesjährigen Ausstellung „Seelenräume – Psychische Erkrankungen und Krisen in Graphischen Erzählungen“ der LVR-Klinik Düren Einblicke in innere Erlebniswelten.
Neben einer zeitgemäßen Behandlung informieren psychiatrische Kliniken sinnvollerweise auch umfassend über die Entstehungsbedingungen und das Wesen seelischer Erkrankungen. So können das Verständnis und Einsichten vertieft werden – was schließlich zu einer Entstigmatisierung und zu einer Senkung von Schwellenängsten in Bezug auf die Institution Psychiatrie beiträgt. Vorrangig sind es Informationsveranstaltungen, Vortragsangebote und Informationsstände bei diversen Veranstaltungen, durch die Interessierte Gelegenheit bekommen, ihr Wissen zu erweitern. Solche Angebote sind sicherlich sinnvoll und hilfreich; es sollten jedoch auch andere Zugangsweisen in Betracht kommen.
Inneres Erleben veranschaulichen
Im ehemaligen Bewahrhaus der LVR-Klinik Düren, das ab 1900 in erster Linie zur Unterbringung forensischer Patient:innen diente und nach diversen dramatischen Zwischenfällen im Jahre 1986 endgültig geschlossen wurde, geht man seit geraumer Zeit neue Wege. Die Ausstellung „Seelenräume – Psychische Erkrankungen und Krisen in Graphischen Erzählungen“ rückt Graphic Novels, Comics und Karikaturen in den Mittelpunkt. Dies geschieht aus guten Gründen. Das Graphische Erzählen ist geprägt von dem jeweiligen Stil der Künstler:innen (Sequenzen, Farben, Formen, Zeichnung der Charaktere, Sprechblasen, …) und bietet somit Betrachtenden einen unmittelbaren Einblick in deren Sichtweisen. Es wird nicht über etwas „referiert“, vielmehr wird es ermöglicht, gewissermaßen Teilnehmer:in des jeweils Erzählten zu sein. So rückt die Welt von Depressionen, Angststörungen, Schizophrenien, Autismus, Abhängigkeitserkrankungen, Essstörungen, Zwangsstörungen und heftigen Lebenskrisen bedeutend näher; ihre Entstehung wird nachvollziehbarer,
das innere Erleben findet konkret neben der Sprache auch graphischen Ausdruck. Was in anderen Zusammenhängen etwa als „formale Denkstörung“ bezeichnet wird und damit nur professionell Tätigen überhaupt zugänglich ist, wird im wahrsten Sinn des Wortes anschaulich.
Das Projekt
Auf dem deutschen Buchmarkt gibt es inzwischen eine beachtliche Zahl von Graphischen Erzählungen, die sich mit seelischen Krisen und psychiatrischen Erkrankungen auseinandersetzen – einige von ihnen erhielten namhafte Preise. Haus 5, das ehemalige Bewahrhaus der heutigen LVR-Klinik Düren, wird seit der Schließung 1986 als Ort der Information zur Psychiatriegeschichte und zu aktuellen Entwicklungen in der Psychiatrie genutzt. Dieses Konzept soll in den kommenden Jahren vertieft und professionalisiert werden, so dass dem Haus in naher Zukunft eine zentrale Rolle in der
Bewusstseinsarbeit zukommt. In den vergangenen Jahren fanden hier bereits regelmäßig Ausstellungen statt (u. a. „Faces of Depression“, „Bilder für die Seele“ und „Linien des Lebens“), die insgesamt von 8 000 Personen aus Stadt und Kreis Düren sowie der näheren Umgebung besucht wurden. Somit waren ideale Rahmenbedingungen gegeben, hier auch die Ausstellung „Seelenräume – Psychische Erkrankungen und Krisen in Graphischen Erzählungen“ zu planen. Gemeinsam mit Olaf Mehl, Kurator des Hauses, wurden schon Mitte 2023 Kontakte mit Illustrator:innen und Verlagen geknüpft. Die Resonanz war höchst erfreulich, so dass u. a. Tina Brenneisen, Christine und Markus Färber, Sheree Domingo, Anja Wicki, Rina Jost, Tine Fetz, Uli Oesterle, Albin Zauner, Nando von Arb, Dominik Wendland, Johanna Selge, Max Hillerzeder, Aike Arndt, Eva Brittner, Regina Hofer, Leopold Maurer, Elke Renate Steiner, Stefan Haller, Heiko Sakurai, Nel, Moa Romanowa, Stef Lenk und Ingrid Sabisch für eine Mitarbeit gewonnen werden konnten. Vielfältige Unterstützung gaben dabei die Verlage Edition Moderne, Avant, Luftschacht, Rotopol, JaJa, Panini und Hogrefe. Schließlich zeigte der Deutsche Comicverein e. V. (1. Vorsitzender ist Axel Halling) große Sympathie für das Vorhaben, unterstützte die Herstellungskosten für die Ausstellung und tritt seitdem als Mitveranstalter auf.
Über die Räume im Erdgeschoss von Haus 5 verteilt, sind seit dem 8. Mai 2024 die Arbeiten der oben Genannten in großformatigen Auszügen zu sehen, das jeweilige Gesamtwerk ist davor auf einer Säule ausgelegt. Eine Inhaltsangabe, Informationen zu den Künstler:innen sowie Stimmen zur Publikation ergänzen die Präsentation.
Entfremdete Räume und unausgesprochene Gefühle
Die Geschichte „Im Demenzlabyrinth“ (Hogrefe 2022) von Albin Zauner umfasst 84 Zeichnungen und ist eine der ersten Graphic Novels zum Thema Demenz. Zauner erzählt in seiner Bildergeschichte von den Erfahrungen eines fiktiven Schriftstellers, der an einer Alzheimer-Demenz erkrankt ist. Im Vordergrund steht nicht die medizinisch-pathologisierende Sicht auf das Krankheitsbild oder den -verlauf, sondern die innere Erlebniswelt des Protagonisten. Die existenziellen Auswirkungen, die Verluste von räumlicher und zeitlicher Orientierung, die Gedächtnisausfälle und der Sprachzerfall durchdringen in symbolischen Bildsequenzen die Erlebniswelt des alten Mannes. Einsam sitzt er mit einer flüchtigen Ahnung von Erinnerung an sein früheres Leben in seinem Garten oder in den Räumen seines Hauses, die ihm zusehends fremd werden. Das große Abenteuer des Helden besteht in einfachsten Alltagsschritten. Hinter so mancher Tür, die er öffnet, erwarten ihn plötzlich fremde Räume und verwirrende Situationen. Der lang gehegte Garten wird zum Irrgarten und ein letzter Rundgang wird zu einer Odyssee durch vollkommen entfremdete Regionen.
Regina Hofer erzählt in ihrer zum Teil autobiografischen Graphic Novel „Blad“ (Luftschacht 2018) von dem Kampf einer jungen, kreativen Frau mit ihrem Selbstund Fremdbild, mit dem Weltbild des traditionalistischen Vaters und ihrer Sehnsucht nach der unbegrenzten Welt da
draußen. In durchkomponierten SchwarzWeiß-Bildern beschwört sie die unausgesprochenen Gefühle der Kindheit und Jugend herauf und rekonstruiert im assoziativen Erzählstrom den Ursprung einer Essstörung: Begonnen hat alles mit der Ess-Brechsucht, als sie fünfzehn war; das Gefühl, sich im eigenen Körper nicht ganz wohlzufühlen, reicht bis in die frühe Kindheit auf dem Land zurück. Dass „Brav sein!“ in ihrer Familie mit dem Essen zu tun hat, begreift sie schon damals. Der Rest ergibt sich fast von selbst: früh einsetzende Pubertät, erschreckende Wachstumsschübe, Magersucht, Haarausfall, Essanfälle, Nachprüfung in Mathematik; mit achtzehn Jahren beginnt sie ein Kunststudium, hofft dabei auf einen Neuanfang. Doch das alte Schema setzt sich fort …
Die 25-jährige Moa lebt in einer schäbigen Wohnung und pendelt zwischen Therapiesitzungen, Panikattacken und Elektro-Partys. Immer auf der Suche nach Erlösung und dem lebensverändernden Kick. Auf durchgefeierte Nächte folgen ereignislose Tage. Moa Romanova entwirft ihr autobiografisches Debüt „Identikid“ (Avant 2020) in einem einzigartigen visuellen Stil und trifft mit ihrer Erzählung das Lebensgefühl der Millennials. Nachdenklich, witzig und äußerst verletzlich zeigt sich Romanova als kraftvolle neue Stimme des zeitgenössischen Comics. ■
Die Ausstellung ist bis zum 15. September 2024 donnerstags und sonntags in der Zeit von 14.30 – 17.00 Uhr geöffnet.
Der Eintritt ist kostenfrei. Gesonderte Führungen für Schulkassen, Pflegeschulen, Seminare und andere Gruppen können vereinbart werden über: thomas.hax-schoppenhorst@lvr.de
Thomas Hax-Schoppenhorst war 37 Jahre Mitarbeiter der heutigen LVRKlinik Düren und dort vorrangig für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig; er ist Autor und Herausgeber verschiedener Sachbücher. In Haus 5 ist er als Veranstaltungskoordinator tätig.
Wirksam und unbedenklich?
Selbstmedikation, Evidenz und „ordnungsgemäßes“ Beraten
Arzneimittel im Rahmen der Selbstmedikation in der Apotheke direkt und ohne ärztlichen Rat zu kaufen, ist in Deutschland gängige Praxis. Die Gesundheitspolitik hat diesen Trend der Verlagerung von Arzneitherapiekosten auf die Einzelnen tatkräftig unterstützt.
Freistellungen von bislang verschreibungspflichtigen Arzneimitteln aus der Verschreibungspflicht sowie die Herausnahme nichtverschreibungspflichtiger Arzneimittel aus dem Erstattungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung seit 2004 haben diesen Trend beschleunigt.
Aber sind Verbraucher:innen ausreichend informiert, um fundierte Entscheidungen treffen zu können? Welcher Unterstützung, welchen Hilfsmitteln können sie vertrauen?
In diesem Artikel geht es um die Komplexität der Selbstmedikation und wie sich Verbraucher:innen darin möglichst gut zurechtfinden. Es geht um verschreibungsfreie, also in Apotheken oder Drogerien ohne Rezept erhältliche Arzneimittel. Es geht aber nicht um jedwede Arzneimittel, die
sich in der eigenen Hausapotheke befinden oder die von Freunden und Verwandten in besten Absichten überlassen werden – auch wenn sie verschreibungspflichtig sind und damit nicht in die Selbstmedikation gehören.
Fakten
Der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) bietet jährlich eine Übersicht, was und wie viel gekauft wird. Insgesamt wurden 2022 fast 62 Mrd. Euro für Arzneimittel ausgegeben (hinzu kommen Ausgaben für Arzneimittel in Krankenhäusern), davon waren 7,6 Mrd. für rezeptfreie Arzneimittel aus Apotheken. Weitere vier Milliarden wurden für Arzneimittel ausgegeben, die außerhalb von Apotheken verkauft werden dürfen, sowie für „stoffliche Medizinprodukte“ – etwa Tränenersatz-Augentropfen oder bestimmte Nasentropfen mit nicht pharmakologischer, sondern physikalischer Wirkungsweise – , weiterhin Gesundheitsmittel, darunter viele Nahrungsergänzungsmittel, die aber für Laien von Arzneimitteln oftmals nicht zu unterscheiden sind. Schaut man sich die abgegebenen Mengen in Packungseinhei-
ten an und lässt die Kosten unberücksichtigt, zeigt sich, dass mehr als jede zweite Packung in Apotheken im Rahmen der Selbstmedikation abgegeben wird.
Was aber wird in Apotheken oder Drogerien/Supermärkten verkauft? Ist dies vernünftig, handelt es sich dabei immer oder zumindest überwiegend um evidenzbasierte Selbstmedikation?
Regulatorische Vorgaben: Es ist kompliziert!
Die feinen Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Produkttypen, die aufgrund von europäischer und deutscher Rechtsetzung geschaffen wurden, sind schon kompliziert genug – verschreibungspflichtig, apothekenpflichtig, freiverkäuflich, Arzneimittel, Nahrungsergänzungsmittel, Medizinprodukte usw. Dahinter verbergen sich verschiedene Anforderungen an Wirksamkeit, Verträglichkeit und Qualität der Produkte.
Mit unterschiedlich begründeten Therapieansätzen wird es für Laien noch schwieriger: Es gibt die naturwissenschaftlich begründeten Angebote, es gibt Arzneimittel der Homöopathie oder der Anthroposophie, es gibt Therapieansätze mit bestimmten Salzen, es gibt die traditionelle Phytotherapie und eine naturwissenschaftlich begründete Phytotherapie sowie weitere Nischen, in denen sich bestimmte Vorstellungen zur Gesunderhaltung oder Krankheitsbewältigung mit unterschiedlichen Stoffen und Verfahren entwickelt haben. Wiederum trifft man hier auf unterschiedliche Qualitätsniveaus.
Aber auch bei den naturwissenschaftlich begründeten Arzneimitteln, wie bei den gängigen Schmerzmitteln (Ibuprofen oder Paracetamol) oder bei Magen-DarmMitteln (etwa Omeprazol), ist es nicht so ganz einfach. Die Dosierung macht das Gift, heißt es schon bei Paracelsus (1493 –1541). Und getreu diesem Motto kann das Bundesgesundheitsministerium auf Empfehlung des Bundesinstituts für Arzneimittel auf Antrag der Pharmazeutischen Unternehmen einen verschreibungspflichtigen Arzneistoff aus der Rezeptpflicht entlassen, und dies meist in einer geringeren Dosierung oder in einer kleineren Packungsgröße, als beim verschreibungspflichtigen Arzneimittel mit gleichem Wirkstoff.
Die Risiken der Dosierung und des Versands
Laien kennen solche Feinheiten meist nicht; und wenn die erste eingenommene Dosis nicht hilft, kommt eben eine zweite oder gar eine dritte Dosis zum Einsatz, auch wenn im Beipackzettel so etwas nicht vorgesehen ist. Und schon ist man in der verschreibungspflichtigen Dosierung mit den damit verbundenen Risiken, die die Regulator:innen eigentlich mit dem Ärzt:innenvorbehalt (Rezeptpflicht) verhindern wollten.
Weiterhin für Laien schwer einzuschätzensind die unterschiedlichen Vertriebswege für die Produkte. Neben den klassischen Präsenzapotheken gibt es Versandapotheken und darunter wiederum seriöse und unseriöse Vertreter. Letztere fallen dadurch auf, dass die Abgabe gefälschter
Arzneimittel nicht ausgeschlossen ist. Zudem vertreiben Drogerien und Supermärkte freiverkäufliche Arzneimittel und andere arzneimittelähnliche Produkte. Für Produkte ohne Rezept gibt es keine Festpreise wie bei rezeptpflichtigen Arzneimitteln, deshalb spielt der Preis für die Verbraucher:innen eine wichtige Rolle.
Kommunikation über Produkte der Selbstmedikation
Wie kann sich die oder der Einzelne nun in diesem Regelungsdickicht zurechtfinden und eine optimale Entscheidung treffen? Allgegenwärtig ist die Werbung, und sicherlich sind die meisten davon überzeugt, dass sie von der Werbung nicht beeinflusst werden und insofern nicht falsch informiert sind. Doch so einfach ist es nicht: Werbung wirkt – das wissen nicht nur Werbefachleute sondern auch Verbraucherschützer. Das weiß aber auch der Gesetzgeber, weswegen er mit dem Heilmittelwerbegesetz Schranken für die Werbung definiert hat. Die umfangreiche Rechtsprechung zu Arzneimittelwerbemaßnahmen von Pharmazeutischen Unternehmen zeigt darüber hinaus, dass viele Marktbeteiligte stets austesten, wie weit sie gehen können, um die Verbraucher:innen zu beeinflussen. Mit den Influencer:innen und weiteren Playern in den sogenannten sozialen Medien sind neue Werbeformen entstanden, die insbesondere auf spezielle Verbrauchersegmente, etwa Kinder und Jugendliche, ausgerichtet sind und sich kaum überwachen lassen.
Der gesetzliche Auftrag von Apotheken
Die Apothekenpflicht als regulatorische Maßnahme für viele Arzneimittel ist schon genannt worden. Nur in Apotheken können solche apothekenpflichtigen Arzneimittel verkauft werden. „Den Apotheken obliegt die im öffentlichen Interesse gebotene Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln“, heißt es im §1 des Apothekengesetzes. Zwei Dinge sind hier für den Bereich Selbstmedikation interessant: Zum einen wird das „öffentliche Interesse“bekundet. Sprich: Mit der Apothekenpflicht dokumentieren Staat und Gesellschaft, dass sie die Apotheke bewusst als Barriere einsetzen, um dem unkontrollierten Arzneimittelkonsum eine Informations-und Beratungskompetenz entgegenzustellen. Zum anderen geht es um die
„ordnungsgemäße Versorgung“ über Apotheken, also die Einhaltung der den Apotheken vorgegebenen Regularien, seien es rechtliche Regeln, seien es fachlich pharmazeutische Vorgaben. So sind Apotheken verpflichtet, die Verbraucher:innen zu informieren und zu beraten sowie Risiken der Arzneimittelanwendung zu erfassen und ggf. an die Behörden weiterzugeben („Pharmakovigilanz“).
Wie steht es nun mit Information und Beratung durch Apotheken bei der Selbstmedikation? Ist sie „ordnungsgemäß“, entspricht sie also den regulatorischen Vorgaben wie auch den fachlichen Anforderungen? Wir wissen es nicht so genau. Ergebnisse unterschiedlicher Tests in Apotheken oder Versandapotheken von Verbraucherorganisationen zeigten bislang, dass es Unterschiede gibt: Es gibt beratungsintensive Apotheken, die sich einer evidenzbasierten Beratungsphilosophie verpflichtet fühlen; es gibt verkaufsorientierte Apotheken, denen Evidenz im Portemonnaie wichtiger ist als bei Arzneimitteln, und es gibt alle Nuancen dazwischen. Den als aufgeklärt deklarierten Verbraucher:innen wird zugemutet, bei der Wahl der Apotheke und bei der Wahl von Arzneimitteln die für sie richtige Entscheidung zu treffen.
Informationen für Apotheken über Arzneimittel: Evidenzbasiert?
Schwer ist es aber auch für Apotheken, eine möglichst konsequent evidenzbasierte Information und Beratung anzubieten. Denn bei den meisten Arzneimitteln der
Selbstmedikation ist es nicht weit her mit den positiven Beweisen ihrer Wirksamkeit und Unbedenklichkeit auf Grundlage anerkannter wissenschaftlicher Methoden. Auch kann eine einzelne Apotheke nicht ständig die gesamte wissenschaftliche Literatur durchforsten, um herauszufinden, was aktuell Stand von Wissenschaft und Technik ist.
Dieses Dilemma thematisierten der gegenüber den traditionellen Standesorganisationen kritisch eingestellte Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP) zusammen mit der Berliner Apothekerkammer. Im Jahr 2014 stellten sie einen Antrag auf dem Deutschen Apothekertag. Darin wird die Bundesvereinigung der Apothekerverbände (ABDA) beauftragt, die vorhandene wissenschaftliche Literatur auf Evidenz zu durchforsten und das Ergebnis den Apotheken in einer Form zur Verfügung zu stellen, die sie in die Lage versetzt, bei Information und Beratung der Kundschaft schnell und problemlos auf die jeweilige Evidenzlage zurückgreifen zu können. Dieser Antrag wurde von einer Mehrheit angenommen.
Ein paar Jahre später präsentierte die ABDA der Apotheker:innenschaft die „EVINews“. Monatlich können Apotheken nun auf evidenzbasierte Informationen zu jeweils zwei Themen der Selbstmedikation zurückgreifen. Im März 2024 standen das Thema „Tinnitus und Vitamin B12“ und im April „Informationen zu Schlafphysiologie, Schlafstörungen und Baldrian“ auf dem Programm.
Abb. 2: Absatzentwicklung v. OTC-Arzneimitteln und Nicht-Arzneimitteln 2019*
* Absatz in Mio. Packungen, Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in %
Im Rahmen einer Evaluation des EVINews-Angebots stellten die Autor:innen des Artikels 2018 fest, dass bislang nur wenige Apotheken den Newsletter nutzen und die Einbindung der Informationen in den Apothekenalltag schwer falle. Der VdPP kritisierte 2020, dass der 2014 verabschiedete Beschluss nicht konsequent umgesetzt worden sei und ein für die Apotheken praktikables Informationsangebot mittels einer Datenbank weiterhin fehle.1
Hinzugekommen ist ein weiteres Angebot für Apotheken: das „International Review Journal. Evidence for Self-Medication“ (www.efsm.online) der Wissenschaftlichen Verlagsgesellschaft, die hauptsächlich Bücher und Zeitschriften für Apotheker:innen vertreibt. Was zunächst seriös klingt, wird bei näherer Betrachtung ziemlich fragwürdig. Vertreter:innen des VdPP untersuchten Artikel dieses Journals und kamen zu dem Schluss, dass es sich hier keinesfalls um evidenzbasierte Informationen handelt, sondern um eine Sammlung von für die Evidenz nicht oder nicht ausreichend relevanten Studien. Zudem haben die Autor:innen jener Artikel fast alle Interessenkonflikte, da sie bei den entsprechenden Anbietern, nämlich bei den Pharmazeutischen Unternehmen, angestellt sind. 2
Worauf können sich Verbraucher:innen verlassen?
Am besten ist es, man hat eine Apotheke des Vertrauens gefunden, bei der evidenzbasierte Information und Beratung in der Selbstmedikation eine Selbstverständlichkeit ist. Leider gibt es kein Siegel für die Apotheken, an dem man sich orientieren könnte.
Eine zweite Möglichkeit ist die Nutzung der Datenbank der Stiftung Warentest. Sie untersucht die wichtigsten, am häufigsten abgegebenen Arzneimittel und bewertet sie (www.test.de/thema/arzneimittel/). Inzwischen gibt es diese Veröffentlichung in aktualisierter Form nur noch als Online-Angebot, nicht mehr als Buch. Wer in dieser Datenbank stöbern möchte, muss allerdings dafür bezahlen (derzeit etwa 60 Euro im Jahr).
Das Buch „Bittere Pillen“ aus dem Kiepenheuer & Witsch-Verlag gibt es schon seit Jahrzehnten. Die aktuelle Ausgabe trägt das Datum 2018–2020. Auch hier finden sich Bewertungen einzelner Arzneimittel. Ein regelmäßiges Periodikum ist die Zeitschrift „Gute Pillen, Schlechte Pillen“.
Eigene Darstellung des BIP basierend auf IQVIA® Consumer Report Apotheke 24
Sie wird von vier kritischen Pharmapublikationen (arzneitelegramm, Arzneimittelbrief, BUKO Pharma-Kampagne und Arzneiverordnung in der Praxis) getragen und inhaltlich gefüllt. Die Zeitschrift ist werbefrei und erscheint einmal im Monat. Sie richtet sich mit kritischen Beiträgen an Laien (www.gutepillen-schlechtepillen.de). Da sie ohne Werbung auskommt, ist sie für Verbraucher:innen nicht kostenlos wie etwa die „Apotheken-Umschau“, „My Life“ oder bis vor kurzem das „Apotheken Magazin“; diese finanzieren sich über Werbung und durch finanzielle Beiträge der Apotheken. Damit „Gute Pillen, Schlechte Pillen“ eine weitere Verbreitung findet, was aus Sicht von Verbraucherschützer:innen wünschenswert wäre, sollten die Kund:innen vielleicht einfach mal in der Apotheke nachfragen, ob man in die Hefte „Gute Pillen, Schlechte Pillen“ oder in die Datenbank der Stiftung Warentest reinschauen könnte. Vielleicht lässt eine solche Nachfrage die Apothekenleitung stutzig werden, und sie überlegt sich, in Zukunft dieseAngebote vorzuhalten.
Evidenzbasierte Informationen finden sich auch für Laien auf den Seiten des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG, www.gesundheitsinformation.de). Der Fokus liegt bei diesem Angebot allerdings nicht auf Arzneimitteln der Selbstmedikation, die zwar auch hin und wieder analysiert werden; die meisten Kapitel behandeln aber rezeptpflichtige Arzneimittel.
Zukunftsmusik: Mehr Evidenz in der Selbstmedikation
Es ist also kompliziert – sowohl für die Verbraucher:innen als auch für die Apotheken. Was ließe sich also tun, um die Situation zu verbessern?
Eine gute Möglichkeit wäre sicherlich die Bereinigung des Marktes, sodass nur noch solche Arzneimittel verfügbar sind, die auch einen nachgewiesenen tatsächlichen Nutzen haben. Der Streit um die Homöopathie zeigt allerdings, dass dies nicht so einfach ist. Ein milliardenschwerer Markt wird sich nicht einfach eindampfen lassen und die Profitierenden der Unübersichtlichkeit werden zu kämpfen wissen.
Gut wäre es auch, wenn man sich als Verbraucher:in in allen Apotheken auf eine evidenzbasierte Beratung verlassen könnte. Aber solange Apotheken vom Pro duktverkauf leben und als Kauffrau/-mann auf ordentliche Rabatte bei ihren eigenen
Was ist evidenzbasierte Selbstmedikation?
Eine allgemein anerkannte Definition zur evidenzbasierten Selbstmedikation gibt es nicht. Aber man kann sich an der Definition der evidenzbasierten Medizin (EbM) orientieren. Dazu führt das Netzwerk EbM, eine unabhängige wissenschaftliche Vereinigung , sinngemäß aus:
Unter evidenzbasierter Medizin (EbM) versteht man eine Vorgehensweise des medizinischen Handelns, individuelle Patient:innen auf der Basis der besten zur Verfügung stehenden Daten zu versorgen. Diese Technik umfasst die
● systematische Suche nach der relevanten Evidenz in der medizinischen Literatur
● für ein konkretes klinisches Problem,
● die kritische Beurteilung der Validität der
Arzneimitteleinkäufen achten müssen, sind oftmals Anreize gesetzt, die eine „ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung“ im Bereich der Selbstmedikation be- oder verhindern.
Die Werbung verbieten, das wäre eine weitere Möglichkeit. Einschränkungen bei der Tabakwerbung konnten nach Jahrzehnten der kontroversen Diskussion durchgesetzt werden; vielleicht auch eines Tages bei der Arzneimittelwerbung? Da aber inzwischen viele Milliarden Euro jährlich mit Arzneimittelwerbung verdient werden und sehr viele Zeitschriften von Arzneimittelwerbung abhängig sind, wäre es eine heroische Aufgabe, wollte man den Kampf zur Eindämmung der Arzneimittelwerbung aufnehmen oder verstärken. Die zahllosen juristischen Auseinandersetzungen der Stiftung Warentest, die sie bei der Veröffentlichung ihrer kritischen Bewertungen zu bestehen hatte, sprechen Bände.
Gute und von Pharmazeutischen Unternehmen sowie Vertriebswegen unabhängige und verbraucherorientierte Informationen über Arzneimittel ausbauen, um die Verbraucher:innen mehr als bisher in die Lage zu versetzen, selbst eine fundierte Entscheidung zu treffen? Ja, das ließe sich machen, vorausgesetzt die Verantwortlichen setzen die entsprechenden
1VdPP (2020): Stellungnahme des VdPP zum Positionspapier der ABDA. „Selbstmedikation als integraler Bestandteil einer umfassenden Arzneimittelversorgung“ vom Mai 2020. In: Rundbrief des VdPP 108, S. 22–23. Online unter: https://kurzlinks.de/ijoa
2VdPP (o.J.): Kritik am „International Review Journal. Evidence for Self-Medication“ der Wissenschaftlichen Verlagsgesellschaft. Noch nicht veröffentlicht.
Evidenz nach klinisch epidemiologischen Gesichtspunkten,
● die Bewertung der Größe des beobachteten Effekts sowie
● die Anwendung dieser Evidenz auf konkrete Patient:innen
● mit Hilfe der klinischen Erfahrung und der Vorstellungen der Patient:innen.
EbM setzt also auf wissenschaftlich gut gemachte klinische Studien, auf die kritische Bewertung hinsichtl. Relevanz für die Patient:innen, auf den Einsatz der klinischen Erfahrung der Heilberufler und – nicht zu vergessen –auf die Vorstellungen und Prioritätensetzung der Patient:innen. (EbM 2018)
Prioritäten. Aber auch wenn man das Budget für solche Aufklärungsangebote verzehnfachen oder verhundertfachen würde, bliebe die Frage ungeklärt, ob man tatsächlich alle Bevölkerungsgruppen ausreichend erreichen könnte. Meist sind solche Informationsangebote eher eine Veranstaltung für besser Betuchte und vor allem für Menschen mit guter Bildung. Guter Wille führt so nicht unbedingt zu ausreichend guten Ergebnissen.
Was bleibt?
Vermutlich wird es so weitergehen wie bisher. Jede und jeder wird sich im Selbstmedikationsdschungel allein zurechtfinden müssen, vielleicht mit den genannten öffentlich zugänglichen Unterstützungen, vielleicht auch mit der Apotheke des Vertrauens. Hier haben es die Apotheken in der Hand, an ihrem Image zu feilen. Der öffentliche Auftrag zur ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung verpflichtet auch im Bereich der Selbstmedikation; nun müssen die Apotheken es „nur noch“ flächendeckend und nachweisbar umsetzen. Warum sollten sie das tun, wenn doch die gesetzten Anreize dem entgegenstehen?
Vielleicht auch, weil sonst die Apothekenpflicht für viele rezeptfreie Arzneimittel möglicherweise überflüssig wird? ■
Dr. Udo Puteanus war bis 2023 im Bereich Sozialpharmazie tätig als Mitarbeiter im Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen, einer Behörde des Öffentlichen Gesundheitsdienstes im Geschäftsbereich des Gesundheitsministeriums NRW. Er ist Vorstandsmitglied des Vereins demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten, VdPP.
Lichtund Schattenseiten
Bewegungsförderung via Virtual Reality
Viviane Scherenberg
Mittlerweile gibt es auf dem Markt immer mehr digitale Möglichkeiten, um Menschen zu Bewegung zu animieren. Neben klassischen Gesundheits-Apps spielt auch Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) eine immer größere Rolle. Doch welche Möglichkeiten und Grenzen sind nach aktuellem Stand der Forschung mit diesen neuen, vielfältigen Ansätzen der Bewegungsförderung konkret verbunden?
I nterventionen via Virtual Reality (VR, „virtuelle Realität“) oder Augmented Reality (AR, „erweiterte Realität“) bieten User:innen ein realistisches dreidimensionales (3D) Seherlebnis. Dabei liegt der Unterschied zwischen VR und AR darin, dass bei VR eine komplett künstliche Umgebung geschaffen wird, die Nutzer:innen von der realen Welt abschirmt, während bei AR digitale Informationen in die echte Welt eingefügt und so die reale Welt in Echtzeit erweitert wird. Laut der Studie „Die
Zukunft der Consumer Technology“ (n = 1.159) nutzen in Deutschland bereits 21% der Bevölkerung ab 16 Jahren hin und wieder privat oder beruflich Virtual Reality-Brillen, 39 % könnten sich vorstellen, solche technischen Innovationen zukünftig zu nutzen. Nach Computer- und Videospielen, dem Bereisen von Orten, Videos oder Musikkonzepte schauen, stehen sportliche Aktivitäten bereits auf Platz 5 der VR-Beliebtheitsskala (Bitkom 2023). Dabei besteht die virtuelle Umgebung immer aus einem Agenten (bzw. Avatar), der stellvertretend für die reale Person Handlungen ausführt sowie aus beliebigen Objekten bzw. Räumen (etwa Tennisplatte, Aerobic-Raum), die in einen Prozess bzw. Ablauf (z. B. Fitnessspiel) eingebunden sind (Knoll/Stieglitz 2022). Die Nutzer:innen können mithilfe von drahtlosem VR-Headset sowie VR-Controllern mit integrierten Bewegungssensoren Bewegungen des Kopfes, der Hände sowie der Arme in den virtuellen Raum transferie-
Foto: istockphoto.com/Antonio_Diaz
ren (Lipski et al. 2020). Derartige Fitnessspiele mit teils 360°-Erlebnissen werden als Exergaming-Interventionen tituliert, einer Wortschöpfung aus dem Begriffen „exercise“ (Übung) und „gaming“ (Spiel) (Benzing/Schmidt 2018).
Ungeahnte Vielfalt
Wie vielfältig solche körperlich aktiven Unterhaltungsangebote via VR seien können, zeigt eine Analyse öffentlich zugänglicher Sport- und Bewegungs-Applikationen (kurz Apps) des VR-Anbieters Oculus (siehe Tabelle).
Derartige Interventionen, in denen eine Vielzahl an Motivationselementen integriert sind, können sowohl allein als auch gemeinsam mit Dritten (sogenannte Multiplayer-Versionen) durchgeführt werden. Als Gamification-Elemente werden dabei Game-Design-Elemente bezeichnet, die in einem Nicht-Gaming-Kontext integriert werden (z. B. Fitness-Apps). GamificationElemente stellen motivierende Feedbacks und Bewegungsaufforderungen dar, die unterschiedliche menschliche Motive ansprechen (z. B. Neugierde, Leistung, soziale Anerkennung, kognitive Stimulanz, Selbstbestimmung).
Dies können bspw. Punkte und Level sein, die bei der Ausführung bestimmter Aktivitäten gesammelt werden und damit den Fitness- und Spielfortschritt re-
präsentieren (Werbach/Hunter 2015). Aber auch der Krafteinsatz (etwa beim Boxen) oder die Anzahl erfolgreicher Bewegungsabläufe (z. B. Erfolgsserien bei Workouts) können sichtbar gemacht und bonifiziert werden. Bestenlisten und Rankings als direkter Leistungsvergleich im Rahmen von Muliplayer-Interventionen können je nach Positionierung sowohl motivierend als auch demotivierend wirken. Erfolgreiche Abzeichen werden am Ende eines Workouts verliehen und stellen folglich zusammenfassende Errungenschaften dar.
Möglichkeiten für gesunde und erkrankte Menschen
VR-Anwendungen werden als Präventions- und Fitnessangebote (etwa Kraft-, Kardio- oder Gleichgewichtstraining) von gesunden Menschen (Prasertsakul et al. 2018) aber auch von kranken Menschen in der Rehabilitation (z. B. Patient:innen mit Schlaganfall, Parkinson, Multiple Sklerose) bereits weltweit genutzt und eingesetzt. Hierzulande wurde in das neue DiGA-Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) (diga.bfarm.de) bisher nur eine digitale Gesundheitsanwendung (DiGA), sprich „App auf Rezept“ aufgenommen, die sich auf die Bekämpfung von Angststörungen mithilfe einer VR-Anwendung bezieht (Invirto) (Stand 03/2024). Die Techniker Kran-
Beispiele für Sport- und Bewegungs-Apps
kenkasse (TK) ist die erste gesetzliche Krankenkasse, die Versicherten (mit Schlaganfall oder nach Querschnittslähmung) im Rahmen eines Pilotprojektes bewegungsbezogene VR-Therapie (CUREO®) ermöglicht (TK 2024).
Ein großer Vorteil solcher Anwendungen ist neben den beschriebenen motivationsspezifischen Aspekten, dass solche Anwendungen orts- und zeitunabhängig durchgeführt werden können und sowohl Ganzkörpertrainings als auch gezielte Trainings oberer Extremitäten ermöglichen. Unabhängig vom konkreten gesundheitsbezogenen Anwendungszweck können folglich auch Menschen, die in der Mobilität ihrer unteren Extremitäten eingeschränkt sind (Menschen mit Behinderungen, Menschen mit mobilen Einschränkungen) Bewegungstrainings via VR durchführen. Beispielsweise kann die Handgriffkraft und -koordination von Schlafanfall- oder Parkinson-Patient:innen gezielt trainiert werden (Yang et al. 2023).
Bereits jetzt werden immer mehr VRAnwendungen insbesondere in der Rehabilitation eingesetzt, um etwa Stürzebei gleichgewichtsgestörten älteren Erwachsenen, zu verringern (Ren et al. 2023). Auch für Menschen, die sich aktuell nicht sportlich fit fühlen und Hemmungen haben, in der Öffentlichkeit Sport zu treiben, können VR-Anwendungen eine Option sein,
um die Fitness zu verbessern. Die Ansprache der Zielgruppe sowie die vielfältigen, spielerischen Möglichkeiten der Bewegungsförderung stellen damit große Pluspunkte dar. Ein weiterer Vorteil ist, dass mithilfe von VR-Anwendungen die Freude und das Niveau der körperlichen Aktivität (z. B. gemessen als Herzfrequenzrate) spielerisch gesteigert werden kann. So berichteten Proband:innen einer Studie, dass VR-Anwendungen im Vergleich zu normalen Trainingseinheiten weniger ermüdend und anstrengend wahrgenommen werden (Zeng et al.2017).
Insbesondere vor dem Hintergrund, dass in der Rehabilitation nur rund die Hälfte der empfohlenen Heimübungen überhaupt von Patient:innen durchgeführt werden (Argent et al. 2018), kann VR eine vielversprechende Option darstellen, um die Motivation zu steigern. Einer aktuellen Metaanalyse zufolge zeigten 33 von 35 Studien eine signifikante Verbesserung im Bereich der körperlichen Aktivität, Funktionalität oder des Gleichgewichts (bei älteren Menschen) durch VR- oder AR-Interventionen (Chirico et al. 2024). Doch wo Licht ist, ist meist auch Schatten, so auch bei VR-Interventionen, wie die folgenden Ausführungen verdeutlichen.
„Männer werden durch wettbewerbliche
Elemente motiviert, während für Frauen die Verbesserung des psychischen Wohlbefindens und ihres Aussehens beim Sport im Vordergrund stehen.“
Grenzen der Bewegungsförderung
Damit VR-Anwendungen ihre gesundheitliche Wirkung entfalten können, bedarf es einer entsprechenden Akzeptanz bei der Zielgruppe. Argumente, die Menschen davon abhalten können, VR zu nutzen, sind vielfältig. Neben mangelndem Interesse (49 %) werden fehlende Mehrwerte (32%)
und Angebote (9 %) sowie Übelkeit (8 %) genannt (Bitkom 2023). Grundsätzliche Akzeptanz und Begeisterung kann folglich durch die Symptome geschmälert werden, die VR-Anwendungen hervorrufen können. Diese ähneln einer Reisekrankheit, äußern sich in Schwindel, räumlicher Orientierungslosigkeit und Übelkeit. Solche Symptome werden als „motion sickness“, „virtual reality sickness“ oder „simulator sickness“ bezeichnet (Wojciechowski/ Blaszczyk 2019). Die damit einhergehenden sensorischen Konflikte entstehen immer dann, wenn eine Diskrepanz zwischen dem Seh- und Gleichgewichtssinn vorliegt, also dem, was die Augen in der virtuellen Welt wahrnehmen und dem, was das Innenohr und der Körper spüren. Insbesondere Gaming-Inhalte, visuelle Stimulationen, Fortbewegung und Belichtungszeiten lösen solche sensorischen Konflikte aus (Saredakis et al. 2020).
Ein weiterer Nachteil der in VR-Interventionen integrierten Anreizsysteme ist, dass User:innen zwar ihre sportliche Überlegenheit demonstrieren können, nichtsportliche User:innen, die nicht profitieren (etwa von der Ranglistenpositionierung), können jedoch demotiviert werden. Anzumerken ist, dass eher Männer durch wettbewerbliche Elemente motiviert werden, während für Frauen die Verbesserung des psychischen Wohlbefindens und die Erhaltung und Verbesserung ihres Aussehens beim Sport im Vordergrund stehen (Molanorouzi et al. 2015).
Zudem können Gamifikation-Elemente dazu führen, dass im Spiel-Flow Kör-
persignale vermindert wahrgenommen oder gar ignoriert werden. Das Überhören von Körpersignalen kann folglich das Verletzungsrisiko erhöhen. Denn VR-Apps sind weder in der Lage, die aktuelle körperliche Verfassung der Nutzer:innen einzuschätzen noch können Fehlstellungen oder -haltungen des Bewegungsapparats bei der praktischen Ausführung korrigiert werden (Scherenberg/Liegmann2019).
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Exergame-Interventionen schnell ihren Reiz verlieren (Lian/Lau 2014), da die anfängliche Begeisterung und Neugierde gegenüber der neuen Technologie in Langeweile umschlagen (Radhakrishnan et al. 2018) Für ältere oder nicht-technik-affine Menschen kann die Technologie selbst zu einer unüberwindbaren Hürde werden, ebenso wie die mit der Technologie anfallenden Kosten und möglichen Verletzungsgefahren. Aus diesem Grund sollten gesundheitsbezogene Interventionen gerade für ältere Menschen immer in einer sicheren und kontrollierten Umgebung stattfinden.
Welche Auswirkungen eine zusätzliche aktive Bildschirmzeit (gerade bei jungen Menschen) hat, ob verstärkte VR-Aktivitäten mitunter zu einer zunehmenden Isolation führen oder ob Exergame-Interventionen gar spielsüchtig machen, müssen zukünftige Studien erst noch zeigen (Benzing/Schmidt 2018). Auch fehlen Langzeitstudien darüber, ob und unter welchen Bedingungen (etwa der Tragedauer) bei welchen User:innen (z.B. Kinder, Menschen mit Augenschäden) VR-Brillen langfristig schädlich für die Augen sind. Erste Studien
Foto: istockphoto.com/LordHenriVoton
offenbaren, dass es bereits nach 30 Minuten zu einer Ermüdung der Augen kommen kann (Fan et al. 2023), vergleichbar mit Ermüdungserscheinungen herkömmlicher Desktop-Monitore (Marshev et al. 2021). Wie bei allen präventiven Interventionen kann zudem vermutet werden, dass ein Healthy-User-Effekt vorliegt, bei dem eher User:innen solche Interventionen nutzen, die ohnehin ein positives Gesundheitsverhalten aufweisen.
Mangel an Forschung und Standards
Anzumerken ist, dass bisher Langzeitstudien fehlen, die bestätigen, wie wirksam solche Interventionen dauerhaft sind. Existieren Studien, so unterscheiden sich diese nicht nur in ihrem Studiendesign (z.B. Methode, Erhebungszeitpunkt und -zeitraum), sondern auch in der Zielgruppe und der damit verbundenen Affinität neuer Technologien. Der Funktionsumfang und die Benutzerfreundlichkeit der untersuchten VR-App(s), die integrierten Gamification-Elemente, aber auch die Anbindung unterschiedlicher Wearable Devices (z. B. VR-Brille) beeinflussen Output und Outcome. Aus diesem Grund sind Metaanalysen kaum möglich. Bisher scheint es keine „Goldstandards“ für die Bewertung solcher Interventionen zu geben, daher ist es schwierig, Studienergebnisse untereinander zu vergleichen und zu verallgemeinern (Chirico et al.2024).
Zudem scheint es einen hohen quantitativen und qualitativen Forschungsbedarf im Hinblick auf die Akzeptanz zu geben, um Barrieren bezüglich der (dauerhaften) Nutzung solcher neuen Technologien identifizieren zu können (Hosseini et al. 2023). Alles in allem fehlt zudem ein umfassendes Verständnis dafür, wie Selbstwirksamkeit, Motivation und Stimmung die Beziehung zwischen technologischen Interventionen und der Absicht, sich körperlich zu betätigen, vermitteln (Chirico et al.2024).
Handlungsbedarf und Potenzial Zusammenfassend scheinen VR-Trainingsund Fitness-Apps eine innovative Möglichkeit zu sein, um das körperliche Wohlbefinden – nicht nur in Pandemie-Zeiten –zu steigern (Menhas et al. 2023). In Zeiten des Bewegungsmangels, bedingt durch vielfach sitzende Tätigkeiten und den damit verbundenen negativen gesundheitsbezogenen Folgen (etwa zunehmende Fettleibigkeit) sind innovative Lösungen not-
wendig, um Bewegungsförderung attraktiver und ansprechender zu gestalten. Dabei kann das Gefühl von Leistung und Fortschritt, das während VR-Anwendungen entstehen kann, das Selbstwertgefühl und die Motivation von Nutzer:innen steigern. Dies setzt voraus, dass VR-Interventionen auf die spezifischen Anwendungszwecke und jeweilige Zielgruppe abgestimmt werden.
Auch wenn eine Vielzahl an Studien die Wirksamkeit von VR-Anwendungen bestätigen, ist darauf hinzuweisen, dass Wirksamkeit noch längst kein Garant dafür ist, ob VR- und AR-Interventionen wirklich (langfristig) sinnvoll sind. Vielmehr können eine Vielzahl an Faktoren die Wirksamkeit beeinflussen (zu geringe Probandenzahl, enge Zielgruppe, spezifische Studienbedingungen, Studiendesign, Länge des Untersuchungszeitraums etc.).
Zudem sind die Studienergebnisse immer davon abhängig, welche Variablen in die wissenschaftlichen Studien einbezogen wurden. Spezifische kognitive und psychologische Variablen (z. B. Akzeptanz) werden in bisherigen Studien zum aktuellen Zeitpunkt noch unzureichend einbezogen (Chirico et al. 2024). Zum besseren Verständnis sind zudem weitere Erkenntnisse im Hinblick auf die Wirkung von Designmerkmalen der VR-Interventionen notwendig, um die Gesundheit unterschiedlicher Zielgruppen dauerhaft fördern und verbessern zu können (Dermody et al. 2020).
Positive wie negative Auswirkungen auf der körperlichen, psychischen sowie sozialen Ebene sollten für unterschiedliche Zielgruppen, Anwendungsgebiete und Interventionen (bzw. VR-Apps) genauestens analysiert werden, um die (langfristigen) Möglichkeiten und Grenzen transparent gestalten zu können und spezifische Handlungsempfehlungen auszusprechen. Dies setzt eine verstärkte Einheitlichkeit der Bewertungskriterien von VR-Interventionen voraus, um eine Vergleichbarkeit herzustellen. ■
Die Literatur zum Text finden Sie unter www.mabuse-verlag.de
Viviane Scherenberg ist Dekanin des Fachbereichs „Public Health und Umweltgesundheit“ an der APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft in Bremen. viviane.scherenberg@apollon-hochschule.de
Grundlagen der Klinischen Sozialarbeit
Das Handbuch führt erstmals die vielfältigen theoretischen, konzeptionellen, ethischen und methodischen Grundlagen der Klinischen Sozialarbeit zusammen. Zentrale Vertreter:innen bereiten den aktuellen Wissensstand verständlich, prägnant und praxisnah auf und geben Wissenschaftler:innen, Praktiker:innen und Studierenden einen fundierten Überblick über Entwicklung, Ausgestaltung und Perspektiven Klinischer Sozialarbeit.
Aus dem Inhalt:
(Selbst-)Verständnis Klinischer Sozialarbeit
Theoretische Perspektiven
Konzepte und Methoden der Diagnostik
Konzepte und Methoden der Inter vention
Arbeitsfelder und Zielgruppen
Künftige Entwicklungen „Quo Vadis“
2024, 434 Seiten, Hardcover, € 30,00, ISBN 978-3-7799-7537-3
JUVENTA
Das Krankenhaus-Museum Bremen zeigt Menschen, die mit Tätowierungen ihre Selbstverletzungen auf Armen und Beinen überdecken
Bilder, die unter die Haut gehen
Joachim Göres
Auf seelische Krisen reagieren manche Menschen in ihrer Not mit selbsverletzendem Verhalten. In einer Ausstellung im Krankenhaus-Museum Bremen berichten Betroffene davon, wie Tätowierungen über alte Narben ihr Leben verändert haben. Unser Autor erzählt von bewegenden Schicksalen.
Narben auf der Haut und auf der Seele – darüber berichten sieben Frauen und ein Mann in der Ausstellung „Überwunden“, die das Krankenhaus-Museum Bremen zeigt. Sie sprechen über psychische Krisen und über Verletzungen, die sie sich zugefügt haben. Sie schildern ihren Weg, mit therapeutischer Hilfe ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen bis hin zum Besuch im Tattoo-Studio, um durch eine Tätowierung ihre selbst zugefügten Schnittwunden und die dadurch verursachten Narben auf Armen oder Beinen zu überdecken.
Symbole des Lebenswillens
Keine Freunde, Mobbing in der Schule, Übergewicht – Lilly erzählt von ihrem Weg in die Depression. Mit 13 hat sie angefangen, sich selbst zu verletzen, nachdem der Vater die Familie verlassen hatte. „Warum antwortet er nicht? Was habe
ich falsch gemacht? Ich habe mir die Schuld dafür gegeben“, sagt die heute 25-Jährige und fügt hinzu: „Meine Mutter war da für mich, aber ich wollte sie nicht belasten.“ Sie habe sich wie eine Leiche gefühlt, die keine Gefühle zeigen konnte und keine Zukunft für sich gesehen habe. Nur durch das Schneiden mit Rasierklingen auf der Haut habe sie ihren Körper gespürt. „Erst da habe ich gemerkt, dass ich noch lebe. Diese Selbstverletzung wurde zur Sucht“, sagt sie im Interview, das in der Ausstellung in einem Film gezeigt wird und an Texttafeln in Ausschnitten nachzulesen ist. Dabei spricht sie auch darüber, dass sie dreimal versucht hat, sich das Leben zu nehmen.
Eine Verhaltenstherapie mit zeitweisem Klinikaufenthalt und der Einnahme von Psychopharmaka habe dazu beigetragen, dass sie sich seit Jahren nicht mehr selbst verletzt. Geholfen habe auch eine Blume als Tätowierung auf ihrem Arm, die die Narben überdeckt. Lilly: „Diese Blume habe ich in der Vergangenheit immer wieder gezeichnet, sie ist für mich ein Symbol für meinen Lebenswillen.“ Auf dem Unterarm hat sie die Botschaft „FIGHT OFF YOUR DEMONS“ verewigen lassen. In der Ausstellung sind viele Fotos nach dem Muster „vorher–nachher“ zu sehen, aus denen deutlich wird, wie die Tattoos die Narben auf der Haut überdecken.
Neu gewonnene Freiheiten
Daniel Bluebird hat die Tattoos in mehrstündigen Sitzungen gestochen. In sein Lüneburger Studio „Verlorene Jungs Tätowierungen“ kommen Menschen von weit weg, nachdem sich rumgesprochen
Alle Fotos: ÜBERWUNDEN/Kai-Hendrik
hat, dass Bluebird einer der wenigen Tätowierer ist, der sich das Überdecken von Hautnarben zutraut. Die Nachfrage ist so groß, dass er seit drei Jahren nur noch so genannte Cover-up-Tattoos macht, von denen er überzeugt ist, dass sie für die Betroffenen auch eine heilsame Wirkung haben, weil sie einen Neuanfang symbolisieren. Bluebird zählt weitere Gründe auf, warum Menschen seine Dienste in Anspruch nehmen: Sie wollen nicht mehr wegen ihrer Narben angestarrt werden. Sie wollen sich selber wieder schön finden. „Eine Frau hat sich wegen ihrer Narben auf Armen und Beinen 15 Jahre nicht getraut, T-Shirts und Röcke zu tragen. Durch die Tattoos hat sie Freiheit gewonnen“, sagt Bluebird. Er widerspricht damit der Meinung, dass Menschen mit Selbstverletzungen auf sich aufmerksam machen wollen.
Das bestätigt Saskia. Die 26-Jährige arbeitet als Krankenschwester und hat bei großer Hitze immer eine Weste bei der Arbeit getragen. „Ich habe die Narben extrem versteckt. Wegen der Krankenhaushygiene ist das aber ein Riesenproblem“, sagt Saskia. Das Tattoo auf ihrem Oberarm ist für sie die Lösung – Tätowierungen sind heute weitgehend akzeptiert, deswegen wirdsie nicht mehr angestarrt.
In der Ausstellung gibt es bei jeder Person eine Vitrine, in der Gegenstände zu sehen sind, die geholfen haben, von der Selbstverletzung loszukommen. Bei Saskia sind das drei von ihr gemalte Bilder – das Malen mit Pastellkreide sowie der Tanzsport waren ihr Mittel gegen negative Gedanken, die auftraten, wenn die Eltern sich mal wieder lautstark stritten oder die Mutter mit Selbstmord drohte. Die Tattoos sind für Saskia, die früher in der Schule ge-
mobbt wurde, Minderwertigkeitsgefühle hatte und unter Essstörungen litt, auch eine Form, mit einer krisenhaften Lebensphase abzuschließen.
Unterschiedliche Therapieerfahrungen
Die 25-jährige Carina berichtet davon, dass sie als 11-Jährige missbraucht wurde. „Das war der Auslöser. Mit meiner Mutter konnte ich erst darüber sprechen, als ich 16 war“, sagt die Frau, die sich mit Rasierklingen geschnitten und auch ihre Haut verbrannt hat. Mit Therapien hat sie unterschiedliche Erfahrungen gemacht: „In einer Klinik habe ich von anderen Jugendlichen noch neue Dinge beim Ritzen gelernt. Die Sucht zum Ritzen und der Selbsthass blieben bestehen. Doch es gibt auch Super-Kliniken, in denen meine starken Depressionen gut behandelt wurden.“ Nach einer zweijährigen Traumatherapie fühlt sie sich heute gut. Als Tattoo hat sie sich einen Leuchtturm ausgewählt, der ihr den Weg weisen soll. In der Vitrine liegt ein Autoschlüssel mit einem BMW-Anhänger. Die Liebhaberin von Oldtimern, die einen alten BMW fährt, liefert dazu folgende Erklärung: „Das ist mein Schlüssel zum Glück. Ich habe eineAusbildung zur KfZ-Mechatronikerin angefangen und mich so aus dem Tief befreit.“
Mit Vorsicht und Reue Michael ist der einzige Mann in der Ausstellung und mit heute 41 Jahren deutlich älter als die anderen Portraitierten. Er arbeitet im Management eines mittleren Unternehmens und hatte oft das Gefühl, seinen eigenen Ansprüchen nicht zu genügen. „Ich bin stark leistungsgetrieben, glaubte immer der Beste sein zu müssen,
habe mich nach der Arbeit oft gefragt: ‚War ich gut genug?‘ und kam meist zu der Antwort: ‚Nein!‘“. In immer kürzeren Abständen fügte er sich an den Armen Schnittverletzungen zu – einmal unabsichtlich so tief, dass er es mit der Angst bekam und die Hilfe einer Klinik suchte. Er ist der einzige in der Ausstellung, der seinen augenblicklichen Zustand mit Vorsicht beurteilt: „Ich wage nicht zu sagen, dass ich es hinter mir habe. Ich merke zeitweise weiter depressive Stimmungen. Doch die zweijährige Verhaltenstherapie hat mir geholfen. Ohne Hilfe von außen kommt man aus den Selbstverletzungen schwer raus.“ In einer vierstündigen Sitzung hat sich Michael die tiefen Narben an seinem linken Oberarm mit maritimen Motiven überdecken lassen – Erinnerung daran, dass ein Kite-Surf-Urlaub in St. Peter Ording ihm neue Lebensenergie gab. „Ich schäme mich nicht für meine Narben, aber ich möchte nicht darauf reduziert und angestarrt werden“, betont er. Er spricht auch über sein schlechtes Gewissen seiner Frau gegenüber, die ihn immer unterstützt und dabei ihre Gefühle nicht gezeigt hat: „Deutliche Worte sind wichtig. Man darf die Betroffenen nicht in Watte packen.“
Was Freunde und Familie tun können Ritzen – das ist der verbreitete Begriff für Menschen, die sich selbst verletzen. Die Ausstellung verzichtet auf dieses Wort bewusst, um deutlich zu machen, dass selbstverletzendes Verhalten sich auch in anderen Formen wie Essstörung, Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenmissbrauch äußern kann. Auch ein besonders risikovolles Verhalten zum Beispiel im Verkehr gehört dazu, es ist eher bei Jungen verbrei-
Links: Eindrücke der Ausstellung. Für Jessica (l.) und Michael (r.) bedeuten die Tätowierungen auch einen Neuanfang.
tet. Wie kann man als Außenstehender darauf reagieren? „Ich würde raten, erstmal vorsichtig zu fragen, ob man etwas für diese Person tun kann“, sagt Lilly. Auch andere Protagonist:innen in der Ausstellung berichten, dass ihnen eine Vertrauensperson geholfen habe, den Weg in eine Therapie zu finden.
Wenn es Hinweise auf Selbstverletzungen gibt, sollte man die betreffende Person darauf ansprechen – das findet auch die Psychologin Anja Werner, Leiterin der Beratungsstelle des Landkreises Celle für Eltern, Kinder und Jugendliche sowie Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft für Erziehungsberatung Niedersachsen. Sie empfiehlt, zuzuhören, nicht zu verurteilen und nicht in Panik zu geraten. „Wenn man allerdings unsicher ist, ob ein Suizid droht, muss man sich Unterstützung von außen holen, zum Beispiel vom sozialpsychiatrischen Dienst oder im schulischen Kontext von der Schulpsychologie“, sagt Werner und ergänzt: „Dabei kann zunächst die Anonymität des Jugendlichen gewahrt bleiben. Man sollte ihm aber nicht versprechen, dass man seinen Namen nicht gegen seinen Willen nennt – wenn es um Leben und Tod geht, hilft Anonymität nicht weiter.“
Nach ihren Erfahrungen gibt es nicht den einen Grund für Selbstverletzungen bei Jugendlichen – viele Faktoren können eine Rolle spielen wie Probleme mit Eltern, Streit mit Gleichaltrigen, Krisen in der Beziehung mit einem Freund oder einer le. „Die Pubertät ist eine hochsensible Entwicklungsphase, die zusätzlich durch die
Erfahrungen der Pandemie, die Klimakrise und den Krieg in der Nähe besonders belastet ist. Selbstverletzungen gab es auch schon vor 20 Jahren, aber die Fälle nehmen zu. Alleine in der letzten Woche gab es drei Anmeldungen wegen Selbstverletzungen bei uns“, sagt Werner.
Risiko soziale Medien
Nicht selten werden Jugendliche von den Eltern oder der Schule angemeldet. „Sie sind im Grunde froh, dass sie bei uns landen, denn niemand will sich eigentlich selbstverletzen. Sie brauchen das, um kurzfristig den Druck loszuwerden, der auf ihnen lastet. Alleine kommen sie nicht aus diesem Kreislauf heraus.“ Inwieweit Beratungsgespräche helfen, hänge von der Länge der Vorgeschichte ab. „Manchmal ist auch ein Aufenthalt in einer Klinik nötig. Es ist nicht einfach, kurzfristig einen Platz zu bekommen, aber bei Suizidalität muss eine Aufnahme erfolgen“, sagt Werner. Sorgen macht der Psychologin der Einfluss der sozialen Medien: „Es gibt eine Ansteckungsgefahr, wenn man über Tik Tok oder You Tube seine Community mit ähnlichen Erfahrungen findet und die Selbstverletzung Teil der Identität wird.“ Was kann man dagegen tun? Werners grundsätzlicher Rat: „Man darf Kindern nicht zu früh ein Smartphone in die Hand geben. Vielen Eltern sind die möglichen Folgen nicht klar.“
Mut schöpfen
Die Ausstellungsmacher rund um Daniel Bluebird betonen, dass sie keine Exper-
ten für selbstverletzendes Verhalten sind, sondern mit der erstmals präsentierten Ausstellung und dem dazu erschienenen Begleitband Mut machen wollen. Nicht zuletzt, weil sich nach den Interviews vor sechs Jahren niemand der Interviewten wieder selbst verletzt hat. Sie raten Betroffenen, sich professionelle Hilfe über ihren Hausarzt oder über Beratungsangebote wie www.nummergegenkummer.de oder www.telefonseelsorge.de zu suchen. Einen Ratgeber zum Thema haben Pamela Wersin und Susanne Schoppmann (Pflegewissenschaftlerin in der Universitären Psychiatrischen Klinik für Forensik in Basel) unter dem Titel „Selbstverletzendes Verhalten. Wie Sie Jugendliche unterstützen können“ 2019 im Psychiatrie-Verlag veröffentlicht. ■
Zum Weiterlesen: Daniel Bauermeister, Daniel Dreyer, Sabrina Peters, Kai-Hendrik Schroeder, Christian Verch (Hg.): ÜBERWUNDEN – Tattoos auf Narben der Vergangenheit. TEXT DA* 2023, 136 S., 35 Euro
Bis 14. Juli im Krankenhaus-Museum Bremen, Züricher Str. 40, Mi–So 11-18 Uhr. Danach steht die Ausstellung für Interessierte zur Verfügung. Näheres zum Begleitprogramm sowie zum Ausstellungsbuch gibt es unter www.ueberwunden.com. Dort findet sich auch eine Triggerwarnung vor Bildern mit teils heftigen Narben.
Break Free – Eigenständig werden mit Diabetes Typ 1
W ie kleine Diabetesheld*innen groß werden
Für Eltern von Diabeteskindern im Grundschulalter
Bestellen Sie jetzt!
224 Seiten, 86 Abbildungen, 13 Tabellen
ISBN 978-3-318-07351-5
Ladenpreis 29,00 € (D), auch digital erhältlich
Maren Sturny Break Free – Eigenständig werden mit Diabetes Typ 1 Wie kleine Diabetesheld*innen groß werden Für Eltern von Diabeteskindern im Grundschulalter
Maren Sturny
#ausgeliefert
Angehörigenarbeit und Psychiatrie
Thomas Lampert
Am 15. November 2024 findet in der Psychiatrie St. Gallen in Wil SG das 2. Netzwerktreffen des Netzwerkes Angehörigenarbeit Psychiatrie statt. Dieses Jahr unter dem Titel #ausgeliefert.
Angehörige von Menschen mit einer psychischen Erkrankung sind wichtige Bezugspersonen, gleichzeitig jedoch auch Teil eines stark belasteten Familiensystems oder Lebensumfeldes. Sie sollten darum aktiv und regelmäßig in den Behandlungsprozess einbezogen werden. Sei dies, weil die Beziehungen in diesen Lebenswelten wertvolle Ressourcen bergen, aber auch, weil teils gravierende Überlastungs- und Überforderungssituationen bestehen.
Verschiedene Ebenen des Ausgeliefertseins der Angehörigen „Ausgeliefertsein“ wird mit Hilflosigkeit und Ohnmacht assoziiert. Man ist den Umständen ausgesetzt, ohne sich diesen erwehren zu können. Einschneidende psychische Erkrankungen bedeuten für Betroffene wie auch für ihnen nahestehende Menschen meist einen Verlust von Handhabe, Handlungsfähigkeit. Sie verändern zwischenmenschliche Dynamiken, etablierte Rollen und Muster. Daraus können Spannungen und Konflikte entstehen, welche den Alltag prägen und die Lebenswelten rigoros verändern. Angehörige sind dabei nicht bloß der Erkrankung und deren Auswirkungen ausgeliefert. Wegen der fehlenden Einbezie-
hung in die Behandlung fühlen sie sich institutionell ausgeliefert, allein, im Stich gelassen. Angehörige werden oft nicht angehört, bleiben außen vor. Diese Vernachlässigung der sozialen Ebene durch psychiatrische Einrichtungen kann gravierende Auswirkungen auf die Beziehungen, zum Beispiel nach einem Klinikaustritt, haben. Wer sich ausgeliefert fühlt, ist verletzlich, verunsichert, vielleicht auch resigniert oder wütend. Dabei fordert „Ausgeliefertsein“ in dieser unsicheren Situation, Vertrauen zu entwickeln. Vertrauen als eine Investition in die Zukunft kann jedoch nur durch offenen Austausch entstehen. Die gemeinsame Selbstreflexion über die Beziehung durch die Beziehungspartner ist die Grundlage des Vertrauens, nicht das Festhalten an eingespielten Mustern (Küchenhoff 2017). Die Moderation dieser Prozesse sollte fester Bestandteil einer psychiatrischen Behandlung sein. Angehörige wie auch der erkrankte Mensch sind durch die psychische Krankheit in hohem Masse betroffen und in ihrer individuellen wie gemeinsamen Bewältigung der Belastungen gefordert. Beim Einbezug von Angehörigen in die Behandlung sollen diese deshalb nicht lediglich als Unterstützende gesehen werden, sondern ebenfalls als zu Unterstützende. In diesem Zusammenhang spricht Bodenmann (2022, S. 131) von einer „We-Disease“, einer „Wir-Krankheit“. Menschen in nahen Beziehungen beeinflussensich gegenseitig, auch in wechselseitiger Abhängigkeit von Gesundheits- wie auch Krankheitsverhalten, etwa Angst, Depression oder Schlafstörungen. Ausgren-
#ausgeliefert Netzwerktreffen 2024| Freitag,15. November 2024 in Wil (Schweiz)
Prof. Dr. med. Giovanni Maio M.A. phil.: „Das Ausgeliefertsein der Angehörigen von psychisch kranken Menschen – eine ethische Perspektive“ | lic. jur. Sandra Joos: „Rechte von Angehörigen“ | Anita Egloff und Tochter: „Ausgeliefertsein als Angehörige – mehr als nur ein Gefühl?“ | Edith Scherer: „#handlungsfähig: Ideen gegen die Ohnmacht“ Information und Anmeldung unter: www.netzwerktreffen.ch
zung hingegen erhöht den Stress, die emotionale Erschöpfung und mindert die psychische Gesundheit von Angehörigen. Die Schweigepflicht von Therapeutinnen und Therapeuten gegenüber Dritten ist eine wichtige Rahmung für ein vertrauliches Gespräch. Teils verstecken sich psychiatrisch Tätige jedoch reflexartig hinter dem Begriff der Schweigepflicht, welche nicht meint, dass Angehörige nicht angehört werden dürfen. Angehörige anzuhörenim Wissen, dass Betroffene dies nicht möchten, birgt vielmehr die Gefahr, die therapeutische Beziehung zur Patientin oder zum Patienten zu riskieren. Psychiatrisch Tätige sind hier gefordert, transparent zu kommunizieren, um manövrierfähig zu bleiben. Die Arbeit im Mehrpersonensetting, aber auch die flexible Gestaltung der therapeutischen Beziehung in unterschiedlichen, wechselnden Konstellationen erweist sich als komplex und anspruchsvoll. Hier brauchen psychiatrisch Tätige griffige Weiterbildungs- und Übungsmöglichkeiten, diesen Anforderungen und dem Selbstverständnis des Einbezugs von Angehörigen gerecht zu werden.
Dem Ausgeliefertsein der Angehörigen begegnen
Dem „Ausgeliefertsein“ von Angehörigen kann auf unterschiedlichen Ebenen begegnet werden, in der Haltung, der Unterstützung, der Einbeziehung und der Förderung zwischenmenschlicher Interaktion. So schreibt Giovanni Maio (2024) im Hinblick auf sein Referat auf der Vernetzungstagung, dass es „im Interesse einer guten Versorgung psychisch kranker Menschen gilt, die besonderen Herausforderungen der Angehörigen in den Blick zu nehmen, weil nur wenn die Gesellschaft Sorge für die Angehörigen trägt, ist es den Angehörigen möglich, langfristig Sorge für die psychisch kranken Menschen zu tragen.“
An der Netzwerktagung am 15. November 2024 in Wil (Schweiz) wird in verschiedenen Impulsreferaten und Podiumsdiskussionen auf Aspekte des „Ausgeliefertsein“ eingegangen, an zahlreichen Marktständen präsentieren verschiedene Vereinigungen ihre Hilfsangebote für Angehörige. ■
Die Literatur zum Text finden Sie unter www.mabuse-verlag.de
Thomas Lampert ist Co-Präsident des Netzwerks Angehörigenarbeit Psychiatrie Schweiz.
Rettungsaktion in letzter Minute?
Die Krankenhausreform ist durch das Bundeskabinett –der Streit darüber noch lange nicht beendet
Die Krankenhausreform ist durch das Bundeskabinett – doch der Streit darüber damit längst nicht beendet. Klinikvertreter sind ebenso unzufrieden wie die Krankenkassen. Und auch die Bundesländer murren. Außerdem sorgt der Klinikatlas für heftige Verwerfungen.
Zur Verabschiedung der Krankenhausreform durch das Kabinett bemühte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach große Worte: „Mit der Krankenhausreform zieht die Bundesregierung die Notbremse. Ohne die Strukturen der stationären Versorgung zu ändern, drohen KlinikInsolvenzen, schlechte Behandlung und weite Wege.“ Eine Rettungsaktion in letzter Minute also? Das sehen beileibe nicht alle so, auch wenn weitgehende Einigkeit über den großen Veränderungsbedarf in der Krankenhauslandschaft herrscht. Entscheidende Änderung durch die Reform: Die Politik will weg von den Fallpauschalen, die den ökonomischen Fehlanreiz setzen, möglichst viele Eingriffe vorzunehmen. Ursprünglich wollte man damals im Jahr 2003 durch die Einführung der
sogenannten Diagnosis Related Groups (DRG) darauf hinwirken, dass sich die in Deutschland überlangen Liegezeiten in den Krankenhäusern verkürzen. Denn jeder Tag brachte den Betreibern zusätzliches Geld. Das DRG-System trieb dann wieder andere Blüten, so die professionelle DRGOptimierung – wie Kliniken Fallpauschalen so miteinander kombinieren können, dass sie den maximalen finanziellen Ertrag erzielen. Es wurde ein System für sich. Nicht nur Bücher und Schulungen sind im Angebot – ganze Unternehmen befassen sich mit der Beratung von Krankenhäusern. Slogan: „Kein Krankenhaus kann es sich noch leisten, Erlöspotentiale ungenutzt zu lassen.“
Vorhalte- statt Fallpauschalen
Nun sollen die Fallpauschalen weitgehend durch sogenannte Vorhaltepauschalen ersetzt werden. Die Klinken werden demnach in erster Linie für das Angebot bezahlt, nicht nur für dessen Inanspruchnahme. „Dann bestimmt der medizinische Bedarf die Behandlung, nicht die Ökonomie“, hofft der Gesundheitsminister, der übrigens der Berater
von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) war, als diese das DRG-System in Deutschland einführte.
Nun solle der ökonomische Druck von den Kliniken genommen werden. „Bedarfsnotwendige Krankenhäuser“ würden künftig „weitgehend unabhängig von der Leistungserbringung zu einem relevanten Anteil gesichert“, argumentiert das Ministerium. Zusätzliche Mittel soll es für Stroke Units, Traumatologie, Pädiatrie, Geburtshilfe, Intensivmedizin, Koordinierungsaufgaben, Unikliniken und Notfallversorgung geben.
Krankenhaus-Leistungsgruppen
Der zweite wichtige – und stark umstrittene –Teil von Lauterbachs Reform ist die Einteilung der Krankenhäuser nach Leistungsgruppen. Dies soll vor allem der Qualitätssicherung und -steigerung dienen. 65 dieser Leistungsgruppen sollen definiert und die jeweiligen Leistungen der Krankenhäuser eindeutig einer der Leistungsgruppen zugeordnet werden. Voraussetzung ist, dass die Häuser Qualitätsstandards einhalten, diese sollen bundesweit einheitlich sein. Nur dann dürfen die Kliniken die Leistungen auch anbieten beziehungsweise erbringen. Für „bedarfsnotwendige Krankenhäuser“ auf dem Land soll es eine dauerhafte Ausnahmeregelung geben. Generell für die Versorgung gilt als Entfernung: Jeder muss ein Krankenhaus der Grundversorgung mit dem Auto innerhalb von 30 Minuten und die anderen innerhalb von 40 Minuten erreichen können. Um den Umbau der Struktur zu finanzieren, werden in einem „Transformationsfonds“ über zehn Jahre 50 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt.
Entbürokratisierung, Entökonomisierung und Existenssicherung?
Zudem will Lauterbach das System „entbürokratisieren“, was sich durch den weitgehenden Abschied von den Fallpauschalen ergebe. Und: Statt Einzelprüfungen der Abrechnungen soll es künftig nur noch Stichproben geben.
Die Reaktionen in der Branche auf den Kabinettsbeschluss fielen wenig euphorisch aus. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) bekundet zwar ihr Unterstützung für die „zentralen politischen Ziele der geplanten Krankenhausreform“, ansonsten äußerte ihr Präsident Gerald Gaß aber Fundamentalkritik an Lauterbachs Plänen. Das Ministerium verfehle „den pro-
pagierten Dreiklang aus Entökonomisierung, Entbürokratisierung und Existenzsicherung mit diesem Entwurf vollständig.“ Stattdessen bestehe der Dreiklang „aus wirtschaftlichen Fehlanreizen, Bürokratieaufwuchs und unkontrolliertem Kliniksterben.“ Die Interessenvertreter der deutschen Krankenhäuser sehen sowohl kleine Kliniken auf dem Land als auch große Kliniken mit Spezialaufgaben in ihrem Bestehen gefährdet. Sie dringen auf eine „Auswirkungsanalyse“ der Finanzierungsreform, bevor sie umgesetzt wird.
Verfehlte Krankenhauspolitik
Die DKG verspricht sich nun von einer größeren Einflussnahme der Länder im weiteren Verlauf der Umsetzung der Reform Vorteile. Und nicht zuletzt Geld: „Auch die von den Bundesländern eingeforderte kurzfristig wirksame wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser nach der sprunghaft gestiegenen Inflation der vergangenen zwei Jahre verweigern Minister Lauterbach und Regierung weiterhin“, kritisierte die DKG, die schon seit geraumer Zeit kurzfristige finanzielle Hilfen fordert. Wie verhärtet die Fronten zwischen den Lobbyisten und Minister Lauterbach sind, zeigt der Satz von Gaß: „Die Gesundheitsversorgung ist keine Spielwiese für eine experimentelle Politik.“ Sogar das Erstarken der Rechtsextremen bei der Europawahl nutzt die DKG für ihre Zwecke. „Nach dem starken Abschneiden rechtsextremer und rechtspopulistischer Parteien bei den Europa- und Kommunalwahlen muss die Ampel-Regierung ihren Kurs korrigieren. Dazu zählt auch die Krankenhauspolitik“, resümiert der DKG-Chef. Denn: Eine Krankenhauspolitik, die „dem kalten Strukturwandel der wirtschaftlich bedingten Klinikschließungen tatenlos zuschaut, bereitet den Boden für demokratiefeindliche Entwicklungen“. Das dürfte ein Revanchefoul sein, hatte doch Lauterbach vor einigen Wochen eine geplante Plakataktion der DKG gegen die Gesundheitspolitik des Ministers mit Hetzkampagnen der AfD auf eine Stufe gestellt – worüber sich die Klinikbetreiber empörten.
Aber auch die Krankenkassen sind unzufrieden mit den Plänen des Ministers –natürlich aus anderen Gründen. Ihr Spitzenverband erklärte ebenfalls, mit den Zielen der Reform absolut einverstanden zu sein. Auch von den Kassen ein großes Aber: Die Definition der Leistungsgruppen sei zu grob, die Ausdifferenzierung werde in
Wichtig für Alle.
Vorsorge für Unfall Krankheit
Alter
2023. 64 Seiten. € 7,90
ISBN 978-3-406-79609-8 beck-shop.de/34240337
Diese Broschüre informiert darüber, was für eine Vorsorge durch Vollmacht spricht und was geschehen kann, wenn keine Vollmacht erteilt wurde, warum eine Generalvollmacht alleine nicht ausreicht, was man mit einer Patientenverfügung regeln kann und wie man sie rechtswirksam erstellt, was eine Betreuungsverfügung ist sowie für wen sie wichtig ist u.v.m.
Erhältlich im Buchhandel oder bei: beck-shop.de Verlag C.H.BECK oHG · 80791 München kundenservice@beck.de Preise inkl. MwSt. | 175035
die Zukunft verlagert. Vor allem sieht die GKV zu große Lasten bei den Versicherten. Durch den Transformationsfonds werde es „hohe Zusatzkosten“ geben, die zu steigenden Zusatzbeiträgen führen würden. Die Bundesregierung trete mit der Reform eine „Kostenlawine“ los. Die Finanzierung halten die Kassen auch deshalb für ungerecht, weil die Bundesländer – eigentlich für die Investitionen in die Krankenhäuser zuständig – diese Aufgabe in den vergangenen Jahren hartnäckig vernachlässigt haben. Wiedergutmachen müssten das nun andere: Der 50 Milliarden Euro umfassende Transformationsfonds zum Umbau der Krankenhauslandschaft werde zur Hälfte aus den Mitteln der Beitragszahler finanziert. Die privaten Krankenversicherer bezahlten gar nichts. Auch dass die Abrechnungen nicht mehr vollständig, sondern nur stichprobenartig kontrolliert werden sollen, schaffe Schlupflöcher für überhöhte Forderungen. „Viel teurer, wenig besser“, resümiert Vorständin Stefanie Stoff-Ahnis.
Noch ist die Krankenhausreform, die Anfang 2025 in Kraft treten soll, noch nicht beschlossen. Der Bundestag muss zustimmen. Und die Länder können die Pläne zwar nicht stoppen, denn es ist nicht zustimmungspflichtig, aber im Bundesrat verschleppen. Die Landesgesundheitsminister forderten bei einem Treffen mit Lauterbach umfassende Änderungen. „Wir brauchen eine praxistaugliche Reform. Diese haben wir bisher nicht“, beklagte die Ministerin aus Schleswig-Holstein, Kerstin von der Decken (CDU). Sie forderte mehr Flexibilität bei der Umsetzung der Leistungsgruppen, um Kliniken zu erhalten, die die Länder für die Versorgung für wichtig halten. Lauterbach selbst ist gleichwohl optimistisch. Bund und Länder seien „in Wirklichkeit viel mehr beieinan-
der als gedacht“, resümierte der Minister, ohne ins Detail zu gehen. Und er signalisierte Kompromissbereitschaft. Die Bundesregierung sei mit vielen Forderungen einverstanden. Lauterbach verwies darauf, dass die Reform ja auch noch im Bundestag beraten und – in den meisten Fällen –dort auch noch verändert wird.
Bundes-Klinik-Atlas teils fehlerhaft
Ein Element der Reform, mit dem Lauterbach vorgeprescht war, sorgte auch bei den Ländern für Wirbel, aber nicht nur dort: der „Bundes-Klinik-Atlas“ (www.bundes-klinik-atlas.de). Auf diesem Portal können sich Patient:innen Empfehlungen für Kliniken für bestimmte Eingriffe geben lassen. Das Portal weist unter anderem die Zahl der Behandlungsfälle und die Personalbesetzung aus. Ziel des Projektsist es, mehr Transparenz für die Bevölkerung zu schaffen. Das Problem: Offenbar sind nicht alle hinterlegten Daten korrekt. Die Länder fordern, die Fehler umgehend zu beheben. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft berichtet von Hunderten Meldungen aus den Krankenhäusern über „teils eklatante Fehler“. Vier von fünf Klinken würden mit falschen Zahlen aufgeführt. Der Atlas müsse abgeschaltet werden. „Lauterbachs Klinik-Atlas ist von vorne bis hinten mit massiven Fehlern belastet, die die Patientinnen und Patienten völlig in die Irre leiten. Falsche Fallzahlen, falsche Angaben zum Pflegepersonal und fehlende Angaben zu vorhandenen Qualitäts-Zertifikaten sind schon genug Gründe, diesen Atlas sofort offline zu nehmen, bis die Fehler behoben sind“, so Klinik-Lobbyist Gaß. Auch der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, meinte, in dieser Form schaffe das Register nur neue Bürokratie und „keinen echten Mehrwert für die Patientinnen und Patienten“.
Das Ministerium wiederum spielte den Ball zurück: Die Daten kämen von den Kliniken selbst und diese seien dann korrekt im Atlas hinterlegt worden. Generell handele es sich aber um ein lernendes System, das ständig aktualisiert werde.
Gar kein Lob?
Nur Kritik an Lauterbachs Reform, kein Lob? Doch. Ein nicht unwichtiger Verband meldete sich zu Wort, um die Pläne zu unterstützen. „Dies ist der bedeutende Meilenstein seitens der Bundesregierung auf dem Weg zu einem Strukturwandel in der Krankenhauslandschaft und zur Verbesserung der Qualität der Patientenbehandlung“, kommentierte der Vorsitzende des Verbandes der Universitätsklinika Deutschlands e. V. (VUD), Jens Scholz, den Kabinettsbeschluss zur Reform. Die 50 Milliarden Euro aus dem Transformationsfonds müssten nun für Projekte eingesetzt werden, „die eine Antwort auf die Folgen des demografischen Wandels liefern und die eine qualitativ hochwertige Versorgung in Zukunft gewährleisten“. Auch die Universitätskliniken stünden unter einem großen wirtschaftlichen Druck, der zulasten der Versorgung gehe, so der Verband.
Nicht nur wegen der demografischen Entwicklung, auch wegen des zunehmenden Fachkräftemangels sei ein Strukturwandel erforderlich. Für Lauterbachs „ambitionierten Reformplan“ brauche es „eine möglichst breite Akzeptanz“, so Verbandschef Scholz.
Die ist allerdings in der Branche noch nicht zu erkennen. Viel Arbeit noch für den Minister. ■
Wolfgang Wagner ist Journalist in Köln. wolfgang.wagner@dumont.de
nzungstechnologien und der sogenannten Entwicklungszusammen ort- Gen- und F ibt einen historischen Zusammenhang zwischen Bio-,
und Interessen
g,
arum ist dies ausgesprochen problematisch? onzernen? Und w
Hans Gunia, Simone Saurgnani
Training sozialer Kompetenzen in der Gruppe
Ein Praxisleitfaden
Aus der Praxis – für die Praxis“ ist das Motto des 282 Seiten umfassenden Buches „Training sozialer Kompetenzen in der Gruppe. Ein Praxisleitfaden“ aus dem Jahr 2023 von Simone Saurgnani und Hans Gunia, erschienen im Hogrefe Verlag. Die Autoren schöpfen aus über 30 Jahren Erfahrung aus Verhaltenstherapie und Dialektisch Behavioraler Therapie (DBT) in Einzel- wie auch Gruppensettings. Dabeiist ihr Ziel, Leser:innen in die Lage zu versetzen, soziales Kompetenztraining sicher durchzuführen – ausgestattet mit relevantem Hintergrundwissen und gewappnet für viele potenzielle Schwierigkeiten
Das Buch teilt sich ein in Einleitung, theoretische Verortung, Rollenspiele, Kommunikation, Pflege und Verbesserung der Qualität von Beziehungen, Kennenlernen, Bitten äußern, berechtigte Interessen durch setzen und Nein sagen, Achtsamkeit und schwierige Therapiesituationen.
Jedes Kapitel wird eingeleitet durch kurz und prägnant dargestellte theoretische Grundlagen. Dabei erfolgt bei Bedarf eine vertiefende Auseinandersetzung zum Beispiel mit dem Thema Achtsamkeit. Es folgen konkrete Informationen und Anleitungen zum Umsetzen des jeweiligen Themas im Rahmen von Gruppentherapien, was problemlos in die Einzeltherapie übertragen werden kann. Die Durchführung von Rollenspielen wird etwa Schritt für Schritt präzise beschrieben inklusive des Umgangs mit möglichen Barrieren. Erforderliche Materialien werden reichlich – auch online zum Download –zur Verfügung gestellt. Dies versetzt Leser:innen in die Lage, soziales Kompetenztraining mit relativ wenig Zeitaufwand gut vorzubereiten und gelingend umzusetzen.
Ein Kapitel über Achtsamkeit überrascht nur auf den ersten Blick: „Beim Training sozialer Kompetenzen geht es unter anderem um die Wahrnehmung, Akzeptanz und Veränderung von eigenen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensimpulsen“ (S. 231). Dabei ist Achtsamkeit „eine
Basisfertigkeit und Einstellung sich selbst, anderen Menschen und der Umwelt gegenüber, die unabdingbar ist“ (ebd.). Genauso wenig darf der Umgang mit Gefühlen und Glaubenssätzen fehlen.
Geschrieben ist dieses Buch angenehm lesbar, so dass man es am liebsten nicht aus der Hand legen möchte.
Mir hat dieses Buch die Durchführung von Sozialem Kompetenztraining in der Gruppe massiv erleichtert und geholfen, Stolperfallen, in die ich vorher gerne getappt bin, zu umschiffen. Das Buch hat meine Erwartungen mehr als erfüllt. Schriebeich ein Arbeitszeugnis, hieße es: „Stets zur vollsten Zufriedenheit.“
Johanna Zagler, Oberärztin, Groß-Umstadt
Hogrefe, Göttingen 2023, 282 S., 36,95 Euro
Jutta Braun
Politische Medizin
Das Ministerium für Gesundheitswesen der DDR 1950 bis 1970
Fragt man heute ehemalige DDR-Bürger:innen, was ihnen von der DDR positiv in Erinnerung geblieben ist, antworten viele von ihnen mit der gesundheitlichen Versorgung bzw. dem Gesundheitssystem. Die heutigen Diskussionen um den Ausbau von Medizinischen Versorgungszentren lassen diese Erinnerungen darüber hinaus wiederaufleben und wirken bei vielen Zeitgenoss:innen wie eine Wiederentdeckung alter Strukturen. Damit ist implizit auch gleich die Frage verbunden, ob das DDR-Gesundheitssystem im Systemkampf mit der BRD nicht doch überlegen war.
Zwar standen einzelne Aspekte des DDR-Gesundheitswesens bereits früher im Fokus der Geschichtswissenschaften, doch mit „Politische Medizin“ liegt nun eine Studie vor, die erstmals ausgehend vom Gesundheitsministerium der DDR
die zentralen Strukturen des DDR-Gesundheitssystems in den Blick nimmt. Entstanden ist die Studie im Kontext der Auftragsforschung heutiger Behörden, die nach strukturellen und personellen Kontinuitäten vom Nationalsozialismus in die beiden deutschen Staaten fragt. Jutta Brauns Anliegen geht jedoch weit darüber hinaus: Sie fragt nach der Gesundheitspolitik in der DDR, die von den damaligen Machthaber:innen propagandistisch als zentrales Feld ausgegeben wurde. Schnell zeigt sich aber, und das macht die Autorin auch deutlich, dass eine Bewertung der DDR-Gesundheitspolitik überaus schwierig ist, denn sie war äußerst ambivalent. Auf der einen Seite wurden beispielsweise Krankheiten schnell ausgerottet, auf der anderen Seite blieben aber die gesundheitlichen Zustände in den volkseigenen Betrieben oder auch die Ausstattung der Krankenhäuser lange Zeit schlecht. Das über 500 Seiten umfassende Buch gliedert sich in fünf Hauptkapitel. Im ersten davon, dem Kapitel „Gesundheit und Sozialismus“, stellt die Autorin die Leitgedanken einer sozialistischen Gesundheitspolitik vor und stellt damit v. a. die normative Ebene in den Vordergrund. Das erscheint sinnvoll, denn waren es doch genau diese Gedanken, an denen sich die konkrete Umsetzung messen lassen musste. Im zweiten Kapitel steht das Ministerium für Gesundheitswesen als Institution im Fokus. Hierbei handelt es sich um eine klassische Behördengeschichte. Sowohl das Personal als auch die Strukturen werden hier eingehend analysiert. Anhand ausgewählter Beispiele zeigt Jutta Braun die politische Bandbreite der für das Ministerium tätigen Personen auf. So waren dort sowohl ehemalige Angehörige des NS-Staates, Sozialdemokrat:innen als auch Kommunist:innen tätig. Im dritten Teil steht der Umgang mit der NS-Vergangenheit im Mittelpunkt des Interesses. Auch hier zeigt sich, dass eine eindeutige Antwort schwerfällt. Zwar gab es auf der einen Seite Verfolgungen und Verfahren gegen NS-belastete Mediziner:innen, auf der anderen Seite fanden aufgrund des Ärzt:innenmangels viele NS-belastete Ärzt:innen aber auch Anstellungen im Gesundheitswesen der DDR. Den eigentlichen Kern der Studie bildet aber das Kapitel, welchesverschiedene gesundheitspolitische Handlungsfelder tiefergehend untersucht: den Umgang mit Seuchen, ministeriellem Medikamentenschmuggel, Arbeitsmedi-
zin, den Kampf gegen Krebs und die Militärmedizin. Diese einzelnen Unterkapitel bilden viele Anknüpfungspunkte für weitergehende Forschungen zum Gesundheitswesen der DDR. Im letzten Kapitel werden dann die Ergebnisse zusammengefasst.
Die Beantwortung der Frage nach dem übergeordneten Ergebnis dieser umfangreichen und detaillierten Studie fällt nicht leicht, deutet sich aber wohl bereits im Titel an. Jutta Braun zeigt eindrücklich auf, wie stark Medizin und Politik in der DDR verflochten waren. Diese enge Verbindung perpetuierte sowohl die eingangs erwähnten Vor- als auch Nachteile. Natürlich darf man nicht leugnen, dass es diese Verbindung auch in der BRD gab, doch gab es hier eben noch weitere wichtige Akteure, die neben der Politik standen und damit die Interessen auf dem Feld der Gesundheit austarierten. Das war in der DDR nicht der Fall.
Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie in der DDR
Der Band ist die Dokumentation der Tagung „Seelenarbeit im Sozialismus: Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie in der DDR“, die im Mai 2021 von der gleichnamigen Forschungsgruppe (kurz:SiSaP) im virtuellen Raum abgehalten wurde. Die Beiträge bieten eine „Momentaufnahme der aktuellen Aufarbeitung der Rolle der genannten psychosozialen Fachgebiete im SED-Staat und im Gesundheitssystem der DDR“ (S. 9). Entsprechend dem SiSaP-Projekt gliedert sich auch der Tagungsband in vier Teilprojek-
te(Psychiatrie, Psychologie, Psychotherapie und Gesundheitswesen), deren jeweiliger Forschungsstand präsentiert und anschließend – wenn auch nicht immer gewinnbringend – diskutiert wird.
In der Vergangenheit wurde wenig zum Thema „Seelenarbeit im Sozialismus“ geforscht oder geschrieben – abgesehen von einigen Beiträgen, vor allem aus der Betroffenen- bzw. Erfahrungsperspektive –weshalb insbesondere die thematische Breite des Forschungsprojektes überzeugt. Zum Einstieg bietet der Teilbereich „Psychiatrie“ solide Beiträge zu den Themen Psychiatrie in der DDR und im ost- und westdeutschen Vergleich, sowie einen kurzweiligen Artikel zur „Zeitzeugenbefragung zur Psychiatrie in der DDR“ des Sächsischen Psychiatriemuseum.
Hier kann der dritte Abschnitt des Buchszum Thema Psychotherapie in der DDR anschließen, der mit Beiträgen von Michael Geyer und Annette Simon Erfahrungsberichte von praktizierenden Psychotherapeut:innen enthält und gleichsam die Frage nach der (Un-)Freiheit von Psychotherapeut:innen gegenüber dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) thematisiert. Gemeinsam bieten beide Vorträge wunderbares Anschauungsmaterial in Anschluss an Stefan Busses vorausgegangenen Beitrag aus dem Teilbereich „Psychologie“, in dem er mit einem professionssoziologischen Ansatz auf die DDRPsychologie zurückblickt und diese in einem „Trilemma zwischen eingeschränkter Zentralwertorientierung (gesellschaftlich relevante Werte können im beruflichen Kontext nicht mehr ‚selbstlos‘ verfolgt werden, Anm. d. A.), pragmatischem Expertiseversprechen und gebundener Autonomie“ (S. 164) verworren sieht, die jedoch zeithistorisch kaum problematisiert wurde, denn „wenn über die gesellschaftliche Funktion der Psychologie nachgedacht wurde, dann immer im Fahrwasser ihrer offiziellen politischen Funktionsbeschreibung“ (ebd.). Der Teilbereich Psychologie ist es auch, der die Instrumentalisierung der Disziplin zur „psychologischen Kriegsführung“ durch die Operative Psychologie untersucht und nach ethischen Problemen im Verhältnis von Wissenschaft und Politik fragt.
Einige Beiträge in „Seelenarbeit im Sozialismus“ gehen mehr in die Tiefe, sind ausführlicher als andere, was oft der mangelnden Forschungs- und Quellenlage geschuldet ist. Das Buch bietet jedoch einen
breiten thematischen Einstieg in sowie ein differenziertes Bild von Praktiken, Praxis und Erleben von „Seelenarbeit“ in der DDR sowohl für Betroffene, fachhistorischInteressierte, Forschende als auch interessierte Laien und lädt auf unterschiedlichen Ebenen zum Weiterdenken und -Forschen ein.
Anna Domdey, Kulturwissenschaftlerin, Göttingen
Psychosozial, Gießen 2022, 275 S., 32,90 Euro
Christina Herr, Schirin Homeier, Mechthild Sckell
Sicherer Hafen voraus!
Ein Kinderfachbuch über Bindungsbedürfnisse
Im Mittelpunkt dieses Kinderfachbuchs stehen die Bindungsbedürfnisse von Kindern, die anhand der Bindungstheorie von John Bowlby kindgerecht, aber auch adressiert an Fachkräfte und Bezugspersonen von Kindern vorgestellt werden. Der sichere Hafen steht dabei als Sinnbild für verantwortlich handelnde, vertrauenswürdige Erwachsene, die Kindern die erforderliche Sicherheit für ein Erkunden der Welt geben. Die farbenfrohe Gestaltung orientiert sich an Kinderzeichnungen.
Das Buch besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil („Die Geschichte“) werden vier Kinder aus einer Schulklasse anhand einer Geschichte rund um das Thema Schiffe vorgestellt. Die vier Kinder Nico, Carla, Jamila und Erik stehen dabei prototypisch für die vier Bindungsmuster: sicheres, unsicher-vermeidendes, unsicher-ambivalentes und desorganisiertes Bindungsverhalten. Anhand einer den Kindern gestellten Aufgabe – ein eigenes Segelschiff für den Ausflug zu einem Wasserspielplatz zu basteln – werden die unterschiedlichen Verhaltensweisen der Kinder mit dieser Anforderung deutlich.
Im zweiten Teil („Kleine Hafenkunde für Kinder“) werden die unterschiedlichen Verhaltensweisen der Kinder kindgerecht erläutert. Die Betreuerin von Erik aus dem Kinderdorf, Ayla, wendet sich direkt an die lesenden Kinder, erklärt mit Metaphern aus der Seefahrt, wie Bindung funktioniert, und stellt eine Hilfe-Box für Kinder vor. Die Hilfe-Box enthält einen Leuchtturm, einen Anker und eine Taschenlampe.Immer wieder kommen die vier Kinder selbst zu Wort und berichten davon, wer für sie ein (sicherer) Hafen ist, wem sie SOS-Signale mit der Taschenlampe senden, wenn es ihnen nicht gut geht, und welche Menschen für sie bei stürmischer See einen Leuchtturm darstellen, der Schutz und Orientierung vermittelt. Die Kinder formulieren Wünsche an die für sie wichtigsten Menschen (Eltern oder auch andere für sie verantwortliche Erwachsene). Der Anker steht sinnbildlich dafür, was Kinder selbst tun können, wenn sie wütend oder traurig sind und ihr sicherer Hafen nicht in Sicht ist.
Der dritte Teil („Kleine Hafenkunde für Erwachsene“) richtet sich an Fachkräfte und Bezugspersonen. In kurzen Abschnitten wird verständlich anhand von Fragen auf Themen wie Bindungsmuster, Gefühlsregulation und Bindungs- und Explorationsbedürfnis eingegangen. Das Kapitel schließt unter dem Motto „Segel neu ausrichten“ mit Handlungsempfehlungen, wie Kinder dabei unterstützt werden können, korrigierende Bindungserfahrungen zu machen und was Erwachsene tun können, um Kindern einen sicheren Hafen zu bieten. Am Ende des Buches findet sich eine umfangreiche Literaturliste zum Weiterlesen mit Kindern. Diese enthält auch Fachbücher für Eltern und Fachpersonen.
97-0978-3-84 ISBN: 2 · 2024 , , Kt Seiten 40 vel aphic No Gr
Transidentitätun Themenwie einfühlsamundideenreic eddy Goetz und Sophie Sta Te
sationbeiderIdentität on Biolog betonendieRollev zwischenGeschlechtundG endenUidentität.Siezeig
reyembEl M N U ETTERDI NÄR NON ne s D evisrevbu r s ü r f eyodäl n P t esellschaf ft g g G TIS nek auch als AnlassfüreineKritikdesbin t die Gende er nimm yEbme tenegier enden und R Regier chien: zwischen Ma arHier Aber es fassen elt zu er W en in Opposition Das Denk
sbildung - gie und Soziali enderaufund Unterschied ndGeschlechtsxechkomple en nding erklär 0528-2 € 22,00 l uer arl-A C
97-0978-3-84 N:ISB 2023 , , Kbr Seiten 85 te upda C närenDenkens tte zum rdeba Michael wus rau, nn und F begünstigt , die t nen hilf 0507-7 € 14,00 arl-A A
eit po deutschlandw be de carl-auer uf A uerVCarl-A a t und in Gesellschaf er Ge oritär winden aut Über lä eiches P enntnisr und ein k ritik des bin Anlass für eine K
Die Bedeutung von Bindung wird im Buch konsequent anhand von Metaphern der Seefahrt behandelt (z. B. stürmische See – Exploration; Tau – unsichtbares Bandzwischen dem Kind und einer Bindungsperson, Sturm – Streit). Diese bewusst gewählte sehr bildhafte Sprache erleichtert es zu dem Thema Bindung mit Kindern ins Gespräch zu kommen, aber auch mit den verantwortlichen erwachsenen Bindungspersonen darüber zu reden, was ein Kind braucht, um psychisch gesund aufzuwachsen. Wichtige Begriffe werden durch Fettdruck hervorgehoben und die Stimmen der Kinder durch Kursivdruck verdeutlicht. Auch in diesem t be esellschaf te g upda achbücher für je F erst
t!ereliefe ei g ofrtr stellt –Verlag e Politik ewohnheiten er für das yädo en Denk
Fachteil, indem der Textanteil deutlich höher ausfällt, wird mit der Anschaulichkeit der Kinderbilder gearbeitet, indem diese immer wieder den Textfluss auflockern und die Fachbegriffe zum Thema Bindung illustrieren.
In blauen Kästen richtet sich das Buch immer wieder an den Leser. So werden Kinder z. B. gebeten, von sich zu erzählen, d. h. von ihrem Hafen, ihrem SOS-Signal und was sie sich von ihrem Erwachsenen wünschen.
Erfreulich ist, dass das Buch kultursensibel gestaltet ist und auch die Stärken der unsicher oder desorganisiert gebundenen Kinder thematisiert werden. Auf der Webseite des Verlags findet sich umfangreiches Zusatzmaterial, das zum kostenlosen Download bereitsteht und der weiteren Auseinandersetzung mit dem Thema in der Arbeit mit Kindern dienen kann (etwa ein Leuchtturm als Ausmalbild, Ideen für einen Anker). Das Buch richtet sich an Kinder ab 8 Jahren.
Dr. Anke Höhne, SUCHT.HAMBURG gGmbH – Fachstelle für Suchtfragen, Hamburg
und vor allem Sucht sieht, und er wagt sogar, sein eigenes Leben in diese Sicht einfließen zu lassen. Er fragt Kranke nicht mehr nur nach ihren Symptomen, sondern auch nach ihrer Lebensgeschichte und ihrem sozialen Umfeld. Immer falscher erscheint ihm der Ansatz der Medizin, den kranken Menschen als eine Art stotternde Maschine zu betrachten, den sie in den „Normalzustand“ zurückversetzen soll.
Maté sieht das mit dem „Normalen“ umgekehrt: Für ihn ist es unnormal, wenn Familie, Gesellschaft oder Arbeitsstelle der menschlichen Grundausstattung zuwiderlaufen, was sie heute an vielen Stellen tun. Hält dann ein Individuum diese schädliche „Normalität“ nicht aus und reagiert auf seine Weise, ist das für Maté nicht „krank“, sondern oft genug ziemlich sinnvoll. Besonders plastisch wird das, wenn er Sucht als adaptives Verhalten beschreibt.
Krankheit und Heilung, er analysiert Personen des öffentlichen Lebens wie Justin Trudeau oder Hillary Clinton, berichtet (sehr kursorisch) über Ergebnisse wissenschaftlicher Studien und erzählt viel aus seinem eigenen Leben.
Auf den ersten 400 Seiten geht es um die gesundheitlichen Folgen des modernen Lebens, auf den nächsten 150 um Heilung. Dabei versteht Maté unter Heilung nicht unbedingt „gesund“, sondern „ganz“ sein. So ist dieser fünfte Teil überschrieben mit: „Wege zur Ganzheit.“ Da wird es auch mal praktisch. Besonders wichtig ist es Maté, dass man Leib und Seele nicht als zwei getrennte Dinge erlebt. Es gibt eine Anleitung dafür, wie man „Nein“ sagen lernt, statt sich selbst zu schädigen. Und er stellt systematische Übungen vor, wie man beschränkende Automatismen neu bewertet und ändert. Auch spirituelle Bedürfnisse sollte man respektieren, so Maté, wobei er mehr von Schamanen-Trips begeistert ist als von bodenständigen Übungen wie Meditation.
Das Buch ist von der Begeisterung der Autoren für die Sache getragen. Das führt auch zu einigen spekulativen Aussagen, aber vor allem dazu, dass es viel zu lang ist. Doch gerade wer im Gesundheitswesen arbeitet, kann hier viele Anregungen finden, zur täglichen Arbeit, zur Selbstreflexion, zum Weiterdenken und zur Änderung eingefahrener Denkmuster, die einem selbst schaden.
Barbara Knab, Wissenschaftsautorin, München, barbara-knab.de Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2024, 95 S., 25 Euro
Dr. Gabor Maté, Daniel Maté
Vom Mythos des Normalen
Wie unsere Gesellschaft uns krank macht und traumatisiert. Neue Wege zur Heilung
Gabor Maté, geboren 1944 in Budapest, überlebt die Nazis nur, weil seinejüdische Mutter ihn bei fremden Leuten versteckt. 1956 flieht die Familie nach Kanada, wo Maté später 20 Jahre als Hausarzt und Palliativmediziner arbeitet und danach zehn Jahre in einem Brennpunktviertel mit psychisch Kranken.
Diese Arbeit ändert, wie Maté Krankheit, Gesundheit, psychische Probleme
Viele Faktoren der modernen, kapitalistischen Welt hält Maté schlicht für „toxisch“, weil man sie nur mit Verhaltensweisen bewältigen kann, mit denen man sich an anderer Stelle selbst schadet. Sie bahnen zum Beispiel psychische Probleme, Fettleibigkeit, Diabetes, Krebs oder Autoimmunkrankheiten an. Im Einklang mit der Gesundheitsforschung beschreibt er viele gesundheitsschädliche Faktoren wie Armut, Einsamkeit und Vereinzelung, soziale Ausgrenzung, die Tatsache, eine Frau zu sein, oder (in Kanada) einer indigenen Volksgruppe anzugehören. Zu den schädlichsten gehören Traumata und Stress.
Wer ein Trauma erlebt oder starkem Stress ausgesetzt ist, findet Wege, das zu überleben. Maté illustriert das mit der Trennung von seiner Mutter: Es war ein Trauma, hat ihm aber gleichzeitig als Baby das Leben gerettet. Doch vor allem in der Kindheit haben Strategien, an einem Trauma nicht zu zerbrechen, die Eigenheit, Menschen innerlich von sich selbst zu entfremden. Zudem trüben solche Strategien das Bild, das Betroffene von sich selbst und ihrer Umwelt haben. Deshalb stehen sie einem „heilen“ Leben im Wege.
In diesem Buch fasst Gabor Maté sein gesammeltes Wissen zu Krankheit, Gesundheit und Heilung zusammen, unterstützt von seinem Sohn Daniel, der als Musiker noch eine andere Perspektive mitbringt. Maté illustriert seine Thesen sehr journalistisch mit vielen Interviews über
Kösel, München 2023, 624 S., 29 Euro
Gesundheit, Politik, Gesellschaft
Thomas Klie
Pflegenotstand?
Eine Streitschrift
Die Pflege krankt und mangelt. Finanziell, personell, strukturell. Wer, wie, wo künftig in Deutschland die Alten und Kranken pflegt,ist gänzlich offen. Sicher ist: Ohne „gemeinsames Engagement aller“ wird in der Pflege nichts mehr gehen. Thomas Klie, Experte auf diesem Gebiet, identifiziert und analysiert klug und zukunftsweisend die aktuellen
Dilemmata der Pflegeindustrie.
Hirzel, Stuttgart 2024, 221 S., 24 Euro
Giovanni Maio
Ethik der Verletzlichkeit
Wir leben in einer Zeit, die bestimmt ist von Erfahrungen und Eindrücken der Verletzlichkeit. Verletzlich ist der Mensch, weil bei aller Planung das Kontingente nicht abgeschafft werden kann. Wir können jederzeit mit Widrigem konfrontiert werden, niemand ist davor gefeit. In seinem neuen Buch zeigt der Medizinethiker Giovanni Maio, dass Verletzlichkeit und Angewiesenheit trotz aller Autonomiebestrebungen zu den wesentlichen Elementen menschlicher Existenz gehören.
Herder, Freiburg 2024, 160 S., 18 Euro
Roland Imhoff (Hg.)
Die Psychologie der Verschwörungstheorien Von dunklen Mächten sonderbar belogen ... Der Band beleuchtet die kognitiven Grundlagen und biografischen Hintergründe von Verschwörungsnarrativen mittels Beiträgen aus Philosophie, Geschichts- und Kommunikationswissenschaft, erörtert die Rolle von Verschwörungsglauben im politischen Diskurs und in den sozialen Medien und erläutert Möglichkeiten und Grenzen von Interventionen.
Hogrefe, Göttingen 2023, 270 S., 34,95 Euro
Geschichte der Medizin
Pierre Pfütsch (Hg.)
Die Rolle der Pflege in der NS-Zeit Neue Perspektiven, Forschungen und Quellen
Der interdisziplinäre Band versammelt eine Vielzahl neuer Perspektiven und Quellen zur Rolle der Pflege in der NS-Zeit. Dabei steht u. a. die Frage im Fokus, welche Funktion Pflege generell in der NS-Ära besaß und welches berufliche Selbstverständnis dem zugrunde lag. Des Weiteren ist von Interesse, welche Rolle Pflegenden im Kontext von medizinischen Verbrechen in Konzentrationslagern, Heilund Pflegeanstalten und (psychiatrischen) Kliniken zukam.
Franz Steiner, Stuttgart 2023, 400 S., 68 Euro
Susanne Guski-Leinwand Psychologie unter politischem Diktat in der DDR
Susanne Guski-Leinwand untersucht die Psychologie in der DDR in ihrem akademischen Kontext, hinsichtlich der ministeriell-behördlichen und parteipolitischen Einflüsse und als Staatspsychologie in Form der Operativen Psychologie des Ministeriums für Staatssicherheit. Psychosozial, Gießen 2024, 285 S., 39,90 Euro
Susanne Boehm
Die Frauengesundheitsbewegung
Kritik als Politikum
In den 1970er-Jahren trat die Frauengesundheitsbewegung als kreative feministische Strömung in Erscheinung, die das männlich dominierte Gesundheitssystem radikal infrage stellte. Ausgehend von aktivistischen Selbstzeugnissen und Interviews beleuchtet Susanne Boehm Anliegen, Ziele und Aktionsformen des Protestes von einst genauer. Ihre Betrachtung setzt exemplarisch an einem Gesundheitszentrum in Berlin an. transcript, Bielefeld 2024, 402 S., 45 Euro
Medizin und Gesundheitswesen
Ursula H. Pabsch
Der Mensch ist mehr als seine Krankheit
Systemische Soziale Arbeit im Krankenhaus Ein ressourcen- und lösungsorientierter Dialog, wie er in der systemischen Familientherapie praktiziert wird, bietet für die soziale Beratung im Kurzzeitsetting „Klinik“ entscheidende Vorteile. Ursula Pabsch bereitet zentrale systemische Konzepte, Techniken und Interventionen für die Soziale Arbeit im Krankenhaus auf. Carl-Auer, Heidelberg 2024, 203 S., 29,95 Euro
Andreas Meißner
Die elektronische Patientenakte –vom Ende der Schweigepflicht Für Risiken und Nebenwirkungen übernimmt niemand die Verantwortung Die Daten aus der elektronischen Patientenakte, die alle Bürger jetzt automatisch bekommen, fließen ebenso automatisch an die Forschung, die allzu oft ökonomisch orientiert ist. Sie fließen auch in den europäischen Datenraum und die USA. Eine öffentliche Diskussion ist notwendig, die Andreas Meißner mit seinem Buch anregen will. Westend, Neu-Isenburg 2024, 72 S., 10 Euro
Henny Annette Grewe, Beate Blättner (Hg.) Vor Hitze schützen Ein Handbuch für Pflege- und Gesundheitseinrichtungen Die Zunahme von Hitzeextremen ist eine der greifbarsten Folgen des Klimawandels mit unmittelbaren Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit. Der Band informiert über die physiologischen und pathophysiologischen Abläufe bei Hitze sowie über notwendige Interventionen in den Settings der Gesundheitsversorgung und der Pflege. Kohlhammer, Stuttgart 2024, 209 S., 39 Euro
Pflege
Sarah Micucci
Pflege lernen mit Fällen, Interaktion – Kommunikation – Ethik In der generalistischen Pflegeausbildung lernen Auszubildende viele verschiedene Praxisfelder kennen und müssen das Gelernte ständig neu hinterfragen und auf verschiedene Kontexte anwenden. Das Buch begleitet Auszubildende während der drei Jahre Ausbildungszeit und hilft ihnen beim Aufbau von Pflegebeziehungen.
Elsevier, München 2024, 216 S., 25 Euro
Dorothea Sauter, Julia Junghanss, Felix Bühling-Schindowski (Hg.) Gewalt und Zwang vermeiden Leitliniengerechtes Handeln auf psychiatrischen Stationen
Die Autor:innen geben konkrete Hinweise, welche Ziele bei der Implementierung der Leitlinie zum Umgang mit aggressivem Verhalten und zur Reduzierung von Zwangsmaßnahmen erreicht werden können, was sich bei der Einführung bewährt hat, welche Voraussetzungen gegeben sein sollten und wo gegebenenfalls kein Veränderungsbedarf besteht.
Psychiatrie Verlag, Köln 2024, 192 S., 35 Euro
Ilka Scholl
Arbeits- und Lernaufgaben für die psychiatrische Pflege Anleitungen für die praktische Ausbildung
Die psychiatrische Pflege ist im körperlich und geistig herausfordernden Berufsalltag enorm gefordert. Ilka Scholl gibt Auszubildenden und ihren Begleiter:innen 22 Arbeits- und Lernaufgaben mit auf den Weg, damit sie lernen, sich in diesen Momenten zurechtzufinden und selbstbestimmt und gelassen zu handeln. Für die verständliche und praxisnahe Anleitung kann dieses Buch im Berufsalltag genutzt und zum Nachschlagen bereitgelegt werden.
Psychiatrie Verlag, Köln 2024, 262 S., 35 Euro
Tim Halfen, Kevin Alvarez Losada (Hg.)
Lehrbrief Ersteinschätzung
Ziel des Lehrbriefes ist, die Funktionsweise und Anwendung von validen Instrumenten zur Ersteinschätzung von Patient:innen zu vermitteln und diese im Setting einer pflegegestützten Ersteinschätzung anzuwenden. Exemplarisch werden das „Manchester Triage System“ und der „Emergency Severity Index“ behandelt. Additionale Reflexionsfragen ermöglichen ein selbständiges Verstehen von Vorgehensweise und Konsequenzen.
Kohlhammer, Stuttgart 2024, 27 S., 16 Euro
Psych ...
Tanja Dörner Wirksamer werden
Impulse und Interventionen für den Therapiealltag Psychotherapie wirkt, das ist mittlerweile unumstritten. Aber wie wirkt sie genau? Das Buch übersetzt Erkenntnisse aus der Therapieforschung in konkrete therapeutische Fragen, Statements und Interventionen. Daraus ergeben sich wichtige Impulse, um das ganze Potenzial von Psychotherapie zu nutzen und im Therapiealltag mehr Wirksamkeit zu entfalten.
Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 280 S., 28 Euro
Thomas Bolm
Mentalisieren im psychiatrischen Alltag
Mentalisieren ist die Fähigkeit, ein differenziertes Bild vom eigenen Erleben, dem Erleben anderer und der Beziehung untereinander zu gewinnen. Sie verbessert konstruktive Kommunikation und kooperatives Verhalten im Team nachhaltig. Der Band vermittelt ein psychotherapeutisches Konzept zur Förderung von Mentalisierungsprozessen verständlich und kompakt für den Einsatz im psychiatrischen Alltag.
Psychiatrie Verlag, Köln 2024, 160 S., 22 Euro
Barbara Couvert
Vererbte Geschichte
Wie psychische Erfahrungen an nachfolgende Generationen weitergegeben werden
Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zu Epigenetik, Traumafolgen und Spiegelneuronen beschreiben physiologische Prozesse, die verstehen lassen, inwieweit uns die Geschichte vonVorfahren betreffen und prägen kann – mitunter noch bevor wir gezeugt wurden. Diese Erkenntnisse zeigen auch, dass sich dieses Erbe verändern lässt, und sie liefern Hinweise, wie das geschehen kann.
Carl-Auer, Heidelberg 2024, 192 S., 39 Euro
Schwangerschaft, Geburt, Familie
Anna Blix
Runde 40 Wochen
Die menschliche Schwangerschaft und 81 andere Möglichkeiten, ein Baby zu bekommen
40 Wochen dauert es, bis ein menschliches Baby im Bauch der Mutter heranwächst. Anna Blix stellt parallel dazu in jeder Woche andere Lebewesen vor, die gerade ihre Nachkommen zur Welt bringen. Das Buch schenkt evolutionären Trost für alle Schwierigkeiten der menschlichen Schwangerschaft.
Westend, Neu-Isenburg 2024, 288 S., 24 Euro
Lena Agel (Hg.)
Praxisanleitung im Hebammenstudium
Das Buch bietet eine empathische Einführung in die verantwortungsvolle Rolle als Praxisanleiterin und zeigt, wie Lernprozesse im Hebammenstudium angeleitet und gestaltet werden können – pädagogisch und didaktisch. Damit ist es ein wertvolles Lehr- und Nachschlagewerk für alle Hebammen in der Praxisanleitung.
Thieme, Stuttgart 2023, 168 S., 69,99 Euro
Eva Placzek
Ich, Hebamme, Mittäterin
Mein Einsatz gegen Gewalt im Kreißsaal und für eine sichere Geburtshilfe
Rund 50 Prozent aller Frauen, also jeder zweiten Frau, wird während der Geburt physische oder psychische Gewalt angetan. Schonungslos, ehrlich und berührend zeigt die Hebamme Eva Placzek die vielfältigen Probleme auf, die zu dieser Entwicklung beitragen.
Goldegg, München 2024, 200 S., 22 Euro
Susanne Mierau
Das Schlafbuch für die ganze Familie
Mehr Ruhe, Energie und Ausgeglichenheit für Babys, Kinder und Eltern
Anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse beschreibt Susanne Mierau, wie es heute um den Schlaf von Erwachsenen steht, wie Eltern nächtliches Schlafdefizit kompensieren, feinfühlig bleiben und die Schlafbedürfnisse aller unter einen Hut gebracht werden können. Dazu stellt sie u. a. verschiedene Schlafsettings und Schlafumgebungen für Babys, Kleinkinder, Teenager und Erwachsene vor. Beltz, Weinheim 2024, 288 S., 22 Euro
Behinderung
Holger Nils Pohl
Falscher Planet
Wie Autisten die Welt erleben –Ein Kinderbuch Liebevoll illustriert diese Geschichte, dass sich das Leben mit Asperger-Autismus oft wie auf dem falschen Planeten anfühlt. Jede der kleinen Begegnung des Aliens mit den Erdenbewohnern spiegelt die Herausforderungen und Besonderheiten des Lebens im Autismus-Spektrum wider. Eine berührende Geschichte für Familien, Schulklassen und Therapeuten, die Verständnis dafür weckt, wie verschieden wir Menschen sind. Neufeld Verlag, Luhe-Wildenau 2024, 76 S., 18 Euro
Judith L. Mitrani, Theodore Mitrani (Hg.)
Psychodynamische Therapien der Autismus-Spektrum-Störungen
Frances Tustin heute
Anhand von detaillierten klinischen Beiträgen mehrerer ihrer weltweiten Nachfolger zeigt dieses Buch, wie Tustins Ideen – die ihre Wurzeln in der jahrzehntelangen Arbeit mit Kindern aus dem autistischen Spektrum haben – die Behandlung verschiedener Patienten in der frühen Kindheit und im Erwachsenenalter beeinflusst haben und wie sie erweitert und angewendet werden können.
Brandes & Apsel, Frankfurt am Main 2023, 364 S., 49,90 Euro
Liane Grewers
Gewaltprävention und Gewaltintervention in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung Schutzkonzepte, Mustertexte, Fallbeispiele In Deutschland sind Menschen mit Behinderungen nicht wirksam vor Gewalt geschützt. Um die Lücken im Gewaltschutz zu schließen, bietet das Buch einen Leitfaden für strukturelle, personelle und inhaltliche Maßnahmen im Bereich der Gewaltprävention und deren Umsetzung in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung.
Kohlhammer, Stuttgart 2024, 99 S., 26 Euro
Alter
Thomas Frings
Endlich alt!
Ein spiritueller Reisebegleiter Thomas Frings ist frisch pensioniert und sieht darin die Chance, alten Ballast loszulassen und neue Freiheiten zu entdecken. Mit großer Offenheit und viel Humor sowie eigenen Erlebnissen im Gepäck, begleitet er uns auf einem inspirierenden Lesespaziergang zur bewussten Gestaltung des letzten Lebensdrittels als spirituelle Erfahrung.
Herder, Freiburg 2024, 160 S., 20 Euro
Susette Schumann, Anja Schulz
Ressourcenorientierte Konzepte in der Altenhilfe
Ein Lern- und Arbeitsbuch für die Aktivierend-therapeutische Pflege
Das Buch befasst sich mit ressourcenorientierten Pflegekonzepten am Beispiel der aktivierend-therapeutischen Pflege in der Geriatrie und Altenpflege. Dabei führt das Werk mittels einer gerontologischen und pflegerischen Perspektive in die Lebenssituation geriatrischer Patienten und pflegebedürftiger Personen ein.
Kohlhammer, Stuttgart 2024, 104 S., 29 Euro
Elke Heidenreich
Altern
Alle wollen alt werden, niemand will alt sein. Der Widerspruch istabsurd, das Leiden daran real. Wie lernen wir, so gut wie möglich damit zurechtzukommen?
Geht das, alt werden und ein erfülltes Leben führen? Elke Heidenreich hat sich persönlich, lebensklug und ehrlich, doch dabei niemals gnadenlos mit dem Altwerden beschäftigt.
Hanser, Berlin 2024, 112 S., 20 Euro
Sterben, Tod, Trauer
Joanna Lisiak
Trauerrituale –in neuer Form verbunden Wer einen geliebten Menschen verloren hat, trauert um ihn. Auch wenn die Trauer nicht mehr ganz so tief ist, und wenn man akzeptiert, dass der/die Verstorbene physisch nicht mehr da ist, spürt man trotzdem eine Verbindung. Joanna Lisiak bietet 88 Trauerrituale an, von denen einige sehr einfach und ohne große Vorbereitungen durchzuführen sind, andere sind komplexer und nicht immer und überall umzusetzen. Aber jeder Mensch trauert anders und braucht eigene Formen, mit dem Verlust eines geliebten Menschen umzugehen. Junfermann, Paderborn 2024, 250 S., 28 Euro
Sandra Stelzner-Mürköster
Zurück ins Leben finden Die Botschaft der Trauer annehmen und wieder Lebensfreude spüren Als Sandra Stelzner-Mürköster völlig unerwartet ihren Mann verliert, fällt sie in das schwarze Loch tiefer Trauer, ein Teil von ihr stirbt mit. Erst nach und nach begreift sie: Diese Trauer stellt mich vor eine Aufgabe, der ich nicht ausweichen kann, denn die Veränderung ist radikal und unumkehrbar.
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2024, 224 S., 20 Euro
Sabine Rachl
Sterben üben, damit das Leben sich entfalten kann
Grundlagen, Fallgeschichten und Selbstreflexionen für die Sterbeund Trauerbegleitung
Sabine Rachl lädt mit Übungen zur Selbst-Erkundung ein: Wie ist meine Haltung zu Tod und Sterben aus meinen Lebenserfahrungen heraus erwachsen? (Wie) Möchte ich sie vielleicht verändern? Dabei bietet sie verständliches Wissen über Tod und Sterben und über Sterbeund Trauerbegleitung.
Patmos, Ostfildern 2024, 240 S., 22 Euro
Ratgeber
o
Sylvia Schmidt
Die psychologische Hausapotheke 30 Kompetenzen für weniger Stress und mehr Wohlbefinden
Die psychologische Hausapotheke vermittelt 30 alltagstaugliche Kompetenzen für den Umgang mit sechs großen Herausforderungen: Selbstwert, Partnerschaft, Stress, Krise, Schmerz und Schlaf. Durch ihre Erfahrung mit über 500 Klient:innen und wissenschaftliche Erkenntnisse gibt die kognitive Verhaltenstherapeutin Sylvia Schmidt wirksame Tipps und Impulse, was jeder Mensch selbst tun kann.
Beltz, Weinheim 2024, 272 S., 22 Euro
Peter Matthias Wehmeier
Globale Psychose
Wie es uns gelingt, in einer verrückten Welt für uns und andere zu sorgen
Unter Stress verändert sich unser Denken und Empfinden, sodass es dem Denken und Empfinden während einer Psychose ähnelt. Diesen Realitätsverlust können wir durch Selbstsorge kompensieren. Das Buch gibt eine psychiatrisch-psychotherapeutisch fundierte Antwort auf die Frage, wie es uns gelingt, in der heutigen „verrückten“ Welt verantwortungsvoll für uns selbst und für andere zu sorgen. Kohlhammer, Stuttgart 2023, 161 S., 29 Euro
Sheila de Liz
Endometriose – Alles, was du wirklich wissen musst
Schmerzen im Unterleib, extreme Blutungen, Darmprobleme, Erschöpfung – die Symptome von Endometriose sind vielfältig. Die Gynäkologin Dr. Sheila de Liz hilft Patientinnen, sich in dieser komplexen Welt zurechtzufinden: vom Verstehen ihres individuellen Krankheitsbildes über den Weg zur Diagnose und richtigen Behandlungsstrategie bis hin zu Tipps für den Alltag. Rowohlt, Berlin 2024, 144 S., 12 Euro
Das besondere Buch
Cynthia Alonso
Wirbelwind
Nein, die Schule ist nichts für sie: Immer nur stillsitzen. Nicht mal in der Pause ist es erlaubt, rumzutoben oder auf dem Mäuerchen zu balancieren. Obwohl das Wort ADHS im Buch nicht fällt, so wissen doch alle erwachsenen Leser:innen, dass hier die Nöte und Hoffnungen eines vor Temperament übersprudelnden Kindes geschildert werden, dem es schwerfällt, sich den Forderungen unserer Institutionen an körperliche Selbstkontrolle zu fügen. Ohne dies zu leugnen, ein optimistischer Ausblick. Carl-Auer, Heidelberg 2024, 36 S., 19,95 Euro
Hebammenforum 6/2024
Uterus
Kinder beim A
Verlag Ve Psy gut be elt ten W We in der digitalisier
Medienkonsum ckbox alB
Erscheint Juli 2024
ca. 240 Seiten
Broschur • € 29,90
emoorokKlaus K k di lM i iW
ISBN 978-3-8379-3380-2
Die Gebärmutter ist der Ort, an dem neues Leben heranwächst. In der Juni-Ausgabe des Hebammenforums liegt der Fokus deshalb auf Themen rund um den Uterus. Neben einer spannenden Reise durch das wandlungsfähige Organ informieren zwei Artikel auch über Uterusfehlbildungen und Myome. Darüber hinaus kommt Leah Hazard, Autorin einer kleinen Saga rund um die Gebärmutter, zu Wort. Neben der Vorstellung aktueller Forschungsergebnisse und der Rezension neuer Fachbücher und Ratgeber versammelt die Ausgabe außerdem hilfreiches Wissen rund ums Thema Insolvenz sowie Fakten und Tipps für die Vernetzungsarbeit freiberuflicher Hebammen. Katrin Lepke berichtet Aktuelles über die Prävention von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft und Wanda Damm zeichnet die weitreichenden Folgen von Kreißsaalschließungen nach. Einzelheft: 9,99 Euro Jahresabo (16 Ausgaben): 75 Euro Bezug: Deutscher Hebammenverband e. V., Gartenstr. 26, 76133 Karlsruhe, hebammenforum.de
die Bundesvorsitzenden Selina Mooswald und Marcus JogerstRatzka vier Jahre Bochumer Bund Revue passieren. Daneben zeigt die „Mobilitätsoffensive“ am Klinikum Darmstadt anschaulich, wie Mobilitätsförderung im Stationsalltag einfach und nachhaltig gelingen kann. Ingo Böing unterzieht die Krankenhausreform einer Kritik aus pflegepolitischer Sicht und Ingo Eck und Anna-Katharina Tack berichten über die Erprobungsphase des neuen Personalbemessungsinstruments INPULS® auf 80 Erwachsenen-Intensivstationen.
Einzelheft: 9,99 Euro (plus Porto) Jahresabo (12 Ausgaben): 78 Euro Bezug: Bibliomed Leserservice, Stadtwald 10, 34212 Melsungen, bibliomed-pflege.de
welche Rolle dabei die eigene Wortwahl sowie Effekte wie Placebo und Nocebo spielen. Weitere Artikel zeigen, wie wichtig Spiritualität für Schmerzpatient:innen sein kann, was jede:r von uns gegen verinnerlichten Sexismus tun kann und warum sexuelle Aufklärung an Schulen immer noch zu kurz kommt.
er , um in ein derr, in en K h b um snoen e l Mi e ie v
ent ati d dig ezun
- t den Ein b ces r b emk en? K mmoktzuuk etzurleW We
uf dendien a e ler M i s dig g sufl
-ziee d-Binn-Ker d die E un szes orp gsuneiffu en R hlicdink
-nasertl en a üreineffü tnzepok - ldna gt H älhc , s gunh
t den mig ngam en U ensesemg ge
t d lösr un o dien v e euen M n
le zw hüeffü e G t ibma
uff. e a gro d S tzen un u ut en N hcs
ei blla en F et rkno t k iM
- len A lovt er d w un
e zu egeterWWe nff ffnö n er derinK g v untleieggl ürdieBenffü g ge
mad un en F erh em sic ein
-snot k leswenbe en L - dien do e n M o er v um in ein
dunetzen vGitk kt urt
d unetzen enzen srv Gi
- l b iep e S hlicdin s k
ö n zu ker
ei bestellen auf Portofr
.deerlagzial-v ychosow.psycww.www
Psychologie Heute Juli 2024 Die Straße der guten Gewohnheiten Wie die Tage ins Land gehen! Die erste Hälfte des Jahres liegt bereits hinter uns – Zeit, die guten Neujahrsvorsätze zu überprüfen? Im sommerlichen JuliHeft der Psychologie Heute präsentieren die Autor:innen rund ums Thema „gute Gewohnheiten“ Forschungsergebnisse und zeigen: Wer sein Verhalten nachhaltig verändern möchte, muss nicht nur über eine ausgeprägte Willensstärke verfügen. Anschaulich erläutern sie, wie die drei Erfolgsfaktoren Kontext, Wiederholung und Belohnung uns allen dabei helfen können, neue Routinen und Verhaltensmuster zu etablieren und zu festigen. Zur Reflexion und Veränderung von Sprachgewohnheiten im medizinischen Alltag regt die Hypnotherapeutin und Chirurgin Dorothea Thomaßen an: Im Interview mit Ebba D. Drolshagen erklärt sie, warum Patient:innen in bestimmten medizinischen Situationen besonders beeinflussbar sind und gleiten
Die Schwester der Pfleger 6/2024 Pflegerische Herausforderungen vor, nach und während einer Organspende Knapp drei Monate nach Einführung des neuen online Organspende-Registers muss eine erste enttäuschende Bilanz gezogen werden. Mit nur 128 000 registrierten Spender:innen von 71 Millionen berechtigten Bürger:innen bleibt das Verzeichnis deutlich hinter den Erwartungen zurück. Doch die Organspende stellt nicht nur eine politische, sondern im Klinikalltag auch eine pflegerische Herausforderung dar. Den anspruchsvollen Abläufen und pflegefachlichen Anforderungen vor, während und nach einer Organspende widmet sich daher die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe Die Schwester der Pfleger Drei Artikel beleuchten darin die organisatorischen Hintergründe und die Koordination der Deutschen Stiftung Organtransplantation, die pflegerischen Prozesse der organprotektiven Intensivtherapie und die individuelle Unterstützung von Organempfänger:innen und ihren Angehörigen im Falle einer Spende. Neben dem Schwerpunkt lassen
Einzelheft: 8,50 Euro Jahresabo (12 Ausgaben): 86,90 Euro (plus Porto)
Bezug: Julius Beltz GmbH, Postfach 100154, 69441 Weinheim, psychologie-heute.de
kompetent 2024
Außer Form
Auch in diesem Frühjahr haben Starkregen und heftige Gewitter wieder deutlich vor Augen geführt, dass die Folgen des Klimawandels bereits bedrohlich in unseren Alltag eingreifen. Nicht nur Extremwetter, Hitzerekorde und neue Erreger machen deutlich, welche Belastungsprobe der Klimawandel schon jetzt und zukünftig verstärkt für die Gesundheit des Planeten und des Menschen darstellt. Die Stiftung Gesundheitswissen bezeichnet die Klimaerwärmung als eine der größten Herausforderungen unserer Zeit und widmet ihr entsprechend die Ausgabe 2024 ihres Gesundheitsmagazins. Darin wird unter anderem die Förderung der Gesundheitskompetenz beleuchtet. So zeigen zwei Artikel, wie Gesundheits- und Klimakompetenz im Schulunterricht miteinander vereinbart und gezielt aufgebaut werden können und welche Strukturen noch geschaffen werden müssen, um der Bevölkerung eine bessere Orientierung im Gesundheitswesen zu ermöglichen. Die Pädagogin Dr. Marischa Fast gibt im Interview praktische Tipps zur Mitgestaltung des Wandels im medizinischen Berufsalltag. Was Ärzt:innen schon heute tun können, um ihre Patient:innen auf die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels vorzubereiten, erläutert Dr. Ralph Krolewski, der zu diesem Zweck die „KlimaSprechstunde“ eingerichtet hat. Die Psychotherapeutinnen Bianca Rodenstein und Katharina van Bronswijk von Psychologists for Future erklären darüber hinaus, was es mit der sogenannten Klimaangst auf sich hat.
Wie man Frauen während eines Fehlgeburtgeschehens kompetent betreut – zu diesem anspruchsvollen Thema wird die Referentin Franziska Maurer, organisiert über die Staude Akademie, ein zweitägiges Webinar anbieten. Gemeinsam wird erarbeitet, wie gute Betreuung im Sinne der Frau und ihrer Gesundheit gelingen kann. Je zwei Stunden des Webinars werden im Rahmen der Fortbildungspflicht für Praxisanleiter:innen sowie für Notfallstunden anerkannt. Information und Anmeldung: https://kurzlinks.de/xuvy
27. August – 1. September 2024 im Allgäu
Der Himmel in Dir Wandern in Stille und Achtsamkeit Organisiert durch das European Center for Mindfulness wird Karen Breyer im August ein sechstägiges Programm zur gelebten Erfahrung von Achtsamkeit anbieten, diesmal beim Wandern, Yoga und Meditieren im Allgäu, wo das Chaos der Welt vielleicht weniger offensichtlich ist.
Information und Anmeldung: https://kurzlinks.de/7i3m
6. + 7. September 2024 in Hannover 7. DHZCongress – Kongress der Deutschen Hebammen Zeitschrift Hebammenkunst gemeinsam betrachten und reflektieren
Im September findet in Hannover der siebte Kongress der Deutschen Hebammen Zeitschrift statt. Alle Hebammen, Student:innen und Schüler:innen sind herzlich einge-
laden, den Vorträgen zu praxisrelevanten Themen zu lauschen. Referenten wie Prof. Giovanni Maio und Dr. Konrad C. Cimander bieten Einblicke zu „Philosophie der Geburt“ oder „Cannabinoide in der Schwangerschaft“. Information und Anmeldung: www.dhz-congress.de
12. +13. September in Bern beWEGt
3Länderkongress Pflege in der Psychiatrie Der 19. 3Länderkongress zu Pflege in der Psychiatrie findet dieses Jahr in Bern statt und steht ganz unter dem Motto „beWEGt“. Psychiatrisch Pflegende unterstützen Menschen in verschiedenen bewegten Lebenslagen, ob vertrieben aufgrund von Flucht, Klimakrise, Naturkatastrophen, Krankheiten oder aufgrund innerer Krisen. Auf dem diesjährigen Kongress geht es darum, über das Thema Bewegung ins Gespräch zu kommen: Was bewegt die Menschen, wie bewegen sie sich? Und wie bewegen wir uns gemeinsam in Praxis, Management, Lehre und Forschung?
Information und Anmeldung: https://kurzlinks.de/ohtu
16. – 19. September 2024 in Wien menschen mitwelt medien 53. petDGPs Kongress/15. ÖGP Konferenz Dieses Jahr wird der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) und der Konferenz der Österreichischen Gesellschaft für Psychologie (ÖGP) gemeinsam ausgerichtet. Der Fokus liegt dabei auf der wichtigen Beziehung zwischen Menschen und ihrer Umgebung, sowohl in sozialen Bezügen als auch mit
Medien. Am 15. September wird bereits eine Reihe von methodischen und theoretischen Workshops für Forschung und therapeutische Praxis stattfinden. Information und Anmeldung: https://kurzlinks.de/oujj
16. September 2024 – 6. Oktober 2026 in Wermsdorf Allgemeine Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie DBfK: Start der Fachweiterbildung Mithilfe der Weiterbildung wird berufliches Selbstverständnis gestärkt, für eine reflektierte und selbstbewusste Arbeit. Während der Weiterbildung werden spezielle Fähigkeiten und Kenntnisse, die für die künftige pflegerische Arbeit relevant sind, weiterentwickelt. Dazu gehören Sozio-, Milieu- und Werktherapie sowie Rehabilitation.
Information und Anmeldung: https://kurzlinks.de/a25q
18. – 20. September 2024 in Lübeck „Segel setzen für eine inklusive Arbeitswelt – Werkstätten sind an Bord“ Werkstätten:Tag 2024 Zum 15. Bundeskongress freut sich die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e. V. (BAG WfbM) rund 1 700 Werkstattverantwortliche, Fachkräfte und Expert:innen begrüßen zu dürfen. Diskutiert wird unter dem Motto „Segel setzen für eine inklusive Arbeitswelt – Werkstätten sind an Bord“ über zukünftige Möglichkeiten und Herausforderungen für die Gestaltung von Teilhabe am Arbeitsleben.
Information und Anmeldung: https://kurzlinks.de/71b3
26. +27. September 2024 Frankfurt (Höchst)+ online Zwischen Utopie und Praxis – Eine Reformwerkstatt zur psychosozialen Versorgung 2050 16. Fachtagung Psychiatrie Geplant ist eine Reform-Werkstatt, um sich den Herausforderungen und Spannungsfeldern der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung mit dem Ziel „Betroffene zu Beteiligten machen“ zu stellen. Geplant ist ein sektoren- und hierarchieübergreifender Austausch auf Augenöhe, um Ideen zu entwickeln und eine gemeinsame Vision für psychiatrische Versorgung zu erarbeiten. Neben Vorträgen widmet sich eine Reihe von Workshops den Themen Patientenbedürfnisse und Personalbedarfe.
Information und Anmeldung: https://kurzlinks.de/9uye
27. +28. September in Hamburg Kooperieren im Einklang Fachtagung zum Thema „Musik und Demenz“
Zum dritten Mal veranstaltet der Landesmusikrat Hamburg e. V. im Rahmen der Reihe „Musik im Alter“ eine bundesweit ausgeschriebene Fachtagung als interdisziplinäres Fortbildungsangebot für Ehrenamtliche und Fachkräfte. Musikbasierte Angebote stiften Wohlbefinden und Sinn, wirken präventiv und gesundheitsfördernd und verbessern Kommunikation und Teilhabe. Bei der diesjährigen Fachtagung wird insbesondere das Miteinander von Fachkräften und Laien, welche im ambulanten, häuslichen oder stationären Setting mit Menschen mit Demenz arbeiten, in den Fokus genommen. Information und Anmeldung: https://kurzlinks.de/9gwv
18. + 19. OKT | FREIBURG
FORTBILDUNG & MESSE
Wurzeln! braucht
Resilienz & Selbstsorge in der Sterbe- und Trauerbegleitung
WERDEN SIE TEIL
Oberarzt (m/w/d) für Psychiatrie und Psychotherapie
Willkommen bei AMEOS – im AMEOS Klinikum für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie Neustadt
Sie wollen psychisch kranke Menschen auf ihrem Weg zur Besserung und bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft unterstützen?
Dann sind Sie bei uns genau richtig!
Das erwartet Sie
Leitung und Supervision der Teams von zwei Stationen im hoch gesicherten Bereich eine Führungsposition in einem angenehmen Arbeitsklima mit persönlicher Atmosphäre und einem wertschätzenden kollegialen Miteinander sowie viel Raum für Eigeninitiative
Allgemeinmedizinerinnen im Haus und somit volle Konzentration auf die psychiatrische Arbeit familienfreundliche, individuell abstimmbare Arbeitszeiten ein Arbeitsplatz an der Ostsee in einer der beliebtesten Ferienregionen Deutschlands mit guter Anbindung an die Städte Lübeck und Kiel
Veranstalterin: TICKETS
Das bringen Sie mit
eine abgeschlossene Weiterbildung zum Facharzt (m/w/d) für Psychiatrie und Psychotherapie bzw. Nervenarzt (m/w/d) sowie Erfahrung im Umgang mit psychisch kranken Straftätern
Ehrgeiz, Verantwortungsbewusstsein, Flexibilität, Teamfähigkeit, wertschätzender und partizipativer Führungsstil und Interesse an transkultureller Psychiatrie gerne multilingual Freude an der Weiterentwicklung zeitgemäßer forensisch-psychiatrischer Konzepte
Wir bieten Ihnen eine Fülle von Vorteilen
Leistungsgerechte Vergütung: Möglichkeit des Nebenverdiensts durch gutachterliche Tätigkeit inkl. entsprechender Anleitung und Unterstützung sowie Zulage für die Tätigkeit in der Forensik in Höhe von 300 € Fachliche und persönliche Entwicklung: großzügige Förderung von Weiter- und Fortbildungen sowie eine individuelle Karriereplanung im Rahmen unseres Personalentwicklungskonzepts, Übernahme der Weiterbildungskosten Arbeiten auf Augenhöhe: faire und empathische Zusammenarbeit im Team
Sicherheit am Arbeitsplatz: defensive Selbstverteidigung bei der Polizei, Sicherheitsmaßnahmen
Rabatte bei über 200 Top-Marken, FahrradLeasing (z.B. E-Bike) inkl. Arbeitgeberzuschuss, Wellpass-FirmenKinderbetreuung: kostenfreie Kindernotfallbetreuung
BEREIT
FÜR DEN NÄCHSTEN SCHRITT?
Rufen Sie uns direkt an.
Dr. Wilhelm Tophinke
Chefarzt
+49 4561 611 4283 dr.wilhelm.tophinke@ameos.de
Alle Informationen unter www.wundkongress-bad-staffelstein.de
11. Wundkongress am 26.10.2024 in der Adam Riese Halle in Bad Staffelstein
Das Thema “Wunde” betrifft uns alle und
Der medizinische Fachkongress bietet Ihnen auch in diesem Jahr wieder praxisnahe und hochinteressante Themen aus der Welt der Wunde.
Erfolgreich werben mit Kleinanzeigen
Kleinanzeigen kosten 20 Euro für die ersten 5 Zeilen (ca. 150 Zeichen), jede weitere Zeile (ca. 30 Zeichen) 4,50 Euro (zuzüglich der gesetzlichen Mehrwertsteuer).
Jahresauftrag: 30% Rabatt
Initiiert von Christine Strack, MediCare Patientenberatung Strack e.K.
Wir machen Bildung bezahlbar!
Psychologische/r Berater/in
Ihre Kleinanzeige senden Sie per E-Mail an: mediaberatung @mabuse-verlag.de
Yogabedarf: Matten aus Latex, TPE, PVC, Schurwolle. Eigene Kissen-Fertigung, Bolster … Sonnen-Gruss.de, Klarastr. 57 • 79106 Freiburg Regionale Fertigung
Trauerfeier Ansprache und Gestaltung ISBN 978-3-00-056905-0 + Praxisbuch Trauerbegleitung ISBN 978-3-662-59099-7 Ausbildungen auf Anfrage Jutta Bender www.trauer-kultur.info
Hamburg. Frauenhotel Hanseatin! Sehr gute Lage! Günstig! Individuelle, gepflegte Zimmer. Kleines, leckeres Frühstücksbuffet auch mit Bio-Produkten im wunderschönen Frühstückssalon. www.Frauenhotel.de
■ weltweit
Urlaub in Südfrankreich am Fuße der Cevennen in malerischem Dorf. 5 Ferienwohnungen im restaurierten Natursteinhof Mas Chataigner inmitten eines weitläufigen mediterranen Gartens.
Wo. ab 300 EUR. Leiterausbildung! (Versand des FastenwanderBuches 15 EUR) ☎/Fax 0631-47 472, www.fasten-wander-zentrale.de
Ferien oder Überwintern
Im einmaligen Hellenikon Idyllion der „Garten der Musen“ am Golf v. Korinth am Strand: 1–2-Zi.-Bung./ Appts.inkl. Konzertflügel, Cello, Kontrabass, Bühnen u.v.m.! Oder 7-Zi.-Ferienhaus mit Klavier, Meerblick, Obstgarten. Auch Unterkunft zu Nebenkosten beim Mitwirken von Ihnen im Bereich Gesundheit und Kultur und/oder Mithelfen in Haus, Küche und Garten wie auch ein Seminar anbieten! Jede Sorte von Zitrusfrüchten und Feigen, Trauben frei Pflücken! Ideal für Natur/Kultur-Gleichgesinnte Einzelreisende, Familien und kreative Gruppen, www.idyllion.eu ☎ 0030 6972263356
Kontakte
www.Gleichklang.de: Die andere Partnerbörse für spirituelle Menschen!
Verlag: Mabuse-Verlag GmbH, Kasseler Str. 1 A, 60486 Frankfurt am Main ☎ 069-70 79 96-0, Fax: 069-704152 www.mabuse-verlag.de info@mabuse-verlag.de facebook.com/mabuseverlag instagram.com/mabuseverlag Geschäftsführer: Hermann Löffler
Eingetragen beim Registergericht: Frankfurt am Main (HRB 33207)
Redaktion: Charlotte Fischer, Dr. Jana Prokop, Hermann Löffler, ☎ 069-70 79 96-15 zeitschrift@mabuse-verlag.de
V.i.S.d.P.: Hermann Löffler (Für Beiträge, die mit vollem Namen gekennzeichnet sind, übernehmen die Autor:innen die Verantwortung.)
Layout: Karin Dienst, Frankfurt am Main
Druck: Westdeutsche Verlags- und Druckerei GmbH, Mörfelden-Walldorf Erscheinungsweise: viermal pro Jahr
Jahresabonnement: 47 Euro. Das Abo verlängert sich um ein Jahr, wenn es nicht spätestens mit Erhalt der letzten Ausgabe im Rechnungszeitraum gekündigt wird. Geschenkabos laufen automatisch aus.
Vertrieb für den Buchhandel: Prolit-Verlagsauslieferung GmbH, Julia Diehl, Siemensstr. 16, 35461 Fernwald, ☎ 0641-94 393-201, Fax: 0641-94 393-93, j.diehl@prolit.de
SommerReisen 2024
Natur, Kultur, Radeln, Wandern, mit netten Menschen unterwegs
KLIMAFREUNDLICH DEN SOMMER GENIEßEN Radeln in Deutschland und Europa Wandern in Norwegen mit Oslo Spezial Garten-, Kultur-, Kunst- und Literaturreisen in Deutschland und Europa
Gleich den QR-Code scannen und auf unserer Homepage stöbern, den Katalog anfordern oder anrufen
Wissen Sie, was ein BIPAM ist? Man kann es nicht essen. Das Akronym steht für „Bundesinstitut für Prävention und Gesundheitsförderung in der Medizin“. Ein solches Institut will der Gesundheitsminister, weil im Koalitionsvertrag der Ampelparteien stand, dass ein Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit her muss. Jetzt wird es ein BIPAM.
Es soll die alte Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ersetzen und auch Teile des Robert Koch-Instituts übernehmen. Heiliger Bimbam, wird sich dort mancher gedacht haben, wo komm ich her, wo geh ich hin? Was wird das BIPAM tun, mit welchem Geld, mit welchen Befugnissen, mit welchen Partnern? All das wird sich zeigen. Wir wissen ja auch sonst oft nicht, was die Zukunft bringt. Fraglich ist alles Sein, das hat der Philosoph Martin Heidegger schon lange vor dem Koalitionsvertrag der Ampel gesagt. Wie die Politik auf den Namen BIPAM kam? Auch das wissen wir nicht. Vielleicht Sehnsucht nach der Ära Adenauer. An einen modernen
Public Health-Ansatz denkt man dabei jedenfalls nicht. Ob das, was reinkommt, so altbacken ist, wie das, was draufsteht? Wer weiß. Es gibt einen „Errichtungsbeauftragten“ für das BIPAM. Hoffen wir, dass er mehr weiß. Und ob es überhaupt noch kommt, das BIPAM? Der letzte Gesetzentwurf war undatiert und bei Matthäus 24:36–51 steht, dass niemand weiß, wann das Ende kommt.
Eine gute Medizin muss bekanntlich bitter schmecken. Insofern ist ein bitterer Beigeschmack beim BIPAM, dem neuen Wundermittel der politischen Medizin, kaum zu vermeiden. Sonst müsste man am Ende noch befürchten, dass man es mit einem Placebo zu tun hat.
Klare Empfehlung für die Arzneimittellehre
Ob Sie gerade in der Examensvorbereitung stecken oder sich im Pflegealltag eine Frage zu Arzneimitteln stellen – in diesem Standardwerk finden Sie passgenaue Informationen und Antworten.
Auch die 12., überarbeitete Auflage bleibt den etablierten Prinzipien des Werks – Übersichtlichkeit und Verständlichkeit – treu. Die Informationen zu Besonderheiten der Anwendung von Arzneimitteln in Geriatrie und Pädiatrie in den Kästen „ExtraWissen“ wurden weiter ausgebaut. Zahlreiche neue und aktualisierte Abbildungen unterstützen das Leseund Lernerlebnis.
Das Fazit: Alles drin und super beschrieben, Daumen hoch für „kaufen“!
Standardwerk in Neuauflage
Herausgegeben von C. Schmidt, begründet von B. Schmid und C. Bannert