Buchbesprechungen
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Reinhard Schlüter
Leben für eine humane Medizin Alice Ricciardi-von Platen – Psychoanalytikerin und Protokollantin des Nürnberger Ärzteprozesses
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r. med. Alice Ricciardi-von Platen (1910–2008) war Beobachterin und Protokollantin des Nürnberger Ärzteprozesses und veröffentlichte 1948 die bis auf den heutigen Tag brisante Dokumentation „Die Tötung Geisteskranker in Deutschland“. Mit diesem Buch hat sie die Patientenmorde im Rahmen der „Euthanasie“, die sich zwischenzeitlich als das zentrale Verbrechen der deutschen Medizin im Nationalsozialismus herausgestellt haben, zum ersten Mal ans Tageslicht gebracht. (Das Buch ist als Reprint in der 7. Auflage beim Mabuse-Verlag erhältlich.) Der Wissenschaftsjournalist und Publizist Reinhard Schlüter hat nun eine umfassende Biografie über die Psychiaterin und Psychoanalytikerin vorgelegt, die bis zu ihrem Lebensende über den Horror der Nazi-Medizin aufgeklärt und sich kritisch in zeitgenössische medizinethische Debatten eingemischt hat. Dank einer präzisen Recherche unter Einbezug der persönlichen Tagebücher und Korrespondenzen entwirft der Autor ein authentisches, staunenswertes, nahezu 100-jähriges Lebenspanorama, das er geschickt mit
dem jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext verknüpft. Fesselnd schildert Schlüter, wie die Protagonistin in die Untiefen ihrer Zeit geworfen wird und sich dennoch ihr Leben lang einen aufrechten Gang bewahrt hat. Es wird eine hellwache Zeugin des 20. Jahrhunderts beschrieben, ein Genie der Freundschaft und eine Freundin der Künste. International-demokratisch-republikanisch gesinnt, war sie eine entschiedene Gegnerin der Nazis, deren „Eugenik“ und Rassenwahn sie verachtete. In ihrem ärztlichen Denken und Handeln stand die vertrauensvolle Beziehung zum Patienten im Mittelpunkt, wobei ihre besondere Zuneigung den „Andersgearteten“, den psychisch kranken und geistig behinderten Menschen, galt. Sie flüchtete im Jahr 1935 als junge Assistenzärztin aus der psychiatrischen Ausbildungsklinik Brandenburg-Görden, als dort Zwangssterilisationen an „Minderwertigen“ durchgeführt wurden. Zwischen 1943 und 1945 rettete sie als Landärztin Patienten vor der Gaskammer, indem sie sie per Attest aus der Klinik zu ihren Angehörigen nach Hause schickte. Als sie erfuhr, dass psychisch kranke und behinderte Patienten von ihren Ärzten massenhaft in den Tod getrieben worden waren, war sie zutiefst empört und bemühte sich seitdem, den Ermordeten ihre Ehre und Würde wieder zurückzugeben. Seit 1948 entfaltete Frau von Platen eine fruchtbare Tätigkeit auf dem Gebiet
der psychoanalytischen Gruppentherapie und etablierte dieses Verfahren als Wegbereiterin in ihrer neuen Heimat Italien, aber auch in ganz Europa. Im Nachkriegsdeutschland vergessen und verdrängt, wurde sie in den 1990er Jahren von einer neuen, jungen Generation wiederentdeckt und erlebte mit ihrer Lebens- und Wirkungsgeschichte eine erfreuliche Renaissance. Bewegend und Augen öffnend ist die Lektüre dieser Biografie, die gleichsam auch zu einem zeitgeschichtlichen, medizinhistorischen und medizinethischen Dokument par excellence geworden ist. Der Stern dieser großen Ärztin und Aufklärerin leuchtet vor dem düsteren Nachthimmel der NS-Medizinverbrechen, für die nicht allein die politischen Instanzen, sondern vorwiegend die Ärzte selbst verantwortlich waren. Dazu hat sich am 23. Mai 2012 in Nürnberg – 65 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozess – der 115. Deutsche Ärztetag in seiner „Nürnberger Erklärung“ bekannt. Helmut Sörgel, Nervenarzt, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Nürnberg
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2012, 261 Seiten, 29,90 Euro
Eva Tillmetz, Peter Themessl
Ulrich Fey
Eltern werden – Partner bleiben
Clowns für Menschen mit Demenz
Ein Überlebenshandbuch für Paare mit Nachwuchs
Das Potenzial einer komischen Kunst. Mit einem Vorwort von Prof. Rolf D. Hirsch
2012, 224 S., 16,90 Euro ISBN 978-3-940529-70-1
Neu im Mabuse-Verlag
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„Das Baby brüllt, was hat es nur?“ – „Meine Mutter kann das besser!“ – „Alles dreht sich nur noch ums Kind!“ So oder ähnlich klingen die Krisenklassiker, die jeder jungen Familie bestens vertraut sind. Doch wie mit ihnen stressfrei umgehen? Eva Tillmetz und Peter Themessl stellen in ihrem Elternratgeber das Zusammenspiel junger Eltern in den Mittelpunkt. Mit ihrem Modell vier typischer Erziehungshaltungen helfen Sie beiden Partnern, die bestmögliche Kooperation im Eltern-Team zu finden. So können diese die Zeit genießen: als junge Eltern, jeder für sich und als Paar zusammen.
2012, 183 S., 16,90 Euro, ISBN 978-3-86321-015-1
Ulrich Fey erläutert die Grundlagen wirksamer Clownarbeit und prüft ihre Möglichkeiten im Zusammenhang mit Demenz. Er geht der Frage nach, warum gute Pflegebeziehungen in unserem Gesundheitswesen immer wieder einer Ausnahmeerscheinung wie der des Clowns bedürfen. Ein „emotionales Sachbuch“ – mit Anregungen und Analysen für Professionelle in Alten- und Pflegeheimen sowie für alle, die als Clowns auf diesem Feld arbeiten wollen. Auch Betroffene und pflegende Angehörige können von der besonderen Sichtweise eines Clowns auf die Demenz profitieren. Mabuse-Buchversand • 069-70 79 96-16 • www.mabuse-verlag.de
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Elmar Brähler, Johannes Kiess u.a. (Hrsg.)
Gesund und gebildet Voraussetzungen für eine moderne Gesellschaft
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as Anliegen dieses Bandes findet sich bereits in antiken griechischen Quellen: die „Schlüsselbegriffe“ Bildung und Gesundheit in ihrer Verbindung zu untersuchen. Dies sei wichtig für eine moderne Gesellschaft, jedoch ungenügend „in den politischen Agenden und Arenen priorisiert“. Im Beitrag der Althistorikerinnen Rücker und Schubert wird erschlossen, dass in antiken Quellen Vorstellungen zum Zusammenhang zwischen Umwelt, Klima und Gesundheit wie auch verschiedene Traditionen des Bildungsbegriffs mit Ordnungen menschlichen Zusammenlebens und politischen Ordnungen verknüpft sind. Nach dem Konzept eines griechischen Mediziners aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. sei mit einer besonders leistungsstarken Gesundheit und guter Bildung politische Ordnung möglich, die man mit den Charakteristika der Demokratie beschreibe. Die insgesamt 21 einzelnen Beiträge des Bandes sind in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil stehen die Zusammenhänge selbst sowie deren Einflussfaktoren, Korrelationen und Verbindungen mit Nachbarthemen im Vordergrund. Besonders gebündelt finden sich die empirischen Fakten im einführenden Forschungsüberblick. Entsprechendes für die europäische Ebene liefert der Beitrag von Höhne und von dem Knesebeck, der sich anhand von Ergebnissen des European Social Survey auf die Indikatoren subjektive Gesundheit, funktionale Einschränkungen und Depressivität konzentriert. Es zeigt sich, dass im Bezug auf Gesundheit Bildungsungleichheiten in vielen europä ischen Ländern bestehen. Ansätze zur Erklärung finden sich in vielen Beiträgen, drei übergeordnete Erklärungen werden im Beitrag von Richter u.a. systematisiert: die indirekte Wirkung von Bildung über materielle Lebensbedingungen, psychosoziale Belastungen und Ressourcen; die Wirkung von in der Kindheit geprägten gesundheitsrelevanten Einstellungen auf das spätere Verhalten sowie (in)direkte Wirkung psychosozialer Faktoren. Hier seien Menschen mit einem niedrigen BilDr. med. Mabuse 201 · Januar / Februar 2013
dungsstand oftmals einer doppelten Benachteiligung ausgesetzt, so die Autoren. Hinzu komme, dass sich die Ansätze auch gegenseitig beeinflussten. Allerdings hätten materielle Faktoren die größte Erklärungskraft für bildungsspezifische Ungleichheiten in der Gesundheit. Der Effekt psychosozialer und verhaltensbezogener Faktoren falle demgegenüber oftmals geringer aus. Dementsprechend finden sich im Beitrag von Brähler u. a. ein Makround ein Mikro-Interaktionsmodell zum Zusammenhang von Bildung und Gesundheit in der Lebensspanne. Der zweite Teil des Buches fasst Beiträge zusammen, die sich stärker mit einzelnen Zusammenhängen und Erklärungsansätzen beschäftigen. So widmet sich Mielck dem Zusammenhang von schulischer/beruflicher Bildung und seelischen Belastungen, um daraus Fragen zum politischen Handlungsbedarf zu entwickeln. Weitere Beiträge widmen sich dem Zusammenhang von Gesundheit und Bildung in verschiedenen sozialen Gruppen (Jugendliche, Migranten, Arbeitslose) oder etwa bei Demenzerkrankten. Der dritte Teil versammelt Beiträge, von denen der Rezensent besonders den Beitrag von Georg Vobruba hervorheben möchte. Er analysiert den Widerspruch zwischen dem gesundheitlichen Gleichheits-Postulat der Moderne und der damit in Widerspruch stehenden faktischen Ungleichheit. Dieser werde zunehmend dadurch zu entschärfen versucht, dass das Individuum für die Krankheit als Abweichung selbst verantwortlich gemacht werde. Daneben enthält der Beitrag auch einige interessante Anmerkungen zu den bisherigen Schwierigkeiten sozialepidemiologischer bzw. medizinsoziologischer Kausalerklärungen, deren Lektüre hier allerdings nicht vorgegriffen werden soll. Schon daher kann der Rezensent nichts anderes tun, als den Band zur Lektüre zu empfehlen. Prof. Thomas Elkeles, Hochschule Neubrandenburg
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, 470 Seiten, 39,95 Euro
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Peter Bechtel, Ingrid Smerdka-Arhelger (Hrsg.)
Pflege im Wandel gestalten – eine Führungsaufgabe Lösungsansätze, Strategien, Chancen
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ücher zum Pflegemanagement sind in Deutschland noch relativ rar. Umso erfreulicher ist es, dass die HerausgeberInnen die Mühe auf sich genommen haben, 34 AutorInnen für 25 Kapitel mit aktuellen Fragestellungen zum Thema Pflegemanagement zu gewinnen. Das Buch gliedert sich in drei große Teile: Zunächst geht es um den „Status quo der Pflege in Deutschland“, danach um „Herausforderungen und Konzepte“ und schließlich blickt man „Über den Tellerrand“, um „Best practice“-Modelle aus der Praxis zu begutachten. Die einzelnen Kapitel thematisieren Fragen, mit denen sich das Pflegemanagement aktuell konfrontiert sieht. So wird etwa die Zunahme älterer MitarbeiterInnen in der Pflege angesprochen, ebenso die Mitarbeiterbindung, das Wissensmanagement und die Prozessoptimierung. Einige Kapitel vermitteln eher Grundlagenwissen, andere konzentrieren sich auf Praxiserfahrungen. Das AutorInnenteam kommt aus verschiedenen Bereichen, sowohl aus der Wissenschaft als auch aus der Praxis, wobei die AutorInnen aus der Praxis überwiegen. Die unterschiedlichen Sprachstile, Schwerpunkte und die Kürze der Beiträge machen das Lesen sehr abwechslungsreich. Die Beiträge des Buches behandeln überwiegend Fragen des Pflegemanagements im Krankenhaus. Der Bereich der Langzeitpflege wird lediglich in wenigen Kapiteln gestreift. Die ambulante Pflege als künftig noch wichtigerer Arbeitsbereich für das Pflegemanagement wird zwar thematisiert, aber nur unter ökonomischen Aspekten und aus der Sicht des Krankenhausmanagements. Beides ist eher schade, findet doch die Zukunft der Pflege gerade in diesen Bereichen stärker statt als in Krankenhäusern, deren Schwerpunkt sich zunehmend auf Diagnostik und Therapie verlagert. Deutlich wird beim Lesen und schon beim Durchsehen der Kapitelüberschriften, wie sehr ökonomische Fragen für Pfle-
gemanagerInnen im Vordergrund stehen. Schon das erste Kapitel thematisiert die sozioökonomischen Herausforderungen für die Pflege. Auch die Herausgeberin kommt in ihrem Beitrag zu dem Schluss, dass sich das Pflegemanagement stark auf Budgetfragen konzentriert, aber kaum noch auf die PatientInnen und die Pflegeergebnisse. Auch in anderen Arbeiten wurde bereits darauf hingewiesen, wie sich innerhalb von zehn Jahren der Diskurs in der Pflegewissenschaft verschoben hat. Vom Ende der 1980er Jahre bis zur Jahrtausendwende verlagerte sich der Schwerpunkt der führenden VertreterInnen der Pflegewissenschaft von Fragen der Professionalisierung hin zu Themen der Ökonomisierung. Dies zeigt sich nun ebenfalls im vorliegenden Buch für den Bereich der PflegemanagerInnen. Schade ist, dass das Buch nicht sehr sorgfältig lektoriert wurde. So ist die AutorInnenliste nicht vollständig, es finden sich zahlreiche Kommafehler, und das Fehlen von Leerzeichen führt zu vielen neuen Wortschöpfungen. Auch inhaltliche Fehler wären mit einem sorgfältigeren Lektorat vermeidbar gewesen. So ergibt die Rechnung 8 + 28 + 20 insgesamt 56 und nicht, wie dargestellt, 49 (S. 112) und die Wortschöpfung „voll examinierte Pflegefachkräfte“ (S. 113) mutet ebenfalls eher seltsam an. Von diesen Mängeln abgesehen, ist das Buch sicher zu empfehlen, zum Beispiel für Pflegende, die einen Einblick in aktuelle Fragestellungen bekommen möchten oder überlegen, ein Studium des Pflegemanagements zu beginnen. Wer sich allerdings eine weitere Vertiefung verschiedener angesprochener Aspekte wünscht, wird auf weitere Literatur zurückgreifen müssen. Mathilde Hackmann, Gesundheits- und Krankenpflegerin sowie Diplom-Pflegepädagogin, Hamburg
Springer Verlag, Heidelberg 2012, 252 Seiten, 39,95 Euro
Dr. med. Mabuse 201 · Januar / Februar 2013
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Helmut Schaaf
Gleichgewicht und Schwindel Wie Körper und Seele wieder auf die Beine kommen
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törungen des Gleichgewichtes stellen – so der Autor nach 20 Jahren Gleichgewichtsdiagnostik und -therapie – immer ein psychosomatisches Geschehen dar und werden in ihrem Ablauf oft wesentlich durch den sozialen Kontext mitbestimmt. Selbst ein „einfacher“ Ausfall eines Gleichgewichtsorgans kann die individuelle Welt durcheinanderbringen, wenn der Weg zur Wiederherstellung des Gleichgewichts im Schwindel nicht mehr erkennbar ist und das Umfeld auseinanderbricht. Demgegenüber werden selbst komplexere Schwindelformen bewältigbar, wenn die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stehen und genutzt werden können. Trotzdem mag der Anteil der als psychogen gewerteten Schwindelformen – meist im Rahmen von Angst- und Depressionserkrankungen – mit 30 bis 50 Prozent aller Schwindelerkrankungen erstaunlich hoch erscheinen. Aufrechterhaltend für diese Schwindelformen ist, dass organisch ausgerichtete Ärzte innerhalb ihres Fachgebietes oft „nichts“ finden können, was Erklärung und Hilfestellung nach sich ziehen könnte. So beeinträchtigen überwiegend psychogene Schwindelformen die Betroffenen (noch) „länger“ und schwerer als „rein somatisch bedingte“ Schwindelerkrankungen. Die Stärke des Buches ist es, grundlegende Sachverhalte so darzustellen, dass auch Betroffene, Zusammenhänge verstehen können, ohne dass Experten gelangweilt würden. Dazu werden die Grundlagen ausführlich und reichlich bebildert dargestellt. Es wird der Bogen gezogen von den Anstrengungen eines Einzellers, der sich nach Aufnahme eines Kalksteinchens nach unten sinkend mit der Schwerkraft beschäftigen muss, bis zu dem daraus entwickelten menschlichen Gleichgewichtssystem, das eben immer von organischen, psychischen und gesellschaftlichen Anteilen bedingt wird. Dabei wünscht sich der Autor mehr als Verständnis und eine gemeinsame Vorgehensweise. Es nutzt Patienten mit reaktivem psychogenen Schwindel wenig, Dr. med. Mabuse 201 · Januar / Februar 2013
mit meist langen Wartezeiten an einen Psychotherapeuten verwiesen zu werden, der sich bei bestem Bemühen dann vielleicht nicht mit den organischen Grundlagen auskennt. So sind, etwa bei der ausführlicher dargestellten „systematischen Desensibilisierung“, sowohl die Wünsche an den Therapeuten, aber auch die Anforderungen an den Patienten formuliert. Als Wegweiser gibt es zu jedem Krankheitsbild einen tabellarischen Hinweis, der von häufigen Krankheitszeichen zu den möglichen Ursachen hinleitet. Die Beschreibung der Erkrankungen berücksichtigt organische Ursache, mögliche Verarbeitung und Erschwernisse. So kann man Antworten auf die Fragen erhalten, warum etwa bei dem einen ein Gleichgewichtsausfall länger dauert als beim anderen, was die häufigsten Fehler beim Weg zurück ins Gleichgewicht sind und was man machen kann, um möglichst ausgeglichen wieder auf die Beine zu kommen. Natürlich ist auch dieses Buch nicht „umfassend“, was bei Gleichgewichtsstörungen, die nahezu durch jede Störung der Physiologie entstehen können, auch kaum möglich ist. So werden explizit neurologische Erkrankungen (Kleinhirnerkrankungen, Demenz oder Multiple Sklerose) eher knapp dargestellt. Sehr wohl aber wird der Migräneschwindel als häufigste Schwindelerkrankung mit Wiederholungscharakter ausführlich beschrieben. Auch merkt man, dass das Buch in einem kleinen Verlag erschienen ist. Viele Abbildungen sehen nicht nur selbst gemacht aus, sondern sind es auch. Sieht man von diesen Umständen ab, findet man einen im wahrsten Sinne psychosomatischen, also Körper und Seele angemessen berücksichtigenden Text, der so manche Unklarheit über den Schwindel aufklären kann und geeignet ist, mit Wissen und Zuversicht die veränderbaren Dinge anzugehen. Behrooz Eghlimi, Chefarzt der Baumrainklinik, HELIOS Rehazentrum Bad Berleburg
Asanger Verlag, 5. stark erw. und aktual. Aufl., Kröning 2012, 170 Seiten, 19,50 Euro
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Monika Müller, David Pfister (Hrsg.)
Wie viel Tod verträgt das Team? Belastungs- und Schutzfaktoren in Hospizarbeit und Palliativmedizin
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ie hältst du das nur aus?“, ist eine typische Frage Außenstehender an Mitarbeitende des Palliative Care-Bereiches. Sie vermuten, dass die permanente Konfrontation mit Sterbenden und Toten sowie deren Angehörigen mit erheblichen Belastungen verbunden sei. Umso überraschender mag die in diesem Buch entwickelte Erkenntnis sein, dass hauptamtlich im Palliative Care-Bereich Tätige ihre beruflichen Belastungen als niedriger einstufen, als die von ihnen in anderen Bereichen des Gesundheitswesens erfahrenen Belastungen. Das Buch gibt einen Einblick in eine „andere“ Kultur des Gesundheitswesens. Diese hat sich in den vergangenen Jahrzehnten herausgebildet, durch die Entwicklung einer professionellen Begleitung Schwerstkranker, Sterbender und ihrer Angehörigen. Eine deutsche Besonderheit wird im Titel des Buches deutlich: die Aufspaltung der palliativen Fürsorge in Hospizansatz und Palliativmedizin. Hier wird die besondere Rolle der Medizin hervorgehoben und die Gruppe der ursprünglich konstitutiv beteiligten ehrenamtlich Mitarbeitenden ausgegrenzt. Es geht hier nur um die hauptamtlich im Palliative Care-Bereich tätigen Kernprofessionen: Medizin, Pflege, Seelsorge, sozialpädagogische Berufe. Zahlreiche Vertreter dieser Berufsgruppen äußern sich aus ihrer jeweiligen Perspektive zum Belastungserleben und zu Bewältigungsstrategien. Grundlage der Darstellung ist eine von 2007 bis 2009 von Müller/Pfister u.a. durchgeführte Umfrage zu Belastungsfaktoren und Bewältigungsstrategien von hauptamtlich im Palliative Care-Bereich Arbeitenden. Ergänzt werden die Ergebnisse der Studie durch einen Überblick zum aktuellen Forschungsstand. Die quantitativen Ergebnisse der einzelnen Aspekte der Umfrage (Was belastet, stärkt und schützt?) stehen zu Beginn jedes Kapitels. Es schließen sich qualitative Darstellungen an, verfasst von erfahrenen Protagonisten des Palliative Care-Bereiches aus ihrer jeweiligen Perspektive. Sie zeigen unterschiedliche Distanzhaltun-
gen zum beruflichen und persönlichen Geschehen. Sehr erfreulich ist die Offenheit vieler AutorInnen und die zahlreich dargestellten pragmatischen Bearbeitungs- und Handlungsoptionen. Die qualitative Bewertung von Studienergebnissen deckt sich nicht immer mit den quantitativen Ergebnissen der Studie. So wird etwa Supervision von den Befragten der Studie als minder wichtiger Entlastungsfaktor beurteilt, in der qualitativen Themenbearbeitung aber als besonders wichtig in ihrer entlastenden Funktion hervorgehoben. Insgesamt wird aus den verschiedenen Perspektiven der Beiträge deutlich, dass nicht unbedingt die ständige Konfrontation mit Sterben und Tod Belastung erzeugt, sondern eher die individuelle Haltung und der hohe Anspruch an die eigene Arbeit. Auch Kommunikation und Team-Management sind zentrale Themen im Palliative Care-Bereich. In der Kommunikation werden sowohl Belastungen deutlich (Überredseligkeit, Schweigen, Zynismus) als auch Entlastungen aufgezeigt (Humor, Supervision, Reflexionsgespräch). Es ist Aufgabe der Teamleitung, eine Kommunikationskultur zu entwickeln, die ein konstruktives Klima schafft, in dem unvermeidbare Belastungen bearbeitet werden können. Insgesamt gibt das Buch einen guten Überblick über Forschungsstand, Erfahrungswissen und Literatur zum Thema. Mich hat nur wenig an diesem Buch gestört. Schade finde ich zum Beispiel, dass der Schutzfaktor Humor ein wenig zu trocken-akademisch entwickelt wird. Ein humorvolles Praxisbeispiel wäre erfreulich gewesen. Obwohl ich schon seit zwei Jahrzehnten im Palliative Care-Bereich tätig bin, kann ich aus diesem Buch viele anregende Denkwerkzeuge für meine Arbeit mitnehmen. Dafür möchte ich den AutorInnen danken. Adelheid von Herz, Pflegende und stellv. Pflegedienstleitung eines Hospizes in Frankfurt am Main
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, 318 Seiten, 29,95 Euro
Dr. med. Mabuse 201 · Januar / Februar 2013
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Ulrich Schwabe, Dieter Paffrath (Hrsg.)
ArzneiverordnungsReport 2012 Aktuelle Daten, Kosten, Trends und Kommentare
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er an Daten, Bewertungen und Interpretationen zum deutschen Arzneimittelmarkt interessiert ist, findet keine bessere Übersicht als den Arzneiverordnungs-Report (AVR). Er beleuchtet alljährlich die Arzneimittelversorgung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Basis ist die Auswertung von 784 Millionen Arzneimittelverordnungen durch 141.515 niedergelassene KassenärztInnen aus dem Jahr 2011. Das diesjährige Sonderkapitel über die Versorgung nach Alter und Geschlecht sowie arztgruppenbezogene Analysen sind zusätzlich hilfreich zum Verständnis des Arzneimittelverbrauchs. Zum ersten Mal seit 2004 waren die Ausgaben für Arzneimittel in der GKV 2011 rückläufig und sanken um 1,17 Milliarden auf 30,87 Milliarden Euro. Die Verringerung ist auch auf Rabattverträge zurückzuführen, die immer mehr von Krankenkassen mit Pharmaherstellern abgeschlossen werden. Daneben hat etwa der im August 2010 festgelegte gesetzliche Abschlag von 16 Prozent auf Arzneimittel, die keiner Festbetragsregelung unterliegen (vorher 6 %), zur Kostensenkung beigetragen. 2011 verursachten Arzneimittel 17 Prozent der GKV-Gesamtausgaben von 184,86 Milliarden Euro. Jedoch sieht der AVR Einsparmöglichkeiten von insgesamt 3,1 Milliarden Euro: durch den konsequenten Ersatz teurer Mittel durch günstigere Generika, die Vermeidung von kostspieligen Analogpräparaten oder den Verzicht auf umstrittene Arzneimittel. Die vom AVR festgestellten Verordnungszuwächse für ältere Arzneimittel verdeutlichen wieder einmal die Erfolge des Marketings anstelle evidenzbasierter Entscheidungen im Verordnungsalltag. Schmerzmittel wie Targin® (Oxycodon plus Naloxon) und Palexia® (Tapentadol) verzeichneten 2011 unerwünschte Umsatzerfolge. Auf Targin® entfielen rund 120 Millionen Euro, obwohl die Vorteile gegenüber Oxycodon nach wie vor unklar bleiben. Wäre anstatt Targin® die gleiche Menge Oxycodon verordnet worden, hätte man etwa 50 Millionen Euro sparen Dr. med. Mabuse 202 · März / April 2013
können. Der AVR fordert daher zu Recht, dass das AMNOG nicht nur zur Nutzenbewertung von neuen Mitteln, sondern dringend auch auf den Bestandsmarkt angewendet werden sollte. Ein umfangreiches Kapitel über das AMNOG und die Nutzenbewertung bietet eine gute Zusammenfassung für alle, die sich einen Überblick über die neuen Regelungen verschaffen möchten. Dass noch immer keine Transparenz beim stationären Arzneimittelverbrauch herstellbar ist, ist vor allem mit Blick auf Krebsmittel zu beklagen, die im Gesundheitswesen zu den kostenintensivsten Mitteln gehören. Unter den 30 Arzneimitteln, die im Jahre 2011 die höchsten Nettokosten ausmachten, befinden sich im AVR nur zwei Wirkstoffe (Imatinib, Revlimid®), unter den 50 umsatzstärksten nur vier (Imatinib, Revlimid®, Erlotinib, Sorafenib), die in der Krebsbehandlung eingesetzt werden. Wenn also der AVR die Informationslage auf Dauer verbessern will, sollten Möglichkeiten gefunden werden, auch den Arzneimittelverbrauch in Kliniken abzubilden, da er oft die ambulanten Folgeausgaben beeinflusst. Realistisch ist das in den kommenden Jahren leider nicht, weil der Arzneimittelverbrauch im Krankenhaus nicht als eigener Ausgabenbereich geführt wird. Trotz allem ist der AVR eine hilfreiche Publikation zur statistischen Darstellung des GKV-Arzneimittelmarkts. Die pharmakologischen Bewertungen helfen, die Verordnungsdaten richtig einordnen sowie Über- und Fehlversorgung erahnen zu können. Wirkliche Versorgungsforschung ist mit diesen Daten jedoch nicht möglich: Versichertenbezogene Behandlungsverläufe lassen sich ebenso wenig ableiten wie regionale Besonderheiten. Dies ist seit jeher die Schwäche des sonst empfehlenswerten AVR. Die 1.146 Seiten sind prall gefüllt mit evidenzbasierten Bewertungen der 3.000 meist verordneten Mitteln. Schon das ist ein Grund, das Buch allen Ärzten, Apothekern, Pflegenden und Studierenden der genannten Berufe zu empfehlen. Prof. Dr. Gerd Glaeske, Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen
Springer Verlag, Heidelberg 2012, 1.146 Seiten, 49,95 Euro
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Petra Kolip, Günter Ackermann u.a.
Gesundheitsförderung mit System quint-essenz – Qualitätsentwicklung in Projekten der Gesundheitsförderung und Prävention
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as Buch stellt das Qualitätssystem quint-essenz der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz vor, das vielen Fachkräften in der Gesundheitsförderung und Prävention bereits bekannt ist. quintessenz ist ein international hoch gelobtes Internetportal, das umfangreiche Informationen zu Konzepten und Werkzeugen der Qualitätsentwicklung (einschließlich der Evaluation) für AnbieterInnen der Gesundheitsförderung und Prävention bereitstellt. Es folgt der Leitfrage: Wie kann ich meine Arbeit am besten planen, durchführen und evaluieren? Der Hauptteil des Buches besteht daher aus einer Vorstellung der verschiedenen Bausteine und Anwendungen des Qualitätssystems. Ein umfassendes Projektbeispiel und zahlreiche Arbeitshilfen, Darstellungen von Grundkonzepten und Arbeitsverläufen führen anschaulich in den Einsatz von quint-essenz ein. Nicht weniger interessant ist der erste Teil des Buches, in dem der Stand der aktuellen Diskussion um Gesundheitsförderung und deren Qualitätsentwicklung vorgestellt wird. Anspruchsvolle Theorien werden in einer sehr zugänglichen Sprache erklärt, die auch AnfängerInnen auf dem Gebiet einen Einblick in die Debatten über Kernbegriffe wie „Evidenz“, „soziale Determinanten von Gesundheit“ und „komplexe Interventionen“ vermittelt. Durch eine gute Systematik schaffen die AutorInnen Klarheit in einem Feld, in dem es nicht selten unterschiedliche Definitionen für die gleichen Begriffe und die gleichen Begriffe für sehr unterschiedliche Arbeitsansätze gibt. Der letzte und kürzeste Teil des Buches zeigt, dass das Qualitätssystem mehr als ein Projektplanungsinstrument ist: Es kann auch als umfangreiche Grundlage für eine systematische Organisationsentwicklung dienen. Dieser Aspekt wird jedoch in der von „Projektitis“ verseuchten Landschaft der Gesundheitsförderung leider noch oft übersehen. Interviews mit Fachleuten, die sich durch das gesamte Buch ziehen, illustrie-
ren mit praktischem Bezug, wie man quint-essenz mit Erfolg einsetzen kann: als didaktisches Instrument, Werkzeug für die Praxis sowie für groß angelegte Vorhaben. Ich war vor der Lektüre sehr skeptisch: Welchen Nutzen soll ein Buch über ein Internetportal haben? Eine der vielen Stärken liegt schließlich im elektronischen Format, das den Sprung zum Web 2.0 ohne Schwierigkeiten geschafft hat. Dass die NutzerInnen selbst entscheiden können, wann und wo sie in das System einsteigen und wie sie es für ihre Zwecke nutzen, macht den enormen Wert von quint-essenz aus. Gleichzeitig ist es dadurch aber unmöglich geworden, die unzähligen Anwendungsmöglichkeiten und deren Inhalte erschöpfend in einem starren Buchformat wiederzugeben. Aber diesen Anspruch hat das Buch auch nicht. Es will vielmehr einen niedrigschwelligen Zugang zu einem Qualitätssystem schaffen, das in seinem Umfang überwältigend und teilweise abschreckend geworden ist. quint-essenz ist nicht nur eines der ältesten und bewährtesten Qualitätssysteme auf dem Gebiet der Gesundheitsförderung: Es ist die Summa Qualitatis in diesem Bereich geworden. Mit großem Ehrgeiz werden neue Entwicklungen kontinuierlich aufgenommen, die Systematik immer umfassender und differenzierter. Das macht quint-essenz zu einer unentbehrlichen Enzyklopädie für alle Fachkräfte der Gesundheitsförderung und Prävention. Deshalb braucht man eine handliche Gebrauchsanweisung. Und die bietet dieses Buch, das ich nachdrücklich allen (potenziellen) NutzerInnen der Internetseite empfehle. Durch die Veröffentlichung des Buches beweisen die EntwicklerInnen von quint-essenz erneut, wie stark sie den Anwenderbedürfnissen Rechnung tragen.
Prof. Dr. Michael T. Wright, Institut für Soziale Gesundheit, Katholische Hochschule für Sozialwesen, Berlin
Hans Huber Verlag, Bern 2012, 285 Seiten, 36,95 Euro Dr. med. Mabuse 202 · März / April 2013
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Thomas Auchter
Brennende Zeiten Zur Psychoanalyse sozialer und politischer Konflikte
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ie Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, bis sie sich Gehör verschafft hat“, schrieb 1927 zuversichtlich Sigmund Freud in seiner Arbeit „Die Zukunft einer Illusion“. Es ist die Frage, ob Freuds Optimismus heute noch eine realistische Einschätzung darstellt. Thomas Auchter, der in eigener Praxis niedergelassene Psychoanalytiker, hat mit seiner Publikation zumindest seine Besorgnis vorgebracht. So lautet der Subtext seiner Aufsätze-Sammlung: Ist das selbstreflexive psychoanalytische Verfahren mit seiner Zeitlupen-artigen Nachdenklichkeit und seiner Rekonstruktionsversuche von Entwicklungsprozessen für unsere drängenden, brennenden gesellschaftlichen Konfliktlagen noch angemessen? Thomas Auchter, der sein 40-jähriges Berufsleben bilanziert, bejaht diese Frage. Für ihn ist die Psychoanalyse sowohl ein wirksames psychotherapeutisches Verfahren für die Klärung gravierender individueller Lebensschwierigkeiten als auch ein einflussreiches kulturkritisches Verfahren zur Aufklärung über die psychosozialen Lebensbedingungen. Thomas Auchter erläutert den Erkenntnisgewinn des psychoanalytischen Verfahrens anhand einer Reihe von Konfliktlagen: Er kritisiert etwa die in unserem Gesundheitssystem herrschende Ideologie von Beschleunigung und Verdichtung der Behandlungsprozesse zugunsten rascher Veränderungen, deren Nachhaltigkeit sehr fraglich ist. In dem Kapitel „Denk ich an Deutschland“ beschreibt er die transgenerationale Weitergabe der Beschädigungen deutscher Großeltern an ihre Enkel. Den destruktiven Folgen dysfunktionaler Sozialisationsbedingungen – wozu die Prozesse der tiefen Beschämung durch Armut gehören – geht er in den Kapiteln „Kindheit, Jugend, Gesellschaft und Gewalt“ und „Vom Narzissmus zum Fundamentalismus“ im Hinblick auf die Entstehung von Hass und Gewalt nach. „Wenn meine Hypothese zutreffend ist“, führt der Autor aus, „dass die terroristische Gewalt vor allem ein unbewusster Versuch ist, eine individuelle und/oder kollektive narzisstische Persönlichkeits-
Dr. med. Mabuse 202 · März / April 2013
problematik zu lösen, also in einer Form des ‚pathologischen Narzissmus’ wurzelt, dann müssen alle Ansätze zu einer Überwindung im Zusammenhang mit der Entwicklung und Förderung eines ‚gesunden Narzissmus’ gesehen werden“. „Vorurteil, Rassismus und Antisemitismus“ versteht er als kollektiv geteilte, selbst-regulative psychische Formationen, in die das „fremde eigene Böse“, wie er schreibt, deponiert wird, um es dann zu bekämpfen und zu vernichten. Insgesamt geht es Thomas Auchter immer wieder um den Nachweis des Grundgedankens, dass individuelle und kollektive Strukturen sich in einem gesellschaftlichen Prozess dialektisch verschränken und in einer spezifischen Konstellation kumulieren. Im vorletzten Kapitel erprobt der Autor diesen Gedanken an dem ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten George W. Bush, dessen eigene Angst eine Politik begünstigte, die Angst zu erzeugen versuchte. Wie im Fall von Bush die private Bühne zu einer öffentliche Bühne werden konnte, ist ein enorm komplexer, unübersichtlicher Prozess. Darüber ist sich der Autor im Klaren. Aber man kann die Bedingungen der Sozialisation im Fokus behalten, um die daraus resultierende Not zu erkennen, für die Donald Woods Winnicott, der englische Pädiater und Psychoanalytiker sowie Vorbild von Auchter, einen scharfen Blick hatte. „Die antisoziale Tendenz“, zitiert er Winnicott, der damit das jugendliche Stehlen, Zerstören oder Betrügen meinte, „ist gewissermaßen der letzte unbewusste Versuch, eine Beziehung herzustellen, wenn zuvor der soziale Dialog entgleist ist“. Winnicott war der Autor paradoxer, kluger Einsichten. „Unreife“, schrieb er, „ist ein wesentliches Kennzeichen von Gesundheit im Jugendalter“. So ist Thomas Auchters Buch ein Plädoyer für den Reichtum des psychoanalytischen Verfahrens, für dessen Lebendigkeit und Notwendigkeit in unserer turbulenten Welt. Gerhard Bliersbach, Psychotherapeut und Autor
Psychosozial-Verlag, Gießen 2012, 252 Seiten, 39,95 Euro
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Philipp Schönthaler
Nach oben ist das Leben offen Erzählungen
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er Konstanzer Autor Philipp Schönthaler hat Erzählungen geschrieben, in denen die körperliche und psychische Leistungsfähigkeit des Menschen im Mittelpunkt steht. Insgesamt sind es 13 Geschichten, die unter anderem von jungen Sportschülern, Büroangestellten, den Besuchern einer Shopping Mall, Zugreisenden und einem Tiefseetaucher handeln. Drei Erzählungen bilden das Grundgerüst. Die erste – gleichzeitig Titel des Buches – spielt in einem Sportheim, hoch in den Bergen. Die Erzählstimme ist ein „Wir“, das wie e i n Organismus sein Training absolviert, müde und hungrig ist, sogar träumt. Die einzelnen Schüler, junge Männer, sind Körper ohne Namen und Identität, bar jeden Mitgefühls, ob für sich oder für die, die nicht mithalten können und an dem Programm zugrunde gehen. Das einzige Ziel: körperliche und psychische Grenzen überwinden. Die zweite zentrale Geschichte, in der Mitte des Buches, erzählt von einem Tiefseetaucher namens Termann („Wenn das Blut im eigenen Blut ertrinkt“). Nachdem er einst bei einem Tauchgang fast umgekommen wäre, ist er wieder zu einem
Wettkampf angereist. Sein Denken und Fühlen drehen sich um das Tauchen, um das, was in ihm vorgeht, wenn er hinabtaucht in das tiefe, dunkle Wasser. Er ist ein Verlorener, nicht fähig, mit anderen Menschen in Verbindung zu treten. „Cerro Torre“ schließt den Band ab. Die Geschichte handelt von zwei Bergsteigern, die der beängstigenden Leere in ihrem Leben zu entkommen versuchen, indem sie noch einen weiteren Berggipfel erklimmen wollen – den möglichen Tod vor Augen. Dazwischen lässt Schönthaler in einem Reigen von Geschichten meist austauschbare Protagonisten – ob Jana, Anja, Bertram, Herbert, Berthold oder Robert – Körper und Geist trimmen („der körper ist wie ein bankkonto: nur wer einzahlt, kann auch abheben.“, S. 33). Die, die dazu nicht fähig sind, werden zurückgelassen oder entschwinden. Die Erzählungen sind oft voller Ironie, mal zum Lachen komisch – wie in „shopping mall“, wo das Einkaufscenter Trainingsloipe und zugleich Lebenskosmos ist –, mal traurig wie in „Der Anruf“. Sie kreisen um die Versuche des modernen Menschen, sich zu optimieren – ob mit Sport, Feldenkrais & Co, der richtigen Ernährung, Psychoratgebern oder Aberglauben – und das, was an uns nicht heil, was verwundbar und zerbrechlich ist, hinter uns zu lassen. In der Welt des Autors ist der Preis dafür hoch: Isolation und Leere, häufig ein verfrühter Tod.
Die Sprache von Schönthaler bildet ab, was mit den Menschen passiert: So lassen etwa in der ersten Erzählung gezielte Wiederholungen das „Wir“ wie eine gut geölte Maschine funktionieren. Die Sprache sorgt auch für Tempo und Rhythmus, in „reisegesellschaft, unterwegs“ rattern die Sätze im Einklang mit den Rädern des Zuges. In vielen Geschichten ist die Großund Kleinschreibung aufgegeben, alles und alle sind gleich bedeutungslos, austauschbar, die Menschen bloß Hülsen in sinnleeren Welten; Hauptsache, der Lendenwirbel ist durchgedrückt. Es ist eine lohnenswerte Lektüre. Man sollte sich Zeit für sie nehmen, die Erzählungen etappenweise lesen. Neben entlarvenden Aha-Effekten bieten sie viel Stoff zum Nachdenken – auch oder besonders für LeserInnen, die in Gesundheitsberufen tätig sind. Ist es in der Medizin doch inzwischen Trend, nicht nur Kranke heilen, sondern auch geistig und körperlich Gesunde verbessern zu wollen.
Katharina Budych, Journalistin, Springe (Niedersachsen)
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012, 201 Seiten, 19,90 Euro
Dr. med. Mabuse 202 · März / April 2013
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Manfred Cierpka (Hrsg.)
Frühe Kindheit: 0 – 3 Jahre Beratung und Psychotherapie für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern
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ie oft quälen sich sorgende Eltern von Kleinkindern mit Fragen wie: Was mache ich bloß mit meinem nicht schlafen wollenden Kind, das nur noch schreit? Ist mein Kind in Lebensgefahr, wenn es nicht regelmäßig und ausreichend essen will? Wie ernst sind Schlafoder Fütterungsstörungen bei Kleinkindern zu nehmen? Wann ist der richtige Zeitpunkt, einen Arzt aufzusuchen? Übertreiben viele Eltern mit ihrer Fürsorge? Diesen und weiteren psychologischen Fragen widmet sich das Buch, das von Manfred Cierpka, dem Ärztlichen Direktor des Instituts für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie an der Uniklinik Heidelberg, herausgegeben wurde. Das in sieben Themenbereiche gegliederte Handbuch bietet auf 545 Seiten einen Überblick zur Embryologie des Kindes im Mutterleib, zu Regulationsstörungen und Belastungsfällen, wie Gewalt in der Familie, Teenagerschwangerschaften, Frühgeburt, behinderte und chronisch kranke Kinder. Daneben geht es um Beratung, Diagnosemethoden und der Vorstellung der neuesten präventiven Konzepte. Das Buch richtet sich als Ratgeber an Kinderärzte, Psychologen, Psychiater, Psychotherapeuten und Sozialpädagogen, ist aber durchaus auch Eltern zu empfehlen. Die zahlreichen, verständlich beschriebenen Fallbeispiele aus der Praxis bieten jedem Leser eine Grundlage, eigene Situationen einzuschätzen. Wertvolle Perspektiven im Bereich der Eltern-/Säugling/ Kleinkind-Beratung und Psychotherapie werden aufgezeigt. Störungen im Kleinkindalter, wie Phasen von schlechtem Schlaf, wenig Appetit oder häufigem Weinen, können von Fall zu Fall nur vorübergehend auftreten und sich mit der Zeit selbst regulieren. Allerdings ist nicht zu unterschätzen, dass in rund einem Drittel der Fälle, Störungen über Jahre dauern können, und damit im schlimmsten Fall ein gesundes Wachstum des Kindes verhindern. Dr. med. Mabuse 202 · März / April 2013
Eine Stärke des Handbuchs ist der Überblick über die aktuellen Behandlungsmethoden. Das Beispiel der Videoaufzeichnungen von Situationen zwischen Kind und Eltern durch den Therapeuten und die anschließende Analyse bieten konkrete Ansätze und somit einen enormen Vorteil für die gemeinsame Lösungsfindung. In einzelnen Übungen wird also die Beziehung des Kindes zu den Eltern auf Video aufgezeichnet. Die dabei auftretenden Emotionen und Handlungsmuster, die in der Situation selbst oft gar nicht erfasst werden, können so im Rahmen der Aufarbeitung erkannt werden. Als Nachschlagewerk besticht das Handbuch durch seinen Versuch zur Vollständigkeit, indem es aktuelle Projekte wie etwa die Heidelberger interdisziplinären „Sprechstunden für Eltern“ vorstellt oder die kultursensitive Beratung für Familien mit Migrationshintergrund einschließt. In den „Sprechstunden“ erhalten besorgte Eltern Unterstützung von Psychologen und Psychotherapeuten zu den verschiedensten Problemen – angefangen bei auffälligem bis hin zu aggressivem Verhalten ihres Kleinkindes, Trennungsängsten oder Trotzverhalten. Wegweisend sind schließlich präventive Konzepte: Fortbildungen von Kinderärzten oder Elternschulen zeigen, dass Prävention gerade in Risikokonstellationen oft kostengünstiger ist als teure Therapien. Kurze Zusammenfassungen nach jedem Kapitel erleichtern dem Leser ein schnelles Rekapitulieren. Durch die Erklärung und fallweise Übersetzung der Fachbegriffe ist das Handbuch auch für sich sorgende Eltern ein nützlicher Ratgeber. Die kompetente und aktuelle Zusammenstellung der modernen kinderpsychotherapeutischen Behandlungsmethoden sollte in keinem Medizinerregal fehlen.
Nevin Altintop, Pflegewissenschaftlerin, Wien
Springer Verlag, Heidelberg 2012, 545 Seiten, 59,95 Euro
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Buchbesprechungen
Rose Ahlheim (Hrsg.), Johanna Haarer/Gertrud Haarer
Die deutsche Mutter und ihr letztes Kind Die Autobiografien der erfolgreichsten NS-Erziehungsexpertin und ihrer jüngsten Tochter
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ohl kaum ein Erziehungsratgeber war je so erfolgreich, wie der, den die Lungenfachärztin Johanna Haarer (1900–1987) zunächst 1934 unter dem Titel „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ veröffentlichte und der nach 1945 geringfügig revidiert als „Die Mutter und ihr erstes Kind“ weiter erscheinen sollte. Insgesamt soll die Gesamtauflage 1,2 Millionen Exemplare betragen haben. Doch dies war mitnichten nur ein praktischer Ratgeber in Sachen Säuglingspflege und Kleinkindbetreuung. Haarers Bücher transportierten NS-Volkskörperideologie, Zustimmung zur Sterilisationspolitik und „Rassebewusstsein“. Der Frau wies Haarer eine natürliche Bestimmung zu: „Auf uns Frauen wartet“, so erfuhren dort die jungen Mütter, „die uralte und ewig neue Pflicht, der Familie, dem Volk, der Rasse Kinder zu schenken“. Als der eigentlich problematische Charakter dieser Erziehungsratgeber – so die Psychoanalytikerin und Herausgeberin Rose Ahlheim in ihrer kundigen und präzisen Einleitung – erscheint „die suggestiv formulierte Einschwörung auf ein dem Führerprinzip verpflichtetes, in Macht/ Ohnmacht-Kategorien denkendes Verständnis von Kindergebären und Kindergroßziehen“. Haarer forderte Härte gegenüber dem Kind, dessen Wille gebrochen werden müsse, das sich der Mutter gehorsam unterzuordnen habe. Offen politischer wurde sie in Zeitschriftenbeiträgen, etwa im NS-Ärzteorgan Ziel und Weg oder in der NS-Frauen-Warte, in zahlreichen Vorträgen zu „rassenpolitischen Fragen“ und schließlich in dem Kinderbuch „Mutter, erzähl von Adolf Hitler“, das 1939 erschien. Johanna Haarer hat nach 1945 nie ihre Positionen revidiert. Gleichwohl suchte sie ihre Rolle – so etwa in dem im Anhang dieses Buches erstmals abgedruckten Bericht „Erklärung vor der Spruchkammer“ (1948) – zu bagatellisieren und zu relativieren. Auch in den autobiografischen Erinnerungen, die sie in ihren letz-
ten Lebensjahren verfasste, bleibt sie unbeirrt. „Immer noch lässt sie nichts wankend machen in ihrer Rechtfertigung des ‚Dritten Reiches‘“, fasst Rose Ahlheim zusammen. Bezeichnenderweise enden die veröffentlichten Erinnerungen im Jahr 1933. Sie werden nur um ein bereits früher verfasstes Kapitel über die rund 14 Monate Internierungszeit nach 1945 ergänzt. Der Autobiografie Johanna Haarers folgen die Selbsterinnerungen ihrer jüngsten Tochter Gertrud. Sie zeigen beeindruckend, den langwierigen und schwierigen Prozess der Auseinandersetzung mit der Mutter und deren Vergangenheit, aber auch mit der eigenen Beziehung zur Mutter. Ohne falsches Pathos lesen sich etwa die Seiten über die Pflege, die Erwartung des Todes und den Moment des Sterbens der Mutter: „Da lagen wir also, schauten uns an, [...] und wir warteten in einer ruhigen, abgeschirmten Atmosphäre, auf was? Auf den Tod […] Wir waren uns sehr nahe und es war nicht nötig, dass wir sprachen.“ Erst nach dem Tod setzte Gertrud Haarers tiefere Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit der Mutter ein. Erst dann wurde ihr klar, dass sie sich mit dem Leben und den Schriften der Mutter auseinandersetzen müsse, um auch die eigene Lebensgeschichte verstehen zu können. Die Herausgeberin hat sehr unterschiedliche Texte zusammengefügt. Man ist kurz geneigt, zu fragen: Was haben die Erinnerungen der gealterten NS-Ideologin für einen Erkenntnisgewinn? Und der autobiografische Text ihrer Tochter? Doch Rose Ahlheim versteht es sehr gut, die Relevanz der Texte herauszustellen, sie zeitgeschichtlich einzuordnen und sie zeigt, dass es ihr keineswegs um eine Schuldbefreiung geht, sondern um das Verstehen. Das Buch liefert somit nicht nur zur Biografie einer ideologischen Schreibtischtäterin des Dritten Reiches wichtiges Material, sondern stellt es auch für die notwendige, noch immer andauernde Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte in den Familien bereit. Dr. Christoph Kopke, Institut für Geschichte der Medizin – Charité Universitätsmedizin, Berlin
Offizin-Verlag, Hannover 2012, 417 Seiten, 29,80 Euro Dr. med. Mabuse 202 · März / April 2013
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Buchbesprechungen
Rolf Rosenbrock, Susanne Hartung (Hrsg.)
Handbuch Partizipation und Gesundheit
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artizipation und Gesundheit werden wohl meist in einem positiven Zusammenhang gesehen. Wenn Menschen nicht darüber mitentscheiden können, wie ihr Leben verläuft, was im Krankenhaus mit ihnen passiert oder wie ihre Wohnumgebung aussieht – wie könnte ihnen das gut tun? Umgekehrt also, wenn man ihnen Partizipationsmöglichkeiten eröffnet, oder sie sich diese selbst erschließen, wie sollte das nicht auch zu mehr Zufriedenheit und Lebensqualität beitragen, zur Gesundheitsförderung und Heilung? Dieser Grundlinie folgt erwartungsgemäß auch die von Rolf Rosenbrock und Susanne Hartung herausgegebene Aufsatzsammlung, aber sie leistet zugleich die bei diesem Thema dringend erforderliche Differenzierungs- und Vertiefungsarbeit. Das beginnt bei der Begrifflichkeit. Teilhabe, Autonomie, Mitbestimmung, Gesundheitskompetenz, Empowerment, Partizipation – irgendwie geht alles in die gleiche Richtung und hat doch jeweils etwas unterschiedliche Akzentuierungen und theoretische Entwicklungslinien, wie zu Beginn des Bandes zu lesen ist. Im Hauptteil geht es um die Partizipationschancen in unterschiedlichen Lebensphasen, -bereichen und -situationen: in der gemeindenahen Gesundheitsförderung, bei Wohnformen im Alter, in der Schule, Arbeitswelt, Selbsthilfe, Patientenberatung oder Krankenversorgung, bei der Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen, in der Psychiatrie, Rehabilitation sowie in der Pflege und im Palliativbereich. Diese Aufsätze sind erfahrungsreiche Informationspakete. Man kann z. B. nachlesen, wie sich Partizipationskonzepte im betrieblichen Kontext entwickelt haben und wie begrenzt die Umsetzung dieser in der Arbeitswelt bis heute ist. Die Komplexität partizipativer Gesundheitsförderung auf Gemeindeebene wird am Beispiel des Hamburger „Lenzgesund-Projekts“ beschrieben – einschließlich des nötigen langen Atems und der Fragilität solcher Projekte bei geänderten politischen Rahmenbedingungen. Sehr interessant sind die Ausführungen
zur Partizipation in den Angeboten von Frauengesundheitszentren, etwa vor dem Hintergrund der dort stattgefundenen Professionalisierung. Mehrere Kapitel befassen sich mit Fragen der Patientenorientierung und des „shared decision making“ in der Krankenversorgung, eines davon mit partizipativen Ansätzen in der Psychiatrie, einem Bereich, der in der Vergangenheit geradezu paradigmatisch für Kontrolle und Entmündigung der PatientInnen stand. In dieser Hinsicht ähnlich ist die Situation in der Pflege, vor allem am Lebensende. Die Hospizbewegung und moderne Palliative Care-Konzepte zeigen, dass auch hier eine gute, menschenwürdige Betreuung und eine partizipative Entscheidungsfindung – mit den Pflegebedürftigen oder ihren Angehörigen – zusammengehören. Den Abschluss des Bandes bilden zwei Querschnittsthemen, ein Beitrag von Michael Wright zu partizipativer Gesundheitsforschung und Überlegungen von Ilona Kickbusch zu einer bürgerorientierten Gesundheitspolitik. Das Buch ist, wie der Titel ankündigt, ein „Handbuch“. Es ist eine reichhaltige Informationsbörse für eine bessere Praxis, von der Prävention bis zur Pflege. Man muss es nicht „durchlesen“, sondern kann sich gezielt die Beiträge ansehen, die das eigene Praxisfeld betreffen. Dabei machen die vielen Bereiche, die es beleuchtet, die Lektüre trotz des einen oder anderen akademisch geschriebenen Beitrags und einer etwas sperrigen Einführung gerade auch für Praktiker lohnend. Die, die zum Thema Partizipation forschen, werden es ohnehin mit Gewinn lesen. Das Buch ist zugleich ein Teil der reichen wissenschaftlichen Ernte, die der 2012 beendete Forschungsbereich Public Health am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin in seiner 30jährigen Geschichte hervorgebracht hat. Man sieht daran, was nicht nur dem Berliner Wissenschaftszentrum künftig fehlen wird. Dr. Joseph Kuhn, Dachau
Hans Huber Verlag, Bern 2012, 451 Seiten, 49,95 Euro Dr. med. Mabuse 203 · Mai / Juni 2013
Buchbesprechungen
Martin Nagl-Cupal
„Den eigenen Beitrag leisten“ Krankheitsbewältigung von Angehörigen auf der Intensivstation
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nzwischen gibt es eine Vielzahl hochwertiger Dissertationsschriften in der Disziplin Pflegewissenschaft. Immer häufiger rücken dabei Angehörige in den Blickpunkt, da sie durch Erkrankungen und Pflege erheblich belastet werden. Die vorliegende Dissertation widmet sich der Krankheitsbewältigung von Angehörigen auf der Intensivstation mit folgenden Fragestellungen: Welche Auswirkungen hat es auf die Familie, wenn ein Familienmitglied auf der Intensivstation liegt? Und wie geht die Familie damit um? Ergänzend versucht Nagl-Cupal zu erforschen, welche Hilfen Familien für das Familienmitglied und füreinander leisten. Geklärt werden soll auch, wie dies Familien mit kleinen Kindern leisten können. Darüber hinaus werden auch längere Zeiträume in den Blick genommen und wie sich die Sichtweisen Angehöriger darin verändern. In Kapitel eins wird die relevante Literatur zum Thema anhand einer Literaturanalyse dargelegt. Im zweiten Kapitel beschreibt der Autor die Entwicklung der oben genannten Forschungsfragen sowie den geplanten Forschungsprozess. Nagl-Cupal wendet eine in der Pflegewissenschaft weit verbreitete Methode der Grounded Theory an und legt dezidiert den Forschungsprozess und von ihm vorgenommenen Modifikationen des Untersuchungsablaufes dar. Gerade die überaus genaue und nachvollziehbare Beschreibung der Interviewsituationen und Probleme in der Datenerhebung sowie der gezielten Auswahl an Interviewpartnern sind besonders gelungen. Diese Exaktheit in der Darstellung setzt sich im gesamten Kapitel fort. In Kapitel drei folgt nun die Ergebnisdarstellung. Sie beginnt mit drei Fallbeschreibungen der interviewten Familien. Nachfolgend werden anhand der Kernkategorie „den eigenen Beitrag leisten“ dessen verschiedene Ausprägungen und Dimensionen erläutert. Beispielhaft sei hier genannt, dass Angehörige bestimmte Strategien anwenden, um ihren Beitrag leisten zu können. Dazu gehören: die ei-
Dr. med. Mabuse 203 · Mai / Juni 2013
genen Emotionen zu unterdrücken, nicht nachdenken oder reden, den anderen schützen aber auch, diese Gefühle nicht mehr unterdrücken zu können, was beispielsweise zu einem „plötzliche(n) Hervorbrechen“ führt. Eine zweite Strategie ist das „Alles zurückstellen“: Dies führt etwa zum Anpassen des Tagesablaufs, zu wenig Freizeit, aber auch zum Zurückstellen der Betreuung der Kinder. Diese werden selbst zu Betroffenen und leisten durch Verzicht und Aushalten der Situation ebenfalls ihren Beitrag. Anhand von Zitaten aus den Interviews werden die Situation der Angehörigen und deren Bewältigungsstrategien beleuchtet. Der Leser erfährt viel über die Aspekte, die ihre Handlungen bestimmen. Bei lang andauernder Behandlung eines Familienmitglieds auf der Intensivstation tritt eine „Scheinnormalität“ ein, man kennt Räumlichkeiten und Rituale, lernt andere Familien und Patientenschicksale kennen. Die Situation wirkt stabil und ist gleichzeitig labil. Nagl-Cupal diskutiert in Kapitel vier seine Ergebnisse vor dem Hintergrund der recherchierten Literatur und den theoretischen Konzepten zum Verstehen von Angehörigen auf der Intensivstation. Hierzu gehören Konzepte der Unsicherheit, der Hoffnung, des Schützens, aber auch sehr praxisnahe Unterstützungsangebote wie die Wissensvermittlung und die flexible Besuchszeitenregelung. Das Buch gibt reichhaltige und genaue Informationen zu einem Forschungsgebiet in der Pflegewissenschaft, das im deutschsprachigen Raum bislang noch wenig erforscht, aber künftig vermehrt in den Blick genommen wird. Zu empfehlen ist das Buch allen, die im Bereich der Intensivstation als praktisch Pflegende, Lehrende oder Leitende tätig sind, aber auch Berufsangehörigen aus anderen Fachdisziplinen. Empfohlen werden kann die Dissertation auch Studierenden, aufgrund der ausgesprochen exakten und nachvollziehbaren methodischen Vorgehensweise. Andrea Schiff, Professorin für Pflegewissenschaft an der Kath. Hochschule NRW
hpsmedia, Hungen 2012, 205 Seiten, 28,90 Euro
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Buchbesprechungen
Monika Hey
Mein gläserner Bauch Wie die Pränataldiagnostik unser Verhältnis zum Leben verändert
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ruchtbarkeitstest für die Familienplanung, Bluttest auf Down-Syndrom während der Schwangerschaft und der Brustkrebs-Gentest für die Krebsprävention – die moderne Medizin scheint ein gesundes, leidfreies und planbares Leben möglich zu machen. Oft wird dabei an die „Selbstbestimmung“ und die „Eigenverantwortung“ appelliert: Frauen, so der Aufruf, sollen ihr Schicksal nicht mehr passiv hinnehmen, sondern ihr Leben durch den Konsum von Gesundheitsdienstleistungen und -produkten aktiv gestalten. Monika Hey, Journalistin und Supervisorin, hat ein Buch über die Schattenseiten dieses Glaubens an die technische Machbarkeit von Gesundheit geschrieben. Ihr Blick ist geschärft durch ihre eigene, schmerzliche Erfahrung mit einem Medizinsystem, das Leid und menschliche Unvollkommenheit als technisch lösbares Problem behandelt. Auf Druck der Ärzte willigt sie Ende des vierten Schwangerschaftsmonats in einen Schwangerschaftsabbruch ein. Sie gebiert das Kind, das sie annehmen wollte, wegen des vorgeburtlichen Testbefundes „Trisomie 21“ zu Tode. Zehn Jahre später blickt sie zurück und fragt sich: „Was ist mit mir passiert damals, dass ich meinen Kopf nicht mehr gebrauchen konnte und meine Gefühle mir nicht halfen, Widerstand zu leisten?“ Monika Hey erinnert und recherchiert. Und sie schreibt ein beeindruckendes Buch, das ihren sehr persönlichen Erfahrungsbericht mit einer Analyse des gesellschaftlichen und medizinischen Drucks auf schwangere Frauen, gesunde Kinder zu bekommen, verwebt. Sie schildert, wie ihre Frauenärztin für Anti-Aging wirbt, es aber nicht für nötig hält, sie über Zweck und mögliche Folgen des Routineultraschalls in der 12. Woche aufzuklären. Nachdem Ödeme sichtbar werden, landet Monika Hey da, wo sie nie hin wollte: beim Pränataldiagnostiker. Der Verdacht auf Trisomie 21 wird bestätigt, und die Gynäkologin drängt zum Schwangerschaftsabbruch. Um Leid zu verhindern, so die Botschaft. Monika Hey fügt sich. Für die Medizin ist das Problem mit dem Schwangerschaftsabbruch behoben.
Monika Hey jedoch braucht zehn Jahre, um „der entsetzlichen Erinnerung ein Gesicht zu geben“. „Mein gläserner Bauch“ ist kein Buch über einen Missstand im Medizinsystem, der sich einfach beheben ließe. Unabhängige Beratung hätte Monika Hey vielleicht helfen können, ihre Lähmung zu überwinden und ihren eigenen Weg zu gehen. In der medizinischen Schwangerenbetreuung sind die Weichen heute jedoch so gestellt, dass der vorgeburtliche Check-up samt eventuellem Schwangerschaftsabbruch geradezu vorprogrammiert ist. Beratung und psychosozialer Beistand, stellt Annegret Braun, langjährige Leiterin der unabhängigen Beratungsstelle „PUA“ in Stuttgart, fest, „laufen in diesem etablierten System Gefahr, lediglich für den reibungslosen Ablauf zu sorgen.“ Es gilt als Ausdruck von Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit, sich den Laborbefunden und wissenschaftlichen Expertisen der Pränataldiagnostik auszuliefern. Wie trügerisch dieses Versprechen von „Selbstbestimmung“ ist, machen Monika Heys Erfahrungen und Nachforschungen deutlich: „Werdende Eltern sollen heute technologisch ermittelten Entwicklungsprognosen vertrauen, obwohl diese niemals die konkrete, erlebte Wirklichkeit beschreiben können. Sie sollen selber Schicksal spielen, um zu beweisen, dass sie bereit und in der Lage sind, Verantwortung für ihr Schicksal zu übernehmen. Alles andere wird allzu häufig als verantwortungslos oder als mangelnde Einsicht gewertet.“ Monika Heys Buch enthüllt die Abgründe einer Gesellschaft, die vom Glauben an technische Machbarkeit beherrscht wird. Es ist die gelungene Verknüpfung von persönlicher Erfahrung, gut recherchierter Aufklärung und gesellschaftlicher Analyse, die das Buch auszeichnen. Es hat das Potenzial, eine längst überfällige Diskussion über die hohen sozialen Kosten einer technisierten und kommerzialisierten Medizin und des gesellschaftlichen Strebens nach Gesundheit auszulösen. Dr. Silja Samerski, Sozialwissenschaftlerin an der Universität Oldenburg
Deutsche Verlagsanstalt, München 2012, 224 Seiten, 19,99 Euro Dr. med. Mabuse 203 · Mai / Juni 2013
Buchbesprechungen
Elisabeth Stechl, Gernot Lämmler, Gabriele Brasse, Elisabeth SteinhagenThiessen, Catarina Knüvener
Praxishandbuch Demenz Erkennen – Verstehen – Behandeln
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as das Praxishandbuch Demenz aus der Flut der zu diesem mittlerweile allgegenwärtigen Thema erscheinenden Publikationen heraushebt, ist sein konsequent patientenzentrierter Ansatz. Im Fokus stehen grundsätzlich und zuvorderst die Betroffenen mit ihrem subjektiven Krankheitserleben und ihrer Lebensqualität. Schwerpunkt der ersten Kapitel ist daher die Darstellung der Erkrankung und ihrer Symptome nicht nur aus professioneller Sicht, sondern vor allem aus der Perspektive der Patienten. Beleuchtet werden etwa individuelle Bewältigungsstrategien im Umgang mit der Diagnose, Prinzipien der Patientenaufklärung und spezifische Probleme in fortgeschrittenen Stadien.
Dr. med. Mabuse 203 · Mai / Juni 2013
Relativ breiten Raum nimmt mit über 80 Seiten die leitliniengerechte Diagnostik und medikamentöse Therapie der häufigsten Demenzformen ein. Allgemeinmedizinisch oder hausärztlich tätige Kollegen finden hier einen umfassenden Überblick über die gegenwärtigen Diagnose- und Therapiestandards als Grundlage einer kompetenten Versorgung ihrer Demenzpatienten; ausgemachte Demenzspezialisten werden hier allerdings eher wenig Neues erfahren. Ausführlich werden zudem nicht-medikamentöse Interventionen, einschließlich innovativer Ansätze wie der tiergestützten Therapie oder H.I.L.DE. (Heidelberger Instrument zur Erfassung der Lebensqualität Demenzkranker), vorgestellt. Knapp gefasste Kapitel zu den Themen Prävention, Schmerz, Palliativversorgung am Lebensende, rechtliche Fragen und Sozialleistungen komplettieren das Handbuch. Der Anhang mit hilfreichen Adressen, Literaturempfehlungen sowie einigen Assessment- bzw. Screening-Instrumenten ist eine sinnvolle, wenngleich ausbaufähige Ergänzung.
Die häufig eingestreuten Fallbeispiele und Ausschnitte aus Interviews mit Patienten illustrieren die Krankheitsbilder und verleihen auch den Betroffenen eine Stimme. Ein weiterer Pluspunkt ist der günstige Preis von 37,90 Euro, der allerdings das gänzliche Fehlen farbiger Abbildungen erklärt. Insgesamt ist den AutorInnen ein umfassendes und dabei einzigartig patientenzentriertes, praxisnahes, multiprofessionell und ganzheitlich orientiertes Werk gelungen, das die Bibliothek aller an der Versorgung von Demenzpatienten Beteiligten bereichert. Dr. Kerstin Amadori, Fachärztin für Neurologie, Frankfurt am Main
Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2012, 352 Seiten, 37,90 Euro
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Buchbesprechungen
Julika Zwack
Wie Ärzte gesund bleiben Resilienz statt Burnout
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urnout ist in aller Munde. Handelt es sich um eine Modediagnose oder um ein Phänomen unserer heutigen Gesellschaft? Wie die Antwort auch lauten mag: Ein großer Teil der Bevölkerung leidet darunter und Beschäftigte im Gesundheitswesen gehören zu den gefährdeten Berufsgruppen. Dass auch Ärzte betroffen sind, wird selten thematisiert. Doch laut einer Umfrage spricht knapp jeder dritte Befragte von Burnout. Höchste Zeit umzudenken, denn: „Das Erkennen der eigenen Grenzen, […] und die Beschäftigung mit den eigenen Fähigkeiten und Ressourcen sind unabdingbare Voraussetzungen für gute ärztliche Arbeit“, meint Chirurg Bernd Hontschik im Geleitwort des Buches. Die Psychologin Julika Zwack von der Universität Heidelberg hat ein Konzept zur Burnout-Prophylaxe für Ärzte entwickelt und stellt dies in ihrem Buch vor. Es beruht auf den Ergebnissen einer von der Bundesärztekammer finanzierten Interviewstudie mit über 200 ÄrztInnen, die nach ihren Bewältigungsstrategien im Umgang mit den hohen Anforderungen ihres Berufes befragt wurden. Zwack lässt in das Konzept auch ihre therapeutische Erfahrung mit Ärzten einfließen.
Sie stellt sprachlich eingängig und wissenschaftlich fundiert Wege aus Burnout und Depression dar. Und sie zeigt Möglichkeiten auf, die ärztliche Tätigkeit sinnvoll zu (er)leben und dabei gesund zu bleiben. Das handliche Arbeitsbuch beginnt mit kurz, aber profund erläuterten Erkenntnissen aus der neurobiologischen und psychologischen Forschung zu Resilienz und Burnout. Die weiteren Kapitel beleuchten einzelne Facetten des Lebens als Arzt beziehungsweise Ärztin, die für die Burnout-Prophylaxe wichtig sind. Jedes Kapitel enthält mehrere Übungen, die der Selbstreflexion wie der Einübung ressourcenschonender Haltungen im ärztlichen Alltag dienen. Die Zitate von ÄrztInnen aus der Interviewstudie zeigen die Verankerung des Konzeptes in der ärztlichen Lebenswelt. Im abschließenden Kapitel steuert der Arzt Götz Mundle die Perspektive der Oberbergkliniken hinzu, die sich auf die Behandlung von an Depression, Angst und Substanzmittelmissbrauch leidenden Ärzten spezialisiert haben. Die Informationen über die Verbreitung von Burnout in der ärztlichen Berufsgruppe zeigen eindrücklich die Bedeutung der Thematik. Dies sowie die Beschreibungen von Krankheitsfällen dienen hoffentlich der Ermutigung betroffener Ärzte, sich dem eigenen Problem zu stellen. ÄrztInnen kann das Buch Leitfaden und Stütze sein, ihr Tun zu reflektieren und einem drohenden Burnout vorzubeugen.
Zwack bietet eine gelungene Darstellung des Themas in eingängiger Sprache: fundiert genug, um die Problematik auf dem Stand neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse zu erläutern; prägnant und kurz genug, um gerade von den unter Zeit- und Leistungsdruck stehenden ÄrztInnen auch gelesen zu werden. Die Übungen zur Selbstreflexion und die Wege zur Veränderung des eigenen Handelns sind in kleinen Schritten umsetzbar. Sie können auch Anstoß geben, sich für diesen Prozess professionelle Unterstützung zu suchen. Das Buch richtet sich an ÄrztInnen in ihrem herausfordernden Alltag. Die Grundprinzipien lassen sich jedoch auch auf andere Professionen im Gesundheitswesen übertragen. Auch sie werden von der Lektüre profitieren. Man wünscht dem Buch ein breites Bekanntwerden. „Gesund und zufrieden bleiben als Arzt – geht das?“, fragt Zwack zu Beginn ihres Buches. Ja, es geht, glaubt man nach der Lektüre ihres Buches, aber: it’s simple, but not easy. Vera Kalitzkus, Medizinethnologin und Mentorin für Persönlichkeitsbildung, Düsseldorf und Lübeck
Thieme Verlag, Stuttgart 2013, 102 Seiten, 39,99 Euro
Dr. med. Mabuse 203 · Mai / Juni 2013
Buchbesprechungen
Werner Tschan
Sexualisierte Gewalt Praxishandbuch zur Prävention von sexuellen Grenzverletzungen bei Menschen mit Behinderungen
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m Zentrum des Buchs steht die Geschichte eines Sozialtherapeuten, der über viele Jahre hinweg in Behinderteneinrichtungen geistig Behinderten, die man ihm anvertraute, Gewalt angetan hat. Dieser Fall dient der Erläuterung der Problematik, „dass Institutionen Hochrisikobereiche für Fehlverhalten von Fachleuten darstellen“. Der Autor stellt die Frage, warum dieses Problem lange nicht wahrgenommen wurde und was dagegen unternommen werden könnte. Er weiß, wovon er schreibt, denn er ist Facharzt für Psychiatrie, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit sexualisierter Gewalt in Institutionen und hat deren Bekämpfung zu seinem Thema gemacht. Hin und wieder schießt er über das Ziel der aktivierenden Aufklärung hinaus. Etwa wenn er in einer starken Empörungshaltung über „Täternetzwerke“ schreibt und mit nicht nachprüfbaren Zahlen aus verschiedenen Ländern argumentiert, die Quellen aber nicht benennt und die Aussagekraft der Zahlen nicht problematisiert. Zudem wirken die häufigen Wiederholungen und die episodenhaften Erzählungen ermüdend. Die von Anfang an zentrale Tätergeschichte von H.S. hätte gleich zu Beginn dargestellt und nicht erst auf S. 55 eingeführt werden sollen. Stattdessen beginnt das Buch mit Definitionen, dem Spektrum von Fehlverhalten in Institutionen, dem Aufdecken der Missbrauchsfälle in Kirche und Odenwaldschule sowie Mythen und Fakten zu sexualisierter Gewalt, wobei auf die erst später ausgeführte Fallgeschichte von H.S. immer wieder Bezug genommen wird. Auch wichtige Begriffe wie „Stiftung Nische“ oder „Stiftung Linda“ – zwei schweizerische Stiftungen, die sich für Menschen mit betreuungsintensiven Behinderungen bzw. für einen neuen Umgang mit sexuellem Missbrauch in öffentlichen und privaten Institutionen einsetzen – werden nicht näher erläutert. Außerdem sind viele Zitate (einschließlich der zahlreich verwendeten Zeitungsartikel) nicht überprüfbar, weil deren Herkunft nicht belegt ist. Dr. med. Mabuse 203 · Mai / Juni 2013
Zudem ist der Buchtitel irreführend. Es geht nur am Rande um Menschen mit Behinderungen. Hauptsächlich ist der Blick auf Täter in Institutionen gerichtet, die weit über Behinderteneinrichtungen hinausgehen – zum Beispiel auf den ehemaligen Leiter der Odenwaldschule Gerold Becker (der fälschlicherweise als Guido Becker eingeführt wird) oder den ehemaligen Rektor der schwedischen Polizeihochschule Göran Lindberg. Der Autor sieht eine wesentliche Präventionsmaßnahme in der Aufdeckung der strukturellen Hintergründe, die die Täter bislang gewähren ließen: etwa die Tatsache, dass kein Risikobewusstsein bei den Vorgesetzten besteht, die gesetzlichen Bestimmungen unklar sind und in der Ausbildung sexualisierte Übergriffe und Prävention nicht thematisiert werden. Er fordert bei der Personalauswahl eine „Kultur des Hinschauens, des Achtsamseins und des Nachfragens“. Dazu gehören laut Autor auch „Genderfragen“ und der Verzicht auf „Genderpolarisierung“; beide Begriffe werden leider nicht näher erläutert. Statt einer zaghaften Andeutung wäre hier eine weitere Präzisierung insbesondere zur männlichen Opferwerdung vor dem Hintergrund gängiger Männlichkeitskonstruktionen klärend. Immer wieder irritiert die vereinfachende Denkweise des Autors im Feld der Täter-Opfer-Dynamik. Scheinbar geht es um beide Gruppierungen, in Wirklichkeit setzt sich jedoch die Perspektive auf die Täter durch – und zwar auf Kosten der Opfer. Diese werden weitgehend nur zur Illustration der Notwendigkeit von Täterprophylaxe thematisiert. Täter und Opfer sind meines Erachtens keine analytischen Kategorien, sondern politische Begriffe mit einem hohen polarisierenden Potenzial. Werner Tschan wähnt sich auf der Seite der Wenigen, die sich den Tätern entgegenstellen, und bleibt damit selbst in die Täter-Opfer-Dynamik verstrickt. Hier wäre eine aktive selbstkritische Reflexion über die eigenen Motive und die Haltung des Autors wünschenswert gewesen. Hans-Joachim Lenz, Sozialwissenschaftler und Geschlechterforscher, Freiburg im Breisgau
Hans Huber Verlag, Bern 2012, 204 Seiten, 28,95 Euro
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Katarina Greifeld (Hg.)
Medizinethnologie Eine Einführung
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ieser Band möchte Interessierte über den aktuellen Stand der Medizinethnologie informieren. Gleichzeitig zeigt er auf, was Medizinethnologie in Deutschland ist, sein kann und wo ihre Desiderate liegen. Thematische Vorgänger dieses Buches sind unter den Titeln „Krankheit und Kultur“ (1985) sowie „Ritual und Heilung“ (1995) erschienen. Ein klar abgegrenztes Fach Medizinethnologie gibt es in Deutschland ebenso wenig wie Lehrstühle dafür. Dass sich eine ethnologische Betrachtungsweise der Medizin- und Heilssysteme dennoch lohnt, verdeutlichen die insgesamt sechs Kapitel, die sich auf die Medizin in unterschiedlichen Kontinenten beziehen. Zwei Kapitel wenden sich der weiblichen und männlichen Beschneidung zu. Diese aus kulturellen/religiösen Gründen immer häufiger auch von Medizinern durchgeführte Praxis hat im vergangenen Jahr in Deutschland viel Aufmerksamkeit erfahren und verdeutlicht die Relevanz der Medizinethnologie. Medizinethnologie ist eher eine Herangehensweise an die Welt als ein etabliertes Forschungsfeld, also ein Zwischenbereich, der sich zwischen Ethnologie, Soziologie und Medizingeschichte als Nischenfach zu halten versucht. In der Betrachtung stehen Heilkonzepte und Gesundheitsdefinitionen, teils fokussiert auf einen Kulturkreis, teils auf ein Land oder, wie die Gliederung der Kapitel ausweist, auf einen Kontinent. Für einige Teile der Welt – Südamerika, Ozeanien, Europa und Afrika – werden in den Kapiteln ausführliche Darstellungen medizinethnologischer Studien gegeben. Exemplarisch greifen die jeweiligen AutorInnen einzelne Kulturen mit ihren Ritualen, Gebräuchen und Praktiken heraus. Es wird deutlich, wie groß der Einfluss der europäischen Medizin war und ist: Als Herrschaftsinstrument des Kolonialismus übernahm sie quasi die Funktion einer Speerspitze mit Widerhaken. Doch durch den Blick auf Europa zeigt sich auch, dass die medizinethnologische Herangehensweise längst nicht mehr nur nach der Dichotomie von vertraut und fremd fragt. Welches Verhalten als gesund, welches als schädlich angese-
hen wird, ist einem ständigen Wandel unterworfen. Man denke nur an die sich verändernde Haltung in Deutschland zum Genuss von Tabak, Alkohol oder Zucker. Welche Verfahren für welche Krankheiten am besten geeignet sind, ist nicht nur eine Glaubensfrage, sondern auch eine Frage der Zugangsmöglichkeit. Die Misteltherapie bei Krebskranken etwa folgt dem Analogieprinzip, das auch in der anthroposophischen Medizin, quasi als magische Begründung, angewendet wird. Diese Behandlung wird in das biomedizinische Setting in Deutschland miteinbezogen, auch wenn es keine Erklärung dafür gibt. In Ozeanien hat die Übernahme der amerikanischen Junk-Food-Ernährung dazu geführt, dass die Zahl der Adipösen und Diabetiker in die Höhe geschnellt ist. Oder liegt es doch an der weniger Schuld zuweisenden, aber auch aus dem europäischen Heilsystem stammenden Erklärung eines „schwachen Gens“? In den Artikeln scheint eine beschränkte Wahrnehmung und Darstellung lokaler Heilsysteme und -praktiken auf angewendete Pflanzen und anderweitige Präparate durch die Dominanz der Pharmaindustrie mitbedingt zu sein, die in indigenen Kulturen nach Mitteln gegen biomedizinisch definierte Krankheiten fahndet. Methoden der Heilung und Deutungen von Krankheiten jenseits biomedizinischer Erklärungsmodelle, die unverständlich und unerklärbar erscheinen, geraten gerne aus dem Blick, werden jedoch von Arbeitsgruppen in verschiedenen Disziplinen zu „Medizin und Migration“ bearbeitet, die in diesem Buch eher am Rande erwähnt werden. Es zeigt sich, dass es neben Sprachbarrieren noch andere Verständigungshindernisse gibt, etwa unterschiedliche Erklärungen für die Ursache einer Krankheit. Insgesamt handelt es sich um einen gut konzipierten und flüssig zu lesenden Band, der versucht, lokale Studien in ein übergeordnetes Bild zu fassen. Dr. med. Marion Hulverscheidt, Ärztin und Medizinhistorikerin, Berlin
Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2013, 204 Seiten, 19,95 Euro Dr. med. Mabuse 204 · Juli / August 2013
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Karin Tiesmeyer
Familien mit einem krebskranken Kind Möglichkeiten und Grenzen edukativer Unterstützung
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ie Autorin widmet sich in ihrer Dissertation Familien mit einem onkologisch erkrankten Kind und deren Bedarf an edukativer Unterstützung im Rahmen der Krankheitsbewältigung. Neu ist an ihrem Ansatz, dass damit unterschiedliche, zum Beispiel schichtspezifische Bedürfnisse in den Blick genommen werden sollen. Tiesmeyer orientiert sich unter anderem am Modell der Krankheitsverlaufskurve von Corbin und Strauss sowie am Phasenmodell von Schaeffer und Moers, das vor allem das Bewältigungshandeln in den Blick nimmt. Davon ausgehend wird vermutet, dass sich der Bedarf an edukativer Unterstützung im Verlauf der Erkrankung verändert. Zunächst erläutert Tiesmeyer literaturgestützt die Häufigkeit von Krebserkrankungen im Kindes- und Jugendalter sowie daraus resultierende Unterstützungsbedarfe. Entsprechende Angebote sollen dazu beitragen, weitere Erkrankungen zu vermeiden oder auch die Folgen zu mildern. Hier stehen besonders Eltern und Geschwister im Fokus. Im Weiteren verweist Tiesmeyer darauf, dass Studienergebnisse zeigen, dass gesundheitliche Belastungen und Ressourcen von Kindern und Jugendlichen eng mit ihrem sozioökonomischen Status verbunden sind. Aus diesen Erkenntnissen resultieren die Forschungsfragen: 1. Wie stellt sich der Bedarf an Edukation aus Sicht der Betroffenen und deren Familien dar? 2. Welche sozialen Einflüsse auf den Bedarf lassen sich identifizieren? Deutlich wird im referierten Forschungsstand, dass soziale Einflussfaktoren wie Alter, Geschlecht oder sozialer Status Einfluss auf den Edukationsbedarf nehmen. So gelten Jugendliche als besonders vulnerabel, da sie die Behandlung häufiger ablehnen, Mädchen zeigen weniger Selbstvertrauen und mehr Angst als Jungen und der sozioökonomische Status beeinflusst nachhaltig die Rate an Langzeitüberlebenden. Der Bedarf von Eltern onkologisch erkrankter Kinder unterscheidet sich ebenfalls: Der Informationsbedarf ist am größten, es folgen emotionale, Dr. med. Mabuse 204 · Juli / August 2013
praktische, spirituelle und physische Bedarfe. Der theoretische Teil der Arbeit mündet in eine zusammenfassende Betrachtung zum methodischen Vorgehen: zum Beispiel die Durchführung von Interviews bei einzelnen Familien zu mehreren Zeitpunkten. Die Autorin führte dem Forschungsstil der Grounded Theory folgend 20 kontrastierende Familieninterviews durch, die sie durch Beobachtungen und Experteninterviews mit professionellen Akteuren ergänzte. Wichtige Informationen zu den Familien, zum Interviewleitfaden und zum Untersuchungsablauf finden sich im Anhang. Die Ergebnisse der Studie sowie deren Interpretation führen zu einer veränderten Einschätzung der Bedeutung sozialer Einflussfaktoren: Bildungsgrad, sozioökonomischer und familiärer Status führen in dieser Studie nicht in der erwarteten Stärke zu einem veränderten edukativen Unterstützungsbedarf. Sie wirken sich aber auf die Handlungsspielräume und das Bewältigungshandeln aus, etwa wenn es um deren Inanspruchnahme geht. Sehr klar herausgearbeitet werden die Einflussfaktoren und Unterstützungsbedarfe in den unterschiedlichen Phasen des Krankheitsverlaufes. Tiesmeyer entdeckt unerwartet die Bedeutung von Be- und Entwertung: Angst vor Be- und Entwertung durch das Umfeld oder professionelle Akteure ist bisher nicht in dieser Deutlichkeit herausgearbeitet worden und bedarf einer weiteren Exploration. Sie führt zu Verschleierungen, wenn etwa von professionellen „Ratschlägen“ (z.B. der Medikamenteneinnahme) abgewichen wird, und steht konträr zu einer vertrauensvollen Beziehung. Das Buch bietet neben den genannten Ergebnissen viele relevante Hinweise, die in der Begleitung von Familien mit einem krebskranken Kind bedeutsam sind. Es wird allen Gesundheitsberuflern und professionellen Akteuren, die mit der Thematik in Kontakt sind, empfohlen. Andrea Schiff, Professorin für Pflegewissenschaft an der Kath. Hochschule NRW
Hans Huber Verlag, Bern 2012, 244 Seiten, 34,95 Euro
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Neuerscheinungen im Mabuse-Verlag
Axel Flügel
Public Health und Geschichte Historischer Kontext, politische und soziale Implikationen der öffentlichen Gesundheitspflege im 19. Jahrhundert
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Helga Seyler
Lesbische Ärztinnen Erfahrungen und Strategien im Berufsleben 199 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-86321-132-5 Das Buch präsentiert Ergebnisse zahlreicher Interviews und Gruppendiskussionen. Lesbische Ärztinnen werden mit ihren Berufswegen und Erfahrungen porträtiert.
Ursula Laag
Pflegewissenschaftliche Gutachten in zivilen Rechtsstreitigkeiten 193 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 978-3-86321-148-6 Das Buch erläutert die besonderen Anforderungen an pflegewissenschaftliche Gutachten in zivilen Haftungsprozessen. Es zeigt, dass pflegewissenschaftliche Sachverständige hier spezifische und unverzichtbare Kompetenzen einzubringen haben. Mabuse-Verlag GmbH Kasseler Str. 1 a · 60486 Frankfurt Tel. 069-70 79 96-16 · Fax 069-70 41 52 buchversand@mabuse-verlag.de www.mabuse-verlag.de
er Bielefelder Historiker Axel Flügel hat in der von Petra Kolip herausgegebenen Reihe „Grundlagentexte Gesundheitswissenschaften“ eine Chronik der Entwicklung des öffentlichen Gesundheitswesens im Deutschen Reich vom ausgehenden 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert veröffentlicht. In der Einleitung stellt Axel Flügel anhand des Beispiels des mehrgliedrigen Versicherungswesens in Deutschland dar, wie Geschichte gegenwärtige Zustände erklären kann. Er richtet sich dabei besonders an GesundheitswissenschaftlerInnen, die „sich in ihrem Feld mit dem Übergewicht der medizinischen Disziplin und der ihr eigenen expansiven Tendenz auseinanderzusetzen haben. Es kann in dieser Lage helfen zu wissen, wie das vorliegende Gesundheitssystem entstanden ist und warum die Ärzte in ihm diese Stellung einnehmen.“ Im zweiten Kapitel skizziert Axel Flügel die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts, wie den Übergang von einer bäuerlich zu einer industriell geprägten Gesellschaft und die beginnende Trennung von Staat und Kirche. Er umreißt knapp und anschaulich die grundlegenden Entwicklungen im Deutschen Reich, bevor er am Beispiel der Stadt Bielefeld das Entstehen einer modernen Krankenversorgung erläutert. Bemerkenswert ist hier, dass die Hebammen der einzige Gesundheitsberuf im Deutschen Reich beziehungsweise in der Bundesrepublik sind, dessen Personalbestand seit 1887 kontinuierlich gesunken ist. Das Krankenpflegepersonal hingegen, das 1887 noch weniger Angehörige hatte als der ärztliche Beruf, war 1909 bereits doppelt so stark wie die Ärzteschaft. Umso bedauerlicher ist es, dass der Autor so gut wie nicht auf die professionell Pflegenden, ihre Rolle für die öffentliche Gesundheitsfürsorge und die umfangreiche historische Pflegeliteratur eingeht. In den folgenden Kapiteln befasst der Autor sich mit der „medizinischen Poli-
cey“ als Vorläuferin staatlicher Gesundheitsfürsorge bis hin zur Sozialhygiene des 20. Jahrhunderts. Sachkundig und kurzweilig erzählt er die Geschichte dieser Institution und ihres Tätigkeitsspektrums. Axel Flügel zitiert für das Buch zahlreiche Originalpublikationen der wichtigsten Ärzte und Politiker – vom Staatswissenschaftler Robert von Mohl (1799– 1875) über die Ärzte Salomon Neumann (1819–1908) und Rudolf Virchow (1821– 1902) bis hin zu dem Begründer der Sozialen Hygiene Alfred Grotjahn (1869–1931) – und fügt jedem Kapitel ausgewählte Quellen als Anhang bei. Zur Einordnung zieht er klassische Übersichtswerke heran. Der Literaturanhang ist thematisch sortiert und stellt eine gute Übersicht besonders für Studierende, die auf Flügel aufbauend forschen wollen, dar. Das Zahlenmaterial, etwa zu Krankenhausträgern in Preußen oder zum medizinischen Personal, wird durch jeweils drei Abbildungen und Tabellen veranschaulicht. Angesichts der derzeitigen Debatte in der EU um die ethischen Grundlagen klinischer Studien bekommt Flügels Darstellung des Paradigmenwechsels in der öffentlichen Gesundheitsvorsorge vom Individualnutzen hin zum „Volksganzen“ eine durchaus aktuelle Komponente. Der Autor nutzt den historischen Rahmen des Texts, um für ethisch fragwürdige Entwicklungen der Gegenwart zu sensibilisieren. Diese hervorragende Chronik deutscher (Medizin-)Geschichte kann als Standardlektüre für Einführungen in medizinhistorischen Seminaren und der Geschichte der Gesundheitswissenschaften empfohlen werden. Anja K. Peters, Kinderkrankenschwester und Diplom-Pflegewirtin (FH), Doktorandin am Institut für Geschichte der Medizin an der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald
Beltz Juventa, Weinheim und Basel 2012, 198 Seiten, 24,95 Euro Dr. med. Mabuse 204 · Juli / August 2013
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Heike Wolter
Mein Sternenkind Begleitbuch für Eltern, Angehörige und Fachpersonen nach Fehlgeburt, stiller Geburt oder Neugeborenentod
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eute gehört neben der Gesunderhaltung und Heilung von Krankheiten die Palliation und Begleitung von Sterbenden gleichberechtigt zu den Aufgaben von ÄrztInnen, Pflegenden und anderen Gesundheitsberuflern – auch in der Betreuung von Schwangeren, Neugeborenen und ihren Eltern. Wenn nötig, sind die Fachpersonen Wegbereiter eines menschenwürdigen Sterbens. Ihre Einstellung zum Sterben und ihre Art der Trauerbegleitung tragen wesentlich zur Trauerarbeit der Eltern bei und sind die Basis für den lebenslang anhaltenden Trauerprozess von Eltern und Geschwistern. Leider wird dem Thema Sterbebegleitung in der Ausbildung noch immer zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Deshalb ist es sehr verdienstvoll, dass sich Heike Wolter in ihrem Buch diesem Thema widmet. Der Untertitel „Begleitbuch für Eltern, Angehörige und Fachpersonen nach Fehlgeburt, stiller Geburt oder Neugeborenentod“ zeigt die umfassende Zielgruppe, an die sich das Buch richtet. Heike Wolter schreibt als studierte Germanistin und Historikerin, nicht als Fachfrau, sondern aus ihrem eigenen Erleben heraus als betroffene Mutter nach dem Tod ihrer Tochter während der Geburt. Doch das Buch ist keiner der üblichen Erfahrungsberichte, sondern ein wichtiges „Lehrbuch“ für alle Beteiligten. Es lässt im ersten Teil 39 betroffene Eltern zu Wort kommen und deckt damit ein breites Spektrum unterschiedlicher Verlustursachen und Verarbeitungsmechanismen ab. Die in den Blick genommenen Kinder waren wegen Fehlbildungen abgetrieben worden, verstarben entweder bereits vor der Geburt oder als Frühgeborene oder reife Neugeborene an Geburtskomplikationen, Infektionen und angeborenen Fehlbildungen. Dieser reiche Erfahrungsschatz der Eltern, der einen selbst als langjährig in diesem Bereich tätigen Kinderarzt betroffen macht, ist das Besondere und Bemerkenswerte an diesem Buch. Als im Gesundheitswesen Tätige können wir Dr. med. Mabuse 204 · Juli / August 2013
daraus viel lernen, um den Eltern achtsamer, feinfühliger und in unserem Tun sicherer zu begegnen und ihnen die Unterstützung und Begleitung zukommen zu lassen, die sie erwarten. Ausgehend von den Erfahrungsberichten der Eltern, die immer wieder ausschnittweise jeweils zum Thema passend eingefügt sind, entwirft Heike Wolter im zweiten Teil des Buches ein Handlungskonzept. Chronologisch geordnet werden kapitelweise die ersten Schritte um das Todesereignis thematisiert: die Frage nach dem Warum; besondere Situationen; Trauer, Erinnerung und Heilung; Weiterleben; Folgeschwangerschaften; Väter und Partnerschaften; Geschwister und Großeltern sowie Mitmenschen. Schließlich runden in einem eigenen Kapitel Hinweise für Fachpersonen – vom Geburtshelfer über KinderärztInnen, Hebammen und Stillberaterinnen bis hin zu Priester und Bestatter – das Buch ab. Der Anhang bietet praktische Hilfen wie ein Glossar, Hinweise auf Beratungsstellen, Literaturempfehlungen, Tipps für die Gestaltung eines Trauergottesdienstes und einen Leitfaden für geburtshilfliche Stationen. Da viele ärztliche und therapeutische Ausbildungen noch immer zu wenig Hintergrundwissen zur Begleitung von Eltern bei Fehlgeburt oder dem Tod eines Neugeborenen vermitteln, bietet dieses Buch eine wertvolle Informationsquelle aus erster Hand. Es sei allen, die sich dieses Themas annehmen, dringend empfohlen, es für ihre Arbeit zu nutzen. Nicht nur zur eigenen Lektüre, sondern auch als Empfehlung für betroffene Eltern – eventuell sogar schon vor einem absehbaren Verlust. Denn auch für die Betroffenen ist es ein hervorragender, klar aufgebauter und gut lesbarer Ratgeber, der ihnen hilft, die Herausforderung, ein Kind zu verlieren oder verloren zu haben, besser zu bewältigen. Dr. Friedrich Porz, 2. Klinik für Kinder und Jugendliche, Klinikum Augsburg
edition riedenburg, Salzburg 2012, 372 Seiten, 27,90 Euro
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Hartwig Hansen (Hg.)
Der Sinn meiner Psychose Zwanzig Frauen und Männer berichten
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ereits der Titel des Buches macht klar: Psychosen als ausschließlich chaotisches, befremdliches oder gar selbstschädigendes Erleben und Verhalten wahrzunehmen, wird Menschen in seelischen Krisen nicht gerecht. Hier berichten zwanzig AutorInnen über ihre veränderten Wahrnehmungen, über Phasen tiefer Verzweiflung, über ihr Überfordertsein, aber auch vom Suchen, Verstehen und Sichwiederfinden. Herausgerissen aus dem „normalen“ Leben, hat sie ihre Suche zu einem neuen Verhältnis gegenüber ihrer Psychose geführt. Nicht immer verbunden mit der Auflösung seelischer Turbulenzen und traumatischer Kindheitserfahrungen – aber die zwanzig Beispiele zeigen, dass ein neues, selbstbewusstes Leben und eine neue Identität trotz der Achterbahn von Gefühlen möglich sind. Eine Psychose kann reich machen an Kontakten, Erfahrungen und neuen Möglichkeiten, selbst wenn man materiell verarmt, wie Martin Stoffel schreibt. Psychose beinhaltet die Gefahr des Selbstverlustes oder die Chance der Selbstfindung, so formuliert zum Beispiel Anna P. die hilfreiche Auseinandersetzung mit ihrer Psychoseerfahrung. In allen Beiträgen eröffnet sich nach und nach eine neue Welt. Lohnt es sich das Buch zu lesen? Uneingeschränkt ja. Hier wird kein Voyeurismus über besondere Lebensläufe bedient. Die AutorInnen helfen uns, einen Zugang, ein Verständnis für ihre häufig dramatischen Lebens- und Krisenbewältigungen zu finden. Freunde, Angehörige, Behandler und von Krisen Betroffene sollten das Buch nutzen, um zu verstehen, was aus der Außensicht oft als unverständlich, entrückt, selbstschädigend wahrgenommen wird – und dass es danach stets ein „Weiter“ gibt, dass eine Psychose auch Startund nicht nur Endpunkt sein kann. Bitter fällt auf, dass viele der AutorInnen die klinische Standardbehandlung als nicht hilfreich, manche sie sogar als schädlich empfunden, ja geradezu erlitten haben. Dass sie, konfrontiert mit einem rigiden neurobiologischen Behandlungsmodell, mit rationalen Erklärungen und
missachteten Wünschen, herzlich wenig mit dieser Art von „Therapie“ anfangen können. Dass sie hingegen Geduld, Akzeptanz und Offenheit für spirituelle Fragen als Hilfen außerhalb des Heilmittelkatalogs sowie eine Psychotherapie, die den Namen verdient, als ungemein hilfreich empfanden. Wundern soll uns dies nicht, denn weder in einem klassischen Krankheitsmodell noch im Heilmittelkatalog ist der „Sinn“ einer Erkrankung vorgesehen. Insofern ist dieses Buch wirklich etwas Neues. Hier sprechen Menschen über ihre veränderten psychischen Zustände radikal anders, als es die klassische Krankheitslehre vorsieht. Dies macht es höchst wertvoll und fachpolitisch bedeutsam. Dahinter steht jedoch viel mehr als „nur“ eine biografische Aufarbeitung von zwanzig Schicksalen. Das Buch ist Dokument eines neuen Selbstbewusstseins und der Fähigkeit, über etwas zu sprechen und zu schreiben, was noch vor 20 bis 40 Jahren zu einer dauerhaften Psychiatrisierung in Langzeitbereichen geführt hätte. Es ist ein Dokument des sich selbst und andere Verstehens, weit über die biografische Selbstreflexion hinaus. Die Botschaft der Texte hat die Qualität eines Lehrbuches für Psychiatrie. Es ist jedem jungen Psychiater, jeder Psychologin und jedem Sozialarbeiter in die Hand zu drücken. Damit sie und wir verstehen, wie viel mehr Sinnsuche, Anstrengung und Leistung hinter dem Verhalten der Betroffenen steckt. Sie haben viel von der Psychose gelernt und können nun mit ihr leben. Das ist ungeheuer viel. Dem Herausgeber Hartwig Hansen – als Psychologe zugleich Paar- und Familientherapeut und Supervisor – ist die Thematik aus seiner profunden Kenntnis der Psychiatrie bestens vertraut. Ihm gebührt Anerkennung dafür, nicht nur die zwanzig Texte zusammengetragen, sondern auch die Bedeutung und Leistung dieser kritischen Lebensläufe für uns erkannt und in einem hilfreichen Nachwort eingeordnet zu haben. Christian Zechert, Soziologe und Sozialarbeiter, Bielefeld
Paranus Verlag, Neumünster 2013, 200 Seiten, 19,95 Euro Dr. med. Mabuse 204 · Juli / August 2013
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Hilde Steppe (Hg.)
Krankenpflege im Nationalsozialismus 10., aktualisierte u. erweiterte Auflage
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ndlich ist sie da, die Neuauflage des seit Langem vergriffenen Standardwerks zur Geschichte der Krankenpflege im Nationalsozialismus (NS). Die Frage, ob man sich bei der nunmehr zehnten Auflage mit einem Nachdruck der neunten begnügen oder etwas Neues gestalten sollte, fand eine kluge Lösung. In das von Hilde Steppe herausgegebene Werk wurde nicht eingegriffen. Es erhielt aber eine Erweiterung durch sieben Beiträge der neueren Forschung sowie eine aktuelle umfangreiche Bibliografie zur Geschichte der Krankenpflege im NS. Letztere umfasst erfreulicherweise auch wichtige Arbeiten zur Medizin- und Sozialgeschichte dieser Zeitspanne. Die neue Auflage ist also zweigeteilt. Sie beginnt mit dem immer noch sehr bedeutsamen ursprünglichen „Sachbuch“, das die Pflegenden dazu animieren wollte (und weiterhin will), sich mit der Geschichte ihres Berufs auseinanderzusetzen und dafür wichtige Informationen bietet. Dieser Funktion entsprechend wurde damals auf einen großen Fußnotenteil verzichtet. Gleichwohl haben die AutorInnen Belege für die Herkunft ihrer Quellen beigefügt, sodass das dort Wiedergegebene nachprüfbar ist. Der neu hinzugekommene Teil ist durch einen umfangreichen Fußnotenapparat gekennzeichnet, wie er von wissenschaftlichen Texten erwartet wird. Das von Hilde Steppe herausgegebene Werk ist für die Lehre der Pflegegeschichte im „Dritten Reich“ einschließlich ihrer Vorgeschichte immer noch von größtem Nutzen. Auch die dort zur Verfügung gestellte Zeittafel und der Überblick über die Krankenpflegeausbildung sind ungemein hilfreich. So ergänzen sich Überblick und Vertiefung einzelner Aspekte auf sehr gelungene Weise. Die neu hinzugekommenen Beiträge erweitern die Perspektive auf zusätzliche Themen. Sie beginnen mit einem Beitrag von Mathilde Hackmann zur ambulanten Pflege am Beispiel der Gemeindepflegestationen im Bezirk Osnabrück und der Stadt Hamburg, die von NS-Schwestern besetzt werden sollten. Daran schließt sich ein Überblick zur Geschichte der „GeDr. med. Mabuse 204 · Juli / August 2013
schlossenen Altersfürsorge“ von der Weimarer Republik bis 1945 von Michael Graber-Dünow an. Edgar Bönisch und Birgit Seemann stellen die Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Frankfurt am Main während der NS-Zeit vor, zu der es seit einigen Jahren ein von ihnen ständig aktualisiertes Internetportal gibt, das unbedingt zu empfehlen ist (www.juedische-pflegegeschichte.de). Thomas Foth untersucht die Funktion von Krankenakten in der Psychiatrie und die Rolle von Pflegeaufzeichnungen bei der Entscheidung, welche PatientInnen im Rahmen der „Euthanasie“ als „lebensunwertes Leben“ ermordet werden sollten. Mit Krankenschwestern im System der Konzentrationslager, und zwar sowohl im sogenannten Häftlingsrevier als auch im SSLagerlazarett, befasst sich Petra Betzien. Die Hebammen sind mit zwei Beiträgen vertreten: Wiebke Lisner untersucht die Rolle und Position der ambulant arbeitenden Hebammen und der in der Klinik tätigen Hebammen-Schwestern im NS, während Marion Schumann die Hebammen und ihre Berufsorganisationen nach 1945 in den Blick nimmt. Die begrüßenswerte thematische Erweiterung der Neuauflage geht leider zulasten des Umfangs der einzelnen Beiträge, denen der Verlag enge Grenzen gesetzt hat. Das ist jedoch der einzige Kritikpunkt, den man dieser Auflage machen kann. Die Themenbreite ermöglicht nicht nur eine Ausweitung der Beschäftigung mit und der Lehre von Aspekten der Krankenpflege im NS, sondern regt auch zu weiteren notwendigen Forschungen an. Und trotz der inzwischen vorliegenden oder in Arbeit befindlichen Untersuchungen zur Geschichte der Krankenpflege im NS hat das vorliegende Buch seinen Charakter als Standardwerk nicht eingebüßt. Auch deshalb ist ihm eine erneute breite Rezeption sehr zu wünschen. Sylvelyn Hähner-Rombach, Medizin- und Pflegehistorikerin, Stuttgart
Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2013, 355 Seiten, 29,90 Euro
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Jubelnde Schwestern Die „Jubelnden Schwestern“ bringen Schwung in Ihren Alltag! Postkarten „Jubelnde Schwestern“ und „Glückwunsch“ Staffelpreise: ab 1 Ex.: 1 Euro/Stück ab 30 Ex.: 90 Cent/Stück ab 50 Ex.: 80 Cent/Stück Nr. 16820 und Nr. 17876
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Buchbesprechungen
Peter Fiedler (Hg.)
Die Zukunft der Psychotherapie Wann ist endlich Schluss mit der Konkurrenz?
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sychotherapie ist hip. Krankenkassen und Rentenversicherung sind besorgt über den Anstieg von Arbeitsunfähigkeitstagen und Frühberentungen aufgrund psychischer Erkrankungen. Psychosomatische Kliniken sprießen wie Pilze aus dem Boden und drohen die psychiatrischen Kliniken auszutrocknen, was das therapeutische Personal anbelangt. Psychologische Psychotherapeuten und vor allem -therapeutinnen erobern den Markt. Verteilungskämpfe zwischen ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten sind an der Tagesordnung. Denn die gesamte Bevölkerung besteht aus potenziellen Psychotherapiepatienten. Den Krankenkassen schwant mittlerweile, dass es sich um ein Fass ohne Boden handelt. Sie werden unruhig und denken über Begrenzungen nach. Zur Zukunft der Psychotherapie aus dieser Perspektive sagt das Buch nichts – mit Ausnahme des Eingeständnisses, dass in den Psychotherapie-Anträgen meist Potemkinsche Dörfer aufgebaut werden. Vielmehr beschäftigen sich die zehn zum Teil sehr namhaften AutorInnen, allesamt aus den Heidelberger Universitätskliniken und dem dortigen psychologischen Institut, mit den konzeptuellen Weiterentwicklungen innerhalb der Psychotherapie und den Reibungen zwischen den unterschiedlichen Ansätzen. Die AutorInnen repräsentieren unterschiedliche Schulen, einige sind um einen konstruktiven Dialog bemüht, bei anderen scheint es, als wollten sie konflikthaften Themen eher ausweichen. Manche Beiträge sind erfrischend klar und prägnant, auch in positivem Sinne provozierend. Andere sind teilweise schwer verständlich und ermüdend wie der zur Neurobiologie. Christoph Mundt spannt einen kenntnisreichen Bogen über die Geschichte der Psychotherapie schizophren Erkrankter. Spannend sind auch die Ausführungen von Rainer Bastine über die Bedeutung der psychischen Komorbidität, die nicht die Ausnahme, sondern die Regel darstellt und alleine schon dadurch die derzeit so hoch im Kurs stehenden störungsspezifischen Ansätze infrage stellt, die Bastine Dr. med. Mabuse 205 · September / Oktober 2013
lediglich als – wenn auch wichtigen – Zwischenschritt bezeichnet: Der Anteil der spezifischen therapeutischen Methode am Behandlungserfolg liegt demnach bei nur 15 Prozent. Der Kinder- und Jugendpsychiater Franz Resch spricht sogar von der „Sackgasse der reinen störungsspezifischen Interventionen“. Herausgeber Peter Fiedler stellt einleitend klar, dass die Erforschung allgemeiner Wirkfaktoren in der Psychotherapie die zentrale Bedeutung der therapeutischen Beziehung zweifelsfrei bewiesen hat: „die positiv zu gestaltende Beziehung steht im Vordergrund, denn wohl jede Psychotherapie wandert von Sitzung zu Sitzung von einem Versuchsstadium ins nächste“. Er verwirft den Gedanken als „Illusion, den psychisch gestörten Menschen in seiner Ganzheit erfassen zu wollen“, spricht sich gegen die modulare Integration unterschiedlicher psychotherapeutischer Ansätze aus und fordert, verschiedene Methoden je nach individueller Situation des Patienten anzuwenden. Das Buch ermuntert zu Neugier und Erforschung (vielfach wird „der Psychotherapeut notgedrungen sein eigener Psychotherapieforscher“), gepaart mit Bescheidenheit (es gilt „zu akzeptieren, dass die psychotherapeutische Kunst ihre Grenzen hat“). Für Fiedler ist es ein großes Problem der Psychotherapie, dass heute jede Schule beansprucht, gleichermaßen für alle Formen psychischer Störungen zuständig zu sein. Das war nicht immer so. Bis in die 1890er Jahre herrschte Fiedler zufolge eine erfrischende und produktive Methodenvielfalt. Den Sündenfall, der zur erbitterten Konkurrenz zwischen und selbst innerhalb der Schulen sowie zum rigorosen Umgang mit Kritikern führte, lastet er Sigmund Freud an. Alles in allem ist der Sammelband natürlich kein Einsteigerbuch, keine Einführung in die Psychotherapie – vielmehr eine Sammlung von Gedankenanstößen für Fortgeschrittene. Dirk K. Wolter, Gerontopsychiater, Haderslev, Dänemark
Springer Verlag, Heidelberg 2012, 167 Seiten, 44,95 Euro
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Karin Holzwarth
wach bleiben – Musiktherapie und Wachkoma Zur Phänomenologie des menschlichen Bewusstseins
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ie schlichte Aufforderung „wach bleiben“ – ohne Ausrufezeichen – führt gleichermaßen sanft und ebenso überraschend zentral ins Thema des Buches: Musiktherapie und Wachkoma. Karin Holzwarth, seit 1994 musiktherapeutisch unter anderem in Neurologie und Behindertenarbeit tätig, erläutert in ihrem kürzlich erschienenen Buch präzise und facettenreich, wie wir uns dem Wachkoma als Daseinsform, als Bewusstseins- und Beziehungszustand nähern können. Einführend finden sich strukturierte Informationen zum Thema Wachkoma, unter anderem Diagnosekriterien, Ursachen, Neuerkrankungszahlen (bis zu 3.000 jährlich in Deutschland). Vor allem aber werden die spezifischen Möglichkeiten der Musiktherapie vor dem Hintergrund medizinischer, psychologischer und philosophischer Dimensionen ausgelotet. Es folgt die skizzenhafte Vorstellung der wichtigsten Wegbereiter musiktherapeutischer Interventionen bei Schädel-Hirnverletzten Menschen in Forschung und Praxis seit den 1990er Jahren. Das Konzept des Wachkomas wird als ein weitgehend auf das autonome Körperselbst zurückgenommenes und dennoch individuelles Leben vorgestellt, für das Möglichkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen aufzuzeigen sind. Eine Phänomenologie des menschlichen Bewusstseins und die musiktherapeutische Haltung im Bereich Wachkoma, auch und gerade auf der Grundlage spiritueller Ansätze, vervollständigen diese Einleitung. Der zweite Abschnitt widmet sich der fast zehnjährigen Begleitung von Martina U., die 1991 durch einen ärztlichen Fehler bei der Geburt ihres Sohnes in den Zustand des Wachkomas gelangte. Von Anfang an gelingt es der Autorin durch ihre einfühlsame und die eigenen Suchbewegungen nachzeichnende Sprache, die Leser in die persönliche Auseinandersetzung im Spannungsfeld zwischen selbsterinnernder, -gestaltender Autonomie einerseits und Auflösung, Verlust, Verschwinden des Selbst andererseits mit-
zunehmen. Man ahnt, wie ein oft kaum wahrnehmbarer, flüchtiger Raum der Begegnung, des Zwiegesprächs durch Musiktherapie geschaffen werden kann, exemplarisch nachhörbar anhand einiger Mitschnitte aus der Behandlung von Frau U. auf der beigelegten CD. Die Schwere, das unfassbare Ausmaß eines Wachkoma-Schicksals für Betroffene und Angehörige wird ebenso wenig negiert wie dessen gesellschaftlich polarisierende Wirkung – etwa im Kontext der Diskussion um Sterbehilfe, um gesellschaftliche Verantwortung für ärztliche Schädigungen, um Hirntod, Organtransplantation oder die Rationierung medizinischer Versorgung. Ausgewählte Zitate des Ehemanns und der Mutter der Betroffenen ermöglichen hier zudem respektvolle Einsichten in die Perspektive der unmittelbar Nächsten. Eindringlich zeigt Karin Holzwarth, wie die Musiktherapie in einer unsäglich festgefahrenen Lebenssituation kaum Wunder bewirken und dennoch ein Mehr an Beweglichkeit, an Spürbarkeit und Ausdruck ermöglichen kann: „Frau U. stellt ihren Atem stets unmittelbar auf diese ihr mittlerweile vertrauten Lieder ein und lässt immer wieder auch Töne, die in der Tonhöhe denen der Lieder angepasst sind, hören. Ihr Gesichtsausdruck wird offen und entkrampft, die Haut wird heller scheinend und der Blick richtet sich klarer aus.“ Insgesamt ist die Lektüre all denen zu empfehlen, die einen unvoreingenommenen und individuellen Zugang zum Thema Wachkoma suchen, die praktisch oder theoretisch damit befasst sind, und nicht zuletzt denen, die ein spezifisches Interesse an einem achtsamen, hinspürenden und auf die Autonomie der PatientInnen bedachten musiktherapeutischen Ansatz haben. Dr. med. Alice Nennecke, wissenschaftliche Angestellte, Hamburg
Reichert Verlag, Wiesbaden 2013, 160 Seiten + CD, 29,80 Euro
Dr. med. Mabuse 205 · September / Oktober 2013
Hubert Kolling (Hg.)
Biographisches Lexikon zur Pflegegeschichte „Who was who in nursing history“, Band 6
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n der Medizin gibt es zahlreiche Lexika, in denen bedeutende Fachpersonen vorgestellt werden. Ein vergleichbares Nachschlagewerk für die Krankenpflege suchte man im deutschsprachigen Raum unterdessen vergeblich. Erst 1997 wurde der erste Band des Biographischen Lexikons zur Pflegegeschichte veröffentlicht. 2012 erschien der aktuelle, sechste Band. Wie seine Vorgänger bietet auch Band 6, an dem neben dem Herausgeber zehn AutorInnen aus Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Norwegen mitgewirkt haben, seinen LeserInnen eine schnelle Übersicht über die Lebensdaten und Werke von historischen Pflegepersönlichkeiten, die bislang noch wenig oder gar nicht allgemein bekannt sind. Das Spektrum der rund 120 vorgestellten Personen ist dabei breit gestreut und reicht neben unmittelbar in der Pflege Wirkenden, von Adeligen und Medizinern über Theologen bis hin zu Gewerkschaftlern. Hinzu kommen Pflegewissenschaftler, Hospitalgründer, Lehrbuchautoren, Vertreter verschiedener Ordensgemeinschaften und Schwesternschaften sowie Verbandsfunktionäre, die Einfluss auf die Krankenpflege hatten. Berücksichtigung fanden auch Menschen, die mehr in die Breite als in die Tiefe und mehr zerstörend als aufbauend wirkten. So wurden erneut auch einige derjenigen aufgenommen, die während der Zeit des Nationalsozialismus im Hinblick auf die Krankenpflege wichtige politische Ämter innehatten. Demgegenüber fanden aber auch diejenigen Berücksichtigung, die sich – unter großem persönlichen Risiko – dem Unrechtsregime entgegenstellten. Ausgangspunkt für die Entscheidung, wer in das vorliegende Lexikon aufgenommen wurde, war erneut die Relevanz der Personen für die Krankenpflege. Eine geographische Einschränkung erfolgte nicht. Stattdessen wurde das Prinzip beibehalten, keine noch lebenden Personen aufzunehmen. Die überwiegende Zahl der vorgestellten Personen stammt aus Deutschland. Daneben finden sich aber auch vereinzelt herausragende Vertreter
Dr. med. Mabuse 205 · September / Oktober 2013
der Pflege aus Ägypten, Indien, den Vereinigten Staaten von Amerika sowie verschiedenen europäischen Ländern. Bemerkenswert ist, dass die Beiträge, von denen der Herausgeber gut die Hälfte beigesteuert hat, sich in ihrer Darstellung nicht nur auf die Wiedergabe der „nackten“ Daten und Fakten der Porträtierten beschränken, sondern auch die zeitgenössischen Rahmenbedingungen mitberücksichtigen. Die jeweils angegebenen Quellen- und Literaturangaben erlauben zugleich weitergehende Forschungen. Lobenswert und hilfreich ist in diesem Zusammenhang auch, dass der vorliegende Band erstmals ein Gesamtverzeichnis aller bislang vorgestellten Personen enthält. Laut Vorwort versteht sich das Lexikon in erster Linie als ein Nachschlagewerk. Darüber hinaus könne es aber auch die systematische Grundlage für die Beantwortung einer Vielzahl von zentralen Fragen an die Geschichte der Krankenpflege liefern. Die vorgestellten Biogramme, bei denen es sich durchweg um Originalbeiträge handelt, zeigten zugleich, dass von wesentlich mehr Menschen Initiativen, Wissensvermittlung und autonome Leistungen für die Pflege ausgingen, als dies bisher von der historischen Pflegewissenschaft wahrgenommen wurde. Insgesamt betrachtet zeichnet der aktuelle Band ein buntes Bild der (internationalen) Pflegegeschichte, weshalb er als probates Nachschlagewerk in allen Bibliotheken der Gesundheits- und Krankenpflege – seien es nun Ausbildungseinrichtungen, Fachhochschulen oder Universitäten – einen festen Platz haben sollte. Wer sich für die Krankenpflege und deren Berufsgeschichte interessiert, wird den gelungenen Band jedenfalls immer wieder gerne und mit Begeisterung zur Hand nehmen. Bleibt dem Herausgeber für die Zukunft nur noch viel Kraft zu wünschen, dass er sein für die historische Pflegeforschung bedeutendes Projekt weiter voranbringt. Dr. Michael König, Dipl.-Pädagoge und Dozent am Bildungszentrum Bad Staffelstein
hpsmedia, Hungen 2012, 328 Seiten, 34,80 Euro
Sonja Siegert, Anja Uhling
Ich will kein Kind Dreizehn Geschichten über eine unpopuläre Entscheidung
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ach Lebensentwürfen zu fragen, bringt interessante Antworten hervor. Sonja Siegert und Anja Uhling haben Menschen befragt, die – wie sie selbst – gewollt kinderlos geblieben sind. Mit einer soliden Einführung und einem resümierenden Schlusswort haben sie die halb anonymisierten Interviews nun veröffentlicht. Das Buch steht vom Genre her zwischen Sachbuch und Sammelbiografie. Als Grundlage dient der Vorwurf an die Kinderlosen, für die demografische Katastrophe – „Die Deutschen sterben aus!“ – verantwortlich zu sein. Das bundesdeutsche Leitbild der Kleinfamilie, an der sich Politik und Medien noch immer orientieren, wird zu Recht kritisch hinterfragt. Unklar bleibt, ob dieses Buch als eine Entscheidungs- oder Positionierungshilfe für noch Kinderlose gedacht ist. Diese stehen, so könnte man meinen, vor der Entscheidung, ob sie gewollt oder ungewollt ohne Nachwuchs bleiben, hat sich doch in den vergangenen Jahren ein wachsender Medizinmarkt etabliert, der penetrant um „ungewollt kinderlose“ KundInnen wirbt. Der Herausgeberinnen haben einen politischen Anspruch. Sie legen ihre Finger in die noch immer bestehende Wunde im gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein der Deutschen (ohne Migrationshintergrund), das auch geprägt ist von Mutterkreuz-Anregungen für diejenigen, die sich vermehren sollten, und Zwangssterilisationen von Menschen, die von den Nationalsozialisten als nicht fortpflanzungswürdig kategorisiert wurden. Das Buch hat auch einen feministischen Impetus, ist doch die Frage nach der Fortpflanzung im Wesentlichen weiblich konnotiert. Männer können sich leichter entziehen als Frauen, ihnen wird ihre Natur nicht zum Vorwurf gemacht. Die dreizehn Geschichten entpuppen sich als liebevoll und wertschätzend geführte Interviews, die jeweilige Person wird griffig charakterisiert, ihre bestechenden Eigenschaften hervorgehoben. Die so entstehenden Facetten lassen den tumben Status „Kinder: keine“ mehrfarbig schillern: Von der kritischen Selbstreflexion einer 61-jährigen Biologin im Ruhe-
stand, die sich selbst als Chefin für nicht sehr elternfreundlich hält, über die im Heim aufgewachsene Altenpflegerin, die sich nach einem frühkindlichen Missbrauch immer wieder selbst stabilisieren muss. Über den schwulen Wanderfreak, der sich die Frage nach Kindern nie ernsthaft gestellt hat, bis zur 50-jährigen Beraterin, die mit ihrem Freund ein Fantasiespiel entwickelt hat, in dem sich das Paar vorstellt, Zwillinge zu haben, um dann zu folgern, dass sie ihre Kinder wohl gerne kennenlernen, aber nicht haben wollen würden. Die Bandbreite der Begründungen und Positionen ist groß, auch wenn es sich bei den Interviewten vornehmlich um westdeutsche BürgerInnen meist weiblichen Geschlechts mit gehobenem Bildungsstand handelt – sind es doch gerade sie, die sich dem gesellschaftlichen Gebärzwang verweigern und sich bemüßigt fühlen, hier Stellung zu beziehen. Weil die Interviewten nicht nach einem ausgewogenen sozialgesellschaftlichen Verhältnis ausgewählt wurden, kann dieses Buch auch als eine Milieustudie von urbanen, eher links orientierten AkademikerInnen aus Westdeutschland gelesen werden. Weder Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind, noch Menschen mit Migrationshintergrund kommen zu Wort. Informationen, ob die Personen auf dem Land oder in der Stadt wohnen, welchen Stellenwert Religion in ihrem Leben einnimmt und wie ihre politische Haltung ist, gibt es nicht. Deutschland ist ein reiches, demokratisches Land, in dem ganz unterschiedliche Lebensentwürfe möglich sind. Gewollt Kinderlosen ein Mandat zu geben, damit PolitikerInnen nicht nur über sie spekulieren, ist ein gelungener Ansatz. Ein anregendes Buch, gut redigiert und flott lesbar, das dazu anregt, über den eigenen und die Lebensentwürfe anderer nachzudenken. Dass es auch auf politischer Ebene den Anstoß geben kann, über Kinderlosigkeit neu nachzudenken, ist dem Buch und den Herausgeberinnen zu wünschen. Dr. med. Marion Hulverscheidt, Ärztin und Medizinhistorikerin, Kassel
Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2013, 157 Seiten, 16,90 Euro Dr. med. Mabuse 205 · September / Oktober 2013
Buchbesprechungen
Andreas Kutschke
Sucht – Alter – Pflege Praxishandbuch für die Pflege suchtkranker alter Menschen
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eistens findet Sucht im Alter im Verborgenen statt, weder erkannt noch wahrgenommen wird sie geleugnet oder bagatellisiert. Missbrauch und Abhängigkeit von Suchtstoffen betreffen eine große Anzahl älterer Menschen und die damit einhergehenden Folgeerkrankungen stellen ein ernst zu nehmendes individuelles, aber vor allem ein gesellschaftliches und gesundheitspolitisches Problem dar, das durch den demografischen Wandel noch zunehmen wird. Fokussierend auf die Problembereiche Alkohol, Tabak und Medikamente stellt der Autor Andreas Kutschke in sieben Kapiteln Erklärungsansätze und pflegerische Interventionsmöglichkeiten dar. Der Pflegewissenschaftler setzt sich schon lange in Theorie und Praxis intensiv mit dem Thema Sucht und Alter auseinander. Die ersten beiden Kapitel sensibilisieren den Leser für die Thematik Sucht, Missbrauch und Abhängigkeiten im Alter. An einem selbst erlebten Fallbeispiel schildert der Autor hier, wie alkoholkranke, pflegebedürftige Menschen durch das Netz der sozialen Sicherung rutschen und wie schnell Pflege in moralische Konflikte kommt, wenn es darum geht, Autonomie zu fördern und gleichzeitig den Alkohol-
Dr. med. Mabuse 205 · September / Oktober 2013
konsum zu verringern. Die folgenden drei Kapitel thematisieren Alkohol, Nikotin und Medikamentensucht. Gerade Medikamente wie etwa Valium galten in den 1960er Jahren als unproblematisch, was sich auch in dem Song der Rolling Stones „Mother‘s Little Helper“ widerspiegelt, der eine Anspielung auf den Umgang mit Valium in dieser Zeit ist. Heute sind die Fans von damals, die an einen unproblematischen Umgang glaubten, ältere Menschen und nicht wenige leiden an einer Medikamentenabhängigkeit. Im sechsten Kapitel geht es um Opiatabhängigkeiten. Neuere Studien weisen darauf hin, dass die Zahl älterer PatientInnen mit Opiatabhängigkeit zunehmen wird. Langjährige Drogensucht lässt die Betroffenen nicht nur extrem voraltern (45-Jährige weisen demnach den Gesundheitszustand von 60- bis 70-Jährigen auf), sondern zieht eine Vielzahl von gesundheitlichen und psychosozialen Problemen nach sich. Die Gruppe der Opiatabhängigen um die 40 wächst in der Schweiz und Deutschland deutlich an. Somit wird die Betreuung älterer opiatabhängiger Menschen zunehmen und erfordert spezifische Kenntnisse. Obwohl die Betroffenen lieber andere Betreuungsformen wählen würden, wird die Betreuung in Seniorenheimen in Zukunft wahrscheinlicher. Ob die Verantwortlichen auf die neue Gruppe der Bewohner eingerichtet ist, wenn es darum geht, mit dem unangepassten Verhalten der Drogenabhängigen und dem Auseinanderdriften der Interessen bei
Gruppenaktivitäten umzugehen, ist fraglich. Zu allen Themen finden sich im Buch jeweils aktuelle Assessmentinstrumente, Pflegediagnosen, Handlungsleitlinien, Konzepte und Strategien. Dem Autor ist ein menschlicher und professioneller Umgang mit älteren drogenabhängigen Menschen eine Herzensangelegenheit. Das wird im ganzen Buch, besonders auch im letzten Teil – einem Exkurs zu ethischen Aspekten – deutlich. Es gibt Veröffentlichungen, bei denen man sich fragt, wer diese Bücher eigentlich braucht. Bei dem vorliegenden Buch fragt man sich, warum es erst jetzt erscheint. Das Fachbuch kann ohne jede Einschränkung wärmstens empfohlen werden. Vor allem Lehrende, Pflegepraktiker und Führungskräfte können dieses Nachschlagewerk als Fundgrube nutzen und dazu beitragen, dass ältere abhängige Menschen eine bestmögliche Versorgung erhalten. Es ist kaum denkbar, dass es eine Pflegeeinrichtung gibt, die nicht mit dieser Problematik konfrontiert ist. Sabine Kalkhoff, Dipl.-Pflegewirtin (FH), Einrichtungsleiterin und Lehrbeauftragte, Hamburg
Hans Huber Verlag, Bern 2012, 238 Seiten, 28,95 Euro
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Bücher für starke Kinder im Mabuse-Verlag
Andrea Hendrich, Monika Bacher, Ulrich Koprek Yunis und Aziza 3 Ein Kinderfachbuch über Flucht und Trauma Die Flüchtlingskinder Yunis und Aziza sind neu im Kindergarten. Wie sie sich fühlen und wie Erwachsene und Kinder mit ihnen umgehen können, zeigt dieses sensible Kinderfachbuch auf. Gerichtet an alle, die Kindern das Thema Flucht und Trauma behutsam und verständlich erklären wollen. 2016, 49 S., gebunden, vierfarbig, 16,95 EUR, Nr. 202315
Anne Südbeck Papa Panda ist krank 3 Ein Bilderbuch für Kinder mit depressivem Elternteil
Regina Deertz, Leonie Rösler Mondpapas 3 Ein Buch für Kinder mit abwesenden Vätern
Der junge Pandabär Paul liebt es, mit seinem Vater zu spielen. Doch in letzter Zeit will Papa nicht mehr, er hat zu gar nichts mehr Lust. Die Eltern streiten sich jetzt oft. Paul hat Angst, dass Papas seltsames Verhalten seine Schuld sein könnte. Doch als er seiner Mutter davon erzählt, erklärt sie ihm, dass Papa krank ist. Er hat eine Depression. Das Buch bearbeitet insbesondere die Angst von Kindern, Schuld am Verhalten der Eltern zu sein. 2016, 69 S., gebunden, vierfarbig, 16,95 EUR, Nr. 202296
„Wo ist Papa? Warum holt er mich nicht vom Kindergarten ab?“ Ist ein Vater dauerhaft abwesend, sind solche Fragen schwer zu beantworten. Schnell wird es emotional. Oft sind die Gründe komplex. Das Buch gibt Erklärungen an die Hand, um die Situation altersgerecht verständlich zu machen. Liebevolle Zeichnungen und ein Ratgeberteil machen es zu einer wertvollen Hilfe für das Gespräch mit kleinen Kindern. 2. Aufl. 2016, 45 S., gebunden, vierfarbig, 12,90 EUR, Nr. 202230
Anette Temper Schattenschwester 3 Ein Kinderfachbuch für Kinder mit einem depressiven Geschwisterkind Dieses Buch thematisiert Ängste und Gefühle bei der Depression eines Geschwisterkindes und zeigt Wege des Umgangs mit der Situation in einfachen Sätzen und schönen Bildern auf. Abgerundet durch einen Kinderfachteil bietet es (nicht nur) für Eltern die Möglichkeit, psychische Erkrankungen und die mit ihnen verbundenen Ängste und Fragen von Kindern sensibel zu thematisieren. Das Buch richtet sich an Kinder ab dem Kindergartenalter. 2016, 72 S., 16,95 EUR, Nr. 202308
Schirin Homeier, Andreas Schrappe Flaschenpost nach irgendwo 3 Ein Kinderfachbuch für Kinder suchtkranker Eltern
Schirin Homeier Sonnige Traurigtage 3 Ein Kinderfachbuch für Kinder psychisch kranker Eltern
Schirin Homeier, Irmela Wiemann Herzwurzeln 3 Ein Kinderfachbuch für Pflege- und Adoptivkinder
Irgendwas muss sich ändern: Marks Papa trinkt zu viel, die Eltern streiten nur noch, und in der Schule geht alles drunter und drüber. Einfühlsam, liebevoll illustriert und im bewährten Stil des Buches „Sonnige Traurigtage“ erhalten Kinder von suchtkranken Eltern durch eine Bildergeschichte und einen altersgerechten Erklärungsteil Hilfestellung für ihren Alltag. Ein Ratgeber für erwachsene Bezugspersonen und Fachkräfte rundet das Kinderfachbuch ab. 3. Aufl. 2015, 143 S., gebunden, vierfarbig, 22,90 EUR, Nr. 00117
In letzter Zeit ist mit Mama etwas anders: sie ist so kraftlos und niedergeschlagen. Auf diese „Traurigtage“ reagiert Mona wie viele Kinder psychisch kranker Eltern: Sie unterdrückt Gefühle von Wut oder Traurigkeit, übernimmt immer mehr Verantwortung und sehnt sich nach glücklichen „Sonnigtagen“. Erst als sich Mona einer Bezugsperson anvertraut, erfährt sie, dass ihre Mutter unter einer psychischen Krankheit leidet und fachkundige Hilfe benötigt. 6. Aufl. 2014, 127 S., gebunden, vierfarbig, 22,90 EUR, Nr. 01416
Durch eine liebevoll illustrierte Bildergeschichte und einen altersgerechten Informationsteil erhalten Pflege- und Adoptivkinder sowie deren Bezugspersonen in diesem Buch Erklärungen und Anleitungen, um ihre spezielle Situation besser zu verstehen und anzunehmen. Ein prägnanter Ratgeberteil für Erwachsene rundet das Kinderfachbuch ab. 2016, 175 S., gebunden, vierfarbig, 22,95 EUR, Nr. 202226
Carolina Moreno Alexandra Haag
Mabuse-VerlagMabuse-Verlag
Alexandra Haag Paula und die Zauberschuhe 3 Ein Bilderbuch über körperliche Behinderung Paula ist ein Vorschulkind und fährt einen Rollator. Auch wenn in ihrem Körper eine Spastik wohnt, geht sie mit ihren körperlichen Herausforderungen ganz natürlich um. Paula weiß, was sie will und was sie kann – und ist meistens fröhlich. Wenn sie aber mit ihrer körperlichen Behinderung an ihre Grenzen kommt, kann sie richtig sauer oder traurig werden. Das liebevoll illustrierte Buch wendet sich an alle, die mit Vorund Grundschulkindern zum Thema Infantile Cerebralparese (ICP), Körperbehinderung und Spastiken lesen möchten. 2017, 56 S., 16,95 EUR, Nr. 202317
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Buchbesprechungen
Giovanni Maio
Mittelpunkt Mensch. Ethik in der Medizin Ein Lehrbuch
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er Autor Giovanni Maio, Professor für Medizinethik an der Universität Freiburg und Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin sowie des Interdisziplinären Ethikzentrums, führt in seinem Buch zunächst in die philosophischen und historischen Grundlagen der Medizinethik ein. Darauf folgend werden verschiedene ethisch relevante Spezialthemen der Medizin – buchstäblich von der Wiege bis zur Bahre – thematisiert. Wobei jedoch bereits vor der Geburt angesetzt werden muss, denn in der modernen Medizin wächst die mögliche Einflussnahme auf Vorgeburtliches immer mehr an. So nehmen Maios Ausführungen zur „Embryonenforschung“, zur „Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik“, zum „Schwangerschaftsabbruch“ sowie zur „Reproduktionsmedizin“ einen breiten Raum ein. Das von ihm gewählte Zitat zur Einleitung des Kapitels „Medizin und Ökonomie“ zeigt deutlich und in einer wohltuenden Art und Weise auf, was Heilkunde für ihn ist: „Die ärztliche Praxis ist eine Kunst, kein Handelsgeschäft, eine Berufung, kein Laden; eine Art Erwählung, die das Herz ebenso wie den Kopf fordert. (Sir William Osler)“
Dr. med. Mabuse 206 · November / Dezember 2013
Die Bedeutung des Themas „Sterbehilfe“ im ethischen Kontext verdeutlicht Maio sowohl durch den Umfang des Kapitels als auch durch seine Sonderstellung in der inhaltlichen Struktur des Werkes. Da der Mensch bei Schwellenübergängen besonders verwundbar ist, gehört es zu den höchsten Pflichten der klinisch Tätigen, hier besondere Sorgfalt und Verantwortung in ihren Entscheidungen walten zu lassen. Die behandelten Themen folgen in ihrer Gliederung jeweils einer einheitlichen Form, die es dem Leser erleichtert, sich in ihre Systematik einzufinden: Der Autor gibt zunächst eine kurze Einführung zum Thema, um dann ein häufig sehr prägnantes Fallbeispiel („Patientengeschichte“) zur Verdeutlichung des ethischen Problems vorzustellen, dem sich eine Kommentierung anschließt. Danach werden die einzelnen Facetten des Themas dargelegt, teilweise unter Ausdifferenzierung der Pro- und Contra-Argumente (z.B. beim Thema „Präimplantationsdiagnostik“). Jedes Kapitel schließt mit einem zusammenfassenden Fazit sowie mit einem Literaturverzeichnis, welches eine inhaltliche Vertiefung erleichtert. Zum Abschluss des Buches beschreibt Maio das Menschen- und Weltbild der heutigen, modernen Medizin. Dieses sei geprägt von einer mechanistischen Sicht auf den Menschen, von Zweckrationalismus, Ökonomismus, Selbstzweck des Machbaren, einer übermäßigen Betonung des Menschen als eines allzeit autonomen
Wesens, welches seines sozialen Bezugs entäußert wurde. Visionär skizziert er notwendige und zukunftsweisende Aufgaben, um dieses Bild zu verwandeln. Es sei an der Zeit, dass die Medizin ihre eigentliche Aufgabe ergreift: Hilfe für den in Not geratenen Menschen zu leisten und Erkenntnis zur heilenden Kraft des Verstehens und der Begegnung zu entwickeln. Maio beschreibt in seinem Vorwort, dass er das Buch sowohl für Studierende der Medizin sowie der Philosophie als auch der Theologie verfasst hat. Dieses Ziel hat er eindeutig erreicht. Weiterhin erwähnt er im Vorwort, dass sein Buch sich auch an weitere Personenkreise richtet, „die sich im Bereich der Medizinethik fortbilden […] möchten“. Ich hätte mir gewünscht, Maio hätte hierbei deutlich die Pflegenden benannt. Auch vermisse ich den Themenbereich der Fixierung von unruhigen PatientInnen und hätte mir hierzu sehr den Blick durch die „ethische Brille“ gewünscht. Unabhängig davon ist das Buch für alle im Gesundheitswesen Tätigen sehr empfehlenswert. Christine Kolbe-Alberdi Vallejo, Pflegedienstleiterin, Berlin
Schattauer Verlag, Stuttgart 2012, 444 Seiten, 24,99 Euro
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Buchbesprechungen
Eckhard Frick, Ralf T. Vogel (Hg.)
Den Abschied vom Leben verstehen Psychoanalyse und Palliative Care
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ie Psychoanalyse hat sich bis vor Kurzem nur selten mit palliativer Medizin oder den therapeutischen Herausforderungen bei der Sterbebegleitung befasst. Dies ist erstaunlich, weil Siegmund Freud sich in seinen Schriften in vielen Facetten mit Tod und Sterben befasst hat und über Jahrzehnte selbst an einer schweren Krebserkrankung litt. Umso begrüßenswerter ist, dass der Psychiater Eckhard Frick und der Psychologe Ralf T. Vogel nun einen Band herausgegeben haben, in dem aktuelle Ansätze für die Begleitung und Behandlung von sterbenden Menschen vorgestellt werden. Ziel des Buches ist es, palliativ arbeitenden Menschen unterschiedlicher Berufsgruppen Techniken zur psychoanalytischen Reflexion der inneren Prozesse, die zwischen Helfern und Sterbenden ablaufen, zur Verfügung zu stellen. Vor dem Hintergrund der Bindungstheorie und der Objektbeziehungstheorie werden ihnen Instrumente an die Hand gegeben, um das Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen während der palliativen Versorgung zu analysieren. Damit können Angehörige, HelferInnen und PatientInnen in dieser hochkomplexen und oft konfliktreichen Situation gegenseitiges Verständnis entwickeln. Die Beiträge sind abwechslungsreich gestaltet, theoretische Erörterungen wechseln sich mit Fallbeispielen ab. So stellt Ralf T. Vogel dar, dass sich das Selbstund das Todeskonzept des Menschen entwicklungspsychologisch betrachtet parallel bilden. Hintergrund ist, dass sich das Selbst zwar von Beginn an aus einer zunehmenden Vielfalt von Fähigkeiten und Kompetenzen herausbildet, aber wachsende Selbstständigkeit und die Bewusstwerdung der Grenzen zwischen Selbst und der Welt zugleich immer auch mit einem Verlust des Gefühls von Geborgenheit und einer Relativierung der Bezugspersonen einhergeht. Die Palliativmedizinerin Yvonne Petersen und die Rehabilitationspsychologin Teresa-Maria Hloucal entwickeln in ihrem Beitrag anhand von theoretischen
Erörterungen und praktischen Fallbeispielen ein bindungsorientiertes Interventionskonzept der Feinfühligkeit für den Bereich Palliative Care. Dabei erörtern sie, wie verschiedene Bindungsstile, die sich entwicklungspsychologisch herausgebildet haben, auch die Art des Sterbens beeinflussen. Für den professionellen Umgang ist es sehr hilfreich, um diese verschiedenen Bindungsstile zu wissen, weil es so leichter fällt, schwierige Situationen in der Sterbebegleitung zu verstehen und vielleicht sogar aufzulösen. Die Psychotherapeutin Verena Tyrkas widmet sich in ihrem Beitrag der Frage, wie Kinder von sterbenden Eltern Trauer und Verlust erleben und welche Bedeutung dies für deren therapeutische Begleitung hat. Ross A. Lazar, ebenfalls Psychotherapeut, berichtet aus seiner Beratungs- und Supervisionspraxis, wie sich eine schier unerträgliche Spannung zwischen einer Patientin, die an einem schweren Unterleibstumor litt, und einem Behandlungsteam entwickelte. Der Patientin konnten die Schmerzen nicht gestillt werden, die Teammitglieder trauten sich nur mit Ekelund Abscheugefühlen, das Zimmer der Patientin zu betreten und deren Wunde zu versorgen. Erst mithilfe von Psychotherapie mit der Patientin und Supervision mit dem Team wurde es möglich, über diese Ekelgefühle sowie über Todeswünsche zu sprechen. So entstand eine Situation, in der sich das Team traute, heimlichste und verbotenste Gedanken offen auszusprechen. Schließlich konnte die Patientin sich durch die therapeutische Unterstützung dem Sterbeprozess überlassen und das Team sie in gewohnt zugewandter und professioneller Weise begleiten. Insgesamt handelt es sich um einen anregenden Sammelband, der allen empfohlen werden kann, die in die Begleitung sterbender Menschen eingebunden sind. Hans-Ludwig Siemen, Psychologe, Uttenreuth
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2012, 132 Seiten, 24,90 Euro Dr. med. Mabuse 206 · November / Dezember 2013
Buchbesprechungen
Eric Kandel
Das Zeitalter der Erkenntnis Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute
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arf man bei einer Rezension ins Schwärmen verfallen? In diesem Fall kann ich nicht anders! Eric Kandel wurde 1929 in Wien geboren und musste 1939 mit seiner Familie in die USA emigrieren. Als einer der bedeutendsten Neurowissenschaftler des 20. Jahrhunderts erhielt er im Jahr 2000 den Nobelpreis für Medizin. Einem breiten Publikum wurde er nicht zuletzt durch das Buch „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“ und den gleichnamigen Film bekannt. Doch er hat nicht nur Medizin, sondern auch Geschichte und Literatur studiert und ist darüber hinaus passionierter Kunstsammler. Das Buch führt alle diese Aspekte zusammen. „Ein Hirnscan kann vielleicht die neuronalen Anzeichen einer Depression enthüllen, aber eine Sinfonie von Beethoven enthüllt uns, wie sich die Depression anfühlt“, schreibt Kandel im Vorwort. Das Buch nimmt seinen Ausgangspunkt im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts, wo gesellschaftliche und philosophisch-geisteswissenschaftliche ebenso wie naturwissenschaftliche Umwälzungen in die Kunst hineinwirkten: „Ein zentrales Merkmal der Wiener Moderne war der bewusste Versuch, Wissen zu koordinieren und zu vereinen. Die Zusammenführung von Medizin, Psychologie und künstlerischen Studien, die in Wien um 1900 allesamt auf der Suche nach verborgenen Wahrheiten unter die Oberfläche von Körper und Geist vordrangen, hat uns wissenschaftliche und künstlerische Erkenntnisse beschert, die die Art und Weise, wie wir uns selbst wahrnehmen, für immer verändert haben.“ Dabei erfährt der Leser viel über die teilweise engen persönlichen Verflechtungen zwischen der Künstlerszene einerseits und der aufkommenden „Psycho“-Szene andererseits. Das Aufzeigen der Parallelität der Entwicklungen in Kunst, Literatur, Neurologie, Psychologie und Psychoanalyse in der Folgezeit ist Kandels Anliegen, wie exemplarisch vier Kapitelüberschriften zeigen: „Die Erforschung des Dr. med. Mabuse 206 · November / Dezember 2013
Gehirns unter dem Schädel: Ursprünge einer wissenschaftlichen Psychiatrie“; „Die gleichzeitige Erforschung von Geist und Gehirn: Die Entwicklung einer gehirnbasierten Psychologie“; „Die getrennte Erforschung von Geist und Gehirn: Ursprünge einer dynamischen Psychologie“; „Die Suche nach dem Innenleben in der Literatur“. Zwischen Klimt, Schiele und Kokoschka geht es um Freud, um die Amygdala, die „theory of mind“, die Darstellung der Psyche in der Kunst ebenso wie um die visuellen, aber auch emotionalen Reaktionen auf Kunst. Kandel zeichnet die Entwicklung der Wahrnehmungspsychologie ebenso nach wie den „Weg zur Malerei des 20. Jahrhunderts“, und er erklärt, wieso uns expressionistische Kunst unter anderem deshalb so sehr bewegt, weil wir ein bemerkenswert umfangreiches soziales Gehirn entwickelt haben. Das Buch wirkt wie Kandels Lebenswerk und Lebenstraum, wie das Buch, das er immer schreiben wollte, in dem er einen großen Bogen schlägt, biografisch wie inhaltlich und geografisch, von der Naturwissenschaft zur Kunst, von den USA in seine Geburtsstadt Wien. Ein rundes Buch, dem offenbar auch der Verlag (übrigens ein politisch-historischer Verlag, kein medizinisch-psychologischer und auch kein Kunstbuch-Verlag) große Bedeutung beimisst – erschien doch die deutsche Übersetzung bereits im selben Jahr wie das amerikanische Original, in hochwertiger Ausstattung zu einem außerordentlich günstigen Preis. Das Buch verführt durch die Fülle großartiger Bilder (Gemälde wie neurowissenschaftliche Darstellungen, die allesamt dank ausgezeichneter Papier- und Druckqualität auch gut „rüberkommen“) und durch die Tatsache, dass man den Texten das Herzblut und die Genialität des Autors anmerkt, gleichwohl sie wunderbar einfach zu lesen sind. Für dieses Buch muss man eine dringende Kaufempfehlung aussprechen: Sieben von maximal fünf Lesezeichen! Dirk K. Wolter, Gerontopsychiater, Haderslev
Siedler Verlag, München 2012, 703 Seiten, 39,99 Euro
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Richtig entscheiden Wir sind nur selten „einer Meinung“ mit uns selbst: Auf welche unserer inneren Stimmen sollten wir hören? + Wirtschaft: Wer gibt, gewinnt! + Empathie: Die Schule des Einfühlens
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Christian Mürner, Udo Sierck
Behinderung Chronik eines Jahrhunderts
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ie beiden Autoren – Christian Mürner ist Publizist und Behindertenpädagoge, Udo Sierck seit vielen Jahren in der Behindertenbewegung aktiv – haben einen Überblick über die Geschichte des Lebens mit Behinderung im 20. Jahrhundert geschrieben. Der Fokus liegt dabei nicht auf dem Erleben der Betroffenen, sondern auf dem Umgang von Staat, Medizin und Fürsorgewesen mit diesen Menschen. Zunächst wird das Entstehen der „Krüppelfürsorge“ vorgestellt, die nach dem Ersten Weltkrieg durch die hohe Anzahl an verstümmelten Veteranen einen ersten Bedeutungsaufschwung erfuhr. Einerseits war man bemüht, diese Menschen wieder erwerbsfähig zu machen, andererseits führten eine Psychiatrisierung des Behindertseins und die Abschiebung in Facheinrichtungen zu zusätzlicher Stigmatisierung. Die kurze Vorstellung der Herkunft einiger noch existierender Organisationen wie des Sozialverbands Deutschland e.V. aus der Kriegsopfer- und Krüppelfürsorge schlägt eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ein bemerkenswert kurzes Kapitel von 22 Seiten befasst sich mit dem Zusammenhang von „Euthanasie“ und Behinderung: Die Autoren fassen die eugenischen Diskussionen der Weimarer Republik zusammen, streifen das Preußische „Krüppelfürsorgegesetz“ von 1920, behandeln knapp das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933 und handeln auf fünf Seiten den nationalsozialistischen Massenmord an behinderten Menschen ab. Interessant ist das kurze Unterkapitel „Behinderte Kameraden“ über „erbgesunde“ Kinder mit körperlichen Handicaps in der „Hitlerjugend“. Dass es für diese Kinder und Jugendlichen eigene Gruppen gab und sich Betroffenenverbände teilweise vom nationalsozialistischen Gesundheitswesen instrumentalisieren ließen, dürfte bislang kaum bekannt sein. Das folgende, ausführlichere Kapitel stellt lose zusammenhängend diverse Aspekte der Geschichte von Behinderung in der BRD dar. Der Contergan-Skandal wird ebenso angesprochen wie der Kampf gegen Kinderlähmung, die Entwicklung
der westdeutschen Sonderpädagogik und die Geschichte der Humangenetik und Pränataldiagnostik mit ihren Wurzeln in der NS-Eugenik. Leider fehlt diesem Abschnitt der rote Faden. Schließlich wird der Themenkomplex „Menschenrecht und Behinderung“ beleuchtet. Etwas unvermittelt geht es dabei auch um die Auswirkungen des Fitnessideals und die Namensänderung von „Aktion Sorgenkind“ in „Aktion Mensch“. Insgesamt wird aber das Anliegen der beiden Verfasser deutlich: Menschen mit Behinderung nicht als Objekte von Fürsorge zu betrachten, sondern als Subjekte einer vielfältigen Gesellschaft. Das Buch ist ein ambitioniertes Projekt. Umso bedauerlicher ist es, dass der Verlag es nicht sorgfältiger begleitet hat. Diese sehr knappe Übersicht eines ganzen Jahrhunderts ist eine reine Literaturarbeit. Dies führt dazu, dass die Autoren in gewisser Weise genau das wiederholen, was sie der Gesellschaft vorwerfen: Sie stellen Behinderte als Objekte staatlichen Handelns dar, ohne das Empfinden und Handeln der Betroffenen aufzuzeigen. Vor allem aber fehlen größtenteils Literaturangaben bzw. finden sich angegebene Quellen nicht im Literaturanhang wieder. Die Zitierweise ist uneinheitlich; teilweise fehlt die Herkunft von Textstücken völlig. Es wäre auch hilfreich gewesen, wenn die vorgestellten Personen durchgehend in Fußnoten mit ihren Lebensdaten und -läufen vorgestellt worden wären. Insgesamt ist das Buch eine wichtige historische Darstellung, die jedoch in ihrer Knappheit am Anspruch des Titels scheitert und handwerklich ungenau ist. Ich wünsche den Autoren, dass es eine überarbeitete Fassung geben wird. Nichtsdestotrotz empfehle ich es als Einstiegsliteratur in Studium und Ausbildung der Sozialpädagogik und Heilerziehungspflege und zur Anschaffung als Übersichtsarbeit für medizinische und pflegewissenschaftliche Fachbibliotheken. Anja K. Peters, Kinderkrankenschwester, Diplom-Pflegewirtin (FH), Neubrandenburg
Beltz Juventa Verlag, Weinheim u. Basel 2012, 142 Seiten, 14,95 Euro Dr. med. Mabuse 206 · November / Dezember 2013
Richard Fuchs
Organspende Die verschwiegene Wahrheit
D
ie Klagen sind unüberhörbar: Mit 12,8 SpenderInnen pro eine Million Einwohner war die Organspendehäufigkeit im Jahre 2012 so niedrig wie schon seit zehn Jahren nicht mehr. 3.511 Organe wurden im Jahr 2012 gespendet, im Jahr davor waren es noch 3.917. Diese Verringerung um 12,8 Prozent ist ohne Frage mit dem Vorwurf der Manipulationen im Vergabeverfahren verbunden. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) findet diesen Rückgang der Spendebereitschaft auch deshalb besonders alarmierend, weil etwa 12.000 PatientInnen auf Wartelisten stehen. Zu Beginn des Jahres 2013 hat sich der rückläufige Trend bei der Organspende übrigens fortgesetzt – die Kampagne „Das trägt man heute: den Organspendeausweis“, unterstützt durch viele Prominente, soll verloren gegangenes Vertrauen wiederherstellen. Der Vorstand der DSO, Rainer Hess, ehemals über lange Jahre erfolgreicher und geachteter Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses, weist in einem Interview mit dem Tagesspiegel vom 1. März 2013 auf dieses Problem hin: „Ich würde mir (…) eine stärkere Qualitätssicherung der Behandlung (wünschen), die der Transplantation vorausgeht. Das heißt, die Daten müssen so dokumentiert sein, dass sie für die Wartelisten nicht manipulierbar sind.“ Mit diesen aktuellen Themen, aber auch mit weit grundsätzlicheren Diskussionen zur Organspende, beschäftigt sich Richard Fuchs in seinem Buch. Dort werden Fragen gestellt, die vielen Menschen durch den Kopf gehen, wenn sie sich für oder gegen eine Organspende entscheiden wollen: Haben die Kontrollsysteme versagt? Wie hoch sind die Zielvorgaben der Kliniken? Können finanzielle Anreize eine Rolle spielen? Sind Hirntod-Diagnosen überhaupt sicher? Ist die Organspende ein Akt der Nächstenliebe oder ein Geschäft für Kliniken oder Chefärzte mit Bonusverträgen? Ohne Frage sind in diesem Buch viele Dokumente zusammengetragen, die sonst schwer auf einen Blick zu finden sind. Auch sind Presseberichte und Interviews Dr. med. Mabuse 206 · November / Dezember 2013
zum Thema für und wider Organspende sowie Zweifel an den derzeitigen Regelungen als gute Übersicht wiedergegeben. Das Buch ist aber insgesamt eher von Zweifeln getragen, die dem Organtransplantationswesen grundsätzlich „anhängen“. Ebenso befasst sich der Autor mit folgenden Fragen: Ist der Tod des Spenders wirklich eindeutig feststellbar? Gibt es in Deutschland Sicherheit vor einem Organhandel oder besteht die Gefahr, dass das in den USA bereits diskutierte „gerechtfertigte Töten“ zur Organentnahme bei einem Hirntoten auch in Deutschland ein Thema werden könnte? Kritisiert werden auch einige Kirchenvertreter, die sich, wie Fuchs es ausdrückt, „als Werbeträger im Dienste ‚postmortaler Organspenden‘“ geäußert haben. Auch der Datenschutz und die Möglichkeiten von Erklärungslösungen, erweiterten Zustimmungslösungen und Patientenverfügungen werden angesprochen. Die kritische Grundhaltung zur Organspende kommt aufgrund der ausgewählten Quellen, Daten und Statistiken und der hieraus abgeleiteten Interpretationen nicht unvermutet daher. Diese Darstellung kann in der Diskussion um die Organspende aber auch hilfreich sein. Das Buch von Richard Fuchs konfrontiert den Leser mit vielen Argumenten und Fakten, die ohne Zweifel bedacht werden müssen, wenn sich das Vertrauen der Bevölkerung und der potenziellen SpenderInnen in einen transparenten und „gerechten“ Umgang mit den Wartelisten wieder einstellen soll. Solche Argumente zu kennen, ist für den Diskurs wichtig. Ob sie, wie im Untertitel des 218 Seiten langen Buches angesprochen, in allen Fällen der verschwiegenen Wahrheit entsprechen, sollten die an diesem Thema interessierten LeserInnen selbst entscheiden – dass es auch andere Wahrheiten geben könnte, ist allerdings nicht unwahrscheinlich! Gerd Glaeske, Bremen
emu-Verlag, Lahnstein 2012, 218 Seiten, 19,80 Euro