Nr. 223 · September/Oktober 2016 41. Jahrgang · D 6424 F · 8 Euro
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Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe
Berührung — Frühkindliche Bindung — Arzt-PatientenBeziehung Fehlverteilung von Arztsitzen – AOK-Institut sieht keinen Ärztemangel. Offene Besuchszeiten im Krankenhaus – Pro/Contra. Voneinander Lernen – trotz Demenz.
— Kinaesthetics — Lebensende
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Editorial
Liebe Leserinnen und Leser, die Haut ist das größte Organ des menschlichen Körpers – etwa 1,8 Quadratmeter sind es bei jedem Erwachsenen. Die Haut schützt uns: Sie schirmt schädigende UV-Strahlung ab, hilft, Kälte und Wärme zu regulieren, schützt den Körper vor dem Austrocknen und dem Verlust körpereigener Substanzen. Als Barriere dient sie auch gegenüber Krankheitserregern, die in vielen Fällen erst dann in den Körper eindringen können, wenn wir uns verletzt haben – ein aufgescheuertes Knie oder ein Schnitt im Finger können schnell zum Eingangstor für Tetanus-Erreger oder Staphylokokken werden. Die Haut ermöglicht es uns zugleich, Kontakt zu unserer Umgebung aufzunehmen: Noch bevor Kinder geboren werden, reagieren sie beispielsweise auf Berührungen durch die Bauchdecke der werdenden Mutter. Im Kleinkindalter werden Oberflächen, Gegenstände oder die Natur tastend entdeckt – hier wird über die Haut das Erfahrungslernen möglich: Eine heiße Herdplatte oder ein stacheliger Kaktus bleiben uns eher in Erinnerung, wenn wir ihn einmal angefasst haben. In diesem Sinne ist unser aktuelles Schwerpunktthema Berührung eines, zu dem es fast unendlich viele Anknüpfungspunkte gibt. Unsere AutorInnen zeigen, dass Berühren und Berührtwerden vom Lebensanfang bis zum
Lebensende große Themen sind. Mechthild Deyringer beschreibt, welche Rolle die Berührung beim Aufbau einer gefestigten Bindung zwischen Eltern und Kind spielt. Maren Asmussen und Adelheid von Herz geben theoretische und praktische Einblicke in Kinaesthetics und erläutern die Zusammenhänge zwischen Berührungsqualität und Bewegungskompetenz in der Pflege. Die Möglichkeiten achtsamer Berührung in der Sterbebegleitung veranschaulicht Rebekka Hofmann. Außerhalb des Schwerpunkts diskutieren die AutorInnen dieser Ausgabe offene Besuchszeiten im Krankenhaus, stellen ein Projekt werdender Hebammen in der Sexualaufklärung an Schulen vor und zeigen, wieso man auch von Menschen mit Demenz Einiges lernen kann. Wir wünschen eine anregende Lektüre und grüßen herzlich aus der Redaktion!
Franca Liedhegener
Ann-Kathrin Roeske
Der Mabuse-Verlag auf der Frankfurter Buchmesse: 19.–23. Oktober 2016 Unser Stand befindet sich in der Halle 3 im 1. Stock (G 26–28), Messe-Tel.: 0170-803 61 58. Alle Mabuse-LeserInnen, AutorInnen und FreundInnen sind jetzt schon herzlich eingeladen, uns am Stand zu besuchen – natürlich auch zum traditionellen Messe-Empfang am Donnerstag, den 20. Oktober, ab 16 Uhr!
Dr. med. Mabuse 223 · September / Oktober 2016
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Inhalt Offene Besuchzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 14 Pro: Angehörige sollten willkommen sein Andrea Schiff Contra: Im Klinikalltag sind Regeln notwendig Naseer Khan
Eine Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 16 15 Jahre Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft Ann-Kathrin Roeske
Fehlverteilung von Arztsitzen
.....................
S. 18
AOK-Institut sieht keinen Ärztemangel Wolfgang Wagner
Das gesundheitspolitische Lexikon . . . . . . . . . . S. 40 PsychVVG Thomas Böhm
Voneinander lernen – trotz Demenz
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S. 42
Ein Perspektivwechsel für mehr Miteinander Ulrich Fey
Rubriken
Ende der „Goldgräberstimmung“? . . . . . . . . . . . S. 45 Referentenentwurf soll Preis-Poker der Pharmahersteller unterbinden Gerd Glaeske
Editorial
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Leserbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Nachrichten
Hebammen an Schulen
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3
S. 46
Aufklärungsunterricht mit Win-win-Effekt Susanne Kneifel
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8
Cartoon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . 57 Neuerscheinungen
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PraenaTest macht Kasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 49
Broschüren/Materialien . . . . . . 68
Mögliche Leistungsausweitung durch den G-BA Oliver Tolmein
Zeitschriftenschau . . . . . . . . . . . . . . 69 Termine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Stellenmarkt/Fortbildung
Gesundheit anderswo:
Was bleibt von Obamacare? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 51 US-Ärzteverbände und ihre Interessen im Wahljahr 2016 Eckardt Johanning
Das Laufwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 54 Ein Fallbericht aus der Psychiatrie Olga Kogan-Goloborodko
Besser reich und gesund als arm und krank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 82 Karin Ceballos Betancur Foto: Martin Barraud/OJO Images/vario images
...
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Kleinanzeigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Schwerpunkt:
Berührung Bindung durch Berührung – . . . . . . . . . . . . . . . S. 22 und ihre Bedeutung am Lebensanfang Mechthild Deyringer
Heilende Hände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 25 Wie Berührung Arzt und Patienten hilft Robin Youngson
„Wie ein gemeinsamer Tanz“ . . . . . . . . . . . . S. 29 Berührung und Bewegung in der Pflege Maren Asmussen
Begreifende Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 32 Eine andere Art von Erfahrungsbericht Adelheid von Herz
Achtsame Berührung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 35 Heilsames Potenzial für die letzte Lebensphase Rebekka Hofmann
Berührung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 38 Bücher zum Weiterlesen
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Schwerpunkt: Berührung
Begreifende Pflege
Begreifende Pflege Eine andere Art von Erfahrungsbericht Auch beim Anreichen von Essen können Pflegende den Patienten die Kontrolle überlassen. Foto: Dagmar Müller
Adelheid von Herz Im Pflegealltag spielt der körperliche Kontakt zwischen Pflegenden und Patienten eine große Rolle: Patienten benötigen Unterstützung bei der Körperpflege, beim Aufstehen und beim Essen. Typische Formulierungen Pflegender wie „Ich habe ihn gewaschen und mobilisiert“ vermitteln den Eindruck, als ob hier alle Aktivitäten – und damit auch alle Kontrolle – von den Pflegenden ausgeht. Adelheid von Herz zeigt anhand von praktischen Selbstversuchen, warum es sich lohnt, Berührung als interaktiven Prozess wahrzunehmen. Lesen und ausprobieren!
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ine Patientin von mir, Frau S., fühlt sich unsicher beim Aufstehen von der Bettkante und bittet mich um Unterstützung. Es gibt für mich viele Möglichkeiten, diese Unterstützung zu gestalten. Entscheidend für meine Wahl sind die Ideen, die mich in dieser Situation leiten. Der Patientin Frau S. geht es nicht anders, auch sie hat die Wahl, auch sie hat Ideen.
Ich stelle Frau S. meine Arme zum Abstützen zur Verfügung. Sie nimmt mit einer Hand Kontakt zu einem meiner Arme auf, sucht und tastet aber gleichzeitig mit der anderen Hand ihre Umgebung ab. Ich ziehe mit meinem freien Arm einen Lehnstuhl heran. Frau S. nimmt Kontakt mit dem stabilen Gegenstand auf, stützt sich mit einer Hand auf die Armlehne, mit der anderen greift sie die Rückenlehne, sie verlagert ihr Körpergewicht in kleinen Schritten vom Becken auf ihre Füße und begibt sich so in den Stand. Frau S. hat sich von der unterstützenden menschlichen Berührung distanziert und Kontakt zu einem unbelebten stabilen Gegenstand aufgenommen, um sicherer aufstehen zu können. Mein Unterstützungsanteil bestand darin, diesen stabilen Gegenstand erreichbar zu machen.
Kontakt herstellen Worin der Unterschied besteht zwischen dem Kontakt zu einem lebenden Organismus und dem Dr. med. Mabuse 223 · September / Oktober 2016
Begreifende Pflege
Pflegende müssen häufig unter Rahmenbedingungen arbeiten, in denen unberechenbare Reaktionen von Patienten als Risiko wahrgenommen werden. In ihrer Handlungsnot kommt es vor, dass Pflegende die Kontrolle über die Pflegesituation vollständig übernehmen: Sie vollziehen in vorgegebener Zeit die Pflegeaktivitäten am Patienten. Dessen Reaktionen drohen dabei den Vollzug zu behindern und werden als Störung bewertet: „der Patient wehrt sich“, „arbeitet dagegen“, „ist zu langsam“, „macht nicht mit“ und schließlich „macht sich steif“. Eine hohe Muskelspannung aufzubauen, ist als „Totstellreflex“ eine bewährte Schutz- und Abwehrreaktion bei einem als Angriff wahrgenommenen Kontakt und damit eine kompetente Reaktion des Patienten, wenn Kampf und Flucht nicht mehr möglich sind. Der Patient macht sich durch seine Muskelspannung fest, ähnlich einem Gegenstand, und ist alsdann für Pflegende berechenbarer. Sowohl Patient als auch Pflegende haben so wieder – durch die beidseits hohe Muskelanspannung allerdings schmerzhafte – Kontrolle über ihre Interaktion. Eine positive Erkenntnis, die ich aus dieser Erfahrung dennoch schöpfen kann, ist: Jede Reaktion eines anderen Menschen auf meine Kontaktaufnahme kann ich als Kompetenz be- und aufgreifen. Es liegt an meiner Bereitschaft zur Aufmerksamkeit, aber auch an der wertschätzenden Haltung des Teams, in dem ich arbeite. Wertschätzung kann in diesem Sinne bedeuten, dem Patienten auch im hektischen Pflegealltag so viel Kontrolle wie möglich über seine Situation zu lassen, Dr. med. Mabuse 223 · September / Oktober 2016
Arbeiten Pflegende in einem Team, das die gemeinsame Haltung leben möchte, andere Menschen als lebende und damit unberechenbare Organismen wertzuschätzen, bedeutet das unter anderem, dass sie sich aktiv mit der Kunst auseinandersetzen müssen, dem Patienten weitestgehend die Kontrolle zu überlassen. Das ist eine Entscheidung, die unter die Haut geht. Um Ihnen das jetzt begreifbar zu machen, liebe Leserin, lieber Leser, gebe ich Ihnen einige Anregungen, mit denen Sie Ihre eigenen Erfahrungen im Kontakt zu einem Partner erforschen können. Sie können sich dabei entscheiden, ob Sie während der vergleichenden Erfahrungen mit Ihrem Partner darüber reden wollen oder erst anschließend. Beides hat Einfluss auf Ihre Aufmerksamkeit für die Wahrnehmung von Details. Stellen Sie sich auf ein Bein und prüfen Sie eine Weile Ihre Balance in dieser Position. Dann bietet Ihnen Ihr Partner eine Berührung an, um Sie zu stabilisieren. Ihr Partner erprobt Variationen der Berührung, mit einer, mit zwei Händen, an unterschiedlichen Körperteilen. Lassen Sie sich Zeit, um die Wirkung der Berührungen auf Ihre Körperspannung wahrzunehmen. Dann stellen Sie sich kurz auf beide Beine und lockern Ihre Muskulatur. Gehen Sie wieder in den Ein-BeinStand. Jetzt werden Sie selbst aktiv: Nutzen Sie den Körper Ihres Partners, um sich zu stabilisieren. Geben Sie ihm Anweisungen, wie er sich dafür positionieren soll. Prüfen Sie die Wirkung des Kontaktes auf Ihre Körperspannung. Lösen Sie den Kontakt zu Ihrem Partner. Stabilisieren Sie sich jetzt im Vergleich durch den Kontakt zu einem stabilen Gegenstand. Prüfen Sie die Wirkung auf Ihre Körperspannung. Gehen Sie diese Vergleichserfahrungen auch im Rollentausch durch. Sichern Sie sich Ihre Erfahrungen durch kurze Notizen über Ihre Wahrnehmungen. Tauschen Sie sich anschließend mit Ihrem Partner über Ihre Erfahrungen aus. Vertrauen Sie Ihrem Körper, lassen Sie sich nichts in Ihren Körper reinreden.
Selbstwirksamkeit erfahren Eine zweite Erfahrung, die ich Ihnen über den Selbstversuch zugänglich machen möchte, betrifft das Anreichen von Flüs-
2014, 160 S., ISBN 9783910095977, EUR 17,40
Was bedeutet „Kontrolle haben“?
In diesem Buch geht es um die vielen Fragen, die Kinder mit Beeinträchtigung ihrer Umwelt mit ihren Verhaltensweisen stellen, sowie die Versuche, sie zu beantworten. Ursula Büker wendet basale Förderprinzipien an, nimmt den Körper und seine basalen Bedürfnisse ernst, sieht Verhalten und Körperlichkeit in engem Zusammenhang.
2015, 280 S., ISBN 978-3-910095-98-4, EUR 18,90
Der Patient als Gegenstand des An-Griffs
ohne damit meine Kontrolle über mich zu gefährden.
Dieses Konzept ist zum bekanntesten in der Arbeit mit sehr schwer und mehrfach beeinträchtigten Menschen im deutschsprachigen Raum geworden. Schon lange wird es angewandt, bei Menschen mit Behinderungen, bei schwer erkrankten Personen, in Schulen, im Hospiz, in der Frühförderung, bei der Sterbebegleitung. Neben Kindern und Jugendlichen auch verstärkt bei erwachsenen Menschen.
2013, 265 S., ISBN 9783910095892, EUR 17,40
zu einem stabilen Gegenstand, musste ich mir selbst erst bewusst machen. Stellen Sie sich vor, Sie stehen in der U-Bahn oder im Bus. Halten Sie sich lieber an der Griffstange fest oder an einer anderen Person? Bei der Griffstange weiß ich, sie bleibt stabil und ist damit berechenbar. Fasse ich hingegen einen Menschen an, weiß ich vorher nicht, wie der reagiert, er ist nicht berechenbar. Fasst dieser andere Mensch von sich aus aktiv mich an, wird es noch unübersichtlicher. Jetzt muss ich wortwörtlich auf alles „gefasst“ sein: Was will der von mir? Was macht der jetzt mit mir? Die Aussicht, die Kontrolle über den eigenen Körper zu verlieren, macht den meisten Menschen Angst.
Schwerpunkt: Berührung
Der Alltag von Menschen mit schweren Behinderungen ist vor allem Pflege-Alltag. Das Buch gibt einen umfassenden Überblick über unterschiedliche Bereiche der Pflege, beschäftigt sich jedoch auch mit pädagogischen und ethischen Fragestellungen des Themenbereichs. Es gliedert sich in einen einleitenden theoretischen Teil und zahlreiche Beispiele aus der Praxis.
www.bvkm.de/verlag
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Berühren berührt.
Weiterbildung zum/zur Praxisbegleiter/in für BASALE STIMULATION® in der Pflege Beginn: 23. Oktober 2017 in Hamburg Wer sich noch in 2016 anmeldet, erhält 200,– € Frühbucherrabatt. Leitung Michael Goßen, Michaela Friedhoff, Ulla Goßen, Marianne Pertzborn und weitere Referenten/innen
Alle Infos unter: www.albertinen.de/ basale
Ihre Ansprechpartnerin: Petra Roepert Tel.: 040 55 81-1776 akademie@albertinen.de
sigkeit oder Nahrung. Zwei verschiedene Arten des Anreichens können die unterschiedlichen Qualitäten dieser Pflegeaktivität erfahrbar machen. Die Zielsetzung ist, dem Unterstützten die Kontrolle über das Anreichen zu überlassen. Er soll entscheiden, ob und wie viel er trinken will. Bitten Sie einen Partner um Unterstützung Ihres Erfahrungslernens. Nehmen Sie sich ein mit Wasser gefülltes Glas und setzen Sie sich nebeneinander. Ihr Partner schließt die Augen. Stellen Sie sich vor, dass Sie taub sind. Mit anderen Worten: Halten Sie beide mal den Mund. So können Sie sich besser konzentrieren. Stellen Sie sich vor, Ihr blinder/tauber Partner ist zu schwach, um das Glas allein zu halten. Sie reichen daher hintereinander auf zwei unterschiedliche Arten das Wasser an. Beide Partner achten jeweils darauf, welche Unterschiede sie dabei erfahren: Reichen Sie zunächst zwei/drei Schlucke Wasser an, ohne dass Ihr Partner Kontakt zu Ihrem Arm/Ihrer Hand hat. Anschließend führen Sie eine Hand des zu Unterstützenden an Ihren anreichenden Arm, sodass ein Hand-Hand- beziehungsweise ein Hand-Arm-Kontakt zwischen Ihnen hergestellt wird. Reichen Sie wieder zwei/drei Schlucke Wasser an. Stellen Sie das Glas ab. Ihr Partner öffnet die Augen. Tauschen Sie sich aus, welche Unterschiede Sie in den beiden Arten des Anreichens erfahren haben. Führen Sie diese Versuchsanordnung mit vertauschten Rollen durch. Möglicherweise haben Sie jetzt eine Erfahrung gemacht, die sich in etwa so zusammenfassen lässt: Hat der Unterstützte Handkontakt zur anreichenden Hand, so kann er diese kontrollieren und durch Druck- und Zugimpulse steuern. Er kann dabei Folgendes beeinflussen: die nonverbale Information, ob er etwas angereicht bekommen möchte oder nicht; die Geschwindigkeit des Anreichens; die Richtung des Angereichten (etwas höher, tiefer, links, rechts); die Menge des Angereichten; die Vorbereitung seiner Mund-/Schluckanatomie sowie seine aktive Schluckmotorik. Das Anreichen wird nicht unbedingt länger dauern als ohne Kontakt, vielleicht sogar schneller gehen. Sie werden aber die Gefahr einer Aspiration verringern, da der Unterstützte mehr Kontrolle über die zugeführte Portion und seine Schluckmotorik hat. Außerdem werden das Selbstwertgefühl und das Vertrauensverhältnis gestärkt, weil der Unterstützte die Erfah-
rung macht, dass seine Kontrolle über die Situation wertgeschätzt wird. Sie ermöglichen dem so Unterstützten eine Erfahrung seiner Selbstwirksamkeit. Schon das allein ist eine heilsame Erfahrung, unabhängig von dem aktuellen oder erwartbaren Status der Organfunktionen.
Hand halten – aber wie? Ich arbeite in der palliativen Pflege. Es gibt als Sinnbild für diesen Pflegebereich einen ikonografischen Standard: die gehaltene Hand. Unten liegt in der Regel eine faltige Hand, auf deren Handrücken sich eine deutlich faltenärmere Hand abgelegt hat. Das Bild soll wohl signalisieren: „Ich halte dich fest“ oder „Du bist nicht allein“. Mich ängstigt dieses Bild: Welche Chance hat die – vermutlich sehr geschwächte – faltige Hand, auf diese Berührung zu reagieren, wenn eine Last auf ihrem Handrücken ruht? Glücklicherweise gibt es auch einige andere Fotos, auf denen die schwache Hand mit ihrer Handinnenfläche auf der Handinnenfläche einer Kontaktperson liegt, vielleicht sogar auf deren Unterarm-Innenseite. Erproben Sie mit einem Partner diese Kontaktanordnungen und Ihre Möglichkeiten, aktive Reaktionen auf den Kontakt zu entwickeln. Sammeln Sie Vergleichserfahrungen über Möglichkeiten wertschätzenden berührenden Kontakts, der Interesse zeigt, dem Berührten die Kontrolle über die Interaktion zu geben. Danken Sie Ihren Erfahrungspartnern für die angebotenen Möglichkeiten begreifenden Lernens. Sie werden Auswirkungen auf Ihrer beider Selbstverständnis erfahren. Frau S. hat in der zu Beginn beschriebenen Situation gewählt und von der menschlichen Berührung Abstand genommen. Es kann ja sein, dass sie meiner Berührung nicht vertraut hat. Das muss sie auch nicht. Entscheidend ist, dass sie den Wahrnehmungen ihres eigenen Körpers, dass sie sich selbst vertraut. ■
Wovon können Sie Ihre Finger nicht lassen? „Von sich bewegendem Wasser, Moos und Strandgut.“
Adelheid von Herz geb. 1954, ist Krankenschwester, Kinaesthetics-Trainerin und Praxisanleiterin für Kinaesthetics in der stationären palliativen Pflege in Frankfurt am Main. avonherz@gmx.de Dr. med. Mabuse 223 · September / Oktober 2016
Buchbesprechungen
Marietta Meier
Spannungsherde Psychochirurgie nach dem Zweiten Weltkrieg
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sychochirurgische Eingriffe sind Eingriffe am Gehirn, die aufgrund einer psychiatrischen Indikation erfolgen. Diese wurden in den 1930er Jahren entwickelt und verbreiteten sich trotz massiver Kritik in den 1940er Jahren. Als Wirkung der Psychochirurgie beobachtete man eine Regulierung der „affektiven Spannung“, oder schlichter formuliert, eine Beruhigung, wenn PatientInnen vorher aggressiv oder erregt gewesen waren. Als größte Nebenwirkung zeigte sich bei den operierten Menschen eine Veränderung der Persönlichkeit. Der genaue Wirkungsmechanismus psychochirurgischer Therapien blieb jedoch unklar. Das Buch von Marietta Meier ist die überarbeitete Habilitationsschrift, die 2012 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich angenommen wurde. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema erfolgt mit einem kulturgeschichtlichen Ansatz und fragt nach dem Verhalten der verschiedenen Akteure. Methodisch nutzt die Autorin dabei drei unterschiedliche Vorgehensweisen. Zunächst untersucht sie die Interaktionsprozesse zwischen den Bereichen Wissenschaft und Gesellschaft und analysiert, wie Wissen zirkuliert und sich dadurch verändert. Daneben nimmt sie unterschiedliche Perspektiven ein, indem sie mikroanalytisch einzelne Kliniken und Fälle untersucht, regionale Schwerpunkte setzt und makroanalytisch zeitgenössische Diskurse und Publikationen in den Blick nimmt. Dabei wertet die Autorin die Psychochirurgie sowohl quantitativ als auch qualitativ aus. Neben zahlreichen veröffentlichten und unveröffentlichten Texten werden auch 300 Krankenakten aus 16 Kliniken in unterschiedlichen Regionen der Schweiz herangezogen. Mit ihrem multiperspektivischen Ansatz gelingt es der Autorin dabei, ein facettenreiches Bild der Psychochirurgie der Nachkriegszeit zu zeichnen. Marietta Meier schließt aus ihrer Analyse, dass nur bestimmte Bedingungen der Nachkriegsgesellschaft die Psychochirurgie förderten. Diese formuliert sie in vier Thesen: Die erste These geht davon aus, dass in der Nachkriegsgesellschaft Dr. med. Mabuse 223 · September / Oktober 2016
ein Persönlichkeitskonzept vorherrschte, dass „die Persönlichkeit als evolutionär wachsende, aber formbare Größe verstand“. Die Persönlichkeit ließe sich daher durch eine Operation schnell verändern. Diese Idee fügte sich auch in die zunehmende Technisierung der Gesellschaft ein. Als zweite These formuliert die Autorin eine bestimmte Vorstellung vom Subjekt, dass nämlich „die soziale Anpassung eines Subjekts höher als dessen Individualität“ gewertet wurde. Man ging davon aus, dass auch die PatientInnen ein Interesse daran hatten, besser in ihrem sozialen Umfeld zurechtzukommen. Als dritte These thematisiert die Autorin den Zweiten Weltkrieg als Ursache für einen Wandel der Wahrnehmung von Individuum und Gesellschaft. Der Krieg war somit ein Ereignis, „das die soziale Anpassung des Einzelnen verstärkte“. Jedoch geht die Autorin mit ihrer vierten These auch von einer „diskontinuierlichen Dynamik soziokulturellen Wandels“ aus, der sich darin zeigte, dass bereits in den 1950er Jahren die Gesellschaftsordnung infrage gestellt wurde. Die Behandlungsmethoden der Psychochirurgie wurden zwar in den 1950er Jahren innerhalb der Psychiatrie kritisiert, jedoch weiter angewandt und erst in den 1970er Jahren infolge konkreter Psychiatriereformen und gesellschaftlicher Protestbewegungen beendet. Das Buch mit seinen knapp 400 Seiten und einem beeindruckenden Quellenverzeichnis sowie einer Liste aktueller Literatur lässt sich gut lesen, erfordert jedoch aufgrund der verschiedenen Ansätze der Analyse eine hohe Konzentration. Unterstützt wird die Lektüre durch eine überlegte Gliederung und das übersichtlich gestaltete Inhaltsverzeichnis. Mathilde Hackmann, wiss. Mitarbeiterin an der Ev. Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie, Hamburg
Wallstein Verlag, Göttingen 2015, 392 Seiten, 42 Euro
Psychosozial-Verlag Thomas Harms (Hg.)
Körperpsychotherapie mit Säuglingen und Eltern Grundlagen und Praxis
455 Seiten • Broschur • € 39,90 ISBN 978-3-8379-2389-6 Dieser Sammelband vermittelt einen Überblick über die Strömungen, Hintergründe und Einsatzbereiche der körperorientierten ElternSäuglings-Kleinkind-Beratung und -Psychotherapie. Praxisnah berichten international bekannte Fachleute, wie sie Eltern und Babys dabei unterstützen, früh erfahrene Verletzungen und Bindungstraumata zu verarbeiten.
Thomas Harms
Emotionelle Erste Hilfe Bindungsförderung – Krisenintervention – Eltern-Baby-Therapie
270 Seiten • Broschur • € 22,90 ISBN 978-3-8379-2615-6 Thomas Harms beschreibt hier einen Weg, wie Eltern in schwierigen Zeiten nach der Geburt das emotionale Band zu ihren KinLMZV _QMLMZ Å VLMV ]VL [\qZSMV S VVMV Er gibt Antworten auf die Frage, wie Eltern und Säuglingen geholfen werden kann, wenn belastende Erfahrungen in dieser Zeit den Aufbau eines liebevollen Miteinanders verhindern. Walltorstr. 10 · 35390 Gießen Tel. 0641-969978-18 Fax 0641-969978-19 bestellung@psychosozial-verlag.de www.psychosozial-verlag.de
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Buchbesprechungen
Volker Hess, Laura Hottenrott, Peter Steinkamp
Testen im Osten DDR-Arzneimittelstudien im Auftrag westlicher Pharmaindustrie, 1964–1990
I
m Frühsommer 2013 erregte ein Artikel des Magazins Spiegel, in dem über Medikamententests bundesdeutscher Pharmafirmen in der DDR berichtet wurde, große mediale Aufmerksamkeit. Die AutorInnen des Buchs „Testen im Osten“ haben aus medizinhistorischer Perspektive diese Praxis näher betrachtet. Um das zentrale Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Die DDR war keineswegs eine billige „Teststrecke“ für Menschenversuche, die in der Bundesrepublik nicht hätten durchgeführt werden können. Hess, Hottenrott und Steinkamp zeigen plausibel auf, dass klinische Auftragsstudien in dieser Zeit kein deutsch-deutsches, sondern vielmehr ein globales Phänomen waren. So testeten die großen Pharmaunternehmen ihre Medikamente in unterschiedlichen Ländern – unabhängig davon, ob diese kapitalistisch oder sozialistisch geprägt waren. Davon abgesehen bot die DDR aber auch spezifische Vorteile: Neben der „preußischen Mentalität“, die den Auftraggebern eine zuverlässige Durchführung gewährleistete, bot die DDR den Pharmafirmen ein gut organisiertes und zentralisiertes Krankenhauswesen. Während man sich in der BRD an die einzelnen Kliniken wenden musste und es keinesfalls gesichert war, dass genügend Teilnehmer für die Studie zusammenkamen, wandte man sich in der DDR als Auftraggeber direkt an das Beratungsbüro für Arzneimittel
und medizintechnische Erzeugnisse (Import) im Ministerium für Gesundheitswesen (BBA), welches als „Makler“ zwischen Pharmafirma und Prüfeinrichtung auftrat. Diese „Schnittstelle“ garantierte den Pharmafirmen eine schnelle und zuverlässige Durchführung ihrer Studie und die Behörden der DDR konnten dadurch zumindest ein paar Devisen in die klammen Kassen spülen. Dass die Zusammenarbeit für beide Seiten gut funktionierte, belegt die hohe Anzahl von 321 Studien, die durch die AutorInnen für die Zeit von 1964 bis 1990 ermittelt werden konnten. Da klinische Auftragsstudien, besonders im deutschen Sprachraum, bisweilen kaum bis gar nicht erforscht sind, kann die vorliegende Studie als Pionierarbeit auf diesem Gebiet gelten. Daher werden auch zu Beginn die Grundlagen und Voraussetzungen für die klinische Auftragsforschung näher dargestellt. Insbesondere die ausführliche Beschreibung der Quellenbasis ist erwähnenswert. Neben Zeitzeugeninterviews und Akten der Behörden, die in staatlichen Archiven lagern, gelang es den AutorInnen, Zugang zu für die Historiker oftmals verschlossenen Firmenarchiven zu erhalten und deren Aufzeichnungen zu nutzen. Ein Manko, mit dem sie selbst offen umgehen, ist die fehlende Patientenperspektive, die sich durch nicht vorhandene Selbstzeugnisse ergibt. Allerdings mutet es doch etwas merkwürdig an, wenn ein Arzt, der eben als Zeitzeuge zitiert wird, den Patienten als potenziellen Zeitzeugen die Fähigkeit abspricht, nach 30 Jahren Auskunft über die Vergangenheit geben zu können. Daran anschließend zeigen die AutorInnen am Beispiel des Antidepressivums
Levoprotilin anschaulich, wie es zwischen der Firma Ciba-Geigy und den Behörden der DDR zur Durchführung einer klinischen Studie kam. Neben Fragen der Patientenaufklärung und der Aufsicht über die Studie gehen sie ebenso auf die unterschiedlichen Motive der Akteure zur Teilnahme an solchen Studien näher ein. Auch der Überwachung der an den Studien beteiligten Personen durch das Ministerium für Staatssicherheit widmen sie sich. Anknüpfungspunkte für weitere Arbeiten in diesem Forschungsfeld liefert die vorliegende Studie nicht nur durch ihre zahlreichen, inhaltlichen Erkenntnisse, sondern auch durch den umfangreichen Anhang. Dort werden tabellarisch alle Hinweise auf klinische Auftragsstudien in der DDR erfasst und deren archivalischer Fundort genau angegeben. Dies stellt für künftige HistorikerInnen, die sich mit diesem Thema beschäftigen werden, nicht nur eine Fundgrube dar, sondern es wird ihnen auch viel Arbeit erspart. Pierre Pfütsch, wiss. Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart
be.bra Verlag, Berlin 2016, 272 Seiten, 26 Euro
Ja, ich bin bereit für mein neues Leben!
www.coach-in-magazin.de
Michael Coors, Ralf J. Jox, Jürgen in der Schmitten (Hg.)
Advance Care Planning Von der Patientenverfügung zur gesundheitlichen Vorausplanung
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ie sinnvoll ist es, ein Buch zu kaufen beziehungsweise zu lesen, an dem 32 internationale AutorInnen aus unterschiedlichen Bereichen von Wissenschaft und Praxis über „gesundheitliche Vorausplanung“ berichten: was das bedeutet, warum dieser Ansatz entwickelt worden ist, welche wissenschaftliche Basis vorhanden ist und wo das Konzept bereits in der Praxis funktioniert? Eigentlich schreckt mich eine solche Aufstellung ab. Die didaktisch ausgezeichnete Einführung der Herausgeber hat mich ermutigt, die nahezu vollständige Lektüre dann zu dem Urteil gebracht: unbedingt empfehlenswert! Die Patientenverfügung ist grandios gescheitert. Das ist eine radikale Aussage, die aber belegt wird. Und das ist der Auftakt zur Beschäftigung mit „Advance Care Planning“, wieder kaum übersetzbar, von den Herausgebern wurde „Gesundheitliche Vorausplanung“ gewählt. Es geht um „die Annäherung an das Ideal einer gemeinsamen Entscheidungsfindung für künftige Behandlungsentscheidungen im Falle hypothetischer Krankheitsszenarien, in denen der Betreffende selbst krankheitsbedingt nicht einwilligungsfähig ist und daher die Entscheidung nicht mehr aktuell beeinflussen kann“. Mithilfe von geschulten Gesundheitsfachpersonen (facilitators) wird stufenweise im Gesprächsprozess – möglichst mit den Betroffenen selbst, sonst mit den designierten Vertretern – versucht, Werte, Grundhaltungen und Ziele für denkbare künftige Szenarien herauszufinden und festzuhalten. Diese Facilitators sind typischerweise nicht ÄrztInnen – diese werden aber in einem eigenen Schulungsprogramm in die Welt der gesundheitlichen Vorausplanung einbezogen. Wo gibt es das schon? In den USA („Respecting choices”), in Australien („Respecting Patient Choices“), in Neuseeland („Our Voice”), in Entwicklung auch in Kanada, Großbritannien und Singapur. Berichtet wird auch über ein deutsches Modellprojekt („beizeiten begleiten“). Es zeigt sich, dass es möglich ist, deutlich konkreter als in den PatientenverfügunDr. med. Mabuse 223 · September / Oktober 2016
gen aufzuschreiben, was Menschen tatsächlich wünschen, wenn es eng wird. Der Ansatz ist im Kern revolutionär. Er ist zudem deutlich fokussierter als das heute so beliebte Konzept des Shared decision making, das im Alltag ein Schattendasein führt. Und für wen lohnt die Lektüre? Für alle, die sich in ihrer gesellschaftlichen und beruflichen Rolle mit der Frage beschäftigen, wie es erreicht werden kann, dass aus dem häufig verzweifelten und ratlosen Nachdenken über eine Zukunft mit starken gesundheitlichen Einschränkungen, vor allem am Lebensende, ein kluger und nachdenklicher Prozess wird, welcher die Voraussetzungen schafft, Ängste und Bedürfnisse in ergebnisoffenen und wiederholten Gesprächen herauszufinden – und einzukreisen, welche Unterstützung sich Menschen dann vom professionellen Gesundheitssystem wünschen und welche Maßnahmen (eher) nicht. Das klingt jetzt noch sehr vage. Könnte aber heißen, dass jedes Krankenhaus, jedes Pflegeheim, jeder ambulante Pflegedienst ein Exemplar des Buchs ordert, hineinschaut und überlegt, Abschnitte in der Fortbildung einzusetzen. Und natürlich alle einschlägigen Aus- und Fortbildungsinstitutionen. Ich könnte diese Reihe ziemlich weit fortsetzen. Das Buch hilft nämlich, noch einmal ganz anders in beliebte Debatten des Musters „Zu Hause sterben ist Ziel Nr. 1“ oder „Ich will nicht an Apparaten hängen“ einzusteigen. Es ist ein enorm politisches Buch, weil es zeigt, dass die Voraussetzungen für das Umschalten auf „gesundheitliche Vorausplanung“ ziemlich groß sind. Ob, wie die Herausgeber hoffen, das neue Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung diesen Prozess fördert? Es ist müßig, darüber zu spekulieren. Ohne erhebliche Investitionen in Personal und Fortbildung jedenfalls kann es nicht gehen. Und wie immer muss ein solcher Neubeginn vernünftig wissenschaftlich begleitet werden. Dass das lohnt, beweist die Lektüre des Buchs. Norbert Schmacke, Bremen
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2015, 363 Seiten, 29,99 Euro
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Buchbesprechungen
Andrea Trost, Stefan Rogge
Umgang mit Menschen im Maßregelvollzug Basiswissen
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er Anspruch, den die Pflegeexpertin Andrea Trost und der Pflegeentwickler Stefan Rogge mit dem Buch „Umgang mit Menschen im Maßregelvollzug“ anmelden, ist so hoch, dass ihm erst einmal entsprochen werden muss. Die geweckte Erwartung des Lesers ist groß. Trost und Rogge enttäuschen nicht. Sie beschreiben den State of the Art der psychiatrischen Pflege in der Forensik. Und sie erreichen noch mehr: Sie zeigen, dass die psychiatrisch Pflegenden in diesem spezifischen Arbeitsfeld nachhaltig Hausaufgaben zu machen haben. Kern ihres praxisorientierten und gut lesbaren Buchs ist die Beschäftigung mit verschiedenen recovery-orientierten Konzepten. So stellen sie unter anderem Möglichkeiten vor, wie das „Gezeitenmodell“ (Barker & Buchanan-Barker) im forensisch-psychiatrischen Alltag umgesetzt werden kann. Sie erklären: „Die Erfahrungen der Betroffenen im individuellen Umgang mit ihrer Erkrankung und deren Integration in den Lebensalltag waren die Grundlage für das Konzept.“ An einem Praxisbeispiel erläutern sie, wie der fokussierte Blick des Betroffenen auf eine Krankheitszuschreibung umzukehren versucht wird. Der untergebrachte Mensch wird er-
mutigt, seine Geschichte mit seinen Worten zu erzählen und wieder zurückzugewinnen, was in seiner Biografie vor der psychiatrischen Klinik geschehen ist. Überhaupt liegt die Einbeziehung zeitgemäßer Konzepte in die psychiatrische Pflege im Maßregelvollzug Trost und Rogge am Herzen. Sie zeigen, wie die Adherence-Therapie auf die Forensik übertragen werden kann. Sie unterstreichen, wie wichtig „Experienced Involvement“, also die Einbeziehung psychiatrie-erfahrener Menschen in die konkrete stationäre Arbeit, ist. Es könne ein Paradigmenwechsel vollzogen werden, „indem Mitarbeitende von den Betroffenen aus erster Hand erfahren, was ihnen gutgetan hat oder noch immer guttut, was sie sich im Umgang mit Professionellen wünschen“. Insofern gehen Trost und Rogge deutlich über die Gegenwart hinaus, deuten an, über welche Hindernisse psychiatrisch Pflegende im Maßregelvollzug in den kommenden Jahren noch springen müssen, um die Professionalisierung der psychiatrischen Pflege voranzutreiben. Über sämtliche angesprochenen Themen wie Milieu- und Beziehungsgestaltung hinweg werden die Spezifika der psychiatrischen Pflege im forensischen Umfeld deutlich. Schließlich scheint es mehr als notwendig, die eigene Haltung im Umgang mit Menschen zu reflektieren, die gesellschaftlich eher unerwünscht sind. Eine positive, konstruktive Grundhaltung gelte es zu entwickeln, so Trost und Rogge.
Dies muss im Spannungsfeld zwischen einer gewünschten Humanität, einem gesellschaftlichen Auftrag und einer oft systemimmanenten Lebendigkeit gelingen. Pragmatisch blicken die beiden Pflegenden Trost und Rogge auf Phänomene, die sie wahrscheinlich selbst erleben oder erlebt haben. Die Haltung von Mitarbeitenden gegenüber den untergebrachten Menschen zeige sich darin, wie in Dienstübergaben über sie geredet werde oder wie sie in Entscheidungsprozesse im stationären Alltag eingebunden seien. Ein Ausdruck der persönlichen Haltung sei auch das Sich-Verstecken hinter institutionellen Regeln. An Deutlichkeit mangelt es dem Buch nicht. Es gehört in das Bücherregal eines jeden, der gegenwärtig im Maßregelvollzug pflegerisch, aber auch in anderen psychiatrischen Professionen tätig ist. Gespannt sein kann man, was passiert, wenn Trost und Rogge die Entwicklungen der nächsten Jahre begleiten und den Stationsschlüssel mit dem Schreibtisch tauschen. Christoph Müller, Fachautor und Krankenpfleger auf einer forensischen Station, Bornheim
Psychiatrie Verlag, Köln 2016, 160 Seiten, 17,95 Euro
Buchbesprechungen
Alina Bronsky, Denise Wilk
Die Abschaffung der Mutter Kontrolliert, manipuliert und abkassiert – warum es so nicht weitergehen darf
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chon lange nicht mehr hat mich die Lektüre eines (Sach)Buches mit solch gemischten Gefühlen zurückgelassen. Zwei Frauen, Schriftstellerin die eine, Doula die andere, wagen sich an eine Bestandsaufnahme, wie es um das Muttersein in Deutschland bestellt ist. Das Inhaltsverzeichnis verspricht Interessantes: Themen wie assistierte Fortpflanzung, Geburt, Stillen, Wochenbett, Kinderbetreuung und nicht zuletzt die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf werden diskutiert. Tenor aller Kapitel ist der Wunsch der Autorinnen, als Mutter wertgeschätzt und nicht nur als Produktionsstätte (bei künstlicher Befruchtung oder Leihmutterschaft), als risikobehaftetes Wesen (während der Schwangerschaft) oder als lästiges Übel (in Kitas und Schulen) gesehen zu werden. Das Kapitel zu Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett hat mir gut gefallen. Kritisch beleuchten Bronsky und Wilk, wie Frauen entmündigt werden, keine Unterstützung erfahren. Sie prangern an, dass Schwangerschaft per se als risikobehafteter Zustand gesehen wird: „Nie vorher und nie nachher sehen die meisten deutschen Frauen eine Arztpraxis so häufig von innen wie in ihrer Schwangerschaft.“ Im Kapitel über die Geburt machen die Autorinnen deutlich, wie auch diese „körperliche und psychische Grenzsituation“ überwacht und manipuliert wird und so ihre Normalität verliert. Auch mit dem zurzeit sehr kontrovers diskutierten Thema Stillen setzen sie sich auseinander: „Ein Kind an der Brust zu ernähren gehört genauso zu uns Menschen wie das Laufen auf zwei Beinen und das Atmen mit Hilfe der Lungen.“ Sie plädieren für das Stillen in der Öffentlichkeit und prangern die Doppelmoral unserer Gesellschaft an, in der Facebook-Bilder von stillenden Frauen gelöscht werden und gleichzeitig kaum eine Werbung ohne (halb)nackte Frauenkörper auskommt. Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit Kinderbetreuung, Vätern und der Vereinbarkeit von Kindern und Beruf. So oft ich beim Lesen der ersten Hälfte des Buchs genickt habe, umso mehr Bauchschmerzen bereitet mir der zweite Dr. med. Mabuse 223 · September / Oktober 2016
Teil. Die Autorinnen werden nicht müde zu betonen, dass sie kein Lebensmodell grundsätzlich kritisieren oder gar verteufeln wollen und doch entsteht gerade dieser Eindruck bei mir. Ich kann nicht nachvollziehen, warum sie das Engagement von Vätern so kritisch sehen. Sicher gibt es immer Vertreter, die es übertreiben, die mit der Durchsetzung ihrer Interessen ihren Kindern mehr schaden als nutzen, doch mir scheinen das Einzelfälle zu sein, und beim Lesen des Kapitels „Der Vater als bessere Mutter“ werde ich auch nicht vom Gegenteil überzeugt. Ähnlich ergeht es mir bei den Ausführungen zur Fremdbetreuung von Kindern. Das Angebot ist hier bunt und vielfältig, dessen bin ich mir bewusst. Doch warum werde ich den Eindruck nicht los, dass Bronsky und Wilk hier eben doch missionieren wollen und ein SchwarzWeiß-Bild entwerfen? Sie betonen, dass es ihnen nicht darum geht, „Krippen und Kindergärten grundsätzlich zu dämonisieren“. Doch das gepaart mit dem Hinweis auf dem Klappentext, dass beide insgesamt zehn Kinder haben, lässt mich vermuten, dass es für sie eben doch nur den einen richtigen Weg gibt, seine Kinder groß zu ziehen. Im letzten Kapitel schreiben die beiden von ihrer „Utopie: Wie wir mit Kindern leben wollen“. Viele ihrer Wünsche sind auch meine: eine grundsätzlich positive Resonanz gegenüber Familien, ein sorgsamer Umgang mit Reproduktionsmedizin, Respekt gegenüber Schwangeren und Stärkung ihrer Eigenverantwortung sowie Wahlfreiheit des Geburtsortes. Das von den Autorinnen ausgemachte Eltern-Bashing nehme ich nicht so wahr und ich kann auch nicht unterschreiben, dass „Mütter in Deutschland gerade in den letzten Jahren deutlich an Stärke, Ansehen und Respekt eingebüßt“ haben. Und wenn doch, dann sollten wir uns meiner Meinung nach alle an einen Tisch setzen und nicht einem gut gemeinten Buch den reißerischen Untertitel „Kontrolliert, manipuliert und abkassiert – warum es nicht so weitergehen darf“ verpassen. Katharina Kerlen-Petri, Hebamme, Berlin
DVA, München 2016, 256 Seiten, 17,99 Euro
Hans-Ulrich Dallmann, Andrea Schiff
Ethische Orientierung in der Pflege
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ie Autoren, beide Hochschulprofessoren im Bereich des Gesundheitsund Sozialwesens, Andrea Schiff für Pflegewissenschaft und Hans-Ulrich Dallmann für Ethik, stellen mit ihrem Buch grundlegende ethische Aspekte der Pflege vor. Durch das AutorInnen-Duo entstand ein leicht verständliches, gut gegliedertes und perspektivreiches Studien- oder Lesebuch. Es nimmt Anleihen aus dem Studienbuch „Ethik in der Sozialen Arbeit“ von HansUlrich Dallmann und Fritz-Rüdiger Volz (2013) auf. Die einzelnen Kapitel stehen für sich und stellen ein Ganzes vor. Voraussetzungen pflegerischen Handelns werden in den ersten fünf Kapiteln (Die guten Gründe – Sich in der Pflege orientieren; Der gute Mensch – Anthropologische Aspekte für die Ethik der Pflege; Gesundheit und Krankheit; Das gute Leben und Sterben; Die guten Pflegenden) erörtert. Die gute Patientin, Bewohnerin sowie das gute pflegerische Handeln stehen in den Kapiteln 6 und 7 im Zentrum des Geschehens. Flankiert wird diese Erörterung von den Rahmenbedingungen pflegerischen Handelns in den Kapiteln 8 bis 12 (Das gute Team; Die gute Einrichtung; Die gute Profession, Die gute Pflegewissenschaft und -forschung; Die „gute Policey“). Zum Abschluss thematisieren die AutorInnen im Kapitel 13 die gute Urteilsbildung. Die inhaltliche Breite des gesamten Buches führt nicht zur Verflachung der Aussagen in den einzelnen Kapiteln. Diese stellen den Dreh- und Angelpunkt dar, indem der Leser sich die Frage stellen kann: Was ist mir wichtig und woran orientiere ich mich? Was leitet mein Handeln? Oder, wovon wird mein Handeln beeinflusst? Dallmann und Schiff fordern die LeserInnen mithin auf, sich mit sich selbst über den Text auseinanderzusetzen. Sie geben keine Rezepte, sondern Denkanstöße, ja, wollen sogar zur kritischen Reflexion anregen. Es geht ihnen folglich darum, dass die LeserInnen ihre Standpunkte klären und ihre Orientierungspunkte überprüfen (theologisch: Was ist mir heilig? ethisch: Was ist mit guten Gründen anzustreben?). Mit dem Spruch von Immanuel Kant „sapere audere“, „Habe
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Buchbesprechungen
Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, geht es folglich um ein „sich selbst aufklären“, wobei das Buch in diesem Sinne als Medium dient. Exemplarisch kann dies an Kapitel 7 – Das gute pflegerische Handeln – verdeutlicht werden. Dieses Handeln steht im Zusammenhang mit den sozialpolitischen Vorgaben (Kapitel 12), den Bedingungen der Einrichtung (Kapitel 9), den Möglichkeiten im Team (Kapitel 8), dem State of the Art-Wissen (Kapitel 11), den Voraussetzungen pflegerischen Handelns (Kapitel 1 bis 5) sowie der Urteilsbildung (Kapitel 13). Pflegende werden hier aufgefordert, ihr Entscheidungshandeln im Kontext fallorientierter Bedürftigkeit zu überprüfen. „Schließlich setzt die Zuschreibung von Verantwortung voraus, dass die Betreffenden auch anders hätten handeln können. Es müssen Alternativen vorgelegen haben“, heißt es. Alternativ werden folgende Entscheidungsgründe angeführt: Handle ich fachwissenschaftlich, paternalistisch, folge ich den Praxisroutinen und/oder handle ich verständigungsorientiert? Kritisch anzumerken ist, dass die Kapitelüberschrift „Die gute Patientin, Bewohnerin“ eine normative Assoziation auslösen kann. Hier hätte man auf das Adjektiv „gute“ verzichten können. Darüber hinaus wären am Ende jedes Kapitels Reflexionsfragen zum Finden eines eigenen Standpunktes und zur Orientierungsbestimmung hilfreich, um den kritischen Reflexionsprozess anzuregen. Das Kapitel 13 ist mit seinen sechs Seiten zur Herausbildung einer kritischen Urteilsfähigkeit, ohne Kontextualisierung und nur mit einem werte-ethischen Ansatz hinterlegt, erweiterungsfähig. Insgesamt ist das Buch von Dallmann und Schiff für Studierende und interessierte LeserInnen sehr empfehlenswert. Es kann sowohl im Ganzen als auch kapitelweise gelesen werden. Es regt die LeserInnen zum Nachdenken, Überdenken und Querdenken der „Ethischen Orientierung in der Pflege“ an. Prof. Dr. Wolfgang M. Heffels, Professor für Ethik und Erziehungswissenschaft an der Kath. Hochschule NRW
Mabuse Verlag, Frankfurt am Main 2016, 157 Seiten, 19,95 Euro
Cornelius Borck
Medizinphilosophie zur Einführung
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ornelius Borck, Direktor des Instituts für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität Lübeck, zieht mit diesem Band eine neue Blickebene ein: Medizinphilosophie will über Medizin reflektieren, das Feld also weder den Ärzten/Medizinerinnen überlassen noch sich auf medizinhistorische oder -ethische Herangehensweisen beschränken, die historische Kontexte bzw. grundlegende Werte und Normen der Medizin betrachten. Seit der Einführung der Medizinethik bzw. des Querschnittsbereichs Geschichte-Theorie-Ethik der Medizin rangeln sich Medizinethikerinnen und Medizinhistoriker um die Zuständigkeit – Medizintheorie führt ein Nischendasein. Auf gut 200 Seiten gelingt Borck ein grandioser Wurf, weil er diesen Auseinandersetzungen nicht folgt. Er wendet sich hingegen den methodischen Grundlagen innerhalb der Medizin sowie den Bedeutungen und dem Wandel grundlegender Begrifflichkeiten zu. Heutzutage ist die Medizin leistungsfähiger denn je, und doch fühlt sich die/der Einzelne immer kränker, mit Diagnosen behaftet, einem System und vielen verschiedenen Konzepten ausgeliefert. Borck überblickt die medizinische und medizinhistorische Reflexion nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch auf der anderen Seite des Atlantiks. Er hat sich tief eingegraben in die Vorstellungen und Folgen von Gesundheit und Kranksein. In seinem Ansatz verfolgt er die von Hans-Jörg Rheinberger geprägte Erkenntnisphilosophie, die historische Bedingungen untersucht und fragt, wie Objekte des Wissens entstehen oder generiert werden. Die Publikation gliedert sich in sechs Teile, wobei drei davon das meiste Gewicht bekommen: die Reflexion darüber, was „Gesundheit“ ist, die Praxeologie, also die Medizin als Handlungswissenschaft und die Frage nach der künftigen Ausrichtung der Medizin. Borck gibt einen Einblick in die Intentionen und Hintergründe der theoretischen Autoren – u.a. Ludwik Fleck, Michel Foucault, Georges Canguilhem und Viktor von Weizsäcker. Die Entstehung einer Krankenhausmedizin, wo nicht mehr der Arzt den Patienten besucht, sondern die Patientin sich für
Diagnose und Therapie in eine Klinik begibt, wird klug und klar vermittelt. In gut nachvollziehbaren Schritten entwickelt der Autor, wie sich die Medizin durch das Bedienen an naturwissenschaftlicher Methodik und die Einführung der Labormedizin zur Biomedizin umformte – auch ein Exkurs über den Menschenversuch in der Medizin fehlt hier nicht. Der Gesundheit stellt Borck eben nicht die Krankheit gegenüber, sondern das Kranksein und bricht damit eine Beharrungstendenz auf, die insbesondere in der deutschen Medizintheorie verbreitet ist. Wir dürfen auch anders denken und andere Begriffe verwenden – und so geht es um Kranksein und Wohlbefinden. Die Kategorisierung von Krankheiten nach Laborparametern führt zu einer biowissenschaftlichen Medizin, in der Symptome und Krankheitswert hinter objektivierbaren Parametern zurückstehen. Im Abschnitt zur Praxeologie reflektiert Borck, wie und unter welchen Grundannahmen Ärzte handeln, welche Formen von Medizin entstehen – als Handlungs- und eben nicht als eine Naturwissenschaft. Er widmet sich vor allem der evidenzbasierten Medizin, bei der der statistische Wirksamkeitsnachweis einer medikalen Handlung oder eines Medikaments im Zentrum steht. Borck demaskiert die zugehörige Terminologie mithilfe seiner philosophischen Werkzeuge. Notwendigerweise klammert er einige Felder aus – so die Psychiatrie und auch alternative medikale Kulturen – nicht jedoch, weil er davon nichts versteht oder nichts hält, sondern weil sie für seine Argumentation hier nicht notwendig sind. Zielpublikum dieses zum Diskutieren und Reflektieren anregenden Buches sind Menschen, die gerne einen anspruchsvollen und dennoch verständlichen Text lesen – eben nicht nur ÄrztInnen, denn mit dem Medizinsystem oder Konzepten von Kranksein und Gesundfühlen kommen wir alle qua unserer Leiblichkeit in Berührung. Dr. Marion Hulverscheidt, Ärztin und Medizinhistorikerin, Kassel
Junius, Hamburg 2016, 232 Seiten, 14,90 Euro Dr. med. Mabuse 223 · September / Oktober 2016