Buchbesprechungen 2016

Page 1

Buchbesprechungen


+ en! n re uch a sp uss % a 30 enk ch s Ge

Abo & Geschenk

1

2 Gutsch

Gutsche

ein

Nr.

in des M abuseBuchve Abos D r. med. rsande s verwen Mabus e, CDs, DVDs, Sp dbar für Büch er, iele u.v. m. Eu

über

ro ( in Wo

rten:

für

)

Bitte be

stel

len Sie un Kasseler ter Angabe de Bücher-Gutschein Str. 1 a r Gutsch E-Mai

· 60 l: buchve ei rsand@ 486 Frankfur nnr. beim Mab t · Te mab use-Bu chversa (Mabus use-verlag.de l.: 069-70 79 nd e-Buch 96-16 Frankfur versand · www.mabus t am M --> Büch e-verla ain, de g.de n er) Mabus e-Buch versand

Prämie 1: ein Buch aus dem Mabuse-Verlag www.mabuse-verlag.de

Prämie 2: Büchergutschein im Wert von 10 Euro Einlösbar beim Mabuse-Buchversand

lesen und ... ... Zusammenhänge erkennen ... mit anderen Gesundheitsberufen ins Gespräch kommen ... Fachwissen vertiefen ... sich für ein solidarisches Gesundheitswesen engagieren

"

Ich abonniere Dr. med. Mabuse – Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe und erhalte sechs Ausgaben zum Vorzugspreis von 32 (statt 44) Euro/SchülerInnen und Studierende für 21 Euro (mit Nachweis):*

Name: Straße: PLZ/Ort: Bitte einsenden an:

Tel./Fax:

Fax: 069-70 41 52 E-Mail: abo@mabuse-verlag.de

E-Mail: Datum/Unterschrift: Als Geschenk erhalte ich: ■ Prämie 1: ein Buch meiner Wahl aus dem Mabuse-Verlag: _____________________ (alle Bücher unter www.mabuse-verlag.de/Mabuse-Verlag)

Mabuse-Verlag GmbH Abo-Service Dr. med. Mabuse Postfach 90 06 47 60446 Frankfurt am Main www.mabuse-verlag.de

■ Prämie 2: einen Büchergutschein im Wert von 10 Euro oder ■ Prämie 3: eine Aboprämie von der Webseite: ________________________________ (alle Prämien online unter www.mabuse-verlag.de/Zeitschrift-Dr-med-Mabuse/Abo/) * Zuzüglich einer einmaligen Versandkostenpauschale von 3 Euro (Inland) bzw. 9 Euro (Ausland). Das Schnupperabo zum Vorzugspreis läuft für ein Jahr und geht danach in ein reguläres Abo über (44 Euro pro Jahr, zzgl. Versandkosten), falls Sie es nicht zwei Monate vor Ablauf kündigen. Das Schüler-/StudentInnenabo (nur bei Vorlage eines entsprechenden Nachweises) läuft für ein Jahr und wird jeweils automatisch um ein weiteres Jahr verlängert.


Buchbesprechungen

Sandra Bachmann

Die Situation von Eltern chronisch kranker Kinder

D

ie Dissertation von Sandra Bachmann untersucht folgende Forschungsfragen: Was bedeutet es für Eltern, ein chronisch krankes Kind zu haben? Was wird von Eltern chronisch kranker Kinder oder Jugendlicher als belastend erlebt und welche alltäglichen Belastungen werden beschrieben? Welche Auswirkungen hat die Erkrankung des Kindes auf die Eltern und die familiäre Situation? Damit greift Bachmann ein Thema auf, das bisher noch wenig untersucht wurde (abgesehen von der Studie von Christa Büker, die 2010 das Leben mit einem behinderten Kind in einer qualitativen Studie beforschte). Um diese Fragen zu klären, wendet Bachmann das methodische Vorgehen der Grounded Theory an und nutzt dabei zwei verschiedene Datenbestände aus leitfadengestützten Interviews. Die Untersuchung ist bewusst nicht nur auf Mütter, sondern auch auf Väter und andere Familienmitglieder ausgerichtet, da die Strategien der gesamten Familie im Blickfeld der Studie stehen. Hier unterscheidet sie sich im Vorgehen von Büker, die vor allem Mütter in den Fokus ihrer Studie gestellt hat. Bachmann legt ihr methodisches Vorgehen transparent und begründet dar, so etwa, dass die – oftmals sehr belastenden – Gespräche überwiegend in der alltäglichen Lebenswelt der Eltern und Kinder stattfanden und jederzeit beendet werden konnten. Auch ihre Entscheidung, die schriftlichen Interviews aufgrund der erneuten Belastung nicht nochmals durch die Befragten bestätigen zu lassen, erläutert und begründet sie. Die Ergebnisse zeigen, dass das Wohl der chronisch kranken Kinder für die Eltern immer im Vordergrund steht und sie ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zurückstellen. Häufig gestaltet sich der Lebensalltag als Kampf, sodass die Eltern Kompetenzen erwerben müssen, um ihre Ziele und Ansprüche behaupten und durchsetzen zu können. Bachmann benennt diese Entwicklung als Kompetenzerwerb im Anschluss an Patricia Benner. Die Eltern werden zu Experten für ihr chronisch krankes Kind. Besorgt sind die Eltern vor allem um die Zukunft ihres Kindes. Dabei spielt beispielsweise auch die Pubertät eine zentrale Rolle, da Eltern Dr. med. Mabuse 219 · Januar / Februar 2016

befürchten, dass ihr Kind Angebote und Therapien ablehnen könnte. Eltern wünschen sich mehr Kontrollund Steuerungsmöglichkeiten und feste Ansprechpartner, die professionell beraten und begleiten. Die Begleitung soll bei der Diagnosestellung beginnen und über den gesamten Krankheitsverlauf möglich sein. Sie erwarten sich von professioneller Begleitung eine Unterstützung im Wissens- und Kompetenzerwerb und insbesondere eine Hilfe bei entwicklungsbedingten Veränderungen und Übergängen. Für ihr Kind erhoffen sie sich einen möglichst normalen, stabilen Alltag. Ihr Ziel ist es, die Selbstständigkeit ihres Kindes zu fördern und dessen Lebensqualität so wenig wie möglich einzuschränken. Bachmann zeigt durch ihr gründliches methodisches Vorgehen und die differenziert dargelegten Ergebnisse, wie Eltern chronisch kranker Kinder begleitet und unterstützt werden können. Das Buch wird für PflegewissenschaftlerInnen, Studierende im Bereich von Pflege und Gesundheit sowie für in Praxis und Lehre tätige Pflegende empfohlen – aber auch für andere professionelle Akteure, die mit der Thematik in Kontakt sind. Andrea Schiff, Professorin für Pflegewissenschaft, Kath. Hochschule NRW

Keine K e eine Angst Angsst v vor or o Älterwer e den dem Älterwerden ST E M I S C H E T H E R A P I E S SY Y ST

Thomas Friedrich-Hett Friedrich-Hett Noah Artner N o ah A rtner Rosita A. Ernst (Hrsg.)

Systemisches Arbeiten mit älteren Menschen K Konzepte onzepte u und Praxis nd P raxis ffür ür Beratung Beratung und u nd Psychotherapie

C CARL-AUER A R L-A U E R

Thomas /N tner/ Rosita A. Ernst (Hrsg.) Systemisches S ystemisches Arbeiten mit älter älteren en Menschen Konzepte und Praxis für Beratung und Psychotherapie 287 Seiten, Kt, 2014 € (D) 29,95/€ (A) 30,80 0434 0 ISBN 978-3-8497-00 Lernen, Wachstum und Veränderung sind auch im Alter noch möglich. Therapie und Beratung können helfen, Krafft für die noch anstehenden Lebensaufgaben zu gewinnen – bis hin zu einem guten und würdevollen Abschied von allem, was das Leben bereitgehalten hat.

JAAP ROBBEN · MEREL EYCKERMAN

JOSEFINA Ein Name wie ein Klavier

Hans Huber Verlag, Bern 2014, 180 Seiten, 29,95 Euro

Anna-Elisabeth Mayer

Die Hunde von Montpellier

Z

iemlich am Ende des Buches findet man den Satz „... er sah in ihre Augen wie in ein gefülltes Uringlas“. Ich stelle ihn hier jedoch voran, denn wer sich von solcherart Beschreibung faszinieren lassen kann, ist in diesem Buch gut aufgehoben. Alle anderen können sich die Zeit sparen. Die Autorin führt uns in eine facettenreiche, sehr bunte, aber auch düstere Welt des Mittelalters hinein. Sie schildert intensiv und in lebhaften Farben das Treiben auf den Märkten und in den Gassen. Man meint fast, die üblen Gerüche des Unrats auf den Straßen in der Nase zu

CARL-AUER

Josefina Ein Name wie ein Klavier 32 Seiten, Gb, 2015 € (D) 19,95/€ (A) 20,60 ISBN 978-3-8497-0089-8 Eines Tag a es vergaß Oma mich einfach. Und auch ihr Haus, das Zimmer und sich selbst. Sie dachte, sie wäre einfach irgendeine Frau. „Ein wunderbares Buch, in dem ein warmes Herz schlägt.“ Edward van de Vendel („Ein Hund wie Sam“)

Carl-Auerr Ve erlag www..carl-a auerr.de .

61


62

Buchbesprechungen

Kostenlose Willkommenskarten zum Download

TÜRKISCH

PERSISCH: khos amadid

ARABISCH: sahlaan

ahlaan wa

Begrüßen Sie Migranten in deren Heimatsprache: „Herzlich willkommen“-Karten liegen in 17 Sprachen kostenlos für Sie unter www.beltz.de/migration zum Download bereit.

Das Manual ist ein Training zur Vermittlung interkultureller Kompetenz für Jugendliche. Es enthält 16 Module wie Empathie, Vorurteile, Selbstreflexion u. a. Das erste Kapitel führt in die Kultur und interkulturelle Bildung ein. Leser werden außerdem über Grundlagen, Methoden, Basisverhalten und Organisation informiert. Gert Jugert / Hedwig Jugert / Peter Notz Fit für kulturelle Vielfalt

Training interkultureller Kompetenz für Jugendliche Mit Online-Materialien Pädagogisches Training, 2014, 238 Seiten, broschiert; € 34,95 ISBN 978-3-7799-2149-3

www.beltz.de/migration

JUVENTA

haben, ebenso aber auch den Duft von heilenden Kräutern und würzigem Rauch, der Kranken bei der Genesung helfen soll. Grusel ist garantiert in dieser Geschichte, die im 16. Jahrhundert spielt und von Aberglaube, Unwissenheit und dem Kampf gegen beides handelt. Schaudern ganz eigener Art, wie für Mediziner gemacht, verfolgt die Leser, die einen Arzt begleiten, der nach Wissen strebt und dem dieses Streben über alles geht: über die herrschenden Vorstellungen von Moral, Anstand und Sitte – wohl auch über die eigenen Gefühle. Rondelet, so sein Name, wird von seinem Wissensdrang getrieben, für den er alle Tabus bricht, die mit dem Tod und dem Körper eines Toten verbunden sind. Das schockiert die Menschen seiner Zeit. Ist es nicht nachvollziehbar, dass Menschen davor zurückschrecken, den Körper nach dem Tode aufzuschneiden? Muskulatur, Knochen aber auch innere Organe herauszunehmen, nur um sie zu studieren? Ist diese Scheu denn nicht gottgewollt? Rondelet glaubt das nicht, ihm geht es darum, den menschlichen Körper kennenzulernen, und er akzeptiert keine Schranken: „... nur von außen anschauen reicht nicht, in ein Haus gehen wir doch auch hinein“, so argumentiert er. Was wiegt schwerer, die Unversehrtheit des Körpers, die in der damaligen Zeit einen noch wesentlich höheren Stellenwert hatte, oder der Fortschritt? Heute ist die Autopsie, die Leichenöffnung, ein Routinevorgang und die Bereitschaft, seinen Körper oder seine Organe der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen, ist ein inzwischen fast alltägliches Anliegen moderner Menschen. Rondelet aber muss dafür kämpfen, das Wissen-wollen über das Glauben-müssen zu stellen. Wo wären wir heute, wenn wir uns von den Hemmungen jener Zeit hätten leiten lassen? Wo wären wir ohne diese Männer, die jede Grenze überschritten, immer mit dem Alibi, dadurch könnte vielleicht der nächste Mensch gerettet werden? Wären wir vielleicht nicht so weit, wie wir jetzt sind? Oder hätten sich mit der Zeit andere Wege der Erkenntnis aufgetan? Rondelet jedenfalls hat der ärztlichen Heilkunst einen Dienst erwiesen. Glücklicher ist er dadurch nicht geworden, seine Umgebung ächtete ihn dafür, Schmähungen erschienen an der Wand seines Hauses. Und es hat ihn nicht davon abgehalten, wie die Autorin uns in einem Nachtrag wissen lässt, auch seine Ehefrau

und seine Schwägerin nach deren Tod zu obduzieren. Vermutlich bedauerte er einzig, dass er sich nicht auch noch selbst hat sezieren können. Sonja Chevallier, Hamburg

Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2014, 200 Seiten, 19,95 Euro

Thomas Friedrich-Hett u. a. (Hg.)

Systemisches Arbeiten mit älteren Menschen Konzepte und Praxis für Beratung und Psychotherapie

D

er demografische Wandel bedingt eine Zunahme altersbezogener Erkrankungen – auch in der psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgung gibt es immer mehr im Alter neu psychisch Erkrankte sowie älter gewordene depressive, schizophrene und angstgestörte Menschen. Zuverlässig ist mittlerweile belegt, dass ältere Menschen mit wachsender Selbstverständlichkeit Beratung und Psychotherapie in Anspruch nehmen – und davon profitieren. Es überrascht nicht, dass neben den in EU-Nachbarländern mit Erfolg praktizierten Ansätzen aufsuchender psychotherapeutischer Behandlung die Telemedizin als „innovative Versorgungsstrategie“ der Gerontopsychotherapie entdeckt wird. Für das Thema Altern und psychotherapeutisches Arbeiten mit älteren Menschen haben sich niedergelassene Psychotherapeuten und auch die systemische Literatur erst allmählich zu interessieren begonnen. Die Herausgeber haben eine anregende Übersicht theoretischer und praxisbezogener Beiträge gesammelt. Die dialogische Herstellung von Lebensgeschichte, wie sie der soziale Konstruktionismus, eine der erkenntnistheoretischen Grundlagen systemischer Ansätze, begründet, eigne sich besonders für die therapeutische, beratende und pflegende Arbeit mit Älteren, knüpfe sie doch an deren reichhaltiger Lebenserfahrung als „einer ihrer wichtigsten Ressourcen“ an. Dieses Postulat findet sich in eindrucksvollen Praxisberichten aus Heimbetreuung, ambulanter Psychotherapie und psychiatrischer Klinik bestätigt. Dr. med. Mabuse 219 · Januar / Februar 2016


Buchbesprechungen

Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2014, 287 Seiten, 29,95 Euro

Joseph Kuhn, Martin Heyn (Hg.)

Gesundheitsförderung durch den öffentlichen Gesundheitsdienst

D

as im vierten Anlauf 2015 verabschiedete Präventionsgesetz soll die Gesundheitsförderung direkt im Lebensumfeld, besonders in Kita und Schule, am Arbeitsplatz und im Pflegeheim, stärken. Im neuen Paragrafen 20 des Sozialgesetzbuches V schreibt der Gesetzgeber vor, dass die Krankenkassen in der Satzung Leistungen zur Verhinderung und Verminderung von Krankheitsrisiken (primäre Prävention) sowie zur Förderung des selbstbestimmten gesundheitsorienDr. med. Mabuse 219 · Januar / Februar 2016

ŚƌŝƐƟŶĂ ^ĐŚƺĞƐͮ ŚƌŝƐƚŽƉŚ ZĞŚŵĂŶŶͲ^ƵƩĞƌ ;,ƌƐŐ͘Ϳ

ZĞƩĞŶĚĞ 'ĞƐĐŚǁŝƐƚĞƌ Z ĞƩĞŶĚĞ 'ĞƐĐŚǁŝƐƚĞƌ

ϮϬϭϱ͘ Ϯϴϲ ^͕͘ ŬĂƌƚ͕͘ Φ ϯϴ͕Ͳ ϵϳϴͲϯͲϵϱϳϰϯͲϬϭϬͲϲ ƉƌŝŶƚ

tierten Handelns der Versicherten (Gesundheitsförderung) vorsehen müssen. Dabei sollen die Leistungen insbesondere zur Verminderung sozial bedingter sowie geschlechtsbezogener Ungleichheit von Gesundheitschancen beitragen. Lebensumfeld, Lebenswelt oder Setting – mit diesen Begriffen im Gesetz wird nahegelegt, dass Gesundheitsförderung dort zu realisieren ist, wo Menschen „spielen, lernen, arbeiten und lieben“, wie es fast poetisch in der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung von 1986 heißt. Und hier kommt der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) ins Spiel – beziehungsweise er könnte stark ins Spiel kommen. Denn prinzipiell ist der ÖGD hervorragend dafür geeignet. Und konkret gibt es ermutigende Beispiele, die als Blaupause für eine Umsetzung des Präventionsgesetzes dienen können. Grundsätzliche Überlegungen und Praxisbeispiele finden sich im von Joseph Kuhn und Martin Heyn herausgegebenen Buch, das daher genau zur richtigen Zeit kommt. Denn hier gibt es Spielraum bei der Umsetzung des Gesetzes. Traditionell ist der ÖGD auf den Schutz der Gesundheit ausgerichtet und hat hierfür hoheitliche Kompetenzen. Dies ist nicht entbehrlich, muss aber um ein neues Leitbild ergänzt werden: Selbstbestimmung über die eigene Gesundheit im Sinne von Empowerment und Partizipation, um das Lebensumfeld gemeinschaftlich „gesünder“ zu machen. Die Herausgeber legen gemeinsam mit Veronika Reisig und Natalie Voh dar, was einen „neuen“ ÖGD ausmachen könnte und welche Chancen damit verbunden sind. Es wurden 18 Beiträge gesammelt, die von konzeptionellen Überlegungen über einen historischen Rückblick bis hin zu einer Reihe von beispielhaften Ansätzen reichen. Sie zeigen, dass der ÖGD (prinzipiell) geeignet ist, eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung des Präventionsgesetzes zu spielen – mithilfe von Instrumenten und Verfahrensweisen wie Gesundheitskonferenzen und -berichterstattung oder der Verknüpfung von Sozial- und Gesundheitsplanung. Zwei Beiträge seien herausgehoben: Die Historikerin Sigrid Stöckel beschreibt die Entstehung des umfassenden Gesundheitsbegriffes in den Chartas der WHO nach dem Zweiten Weltkrieg, und wie die Ärzte im ÖGD der jungen Bundesrepublik das neue Gesundheitsverständnis aufgenommen haben, nämlich zurückhaltend.

ƚŚŝƐĐŚĞ ƐƉĞŬƚĞ ĚĞƌ ŝŶǁŝůůŝŐƵŶŐ ŝŶ ĚĞƌ ƉćĚŝĂƚƌŝƐĐŚĞŶ ^ƚĂŵŵnjĞůůƚƌĂŶƐƉůĂŶƚĂƟŽŶ ŝĞ <ŶŽĐŚĞŶŵĂƌŬƐƉĞŶĚĞ ǀŽŶ <ŝŶĚĞƌŶ Ĩƺƌ ůĞƵŬćŵŝĞŬƌĂŶŬĞ 'ĞƐĐŚǁŝƐƚĞƌ ŝƐƚ ĞŝŶĞ ůĞďĞŶƐƌĞƩĞŶĚĞ dŚĞƌĂƉŝĞ͘ <ŝŶĚĞƌ ƐŝŶĚ ĂďĞƌ ŶŽĐŚ ŶŝĐŚƚ ŝŶ ĚĞƌ >ĂŐĞ͕ ƐĞůďƐƚ ĞŝŶĞ ŝŶǁŝůůŝͲ ŐƵŶŐ njƵ ŐĞďĞŶ͘ tŝĞ ƐŽůůĞŶ ƐŝĞ ĂůƐŽ ďĞƚĞŝůŝŐƚ ǁĞƌĚĞŶ͍ tĞůĐŚĞ ĞƚŚŝƐĐŚĞŶ &ƌĂŐĞŶ ƐƚĞůůĞŶ ƐŝĐŚ͍ ŝĞ ĞŝƚƌćŐĞ ĚŝƐŬƵƟĞƌĞŶ ŵŽƌĂůŝƐĐŚĞ͕ ƌĞĐŚƚůŝĐŚĞ͕ ƉƐLJĐŚŽůŽŐŝƐĐŚĞ͕ ƉŚŝůŽƐŽƉŚŝƐĐŚĞ ƵŶĚ ŐĞƐĞůůƐĐŚĂŌůŝĐŚĞ ƐƉĞŬƚĞ͗ &ƌĂŐĞŶ njƵƌ &ƌĞŝǁŝůůŝŐŬĞŝƚ ďĞŝ ĚĞƌ ŝŶǁŝůůŝŐƵŶŐ njƵ ĞŝŶĞƌ ^ƉĞŶĚĞ͕ njƵƌ sĞƌůĞƚnjůŝĐŚŬĞŝƚ ĚĞƐ <ŝŶĚĞƐ͕ njƵ sĞƌƐƚƌŝĐŬƵŶŐĞŶ ŝŶ &ĂŵŝůŝĞŶďĞnjŝĞŚƵŶŐĞŶ͕ njƵŵ sĞƌŚćůƚŶŝƐ ǀŽŶ ZĞĐŚƚ ƵŶĚ ƚŚŝŬ͕ njƵƌ ŝƐŬƌĞƉĂŶnj ǀŽŶ <ŝŶĚĞƐǁŽŚů ƵŶĚ <ŝŶĚĞƐǁŝůͲ ůĞ ƵŶĚ njƵ ĚĞŶ <ŝŶĚĞƌƌĞĐŚƚĞŶ͘

Z ŶĚƌĞĂƐ ĂƐƐĞĞ ͮ ŶŶĂ 'ŽƉƉĞů ;,ƌƐŐ͘Ϳ

DŝŐƌĂƟŽŶ ƵŶĚ ƚŚŝŬ D ŝŐƌĂƟŽŶ ƵŶĚ ƚŚŝŬ Ϯ͘ ƵŇ͘ ϮϬϭϰ͘ ϯϬϴ ^͕͘ ŬĂƌƚ͕͘ Φ Ϯϵ͕ϴϬ ϵϳϴͲϯͲϴϵϳϴϱͲϯϭϳͲϭ ƉƌŝŶƚ

Psychotherapie geht im Alter grundsätzlich nicht anders vor, aber es sind Besonderheiten zu beachten – etwa eine vermehrte therapeutische Aktivität, langsameres Vorgehen, Einsatz von Gedächtnishilfen, Flexibilität im Setting und Austausch mit Ärzten der Körpermedizin. Denn der ältere Mensch hat häufig Funktionsbeeinträchtigungen infolge somatischer Komorbidität. Auch der Verlust von nahestehenden Menschen, wirtschaftliche Sorgen und der Umzug ins Seniorenheim kosten Kraft. Die Themen der Erfahrungsberichte aus der Praxis reichen vom Bewältigen von Kontaktabbruch in Familien, Arbeit mit dem biografischen Erbe von Kindern im Zweiten Weltkrieg, über Sexualität und Partnerschaft sowie Demenzen bis zur Begleitung von Sterben und Trauer. Zahlreiche Fallbeispiele belegen, wie lebenslang gewachsene Sinnstrukturen genutzt, Grenzen validiert und betrauert, Neugier und Veränderungsbereitschaft (wieder)geweckt und Regeln des Zusammenlebens neu vereinbart werden können. Der demografische Wandel macht nicht nur eine Modifikation des therapeutischen Arbeitens erforderlich; es steht auch ein (radikales) Umdenken des Settings hin zu aufsuchenden Ansätzen auf der Tagesordnung. Dr. Hasso Klimitz, Potsdam

^ŝŶĚ ^ƚĂĂƚĞŶ ŵŽƌĂůŝƐĐŚ ĚĂnjƵ ďĞƌĞĐŚƟŐƚ͕ ĚŝĞ ƵǁĂŶĚĞƌƵŶŐ ĂƵĨ ŝŚƌ dĞƌƌŝƚŽƌŝƵŵ ŶĂĐŚ ĞŝŐĞŶĞŵ ƌŵĞƐƐĞŶ njƵ ďĞƐĐŚƌćŶŬĞŶ͍ /Ɛƚ ĚĂƐ ZĞĐŚƚ ĂƵĨ ƵƐƐĐŚůƵƐƐ ĞŝŶ ůĞŐŝƟŵĞƌ ĞƐƚĂŶĚƚĞŝů ĚĞƌ ŶĂƟŽŶĂůĞŶ ^ĞůďƐƚďĞƐƟŵͲ ŵƵŶŐ͍ KĚĞƌ ƐŽůůƚĞŶ ^ƚĂĂƚĞŶ ǀŝĞůŵĞŚƌ ĞŝŶĞŶ ŵŽƌĂůŝƐĐŚĞŶ ŶƐƉƌƵĐŚ ĂƵĨ ŐůŽďĂůĞ ĞǁĞŐƵŶŐƐĨƌĞŝŚĞŝƚ ĂŶĞƌŬĞŶŶĞŶ͍ ŝĞ ϭϱ ƵƚŽƌĞŶ ƚŚĞŵĂƟƐŝĞƌĞŶ ǁĞƐĞŶƚůŝĐŚĞ ^ƚƌćŶŐĞ ĚĞƌ ŵŝŐƌĂƟŽŶƐĞƚŚŝƐĐŚĞŶ ĞďĂƩĞ ƵŶĚ ůŝĞĨĞƌŶ ĞŝŶĞ ĨƵŶĚŝĞƌƚĞ ƵƐĞŝŶĂŶĚĞƌƐĞƚͲ njƵŶŐ ŵŝƚ &ƌĂŐĞŶ͕ ĚŝĞ ŝŶ ĞŝŶĞƌ ŐůŽďĂůŝƐŝĞƌƚĞŶ tĞůƚ ƐƚĞƟŐ ĂŶ ĞĚĞƵƚƵŶŐ ŐĞǁŝŶŶĞŶ͘

ŵĞŶƟƐ sĞƌůĂŐ DƺŶƐƚĞƌ ŵĞŶƟƐ sĞƌůĂŐ DƺŶƐƚĞƌ

63


64

Buchbesprechungen

Psychosozial-Verlag David Zimmermann

Migration und Trauma Pädagogisches Verstehen und Handeln in der Arbeit mit jungen Flüchtlingen

266 Seiten • Broschur • € 24,90 ISBN 978-3-8379-2180-9 Das Leben zwangsmigrierter Jugendlicher ist durch extreme Belastungen gekennzeichnet. Diese Erfahrungs- und Erlebenswelten der Jugendlichen unterzieht der Autor anhand zahlreicher Fallbeispiele einer genauen Analyse und entwickelt unter Rückgriff auf die Traumaforschung Handlungsoptionen für die pädagogische Praxis.

Klaus Plümer legt eine persönliche Bilanz vor. Er blickt auf mehr als 25 Jahre Tätigkeit im ÖGD zurück und erinnert unter anderem an die erfolgreiche Aids-Prävention Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre. Gesundheitsförderung, so sagt er mit Recht, sei keine medizinische Dienstleistung. Nach dem Präventionsgesetz ist für die Ebene der Bundesländer vorgesehen, dass die Kranken- und Pflegekassen gemeinsam mit den Unfallversicherungen und der gesetzlichen Rentenversicherung Rahmenvereinbarungen mit den in den Ländern zuständigen Stellen abschließen. Hier wird sich zeigen, ob dem ÖGD eine zentrale Rolle im künftigen Kooperationsgeflecht zugewiesen wird. Allerdings muss der ÖGD nicht einfach warten, bis er wach geküsst wird. Gerade auf der Landesebene könnten die PolitikerInnen „ihren“ ÖGD jeweils entsprechend positionieren. Und wenn der ÖGD diese Rolle ausfüllen soll, werden die Länder auch Ressourcen dafür einsetzen müssen. Andreas Böhm, Potsdam

Hans Huber Verlag, Bern 2015, 194 Seiten, 39,95 Euro

Ludwig Janus

Geburt

Andreas S. Lübbe

Für ein gutes Ende Von der Kunst, Menschen in ihrem Sterben zu begleiten – Erfahrungen auf einer Palliativstation

U 144 Seiten • Broschur • € 16,90 ISBN 978-3-8379-2241-7 Die Erlebnisbedeutung der Geburt ist heute allgemein akzeptiert – nicht zuletzt wegen der empirischen Belege aus Stressforschung und Psychotraumatologie. Ludwig Janus stellt hier die verschiedenen Linien der Erforschung der Geburtserfahrung vor und erklärt ihre Bedeutung für die psychotherapeutische Praxis. Walltorstr. 10 · 35390 Gießen Tel. 0641-969978-18 Fax 0641-969978-19 bestellung@psychosozial-verlag.de www.psychosozial-verlag.de

m es gleich vorwegzusagen: Das Buch von Andreas S. Lübbe, Onkologe und Leiter der Palliativstation in der KarlHansen-Klinik sowie der onkologischen Schwerpunktklinik für Anschlussrehabilitation in Bad Lippspringe, ist hervorragend und gehört in jeden Bücherschrank. Als Leserin habe ich die Palliativstation kennengelernt, einige der 25 MitarbeiterInnen, inklusive ihres Chefs. Ich kann mir auch ein Bild von den Aufgaben, Orientierungen und Möglichkeiten der Palliativmedizin machen. Vor allem habe ich aber viele Lebensgeschichten kennengelernt, von Menschen, die mal mehr oder weniger gut aufgeklärt, mal gefasst und mal verzweifelt mit ihrem nahenden Tod – oder dem der Angehörigen – konfrontiert waren. Was es an lindernden, palliati-

ven Angeboten gibt, ist tröstlich und beruhigend, aber auch illusions- und schnörkellos beschrieben. Eines sind die Botschaften nie: überheblich oder lehrmeisterlich. Sie sind zutiefst menschlich und im Bewusstsein unseres gemeinsamen Schicksals geschrieben, der Sterblichkeit. Manche Patienten der Palliativstation stellen sich vor, „schon mit einem Bein im Grab“ zu stehen, andere denken: „Hier werde ich für die nächste Reha oder die nächste Chemo wieder fit gemacht“. Manche wollen der Außenwelt signalisieren, dass sie um ihr Leben kämpfen, und wollen deshalb noch „unsinnige Therapien“. Anders als in einem Hospiz verlassen Patienten die Palliativstation oft wieder und leben zu Hause weiter. Im Durchschnitt bleiben sie zwölf Tage auf der Station, bei Bedarf können sie immer wieder zurückkommen. Das Behandlungsziel ist nicht mehr Heilung, aber auch nicht nur Schmerzfreiheit durch Medikamente. Es geht auch um seelische und soziale Bedürfnisse: Welche Ziele und Hoffnungen haben Patienten und Angehörige? Wie sieht die Prognose aus und was ist realistisch noch zu erreichen? Andreas Lübbe plädiert für Ehrlichkeit und „partizipative Entscheidung“. „Das geht nur, wenn der Experte für medizinisches Wissen den Experten für die persönlichen Lebensumstände anerkennt und wenn ersterer auch wirklich das Wissen über Behandlungsalternativen hat.“ Das ist gerade angesichts eines absehbaren Todes einfacher gesagt als getan. Was Patienten an Informationen einordnen und ertragen können, wie viel sie mitentscheiden möchten, ist höchst individuell. „Einer von fünf Patienten sagt: Entscheiden Sie, Sie haben die Erfahrung. (...) Bei den anderen muss ich argumentieren, Vor- und Nachteile aufzeigen können. Das ist die Schlüsselqualifikation: Die Patienten nicht zu überfordern, sondern angemessen zu informieren und gemeinsam Entscheidungen zu finden.“ Diese Perspektive wäre sicher auch in anderen Krankenhausabteilungen wünschenswert. Patienten am Lebensende solle man „wahrhaftig, menschlich, ehrlich, authentisch und mitfühlsam begegnen”, sagt der Palliativmediziner. „Professionelle Distanz mag in dem ein oder anderen Bereich hilfreich sein. Aber hier ist ‚professionelle Nähe‘ gefragt“. Ein Psychologe kann überforderten Familien wieder auf die Beine helfen. Der Sozialarbeiter organisiert die Dr. med. Mabuse 219 · Januar / Februar 2016


häusliche Pflege und kann gut mit den Krankenkassen verhandeln. Sie alle leben „professionelle Nähe“, brauchen Zeit und auch Supervision, denn selbst nach jahrelanger Konfrontation mit dem Sterben machen manche Schicksale den MitarbeiterInnen zu schaffen. Am Ende des Buches erfahre ich noch einige Wünsche, die hoffentlich irgendwann einmal tatsächlich in Erfüllung gehen. Zum Beispiel „eine Gesellschaft, in der Kranke und Schwache ganz selbstverständlich ihren Platz haben (...); in der Sterbende den Mut haben können, sich ihren Mitmenschen anzuvertrauen“. Oder: „mehr Ehrlichkeit und Transparenz im Gesundheitswesen, weniger Heuchelei und Streben nach Gewinnmaximierung“; „philosophisch und ethisch ausgebildete Ärzte“, die mit mehr „Demut in ihren Grundhaltungen“ Patienten und Angehörigen begegnen, die ihr Recht auf eine gute Begleitung am Lebensende kennen. Das wäre schön. Mit dem Buch ist ein Anfang gemacht – für ein gutes Ende. Erika Feyerabend, Essen

Heyne Verlag, München 2014, 320 Seiten, 19,99 Euro

Sonja Schiff

10 Dinge, die ich von alten Menschen über das Leben lernte Einsichten einer Altenpflegerin

S

itzen Sie manchmal abends rum und fragen sich, warum Sie sich den ganzen Pflegestress antun? „Was hat mich nur geritten, als ich mich für die Altenpflege als Beruf entschieden habe?“, mag Sonja Schiff gedacht haben. Sie stellt zehn Dinge vor, die sie von alten Menschen über das Leben lernte. Das Buch passt wunderbar zu so einer Stimmung. Es erinnert mich an die schönen Seiten meines Berufs. Und so kann das Buch auch hilfreich sein, wenn die Berufsentscheidung noch nicht gefallen ist, die Altenpflege es aber in die engere Wahl geschafft hat. Sonja Schiff zeigt ihre Begeisterung schon im Vorwort: „Altenpflege ist der coolste Job der Welt.“ Sie schreibt zum Beispiel über ihre Begegnungen mit Frau Dr. med. Mabuse 219 · Januar / Februar 2016

Niess: eine Schreckschraube, eine verängstigte Hundertjährige, eine brutale Verweigererin, eine Hutträgerin – alles in einer Person. Es braucht Zeit, Energie und Fantasie, um Vertrauen aufzubauen. Aber am Ende kann Frau Niess in Ruhe aus dem Leben gehen. Sonja Schiff beschreibt viele Erfahrungen, die sie als Altenpflegerin machen konnte. Diese werden zusammen mit Reflexionen der Autorin in zehn „Einsichten“ gegliedert. Ist es unangemessen, dass sich hier und da Pathos zwischen die Zeilen schleicht? Ich begegne auch Sätzen, die mir wie eine Anleitung zum Glücklichsein vorkommen. Beim ersten Lesen überspringe ich manche Zwischentexte, aber die Fallbeispiele lese ich Wort für Wort. Sehr schön, dass sie mir zum Beispiel eine Dame vorstellt, die Tag für Tag nur allein im Zimmer des Altenheims sitzen will – und mir zeigt, warum das so ganz und gar nicht langweilig ist. „Die vielen alten Menschen heute und in Zukunft sind angeblich zu teuer“, steht da. Tag für Tag liefern mir die Medien Berichte über Sparmaßnahmen, Budgetierung oder rote Zahlen. Also erwarte ich, dass die Autorin dieser Bemerkung volkswirtschaftliche Argumente und Statistiken folgen lässt. Nichts dergleichen. Sonja Schiff zeigt Haltung. Sie schreibt über existenzielle Bedürfnisse alter Menschen und die Möglichkeiten der Altenpflege. Sollen doch die HaushaltspolitikerInnen Wege finden, die Achtung der Würde des Menschen zu finanzieren. Nein, Altenpflege ist nicht immer aufregend oder bedeutend oder romantisch. Auch das wird im Buch deutlich. Jeder alte Mensch kann „ein Geheimnis in sich tragen, kann irgendwann im Leben traumatisiert worden sein, eine intensive Lebenskrise nicht überwunden oder auch Schuld auf sich geladen haben (...) Viele alte Menschen nehmen diese Erlebnisse, häufig haben sie ein Leben lang nicht darüber geredet, still mit sich ins Grab.“ Ich hätte große Lust, mit Sonja Schiff mal einen langen Nachmittag zu verbringen, um über Altenpflege zu sprechen! Und ihr Buch werde ich bald ein zweites Mal lesen. Georg Paaßen, Altenpfleger

Gegenstand und Grundkonzepte der Gerontologischen Pflege

Hermann Brandenburg / Helen Güther (Hrsg.)

Lehrbuch Gerontologische Pflege 2015. 360 Seiten, kartoniert € 39.95 AUCH ALS E-BOOK

Für eine professionelle Pflege und Betreuung alter Menschen sind gründliche Kenntnisse der Gerontologie und Pflegewissenschaft notwendig. Das erfahrene Herausgeber- und Autorenteam schafft mit diesem Buch einen Brückenschlag zwischen Pflegepraxis, Gerontologie und Pflegewissenschaft.

www.hogrefe.ch/85471 edition a, Wien 2015, 192 Seiten, 19,95 Euro


Ab März in 3. Auflage!

Johanne Pundt, Karl Kälble (Hg.)

Gesundheitsberufe und gesundheitsberufliche Bildungskonzepte

D

Klaus Fröhlich-Gildhoff / Tina Dörner / Maike Rönnau-Böse Prävention und Resilienzförderung in Kindertageseinrichtungen – PRiK Ein Förderprogramm 3., akt. Auflage 2016. 128 Seiten. 22 Abb. DIN A4. (978-3-497-02608-1) kt € [D] 24,90 / € [A] 25,60 (alle Preise inkl. gesetzlicher MwSt.)

Kinder lernen bereits im Kindergartenalter, kleine und große Krisen selbstständig zu überwinden, erwerben soziale Kompetenz und gehen entspannt mit Stress um. An diesen Ressourcen setzt das Programm PRiK an: Vorhandene Fertigkeiten von Kindern im Alter von vier bis sechs Jahren werden gezielt gefördert und ihre Resilienz gestärkt. Im ersten Teil des Buches werden zentrale Elemente des Konzepts der „Resilienz“ erläutert – Selbst- und Fremdwahrnehmung, Selbstwirksamkeit und -steuerung, Stressbewältigung und Problemlösekompetenz. Im zweiten Teil finden sich 26 Fördereinheiten mit vielen Spielen, Übungen und Materialvorschlägen zur praktischen Umsetzung des Programms. Das vielfach erprobt und wissenschaftlich evaluierte Programm wurde für die 3. Auflage aktualisiert.

www.reinhardt-verlag.de

as deutsche Gesundheitswesen ist schon seit einigen Jahren mit vielfältigen Herausforderungen und Umstrukturierungen beschäftigt. Das betrifft auch die gesundheitsbezogenen Berufe und deren Bildungskonzepte. Traditionelle Arbeitsgebiete werden infrage gestellt und neu definiert. Das bedeutet auch einen Wandel der Ausbildungen, Kompetenzentwicklung, Akademisierung und Professionalisierung. Im vorliegenden Buch diskutieren über 30 AutorInnen das Themengebiet. Zielsetzung der Herausgeber ist es, durch die verschiedenen Aufsätze theoretische Grundlagen und aktuelle berufs- und bildungsstrukturelle Entwicklungen im Wandel der Gesundheitsberufe zu beleuchten. Der Band liefert einleitend eine umfassende Klärung des Begriffes „Gesundheitsberuf“. Nachdenklich stimmt danach der Aufsatz über die Emanzipation des Pflegeberufes. Studierte Pflegende arbeiten in Deutschland selten „am Bett“, das im Studium erworbene Wissen gelangt so nicht direkt zu den Patienten. Pflegewissenschaftler sind in Lehre und Forschung aktiv und von der Praxis getrennt, dadurch bildet sich aus Sicht des Autors ein „Elitestatus“ heraus. Die Beiträge im umfangreichsten zweiten Kapitel des Bandes skizzieren Themen wie Innovationsdruck der gesundheitsberuflichen Qualifikationen, Akademisierung der Pflege, die Lehrerbildung, Lernorte, „Wellnessberufe“ und Gesundheitsberufe in Europa. Den Einstieg macht Gerhard Igl mit einem Aufsatz zur Situation und Entwicklung der Gesundheitsberufe. In seinem Beitrag wird knapp die Situation der Hebammen (Ausbildung, Zugangsvorrausetzungen) thematisiert. Ohne der Gesamtbeurteilung des Buches vorzugreifen: Der Berufszweig der Hebammen und die dramatischen Entwicklungen – Berufsausstiege aufgrund von untragbaren ökonomischen Zwängen – kommen im Buch zu kurz. Im dritten Kapitel geht es um die interprofessionelle Zusammenarbeit und die aktuellen Herausforderungen der gesundheitsberuflichen Arbeitswelt. Wel-

che Entwicklungsmöglichkeiten es hier gibt, zeigen Evans und Bräutigam in ihrem Beitrag. Daraus ergeben sich Fragen für künftige Untersuchungen, etwa inwieweit die Arbeitsgestaltung in Krankenhäusern darauf ausgerichtet ist, professionelles Handeln zu fördern, oder welche Effekte unterschiedliche Typen der Arbeitsgestaltung für Mitarbeiter und Patienten haben. Das Kapitel endet mit einem innovativen Beitrag zu Weiterentwicklung der Akademisierung der Pflege. Ein akademisches Bildungsmodell als Verzahnung von Medizin und Pflege könnte die Aufgabenverteilung und Zusammenarbeit beider Disziplinen aktiv unterstützen. Kapitel vier wendet sich der Situation und Perspektiven der Forschung in den Gesundheitsberufen zu. Der Soziologe Michael Ewers zeigt, worin der Beitrag der Gesundheitsberufe zur Forschung besteht und wie notwendig sie zur Problemlösung vielfältiger Herausforderungen sind. Das Buch schließt mit einem Beitrag zur Deprofessionalisierung des Arztberufes. Wenn man der These des Autors folgt, nach der die Zeiten des „allmächtigen” Chefarztes vorbei sind, wäre eine Erweiterung der Perspektive auf die Rolle der Pflege wünschenswert gewesen. Und wo wir schon beim Wünschen sind: Das Berufsbild und die Entwicklungen des Hebammenberufes sowie die Bedeutung der generalistischen Pflegeausbildung wären aus meiner Sicht auch eine Betrachtung wert gewesen. Abgesehen davon ist das Buch eine gute Bestandsaufnahme der aktuellen, dynamischen, komplexen Entwicklungen in den gesundheitsbezogenen Berufen. Die Beiträge sind theoretisch fundiert und sinnvoll strukturiert. Verfügt der Leser über ein Basiswissen gesundheitswissenschaftlicher und -politischer Diskussionen, bieten sie reichlich Impulse für vertiefende Auseinandersetzungen. Das Buch ist für Experten im Gesundheitswesen und Studierenden gesundheitsbezogener Fächer zu empfehlen. Sabine Kalkhoff, Dipl.-Pflegewirtin (FH), Einrichtungsleiterin u. Lehrbeauftragte, Hamburg

Apollon University Press, Bremen 2015, 532 Seiten, 54,90 Euro Dr. med. Mabuse 220 · März / April 2016


Buchbesprechungen

„Who was who in nursing history“, Bd. 7

S

ieht man von Florence Nightingale (1820–1910) oder Agnes Karll (1868– 1927) einmal ab, sind viele Protagonisten der Krankenpflege in der BevĂślkerung kaum bekannt. Wem sagen schon beispielsweise die Namen Christoph Abderhalden (1955–2013), Ludwig Adler (1876– 1958), Marie Baum (1874–1964), Leonhard Brunner (1500–1558) oder Gertrud von Nivelles (626–659) etwas? Dabei gehĂśren sie zu jenen Menschen, die die Krankenpflege ihrer Zeit ganz entscheidend mitgeprägt haben. Ihre und mehr als 100 andere Porträts finden sich daher im neuesten Band des „Biographischen Lexikons zur Pflegegeschichte“. Wie die Bände 4 (2008), 5 (2011) und 6 (2012) wird auch Band 7 von dem Pflegehistoriker Hubert Kolling herausgegeben, der auch Mitglied im Editorial Board der von ihm mit initiierten und nunmehr bereits im vierten Jahr erscheinenden Fachzeitschrift Geschichte der Pflege (www.geschichte-der-pflege.info) ist. Einen besonderen Bezug zu dem Thema hat Kolling nicht zuletzt dadurch, dass er in den 1970er Jahren eine dreijährige Ausbildung als Krankenpfleger absolvierte und eine Zeit lang in dem Beruf sowie als Dozent an verschiedenen Krankenpflegeschulen arbeitete. Neben dem Herausgeber haben 18 AutorInnen aus Dänemark, Deutschland, Kroatien, Ă–sterreich und Slowenien an diesem Band mitgewirkt. Die einzelnen Beiträge bieten eine schnelle Ăœbersicht Ăźber die Lebensdaten und Werke von PflegepersĂśnlichkeiten, die bislang noch wenig oder gar nicht allgemein bekannt sind. Im Vorwort weist der Herausgeber darauf hin, dass das Spektrum der vorgestellten Biografien breit gestreut ist und – ausgehend von einem weit gefassten Begriff „Pflegeberuf“ – neben unmittelbar in der Pflege Wirkenden von Adeligen und Medizinern Ăźber Theologen bis hin zu Gewerkschaftern reicht. Hinzu kommen Pflegehistoriker, -wissenschaftler und -direktoren, HospitalgrĂźnder und deren Vorsteher, Lehrbuchautoren, Vertreter der mittelalterlichen Krankenpflege, verschiedener Ordensgemeinschaften und Dr. med. Mabuse 220 ¡ März / April 2016

hpsmedia, Nidda 2015, 328 Seiten, 34,80 Euro

www.klett-cotta.de/fachratgeber

NEU

203 Seiten, broschier t â‚Ź 19,95 (D). ISBN 978 -3- 608 - 94585- 0

Biographisches Lexikon zur Pflegegeschichte

Schwesternschaften ebenso wie Verbandsfunktionäre, die Einfluss auf die stationäre oder häusliche Krankenpflege hatten. Neben Lebensgeschichten und Schicksalen der FĂśrderer und Praktiker der jĂźdischen Krankenpflege fanden auch Menschen BerĂźcksichtigung, die mehr in die Breite als in die Tiefe und mehr zerstĂśrend als aufbauend wirkten. So sind erneut einige derjenigen aufgenommen worden, die während der Zeit des Nationalsozialismus im Hinblick auf die Krankenpflege wichtige politische Ă„mter innehatten oder sich an der sogenannten „Euthanasie“ beteiligten. Porträtiert werden zudem Menschen aus der Pflege, die sich – zumeist unter groĂ&#x;em persĂśnlichen Risiko fĂźr Leib und Leben – dem damaligen Unrechtsregime entgegenstellten. Unter den Biografien finden sich ferner Herausgeber und Redakteure von PflegeFachzeitschriften, Vertreter von Berufsorganisationen oder der „BehindertenPflege“, Krankenhaus-FĂźrsorgerinnen, „RĂśntgenschwestern“, bedeutende Hebammen, GrĂźnder und Vorsteher von Krankenpflegeschulen sowie Lehrer, Vertreter der Kriegskrankenpflege, der Häuslichen Krankenpflege, der Laienkrankenpflege, der Psychiatrischen Pflege und der Hospizarbeit. Während die Mehrzahl der vorgestellten Frauen und Männer aus Deutschland kommen, werden auch einzelne Personen und deren Leistungen fĂźr die Krankenpflege aus Bulgarien, Dänemark, England, Italien, Kroatien, Ă–sterreich, der Schweiz, der Slowakei und Slowenien porträtiert – in den meisten Fällen wird auch der sozialgeschichtliche Hintergrund der jeweiligen Epoche mitberĂźcksichtigt. Das „Biographische Lexikon zur Pflegegeschichte“ gehĂśrt als wissenschaftliches Nachschlagewerk zunächst in die Hände der Lehrenden und Lernenden an Krankenpflegeschulen, pflegewissenschaftlichen Hochschulen und Universitäten. DarĂźber hinaus kann es aber auch jeder gewinnbringend zur Hand nehmen, der sich fĂźr die Geschichte der Krankenpflege interessiert. Dr. Michael KĂśnig, Dipl.-Pädagoge u. Dozent am Bildungszentrum Bad Staffelstein

Frank-M. St aemmler Kränkungen Kränkungen Warum treffen uns Kränkungen in intimen und anderen nahen Beziehungen oft so tief? Der Autor untersucht Entstehungsbedingungen und Dynamik dieser see lischen Verletzungen, analysier t die typischen Reaktionsmuster und zeigt bessere Verhaltensalternativen auf.

NEU

160 Seiten, broschier t â‚Ź 16,95 (D) . ISBN 978-3- 608-86052-8

Hubert Kolling (Hg.)

Stephanie K aterle Wir ohne dich W ir o hn e d i ch Wie kĂśnnen Paare ihre Liebe bewahren, auch wenn der Lebenstraum ÂťFamilieÂŤ nicht sofort oder gar nicht in ErfĂźllung geht? Mit Erfahrungsberichten, Tests, Tipps und Ăœbungen hilft das Buch dabei, die Partnerschaft während dieser Lebensphase zu stärken.

Blättern Sie online in unseren Bßchern und bestellen Sie bequem und versandkostenfrei unter: www.klett-cotta.de

61


Simone Moses

Die Akademisierung der Pflege in Deutschland

D

GENUSS tröstet die Seele. Alles, was sie beruhigt

IST KEINE SÜNDE.

ie Studiengänge zur Ausbildung von Lehrenden und Leitenden in der Pflege, die Anfang der 1990er Jahre in Deutschland entstanden, werden heute oft als Beginn der Akademisierung der hiesigen Pflege gewertet. Die Autorin Simone Moses beginnt ihre Ausführungen jedoch einige Jahrzehnte früher. Das Buch legt den Schwerpunkt auf die Rolle der Robert Bosch Stiftung als wichtigen Akteur bei der Weiterentwicklung pflegerischer Bildung in Deutschland. Da die Stiftung sich auf eine Verbesserung im Bereich der Krankenpflege konzentrierte, wird die Altenpflege nicht thematisiert, was die Autorin entsprechend begründet. Für ihre Analyse nutzt sie interne Papiere der Stiftung, etwa Sitzungsprotokolle oder telefonische Auskünfte damaliger AkteurInnen, und stellt diese in den Kontext anderer zeitgenössischer Veröffentlichungen. Das Buch beginnt mit einem kurzen Rückblick auf die 1950er und 1960er Jahre, in denen die Krankenpflegeausbildung ziemlich reformresistent als „Sonderweg“ der Ausbildung nicht im Berufsbildungssystem der Bundesrepublik verankert werden konnte. Auch die 1970er Jahre brachten nur ein zögerliches Umdenken innerhalb der Krankenpflege. Die Robert Bosch Stiftung konzentrierte sich in ihrem Programm zunächst auf das Gesundheitssystem und die Krankenhäuser, aber noch nicht gezielt auf die Pflegeberufe. Erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre bewirkten der sich verschärfende Mangel an Pflegekräften im Krankenhaus (damals „Pflegenotstand“ genannt) das zunehmende Selbstbewusstsein der Krankenpflegekräfte und nicht zuletzt die Wiedervereinigung von BRD und DDR einen größeren Reformdruck. Die im Jahr 1992 von der Robert Bosch Stiftung vorgestellte Denkschrift „Pflege braucht Eliten“ forderte die Akademisierung von Lehr- und Leitungskräften in der Krankenpflege und wurde breit rezipiert. Damit verbunden war ein umfangreiches Förderprogramm, das es deutschen Pflegekräften ermöglichte, sich mit Promotionen und Habilitationen weiter zu qualifizieren. Das Buch endet mit einem Blick auf das Jahr 2000, als die Stif-

tung in der Denkschrift „Pflege neu denken“ neue Qualifikationsstufen bei den pflegerischen Bildungsgängen vorschlug. Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass eine vollständige Akademisierung der Pflegeberufe, also Studienmöglichkeiten schon für die Erstausbildung, Ende der 1980er Jahre keine Aussicht auf die Akzeptanz der Beteiligten gehabt hätte. Lediglich die Beschränkung auf die Funktionen Unterricht und Leitung sei „bei sozialpolitischen Akteuren und Einrichtungen“ akzeptabel gewesen. Im Jahr 2015 stellt sich diese Frage so nicht mehr: Überall in Deutschland kann Pflege mittlerweile grundständig studiert werden. Die zögerliche Haltung der Bundesregierung bei der Reform der Pflegeausbildung zeigt jedoch, dass auch heute eine stärkere Akademisierung der Pflegeberufe noch längst keine Selbstverständlichkeit ist. Eine kritische Reflexion der Tatsache, dass zu Beginn der 1990er Jahre Studiengänge zu Pflegemanagement und Pflegepädagogik eingerichtet wurden, obwohl die zugrunde liegende Pflegewissenschaft an deutschen Universitäten und an den Fachhochschulen kaum verankert war, leistet das Buch nicht. Inwieweit diese seltsame Entwicklung die heutige Situation prägt, bleibt weiteren Studien vorbehalten. Das Buch liest sich gut und kann als Schnelldurchgang durch ein knappes Vierteljahrhundert der Bemühungen um eine verbesserte Pflegebildung gesehen werden. Als ehemalige Stipendiatin der Robert Bosch Stiftung war es für mich spannend, hinter die Kulissen der Entstehung von „Pflege braucht Eliten“ zu sehen. Für alle, die in den Pflegestudiengängen lehren, sowie historisch interessierte LeserInnen sollte das Buch zur Standardlektüre werden. Dass im Vorwort die Geschichte der Krankenpflege als Bereich der Medizin genannt wird, ist ärgerlich, sollte das Lesevergnügen jedoch nicht schmälern. Mathilde Hackmann, wiss. Mitarbeiterin an der Ev. Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie, Hamburg

Hans Huber Verlag, Bern 2015, 188 Seiten, 39,99 Euro Dr. med. Mabuse 220 · März / April 2016


Buchbesprechungen

Giovanni Maio

Colin Crouch

Geschäftsmodell Gesundheit

Die bezifferte Welt

Wie der Markt die Heilkunst abschafft

D

ie Pressekonferenz beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) im November 2015 endete überpünktlich. Iris Hauth, Chefärztin und seriöse Präsidentin der Fachgesellschaft, rief auf zu einer Demo gegen das geplante „pauschalisierende Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik“, die Analogie zu den DRGs. Vorbereitend hatte die Gesellschaft Giovanni Maio als Festredner geladen. Der Medizinethiker aus Freiburg formuliert griffig, welche Haltung die neuen Entgeltsysteme im Gesundheitswesen züchten. Deren Credo: „Ich tue das Richtige nur gegen Belohnung“. Das jedoch widerspreche dem Selbstverständnis der Profession(en) grundlegend. Es habe so nicht primär die Bedürfnisse der Patienten im Blick, auch nicht die eigene Kompetenz, sondern den eigenen Geldbeutel. Jeder kranke Mensch, sagt Maio, braucht Hilfe als Mensch. Je schwerer jemand krank ist, umso weniger genügt es, seine Knochen, sein Herz oder sein Hirn zu behandeln. Doch genau darauf reduziert sich notwendig jede Hilfe, die von außen exakt definierbar ist. Wer medizinische Abläufe aber objektiv dokumentieren und nur diese bezahlen will, muss sie standardisieren.

Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht Die Standardisierung von Abläufen kommt aus der Industrie, sie dient dazu, maximalen Ertrag pro Zeiteinheit zu erwirtschaften. Das überträgt man immer mehr auf die Medizin, obwohl die Arbeit guter ÄrztInnen oder Pflegender eine Basis hat, die sich der Standardisierung entzieht: Gespräch und Beziehung. Wen wundert es da noch, dass die nicht abgerechnet werden? Daraus folgert Maio in seinem Buch: Wer die Medizin als Industrieprodukt konzipiert, beschädigt sie in ihrem Kern. Standardisierte Patienten fühlen sich so wenig wahrgenommen, dass sie nicht mehr mitmachen. Das verhindert Heilung. Andererseits korrumpiert Standardisierung die Helfenden, indem sie ihr Denken verändert. Sie macht intrinsische Motivation zu extrinsischer, womit sie zuerst die Freude an der Arbeit ruiniert und dann die Kompetenz selbst. Manchmal treibt diese ökonomische Weltsicht skurrile Blüten, etwa bei der Alzheimer-Geschichte, über die Colin Crouch berichtet. Crouch, bis vor kurzem Ökonomie-Professor im britischen Warwick, beschreibt in seinem Buch, was geschieht, wenn wir unser Gemeinwesen so marktkonform machen wie die Produktion. So wollte der britische National Health Service (NHS) Hausärzte dazu bringen, Alzheimer-Demenz früher zu diagnostizie-

ren. Der NHS fragte nichts, erklärte nichts, bot keine Fortbildung an. Er setzte nicht auf Kompetenz, sondern auf Gier. 55 Pfund bot er Hausärzten. Für jede Diagnose, nicht für jede zutreffende. Die Ärzte fühlten sich korrumpiert, die Patienten verschaukelt, der Plan wurde begraben. Wo ist der Unterschied zu Bonuszahlungen in deutschen Chefarztverträgen? Crouch zeigt an vielen Beispielen aus dem britischen Gesundheits-, Schul- und Hochschulwesen, wohin es führt, wenn Finanzbranche und Markt überall das Sagen haben. Dann werden alle Menschen zu Kunden oder Verkäufern, für die es nur noch einen Maßstab gibt: einfachste Zahlen, Messungen des Allersimpelsten. Da sich aber vieles Wichtige gerade nicht so einfach messen lässt, verlieren Behörden und Institutionen dramatisch an inhaltlicher Kompetenz. Und die Bürger verlieren Bildung, Gesundheit, Zufriedenheit – und Rechte. Maio beschreibt die Folgen des Neoliberalismus im Medizinsystem: den Verlust an Qualität. Crouch liefert die ökonomische Analyse und nicht-medizinische Beispiele. Wichtig sind beide. Barbara Knab, Wissenschaftsautorin, München

Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 250 S., 21,95 Euro / 2014, 164 S., 8,99 Euro

63


64

Buchbesprechungen

Fachverband SAPV Hessen (Hg.)

Handbuch Qualitätsmanagement in der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung

F

ür Menschen – jeden Alters – mit einer schweren Erkrankung, die in absehbarer Zeit zum Tode führen wird, gibt es seit 2007 einen Rechtsanspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) im sogenannten primären Versorgungsbereich (zu Hause, im Pflegeheim). Dieses Angebot ist in Hessen so geregelt, dass ein multidisziplinäres Team, im Kern bestehend aus palliativmedizinisch beziehungsweise -pflegerisch ausgebildeten und erfahrenen ÄrztInnen und Pflegenden, auf geregelte Antragstellung hin eine Primärversorgung, etwa durch ambulante oder stationäre Pflegedienste der Grundversorgung beziehungsweise Hausärzte, ergänzt. Darüber hinaus bezieht es zusätzliche Dienstleister wie Sozialdienste oder ambulante Hospizgruppen ein und koordiniert diese. Das Ziel ist es, eine fachliche Rund-um-dieUhr-Begleitung Sterbenskranker und ihrer Angehörigen im häuslichen Umfeld zu gewährleisten. So sollen unnötige Krankenhauseinweisungen vermieden und – sofern von den Betroffenen gewünscht – das Sterben zu Hause oder in einer stationären Pflegeeinrichtung ermöglicht werden. Die SAPV hat sich in Deutschland je nach Bundesland heterogen entwickelt. Es gibt deutliche Unterschiede in den Vertragsstrukturen, dem Leistungsspektrum und den Vergütungen. In Hessen hat sich mit dem Fachverband SAPV Hessen vergleichsweise früh eine Vernetzung der einzelnen SAPV-Teams entwickelt. Ein AutorInnenteam aus dessen Reihen hat jetzt ein Handbuch vorgelegt, in dem

Bestattung & Begleitung in Frauenhänden

Leitbild, Kernprozesse und Standards dieses Arbeitsbereichs dargestellt werden. Zunächst ist das Handbuch eine Bestandsaufnahme der Arbeitsabläufe und -prozesse. Diese Dokumente und Beschreibungen sind eine Grundlage für Verhandlungen mit den Verbänden der Gesetzlichen Krankenversicherungen in Hessen. Darüber hinaus empfiehlt es sich SAPVDienstleistern und -Fachverbänden in anderen Bundesländern zur Orientierung in der eigenen Entwicklung. Ausgehend vom Leitbild „Palliative Care in der SAPV“, dass sich durch eine hohe und wertschätzende Orientierung am subjektiven Erleben der PatientInnen und ihrer Angehörigen auszeichnet, werden die Kernprozesse der SAPV in Bezug auf die Patienten, ihre Angehörigen, auf die Arbeitsorganisation sowie die Vernetzung mit Kooperationspartnern dargestellt. Es folgt eine Übersicht über SAPV-spezifische Standards, Öffentlichkeitsarbeit, Bildungskonzepte, gesetzliche Regelungen, Hygiene und Arbeitssicherheit. Jedes Kapitel beinhaltet wesentliche Mustertexte und -formulare. Abschließend steht ein Kapitel zum „Metathema“ Qualitätsmanagement. Das Handbuch will als Prozessstufe einer Qualitätsentwicklung verstanden werden, die die Pionierarbeit der hessischen SAPV-Entwicklung aufzeigt: einerseits um den in nur wenigen Jahren entwickelten Standard als Orientierung für weitere regionale Entwicklungsarbeit aufzubereiten, andererseits um bundesweit einen Vergleichsstandard anzubieten. Insbesondere wird durch die Darstellung der Abläufe und Prozesse deutlich, welchen hohen Stellenwert Kommunikation und Koordination im multidisziplinären SAPVTeam haben. Gerade dabei mangelt es bekanntlich eher bei AkteurInnen des Gesundheitswesens häufig an Kompetenzen, was dann immer wieder zu unnötigem Leid und überflüssigen Kosten führt.

Die formale Präsentation zeigt in einigen Aspekten Entwicklungsbedarf: Die vielen Formularschemata machen zwar die Komplexität des SAPV-Prozesses deutlich, erschlagen teilweise jedoch in der aufeinanderfolgenden Dichte und Redundanz. In den Beschreibungen der Prozesse fehlen leider Hinweise zu den entsprechenden Formularen. Die unterschiedlichen Formate der Schaubilder empfand ich als eher irritierend. Sehr anschaulich erscheinen mir dagegen die strukturierten Übersichtsdarstellungen zu den Qualitätskriterien für die einzelnen Prozessschritte der SAPV. Ich wünsche mir für die nächste Auflage, dass zu den Qualitätskriterien orientierend auch das jeweilige Bezugsthema genannt wird. Im Abkürzungsverzeichnis sind leider nicht alle im Text verwendeten Abkürzungen aufgenommen. Hilfreich wäre eine alphabetische Ordnung des Literaturverzeichnisses. Literaturverweise im Text – aktuellnicht durchgehend stimmig – könnten unproblematisch an diese Ordnung angepasst werden. Insgesamt ist das Buch ein beeindruckendes Dokument der gesundheitsfachlichen und -politischen Pionierarbeit eines regionalen Zusammenschlusses unterschiedlicher Berufsgruppen und Institutionen, die ihre hohe Professionalität und Netzwerkkompetenz der Verbesserung der palliativen Versorgung im nichtklinischen Bereich koordiniert zur Verfügung stellen. Adelheid von Herz, Palliativfachpflegekraft eines Hospizes in Frankfurt am Main

Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2015, 230 Seiten, 59,95 Euro

Wir sind Bestatterinnen & ’Seelen-Hebammen’. Liebevolle Begleitung ist unser Herzensanliegen - überall in Deutschland seit 1999! Ajana Holz & Merle von Bredow Tel 0700 - 361 797 33 (12c/min) . Büro 07977 - 911 874 www.die-barke.de . info@die-barke.de

Dr. med. Mabuse 220 · März / April 2016


Buchbesprechungen

Mit meinen herzlichen Grüßen! Ihre Dorothea Buck Der Gartenhaus-Briefwechsel

I

m Herbst 1990 erschien das Buch von Dorothea Buck „Auf der Spur des Morgensterns – Psychose als Selbstfindung“. Viele LeserInnen meldeten sich im Anschluss an die Veröffentlichung bei der Autorin – über viele Jahre hinweg entstanden Kontakte, die unter anderem in unzähligen Briefen dokumentiert sind. Eine Auswahl von Briefen aus dem Zeitraum 1990 bis 2000 haben die Herausgeber Hartwig Hansen und Fritz Bremer aus dem Nachlass von Dorothea Buck ausgewählt und im vorliegenden Buch versammelt. „Wir haben uns bewusst für diejenigen Briefe und Antworten entschieden, die eine persönliche Rückmeldung auf ein lebenspraktisches Anliegen bzw. einen Beitrag zum eigenen Psychoseverständnis dokumentieren“, erläutern sie im Vorwort. Dorothea Buck, eine der Erfinderinnen des Psychoseseminars, dem Trialog, bei dem Betroffene, Angehörige und Professionelle ihre Erfahrungen im neutralen Raum austauschen, kommt hier zu Wort. Sie fordert immer wieder, „das eigene Glück, die eigene Heilung in die Hand zu nehmen, dabei auf die eigene Kraft zu vertrauen, sich unabhängig von anderen zu machen und gleichzeitig den so wichtigen Austausch und Schulterschluss mit ebenfalls Erfahrenen zu suchen.“ Jeden Briefwechsel haben die Herausgeber mit einer Überschrift versehen, sodass man nicht unbedingt chronologisch lesen muss. So groß die Zahl ist, so bunt sind die Themen. Im Zentrum aber steht das Psychoseverständnis, von dem Dorothea Buck überzeugt ist, dass es der Einbruch des Unbewussten ins Bewusste ist. In einem der ersten Briefe kann man lesen: „Was mich am meisten ergriffen hat, ist die Helligkeit, die trotz der furchtbaren Wahrheiten in Ihrem Buch zu spüren ist. Und es kam Freude in mir hoch, ein großes Verstehen der vielfältigen Art der Psyche des Menschen. Warum ich auch Freude empfand? Deshalb, weil mich vieles an das Schicksal meiner Schwester erinnerte und ich jetzt einen kleinen Hoffnungsschimmer verspüre.“ Dieses Hoffnungsvolle, das Dorothea Buck ausstrahlt, gibt sie in ihren Briefen vielfach zurück. Sie vermag es, ausufernde Dr. med. Mabuse 221 · Mai / Juni 2016

Vorstellungen von einer möglichen Zukunft in praktikable Bahnen zu lenken. Sie beantwortet Fragen nach der Art „Was soll ich nur machen?“ sehr konkret – auch im politischen Feld, in dem sie sich wegen ihres vielfältigen Engagements gut auskennt. So ermutigt sie in ihren Briefen etwa, sich mit Forderungen direkt an die zuständigen Politiker zu wenden, beispielsweise um eine Erweiterung von Therapie-Angeboten zu erreichen: „Wenn Angehörige und Psychiatrie-Erfahrene den dafür zuständigen Leuten im Amt alle zusammen auf die Bude rücken, bis sich etwas ändert, wird das aller Voraussicht nach auch Erfolg haben.“ Ein anderer Brief zeigt, wie einfühlsam und persönlich Dorothea Buck auf die Zuschriften antwortete: „Ich wäre nicht darauf gekommen, dass Deine Lebendigkeit und Spontanität vielleicht auch mit Deiner Kindheit zusammenhängen, mit Deinem Widerstand, sich durch sie reduzieren zu lassen. Der erlebte Mangel setzt ja auch Kräfte frei, ihn auszugleichen … So könnte man sich denken, dass die Entwicklung der Fantasie eher aus dem Mangel als aus der Fülle geschieht ... In den Märchen sind es meistens die in ihrer Kindheit Benachteiligten, die schließlich zu Glückskindern werden … Aber man muss auch das Glück, das sich wohl immer nur als eigene Entwicklung verwirklichen kann, wollen …“ Es ist eine wahre Schatzgrube, die sich auftut, wenn man in den Briefen liest. Bertolt Brecht bedankt sich in seinem Gedicht „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“ bei dem Zöllner, der durch seine Frage den Weisen zu Antworten veranlasst: „Aber rühmen wir nicht nur den Weisen, Dessen Name auf dem Buche prangt! Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen. Darum sei der Zöllner auch bedankt: Er hat sie ihm abverlangt.“ Dorothea Buck war immer sehr freigebig mit ihrer Weisheit, die ein langes engagiertes aktives Leben reifen ließ. Ich danke ihr und ihren Briefschreibern! Christine Theml, Jena

Paranus Verlag, Neumünster 2015, 208 Seiten, 19,95 Euro

Hochaktuelle Thematik als gesellschaftliche Herausforderung

NEU Jacobs, Kuhlmey, Greß, Klauber, Schwinger (Hrsg.)

Pflege-Report 2016 Die Pflegenden im Fokus Der Pflege-Report 2016 diskutiert, mit welchen personellen Möglichkeiten auch zukünftig eine ausreichende Pflegeversorgung gesichert werden kann. Er greift u. a. Fragen nach dem Versorgungs-Mix auf oder wie genügend Menschen für Pflegetätigkeiten begeistert und qualifiziert werden können.

Irrtum und Preisänderungen vorbehalten. Abb.: © iStockphoto.com / Yuri

Dorothea Buck u. a.

Der jährlich erscheinende Report ist eine fundierte Wissens- und Diskussionsgrundlage, um für die nächsten Jahrzehnte eine optimale Versorgung für Pflegebedürftige in die Wege zu leiten. 2016. 364 Seiten, 63 Abb., 52 Tab., kart. € 54,99 (D) / € 56,60 (A) ISBN 978-3-7945-3175-2

www.schattauer.de

57


58

Buchbesprechungen

Eckart Roloff, Karin Henke-Wendt

Besuchen Sie Ihren Arzt oder Apotheker Eine Tour durch Deutschlands Museen für Medizin und Pharmazie

D

ie AutorInnen haben ihrem Buch zwei Sprüche vorangestellt, die ihre Intention sehr deutlich machen: „Ein Mal sehen ist besser als zehn Mal hören“. Dieses Sprichwort steht für die unvergleichliche Informationsstärke einer musealen Präsentation gegenüber anderen Medien. „Doppelt lebt, wer auch die Vergangenheit genießt“, dieses Zitat von Marcus Valerius Martialis hebt die Bedeutung der Geschichtskenntnis für das aktuelle Verständnis, aber auch für den Lebensgenuss hervor. Also mache ich mich auf den Weg durch 16 Bundesländer – von Aachen bis Zwiefalten und von Kiel bis Wasserburg. Die Reiselektüre ist übersichtlich nach den folgenden Themen gegliedert: Apotheken- und Pharmaziemuseen, Persönlichkeiten, Einzelthemen, Firmenmuseen, Krankenhausmuseen, Kur,- Bade- und Stadtmuseen, Medizingeschichte allgemein, Rotkreuz-Museen sowie Museen für Psychiatrie und Psychologie. Insgesamt sind in den zwei Bänden rund 160 Museen versammelt und anhand der Karten kann ich meine Route leicht festlegen. Als Beispiel im Folgenden einige Stichproben meiner Besuche: — Das „Menschen Museum“ des Gunther von Hagens in Berlin ist wohl das meistbesuchte und am heftigsten umstrittene Museum zur Anatomie und Physiologie des Körpers. Trotz vieler Kritik und Vorbehalte wird aber klar, dass die Besucher meist ernst, beeindruckt und mit positiven Gefühlen die Ausstellung erleben. Sechs weitere Museen sind noch allein in Berlin zu sehen. — Das Schnarch-Museum in Alfeld-Langenholzen klärt auf über problematisches bis krankhaftes Atmen, die Ronchopathie und deren mitunter exotisch wirkende Therapien – ein vielfach belächeltes, aber lebenswichtiges Thema. — Das Psychiatrie-Museum „Verrückte Zeiten“ in Bonn ist wohl das jüngste der vorgestellten Museen und eines von insgesamt 30 in dieser gut gefüllten Rubrik. Es erläutert in mehreren thematisch bezogenen Räumen kritische Themen der Psychiatriegeschichte, insbesondere auch

die menschenfeindliche Politik während des Nationalsozialismus. — Das „Kernerhaus“ in Weinsberg stellt den schwäbischen Dichter, Arzt und Magier vor, der in diesem Haus vielfältig wirkte, sich seinen Patienten, seiner Familie, seinen Freunden widmete. Er gilt zudem als Vertreter des sogenannten tierischen Magnetismus beziehungsweise Mesmerismus. — Das „Rotkreuz-Museum“ in Geislingen, ein relativ neues von 15 Museen dieser Art, zeigt viel Technik und Fahrzeuge und widmet sich der bedeutenden Geschichte des Gründers Henry Dunant. — Die „medizinhistorische Ausstellung im Gesundheitspark“ in Bad Gottleuba: Im Jugendstil gestaltete Bauten und eine herrliche Parkanlage verweisen auf die Kurtradition. Hier findet man Sachsens größte private Sammlung medizinischer Geräte und Möbel. Ich habe diese und viele andere Museen besucht und sehe sie in den beiden Bänden von Eckart Roloff und Karin Henke-Wendt gut und treffend beschrieben. Die Lektüre ist kurzweilig und immer wieder provoziert sie die Idee, eine neue Route einzuschlagen, eine noch unbekannte Einrichtung zu besuchen. Die Listen und Karten, das Literaturverzeichnis, der Hinweis auf die entsprechenden Einrichtungen in Österreich, der Schweiz und Südtirol sind sehr hilfreich. So lassen sich meine Studienfahrten gut planen und meine Wissensaneignungen kann ich auf diese Weise auch wirklich genießen. Band 1 (Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, NordrheinWestfalen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein) und Band 2 (Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Thüringen) umfassen jeweils rund 260 Seiten mit vielen farbigen Abbildungen. Nach der Lektüre des Bandes Süddeutschland war ich erpicht auf den Band Norddeutschland. Ich empfehle, gleich beide Bände zu kaufen. Man spart auf diese Weise zehn Euro. Rolf Brüggemann, Göppingen

Hirzel Verlag, Stuttgart 2015, Band 1: Norddeutschland, 266 S.; Band 2: Süddeutschland, 257 S.; je 29,90 Euro oder als Set für 49 Euro

Bernard Lown

Heilkunst Mut zur Menschlichkeit

I

ch kenne die Realität im deutschen Gesundheitswesen aus meiner Zeit als Krankenpfleger und meinem bisherigen Medizinstudium und muss sagen, dass dieses Buch eigentlich zu den Standardwerken in der ärztlichen Ausbildung zählen müsste. An den Universitäten dominiert die Wissenschaft, was nicht unbedingt schlecht ist – wir würden sonst immer noch den Aderlass anwenden. Aber Studierenden wird oft eher beigebracht, das Kreuzchen für die Klausur richtig zu setzen, als zum Beispiel auf ein wichtiges Thema wie die Kommunikation einzugehen. Glücklicherweise wird inzwischen an vielen Universitäten mehr auf den Praxisbezug geachtet, beispielsweise mit Anamnesegruppen und SchauspielpatientInnen. Dennoch bleibt Empathie häufig ein recht unbekanntes Thema im Studium, auch innerhalb der Studierendenschaft. Der Arzt Bernard Lown teilt in seinem Buch seine Erfahrungen über Kommunikation und vor allem über die Bedeutung der Anamnese mit, und dabei geht es ihm um weit mehr als um Symptome. Ich habe beim Lesen des Buches mehr gelernt als in mancher Vorlesung, vor allem darüber, wie man zuhören kann, wortlos kommuniziert und wie sinnvoll dies für die Diagnose ist. Lown stellt jedoch auch heraus, dass es dieser Teil der ärztlichen Kunst ist, der am schwersten ist. Die Technikaffinität, welche bei Stromausfällen oder Geräteschäden Probleme verursacht, und noch mehr das ökonomische Denken, das wir unter anderem der Politik verdanken, werden von Lown sehr kritisch beäugt. Er zeigt auf, welche Nachteile die Entwicklung zu mehr Abhängigkeit zwischen Medizin, Technik und Ökonomie hat, wobei er den positiven Seiten ebenfalls ihren Platz im Buch zugesteht. Lown beschreibt die Situation in den USA, aber es fällt schnell auf, dass es in Deutschland fast genauso aussieht: ÄrztInnen konzentrieren sich häufig mehr auf die abrechenbaren Untersuchungen, anstatt ein Gespräch zu führen – selbst wenn die Untersuchungen manchmal keinen Nutzen erbringen. Schließlich wird mehr operiert als früher, was aber wohl auch dem ökonomischen Zeitgeist geDr. med. Mabuse 221 · Mai / Juni 2016


Buchbesprechungen

schuldet ist, der ebenso in unserem Gesundheitssystem bemerkbar ist. Das Buch beinhaltet sehr wertvolle, jahrzehntelange Erfahrungen eines Arztes. Jeder wird mir zustimmen, dass Erfahrung in der Medizin eine der wichtigsten Säulen einer guten Patientenversorgung ist. Somit kann die Lektüre gerade in der Ausbildung sehr nützlich sein und damit auch den PatientInnen helfen. Lown gesellt sich für mich zu all den ÄrztInnen, die ihre Erfahrungen an die nächsten Generationen weitergeben wollen – auch im Sinne der PatientInnen. Matthias Rosenthal Fachschaft Humanmedizin, Philipps-Universität Marburg

Schattauer Verlag, Stuttgart 2015, 320 Seiten, 24,99 Euro

Lieseltraud Lange-Riechmann

Wirtschaftlicher Nutzen von Kinaesthetics und die Bedeutung für Diakonie und Gesundheitsökonomie

D

as Buch ist eine Fundgrube interessanter Forschungsergebnisse, ein aufmerksamer Blick darauf ist lohnenswert – von Nutzen eben. „Der wirtschaftsethische Königsweg von Kinaesthetics ist nachgewiesen“, urteilt Martin Büscher in seinem Vorwort. Über die wirtschaftlichen Aspekte hinaus hat die gelernte Krankenschwester Lieseltraud Lange-Riechmann mit verschiedenen weiteren Qualifikationen in ihrer Dissertation aber auch andere Gesichtspunkte bearbeitet und den Bezug zu Diakonie und Gesundheitsökonomie beleuchtet. Nach einer Einführung in das Thema erläutert die Autorin den Aufbau der Arbeit. Dabei beschreibt sie die Besonderheit von Kinaesthetics als ein Verfahren, das Pflegenden und unterstützungsbedürftigen Menschen gleichermaßen hilft, da beide Seiten von einer verbesserten Bewegunsgkompetenz profitieren. Das zweite Kapitel widmet sich den Thesen, dem Forschungsgegenstand und der Forschungslücke zwischen Pflege, Ökonomie und Diakonie. Anschließend werden die Auswertungen der drei Forschungsfelder Krankenhaus/SozialgesetzDr. med. Mabuse 221 · Mai / Juni 2016

buch (SGB) V, Behindertenbetreuung/SGB IX und Stationäre Altenpflege/SGB XI dargestellt und die Ergebnisse diskutiert. Zusammenfassend stellt die Forscherin fest: „Der anfangs höhere Kostenaufwand für Schulung und Begleitung wird durch die Steigerung der Selbstwirksamkeit des Hilfebedürftigen und die Steigerung des Humankapital um mehr als ein Drittel Kostenersparnis im Verhältnis zu den herkömmlichen Versorgungsmethoden ausgeglichen. Die Zufriedenheit der Menschen in der Pflegeversorgung steigt.“ Letzteres sei jedoch ein Kostenfaktor, der monetär nicht greifbar sei. Hier und an anderen Stellen zeigt sich weiterer Forschungsbedarf. Im vierten Kapitel setzt sich die Autorin intensiv mit dem Bezug von Kinaesthetics zu Diakonie sowie Gesundheitsökonomie auseinander. Die interessanten Explorationen sind sehr spannend zu lesen, auch in ihren geschichtlichen Bezügen. Außerdem werden durch die Forschung erhebliche Mängel in den Vergütungssystemen entlarvt, etwa im Bereich des SGB XI. Dort können die Effekte von Kinaesthetics bei den hilfebedürftigen Menschen zu einer niedrigeren Pflegestufe führen und damit zu geringeren Beiträgen von der Pflegekasse. Die Einsparungen durch Kinaesthetics treten also nicht nur am Ort der Investition auf, sondern vor allem bei den Sozialversicherungsträgern. „Dennoch sind der Return of Invest und der Kapitalwert positiv. Das Verfahren [Kinaesthetics] wird wirtschaftlich zur Implementierung empfohlen“, resümiert die Forscherin. Die Ergebnisse sollten EntscheidungsträgerInnen von Pflegeeinrichtungen aller SGB-Bereiche hellhörig machen, zumal hier die Effekte auf die Pflegenden nicht umfassend berücksichtigt werden konnten. Dazu gibt es bereits Ergebnisse anderer Forschungen. Das Buch ist für alle mit Pflege befassten Menschen interessant, angesichts des nachgewiesenen volkswirtschaftlichen Nutzens sollte es für die Verantwortlichen der Kranken- und Pflegekassen sowie für GesundheitspolitikerInnen zur Pflichtlektüre werden! Uta Bornschein, Krankenschwester, Kinaesthetics-Trainerin, Ostfildern

Steinbeis-Edition, Stuttgart 2015, 320 Seiten, 19,90 Euro

Familie im Fokus Das erste kindzentrierte, familienorientierte Beratungskonzept für Geschwister chronisch kranker und behinderter Kinder

Mit einem Vorwort von Georg Romer. 2016. 202 Seiten, mit 7 Abb. und 5 Tab., inkl. Download-Material, kartoniert € 25,00 D ISBN 978-3-525-40199-6

Ein neuer Zugang zum Verständnis von AutismusSpektrumStörungen (ASS)

Mit einem Vorwort von Sven Bölte, übersetzt von Rita Hallbauer und Reinhard Rudolph. 2016. 333 Seiten, mit 68 Abb. und 1 Tab., kart. € 35,00 D ISBN 978-3-525-49010-5

Ein Plädoyer für die Rechte von Müttern, deren Kinder in einer Pflegefamilie leben

2016. 169 Seiten, kartoniert € 20,00 D ISBN 978-3-525-40224-5

als de auch Alle Bän. Leseproben eBooks w.v-r.de auf ww Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht

59


60

Buchbesprechungen

Elke Garbe

Das kindliche Entwicklungstrauma Verstehen und bewältigen

D

as Buch kommt genau zur richtigen Zeit. Es ist empfehlenswert für Fachleute in der Jugendhilfe und -psychiatrie sowie an Beratungsstellen, für all jene, die mit Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Angehörigen soziotherapeutisch arbeiten. Dazu zählen auch und vor allem Ärzte, Psychotherapeuten und Sozialarbeiter, die mit Menschen aus sozial/emotional/psychisch vernachlässigenden Verhältnissen und Familien zu tun haben. Oft schwer traumatisiert kommen derzeit geflüchtete Familien mit Kindern nach Deutschland. Die Folgen dieser Traumatisierungen, insbesondere der sehr früh traumatisierten Kleinkinder, werden noch lange in das Erwachsenwerden hineinwirken. Kompetente Hilfe ist und wird immer wichtiger. Elke Garbe ist eine ausgewiesene Trauma- und Psychotherapeutin. Sie hat schon in den 1980er Jahren mit sexuell missbrauchten Kindern gearbeitet und hat mit ihrem damals viel beachteten Buch „Martha“ einen wichtigen Meilenstein zu diesem Thema gesetzt. Sie folgt stets einem ganzheitlichen, therapeutischen, Verstehens- und Hilfe-Ansatz. Sie wendet sich den neuen Methoden der Traumatherapie zu und bereichert diese um wesentliche eigene Impulse. Die Systematik des Buches ist verständlich, neue Begriffe aus dem aktuellen Fachdiskurs werden sorgfältig eingeführt und anhand der Praxisbeispiele anschaulich verdeutlicht. Deshalb ist das Buch auch für Lernende und Lehrende hilfreich, verständlich und außerordentlich gut geeignet. Mit ihrem Ansatz, der auf „Bewältigen durch Verstehen“ ausgerichtet ist, wird auf bloße medizinisch-diagnostische Zuschreibungen verzichtet – zumal Diagnosen allein häufig keinen Zugang zu den hinter den Symptomen stehenden Ursachen bieten. Garbe beschreibt zunächst die Entstehungsbedingungen kindlicher Entwicklungstraumatisierungen und unterscheidet dabei zwischen zwei Traumatypen (einmalig und/oder Komplex verursachte Traumatisierungen). Als Ursachen und Formen der Traumatisierungen nennt sie unter anderem Misshandlungen, sexuel-

len Missbrauch, Vernachlässigung, Bindungsabbrüche, Migration und Flucht. Psychische und soziale Bewältigungsmöglichkeiten werden mit ihren typischen Ausdrucksformen und komplexen, zunächst noch unbewussten Mechanismen umfassend erörtert. Wichtig für den Verstehens- und Lernprozess ist das Kapitel über Traumatisierung und Dissoziation. Die Entwicklung des „Selbst“ erfolgt in den frühen Lebensphasen. Dazu gehören die Aufteilungen in den ersten Lebensphasen/-jahren (1.–3. Lebensjahr, 4.–6. Lebensjahr, Latenz und Pubertät). Es wird erklärt, wie diese Entwicklung unter normalen und unter traumatischen Bedingungen verläuft, Abweichungen werden aufgezeigt, man lernt, wie gelungene und fehlgeschlagene Entwicklung sich äußern kann. Auch werden Bewältigungsversuche erläutert: Gibt es vorhandene Unterstützung (Resilienz)? Wie sehen die verleugneten, abgelehnten, verdrängten eigenen Anteile oder Fähigkeiten (Ressourcen) aus? Welche neuen Chancen im sozialen Umfeld gibt es? Auch die Folgen eines traumatisierten, fragmentierten Selbst, die zu Dissoziation und anderen peritraumatischen Reaktionen führen können, werden beschrieben. Einige werden erklärt: etwa die Einverleibung des Täters in die unbewusste Persönlichkeit, die Nachahmung des Täters, die Tendenz, sich erneut in eine Opferrolle zu begeben, oder die Neigung, das traumatisch Erlebte zu reinszenieren. Für den therapeutischen Prozess sind das Verstehen und Erfahren von Übertragungsund Gegenübertragungsprozessen sowie die Bedeutung von Projektionen und projektiven Identifikationen besonders wichtig. Zudem erklärt die Autorin anschaulich, wie neurobiologische Prozesse einzuordnen sind, wie das Gehirn als „Überlebenswächter“ funktioniert und wie auch Symptome, sofern sie verstanden wurden, für den betreffenden Menschen einen Sinn ergeben. Im ausführlichen Praxisteil werden die verschiedenen Schritte der therapeutischen Prozesse beschrieben. Hier steht die Wiederherstellung der äußeren Sicherheit an erster Stelle. Früh traumatisierte Menschen müssen zunächst zu innerer Sicherheit zurückfinden können. Sie brauchen deshalb unterstützende, stabile Bezugspersonen an ihrer Seite, die ebenfalls gestärkt werden müssen. Risi-

ken für neue Traumata müssen erkannt, die eigenen Fähigkeiten/Ressourcen entdeckt und aufgebaut werden. Dabei ist die enge Zusammenarbeit mit anderen Fachleuten im psychosozialen Umfeld unabdingbar und notwendig. Hier ist auch die Kenntnis der oft komplizierten Rechts- und Finanzlage wichtig – etwa um zu erreichen, dass eine langfristige und vertrauensvolle Therapie und Betreuungs arbeit auch finanziell möglich wird. Durch das Buch zieht sich die Grundüberzeugung der Autorin, dass ohne feste Bindungsangebote, Beziehungsarbeit und die Einbeziehung des sozialen Umfeldes die beste Methode nicht fruchten kann. Sie plädiert dafür, die oft praktizierte Verschiebepraxis zu unterbrechen. Wichtig seien vielmehr Zeit und die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache. Die Zusammenarbeit zwischen den Fachleuten hat zum Ziel, die Rückführung in ein möglichst normales Leben zu fördern. In jedem Fall ist einer reinen Medikamentisierung und Hospitalisierung vorzubeugen. Traumatisierungen bei Kindern bestimmen ihre weitere Entwicklung und ihre Lebenschancen nachhaltig. In den zahlreichen Fallbeispielen finden sich vor allem auch für Praktiker anregende, nachahmenswerte, sehr anschauliche Beispiele. Mir hat besonders gefallen, mit wie viel Respekt und Behutsamkeit die Autorin geduldig das allmähliche Aufdecken und bewusster Werden der verdrängten Erinnerungen traumatisierter Menschen ermöglicht. Diagnostische und therapeutische Ansätze werden neu aufgezeigt, auch und besonders für die Psychiatrie. Dies ist, wie Karl-Heinz Brisch in seinem Vorwort betont, eine „wunderbare Art“ des psychotherapeutischen Zugangs, auch gegenüber schwer und früh traumatisierten Patienten. Das Buch ist für Praktiker und als Lehrbuch außerordentlich gut geeignet. Charlotte Köttgen, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie, Hamburg

Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015, 316 Seiten, 37,95 Euro Dr. med. Mabuse 221 · Mai / Juni 2016


Buchbesprechungen

Susanne Kreutzer

Arbeits- und Lebensalltag evangelischer Krankenpflege Organisation, soziale Praxis und biographische Erfahrungen 1945–1980

F

ragt man Studierende der Pflegewissenschaft, welche konfessionellen Krankenpflegeeinrichtungen sie kennen, herrscht zunächst Schweigen im Walde. Nach einer Weile fallen jemandem die katholischen Barmherzigen Schwestern ein. Fragt man nach dem evangelischen Pendant, wird es wieder ruhig. Und das, obwohl es in der Stadt sowohl ein Diakonissenkrankenhaus als auch eines der Barmherzigen Schwestern gibt. Es laufen offensichtlich nicht genügend konfessionelle Krankenpflegerinnen auf den Straßen oder sie werden schlicht nicht wahrgenommen. Dieser Befund ist vor dem Hintergrund, dass konfessionelle Krankenschwestern bis vor rund 60 Jahren das Bild der Krankenpflege in Westdeutschland dominierten, erstaunlich, abgesehen davon, dass die beiden Konfessionen der Krankenpflege für gut 150 Jahre ihren Stempel – Krankenpflege als Liebesdienst – aufgedrückt haben. Susanne Kreutzer hat die Entwicklung der evangelischen Krankenpflege nach dem Zweiten Weltkrieg anhand des Diakonissenmutterhauses der Henriettenstiftung in Hannover untersucht, die durch die „Erosion des religiös fundierten ‚Liebesdienstes‘“ und „den neuen Imperativen zweckrational-professionellen Handelns“ gekennzeichnet ist. Zunächst beleuchtet sie das Diakonissenmutterhaus und die Schwesternschaft der Henriettenstiftung als institutionellen Kontext. Dazu wird die Organisation und Reform dieser Schwesternschaft betrachtet, bevor deren Mitglieder anhand ihrer Ein- und Austrittsgründe analysiert werden. Das zweite Kapitel ist der Pflegeorganisation gewidmet. Der Untersuchungszeitraum zeigt grundlegende Veränderungen durch den zunehmenden Personalmangel. Dieser betraf zwar nicht nur die konfessionelle Krankenpflege, aber er traf sie zuerst, da für immer weniger junge Frauen nach dem Krieg das Leben in einem Mutterhaus zu ihrem Lebensentwurf gehörte. Darauf versuchte damals auch die Henriettenstiftung durch eine Reihe von Reformen (allerdings vergeblich) zu reagieren. Dr. med. Mabuse 221 · Mai / Juni 2016

Im dritten Kapitel befasst sich Kreutzer mit den Innensichten aus einer alltags- und erfahrungsgeschichtlichen Perspektive. Und dieses Kapitel macht die eigentliche Stärke des Buches aus, auch durch seine Kontrastanalysen. Das Verhältnis von praktischem und theoretischem Wissen am Beispiel des Mutterhauses der Henriettenstiftung wird der Perspektive von deutschen Protagonistinnen der Akademisierung der Pflege gegenübergestellt. Dafür hat die Autorin Interviews mit Vertreterinnen beider Gruppierungen durchgeführt. Die Arbeitskontexte und soziale Praxis werden in der Krankenhaus- und in der Gemeindepflege untersucht. Dabei dient für Erstere die Reform der evangelischen Krankenhauspflege in Schweden als Kontrastfolie. Für die Gemeindepflege, die in Deutschland eine besonders wichtige Bastion der konfessionellen Krankenpflege war, wird die USA als Vergleichsland gewählt. Anschließend werden die Konflikte, Krisen und die Versuche, diese zu bewältigen, dargestellt. Dazu gehören sowohl Konflikte innerhalb der Schwesternschaft und mit freien Schwestern als auch die mit Ärzten und Pastoren sowie der Umgang mit Krankheit und Sterben. Im Schlusskapitel wird der Ertrag historischer Studien für die Pflegewissenschaft reflektiert. Dass der Rückgang der konfessionellen Krankenpflege allein als Zeichen einer fortschrittlichen Entwicklung im Berufsfeld gewertet wird, dieser Sichtweise tritt Kreutzer entgegen. Dafür nimmt sie die Innensicht der evangelischen Krankenpflege differenziert in den Blick und zeigt auch ihre spezifische Attraktivität für die sie Ausübenden: ein vergleichsweise hohes Maß sowohl an Anerkennung als auch an Kompetenzen und damit an Arbeitszufriedenheit. Zudem kann sie nachweisen, dass scheinbar neue Konzepte in der Pflege (z.B. Palliativversorgung und Sterbebegleitung) vor der „Erosion“ selbstverständlicher Bestandteil der evangelischen Pflege waren. Die Arbeit ist ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Krankenpflege nach 1945 und stellt eine vermeintlich geradlinige Entwicklung differenziert dar. Sylvelyn HähnerRombach, Stuttgart

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, 280 Seiten, 45 Euro

Schwa angerschaf chafft, t Geburt und Hypnose

Traumgeburt Gelassenheit, Entspannung und Schmerzkontrolle durch Selbstshypnose , 142 Seiten, Kt, 2015, € (D) 177,95 ISBN 978-3-8497-0085-0 „Selbstbestimmt, entspannt und frreeudvvoll o gebärreen ist möglich! Dieses Buch kann Ihnen wunderbar helffeen, sich ganz bewusst auf eine Ihrreer schönsten Erinnerungen vorrzubereiten.“ Nadja Meißgeier Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe

Schwangerschaft, Geburt und u Hypnose Hypnoaktive Geburtsvorbereitung 200 Seiten, Kt, € (D) 24 ,95 2., vollst. überarb. Aufl. 2016 ISBN 978-3-89670-668-3 „Ein mit viel Liebe zum Menschen und zur Sache geschriebenes Buch. Man legt es nicht mehr aus der Hand! nd! Pfl flichtlekktüre für alle, die schon Errfah a ahrung mit der hypnother y apeutischen Gesprächsführung gemacht haben. Aber auch für all jene, denen der Begriff der Hypnose noch unklar ist.“ Die Hebamme

www.carl-auer .carl-au . .de

61


58

Buchbesprechungen

Thomas Klie, Peter Gaymann (Hg.)

Demensch. Texte und Zeichnungen Für einen menschenfreundlichen Umgang mit Demenz

Z

wei Herren an der Fußgängerampel: „Im Schlafanzug auf die Straße. Sie trauen sich was!” Darauf die Antwort: „Der ist maßgeschneidert.” Das Schönste an diesem Sachbuch, das vielleicht gar kein Sachbuch, sondern ein Such-Buch ist, sind die Cartoons. Auf der Suche nach dem, was Demenz eigentlich ist, auf der Suche nach und auf der Flucht vor den eigenen Ängsten nahm ich das Buch in die Hand und musste von tief innen heraus schmunzeln. Damit hatte ich so nicht gerechnet – es war, als würde mich der Humor in den Arm nehmen und sagen: „Fürchte Dich nicht.” Ich fürchte mich trotzdem. Und will auch keinen Zuckerguss über das Thema Demenz ausgießen. Ich selbst würde sehr gern „bei Verstand” bleiben, bis ins hohe Alter selbstbestimmt leben. Ich möchte mir nicht vorstellen, dass meine Töchter vielleicht einmal für mich eine menschenwürdige Unterkunft erkämpfen müssen, dass ich selbst nicht mehr „bei Sinnen“ sein könnte. Aber so wenig dieses Buch die unschönen Seiten der Demenz verschweigt – die mögliche Orientierungslosigkeit und Verwirrung, auch den körperlichen Verfall – so sehr hat es mit seinen vielen verschiedenen Texten und liebevollen, niemals abschätzigen Karikaturen eine versöhnliche Ausstrahlung. Ein Fotograf, mehrere Künstler und ein Clown kommen zu Wort; auch PolitikerInnen, Angehörige, verschiedene Menschen, die von beeindruckenden Begegnungen berichten, gerontopsychiatrische Fachleute und Pflegende – sie alle haben kurze Texte geschrieben, die eben nicht in erster Linie als Fachtexte daherkommen, sondern auch und vor allem unmittelbar berühren. Und die alle auf ihre Art dazu einladen, einen neuen Blickwinkel einzunehmen. Das Buch beginnt mit einem Geleitwort von Helga Rohra, der Vorsitzenden des Vereins Trotzdemenz e.V., die uns LeserInnen das Buch mit den Worten nahelegt: „Hören Sie auf Ihre Gabe des Herzens“. Und es schließt mit einem Essay des Herausgebers Thomas Klie, der vor allem die gesellschaftlichen Fragen rund

um die Demenz in den Blick nimmt: unsere Bilder von Autonomie und Selbstbestimmung, Menschenwürde als soziale Dimension, die Sinnfenster in der Demenz zu begreifen, statt nur Sinnlosigkeit zu vermuten oder wahrzunehmen, das Aushalten des Nicht-Planbaren und auch der letzten Phase, dem Sterben mit Demenz. Am meisten berührt hat mich ein Cartoon, der für mich das Wesen einer menschenfreundlichen, Demenz-akzeptierenden Gesellschaft sehr deutlich zum Ausdruck bringt: Kommt ein alter Herr in einen Buchladen und sagt: „Ich bräuchte mal wieder 200 Gramm von der getrüffelten Salami.“ Antwortet die Buchhändlerin mit einem freundlichen Lächeln: „Kann ich Ihnen besorgen, Herr Professor. Können Sie morgen hier abholen.“ So wünsche ich mir die Zukunft. Ich werde dieses Buch überall weiterempfehlen, es im Unterricht einsetzen und wünsche ihm viele LeserInnen! Dr. Monika Zoege, Lehrerin am Diakovere Fachschulzentrum Gesundheitsberufe, Hannover

medhochzwei Verlag, Heidelberg 2015, 128 Seiten, 24,99 Euro

Norbert Schmacke (Hg.)

Der Glaube an die Globuli Die Verheißungen der Homöopathie

V

ielen Menschen – PatientInnen wie ÄrztInnen – gilt die Homöopathie als sanfte, aber dennoch hochwirksame Medizin. Sie verspricht eine Behandlung, die ganz auf die Person zugeschnitten und dabei frei von Nebenwirkungen ist. Krankenkassen übernehmen teilweise die Kosten, der Gesetzgeber verlangt bei den „besonderen Therapierichtungen“ nicht die gleichen strengen Wirksamkeitsnachweise wie bei anderen Medikamenten. ÄrztInnen können Zusatzqualifikationen in Homöopathie erlangen und damit werben. Eine sinnvolle und beliebte Erweiterung der „Schulmedizin“ also. Oder? Mitnichten, sagt Norbert Schmacke und trägt in diesem Sammelband einige

höchst lesenswerte Aufsätze zusammen, die sich mit der Geschichte der alternativen Medizin, dem Zauber der Homöopathie sowie der anthroposophischen Medizin befassen. Woher kommt der Erfolg der Homöopathie? Denn die Forschungslage ist längst eindeutig: „Es gibt im Rahmen gut gemachter klinischer Studien für keine einzige Erkrankung einen wiederholten Beleg des Nutzens der Homöopathie.“ Oder auf gut Deutsch: Sie wirkt nicht – zumindest nicht über den Placeboeffekt hinaus. Was auch nicht verwundert, ist doch das Theoriegebäude des Heilens durch Ähnliches sowie der Potenzierung durch Verdünnung wissenschaftlich nicht haltbar. Dass so viele Menschen dennoch positive Erfahrungen mit der Homöopathie verbinden, bestreitet Schmacke in seinem Aufsatz dazu nicht. Er erklärt es mit dem Vertrauen in die TherapeutInnen, durch die starke Aufmerksamkeit und Zuwendung sowie damit, dass viele Menschen übernatürliche Phänomene für möglich halten. Der Schluss daraus könne aber unmöglich sein, dass der Gesetzgeber sie rechtlich weiterhin als „besondere Therapierichtung“ privilegiere und damit als seriös akzeptiere. Die Medizin müsse vielmehr wieder lernen, gut mit den PatientInnen zu kommunizieren. „Das ewige Argument, für […] Gespräche sei einfach im Alltag keine Zeit, darf nicht länger toleriert werden: Es ist eine unzulässige Ausrede in einem der teuersten Gesundheitssysteme der Welt.“ Nun gut, mag man einwenden, die Homöopathie kann in guten Studien keinen Nutzen nachweisen. Aber sie schadet schließlich auch nicht, was ist also so schlimm am Status quo? Hierzu liefert Uwe Heyll in seinem Aufsatz zur Geburt der alternativen Medizin wichtige Argumente. Er erläutert, dass es in der Alternativmedizin keine Mechanismen der systematischen Prüfung gibt, die eine klare Einteilung in „wirksam“ und „unwirksam“ erlauben. Es geht also nicht um Empirie, sondern um verschiedene Handlungsoptionen, die ihre je eigene Rechtfertigung im Tun erlangen. „Die einzige durchgehende Gemeinsamkeit aller Verfahren ist ihre Eignung oder Tauglichkeit für den Einsatz in einer inszenatorisch-rituellen Praxis.“ Und diese Praxis ist nicht aufklärerisch oder kritisch, sondern höchst paternalistisch: Die AlternativmedizinerIn klärt Dr. med. Mabuse 222 · Juli / August 2016


Buchbesprechungen

die PatientIn normalerweise nicht über die Studienlage zur Therapie der Wahl auf und zeigt auch keine Behandlungsoptionen, Risiken und Grenzen auf. Im Gegenteil, sie bezieht sich auf eine Mythologie und auf Rituale, an die ÄrztIn wie PatientIn glauben und die dadurch schon Wirksamkeit entfalten. Man muss „es selbst erlebt haben“. Auf jeden (Miss-) Erfolg kann mit neuen Mitteln, Verfahren und Angeboten reagiert werden. Oder die PatientIn hat eben noch nicht genug von sich preisgegeben oder eigene Energie in die Therapie gesteckt. Jede Besserung verfestigt den Glauben an die Wirksamkeit bei ÄrztIn und PatientIn – „performative Täuschung“ nennt Heyll das. Auch Heyll erkennt das Bedürfnis vieler Menschen nach Ritualen, Inszenierungen und HeilerInnen an. Aber wie Schmacke kritisiert er vehement die Ressourcenverschwendung, die entsteht, wenn alternative Verfahren zu einem festen Bestandteil der medizinischen Versorgung werden. Ganz abgesehen von den realen Gefahren für PatientInnen, die bei ernsten Erkrankungen auf alternative Verfahren vertrauen, statt eine wirksame Therapie in Anspruch zu nehmen. Ein Überblick zur partizipativen Entscheidungsfindung als einem Modell, das eine bessere Kommunikation zwischen ÄrztIn und PatientIn befördern kann, ergänzt diese Überlegungen. Den Abschluss bildet der Aufsatz von Trisha Greenhalgh et al.: „Evidenzbasierte Medizin: Eine Bewegung in der Krise?“, der 2014 im British Medical Journal erschienen ist und lebhafte Debatten hervorgerufen hat, unter anderem im Ärzteblatt. Auch wenn nicht ganz ersichtlich ist, wie er in diesen Sammelband geraten ist, ist es doch ein Gewinn, dass er nun auf Deutsch vorliegt. Der Sammelband sei allen ans Herz gelegt, die sich grundsätzlicher mit der Alternativmedizin und mit aktuellen Fragen zur Begründbarkeit therapeutischen Handelns befassen wollen. Sonja Siegert, Journalistin, Köln

Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 244 Seiten, 14 Euro

Dr. med. Mabuse 222 · Juli / August 2016

Stephan Braese, Dominik Groß (Hg.)

NS-Medizin und Öffentlichkeit

Das Lebensende selbst bestimmen

Formen der Aufarbeitung nach 1945

A

m 19. Oktober 1965, wenige Wochen nach der Urteilsverkündung im Frankfurter Auschwitz-Prozess, wird zeitgleich in 15 Städten der BRD, der DDR und in London das Drama von Peter Weiss „Die Ermittlung“ aufgeführt, in dessen Zentrum unter anderem Josef Mengele und damit die NS-Medizin steht. Darin wird die Komplizenschaft der deutschen Ärzteschaft an den nationalsozialistischen Verbrechen gezeigt, die durchgängig vorhanden war und auf Eigeninitiative beruhte. Dieser „Theater-Coup“ leitete in Deutschland eine wochenlange öffentliche Diskussion über die Verbrechen des Nationalsozialismus ein und gilt als Zäsur im Umgang mit der Vergangenheit. Diese und andere Zusammenhänge werden im Buch „NS-Medizin und Öffentlichkeit“ spannend dargestellt. Auf Initiative von Stephan Braese und Dominik Groß haben sich Literaturwissenschaftler und Historiker zusammengetan, um die wesentlichen Ergebnisse der juristischen Aufarbeitung der Medizinverbrechen im Nationalsozialismus darzulegen und deren Rezeptionsgeschichte aufzuarbeiten. Sie zeigen, auf welche Widerstände engagierte Wissenschaftler und kritische Autoren in Fachgesellschaften und in der breiten Öffentlichkeit trafen, die versuchten, über die NS-Medizinverbrechen aufzuklären und ihre Täter öffentlich anzuklagen. Im ersten Teil stehen die medizinhistorischen Aspekte im Vordergrund. Wenn auch bereits mit dem Thema vertraute LeserInnen hier nicht viel Neues erfahren, ist es in der Zusammenschau doch sehr interessant, was die AutorInnen in ihren Artikeln zusammentragen: etwa wie die ersten Dokumentationen von Alexander Mitscherlich, Fred Mielke und Alice Platen-Hallermund auf eine organisierte Ärzteschaft stießen, die an einer Aufklärung kein Interesse hatte, sondern sie im Gegenteil mit Strafanzeigen einschüchterte; wie der Ärzteprozess und die NSMedizin insgesamt in der ZEIT und im Spiegel verarbeitet wurden; wie problemlos NS-Ärzte in die Nachkriegsgesellschaft integriert wurden und leitende Positionen einnehmen konnten. Sie zeigen, wie viele

Boudewijn Chabot / Christian Walther Ausweg am Lebensende Sterbefasten –Selbstbestimmtes Sterben durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken Mit einem Geleitwort von Dieter Birnbacher 4., überarbeitete Auflage 2015. 180 Seiten. (978-3-497-02565-7) kt € [D] 19,90 / € [A] 20,50

Die Autoren klären über medizinische Aspekte des freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit auf und informieren, was man rechtlich für diese Entscheidung beachten muss. Im Mittelpunkt steht der Patient, der würdig aus dem Leben scheiden möchte, und die Angehörigen, Pflegenden und Ärzte, die ihn auf diesem schwierigen Weg begleiten.

www.reinhardt-verlag.de

59


60

Buchbesprechungen

Kontinuitätslinien sich in den Fachverbänden finden lassen und wie die Bundesärztekammer bis heute in den Konflikt zwischen Standesehre und Selbstreflexion eingebunden ist. Auf der einen Seite bemüht man sich, über die Verbindung zwischen Ärzten und Nationalsozialismus aufzuklären, gleichzeitig wird aber alles daran gesetzt, allzu kritische Positionen „elaboriert einzuhegen“. Der zweite Teil des Buches widmet sich der Literatur. Martin Walser, so Matthias N. Lorenz, nivelliere in seinem Drama um einen SS-Arzt („Eiche und Angora“) die Täter-Opfer-Beziehung, blende das Grauen der NS-Medizin und vor allem deren Opfer aus. Ganz anders die übrigen Autoren, deren Werke vorgestellt werden: Rolf Hochhuths Drama „Der Stellvertreter“, Alexander Kluges „Ein Liebesversuch“ sowie Ira Levins „The Boys from Brazil“, Marcel Beyers „Flughunde“ oder HansUlrich Treichels Roman „Der Verlorene“ wollen aufklären und anklagen. Mit dem Sammelband werden zwei unterschiedliche Blickwinkel vorgestellt: der medizinhistorische, auf die politischen und historischen Fakten gerichtete, sowie der literarische, auf das Individuelle gerichtete persönliche Blick. Das Spannende daran ist, wie Liliane Weisberg in ihrem abschließenden Überblick bemerkt, wie sich diese beiden Arten der Aufarbeitung ergänzen und gegenseitig befruchten. Das Erklärende und Ergründende des Historikers wird ergänzt durch das Suchende und Ambivalente der Literatur. Es ist ein anregendes Buch, das zum Weiterlesen animiert. Mich hat ein Hinweis von Christine Ivanović – genauer die kurze und lakonische Erwähnung von Ilse Aichinger, die 1939 als Zwillingskind in einer jüdischen Familie in Österreich aufwuchs, dass Josef Mengele sie und ihre Schwester sprechen wollte – dazu gebracht, Ilse Aichingers Bücher und Texte lesen zu wollen. Hans-Ludwig Siemen, Psychologe, Uttenreuth

Campus Verlag, Frankfurt am Main 2015, 343 Seiten, 39,90 Euro

Andrea Schiff (Hg.)

Familien in kritischen Situationen der klinischen Pflege Forschungsergebnisse und innovative Konzepte für die Pflegepraxis

D

as Buch stellt neun Bachelor- und Masterarbeiten des Fachbereichs Gesundheitswesen der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen vor. Die AutorInnen haben in ihren Literaturanalysen und empirischen Forschungsarbeiten relevante Themen der beruflichen Praxis im Akutkrankenhaus beleuchtet. Die ausgewählten Settings befassen sich mit typischen, um nicht zu sagen „alltäglichen“, krisenhaft erlebten Situationen. Zwei Arbeiten beschäftigen sich mit dem Erleben von Vätern und Müttern auf einer neonatologischen Intensivstation und mit deren Beziehung zu den Pflegenden. Andere Arbeiten widmen sich der Mitaufnahme von Eltern im Kinderintensivbereich oder der Elternanwesenheit bei einer Reanimation und dem damit verbundenen Belastungserleben von Eltern und Pflegenden. Darüber hinaus werden Belastungen von Pflegenden im Umgang mit sogenannten hirntoten Patienten auf Intensivstationen aufgegriffen. Im außerklinischen Bereich nimmt sich eine Arbeit den trauernden Geschwistern in Kinder- und Jugendhospizen an. Hier wurde im Rahmen einer Literaturstudie herausgestellt, welche Belastungen auf gesunde Geschwisterkinder im Kontext der lebensverkürzenden Erkrankung wirken, welche Copingstrategien sie entwickeln und wie wichtig in diesem Zusammenhang eine professionelle Begleitung durch die Hospize ist. Ein Ergebnis, dass nicht zwingend überrascht, aber im Rahmen der Arbeit deutlich macht, wie wichtig weitere Forschungsarbeiten zu diesem Thema sind. Als eine Bewältigungsstrategie ganz anderer Art werden Patiententagebücher auf Intensivstationen vorgestellt. Diese Konzeption dient dazu, Erinnerungslücken von Langzeit-Intensivpatienten zu füllen. Diese vordergründig für die Patienten zugedachten chronologischen Schilderungen werden von Pflegenden als Bindeglied betrachtet, das sie mit Angehörigen vereint, und somit als Werkzeug der Beziehungsgestaltung dient.

Eine weitere Arbeit beschäftigt sich mit präpartalen Elternsprechstunden durch neonatologisches Pflegepersonal in der Betreuung von Frauen mit einer Risikoschwangerschaft. Die betroffenen Eltern werden auf den möglichen Aufenthalt ihres Kindes in der Neonatologie vorbereitet. Die Autorinnen untersuchten das Erleben der Pflegenden und konnten bestätigen, welch wertvollen Beitrag dieses Konzept zum Kompetenzaufbau sowie zur Reduzierung von Belastung und Ängsten der Eltern beitragen kann. Die Arbeiten umfassen nicht nur ein großes thematisches Spektrum – von der Schwangerschaft bis zum Tod –, sondern auch die unterschiedlichen Perspektiven, nämlich die der Angehörigen, Eltern und Pflegenden. Wissenschaftliche Untersuchungen sehen sich oft der Kritik einer fehlenden Alltagsrelevanz ausgesetzt. Die hier von der Professorin für Pflegewissenschaft Andrea Schiff herausgegebenen Untersuchungen müssen dies nicht befürchten. Im Gegenteil: Die vorgestellten Arbeiten sind nicht nur äußerst relevant, sondern setzen sich mit Situationen auseinander, die wohl schon jede in diesen Bereichen tätige Pflegekraft als krisenhaft erlebt hat. Die Untersuchungen beinhalten zahlreiche Hinweise auf einen konstruktiven, problemlösungsorientierten Umgang. Beispielhaft sei der Beitrag der Schwangerenberatung hervorgehoben. Vor dem Hintergrund steigender Zahlen von Mehrlingsund/oder Risikoschwangerschaften und dem damit verbundenen Anstieg stationärer Aufenthalte oft weit vor der Entbindung beziehungsweise über einen langen Zeitraum, dürfte noch gar nicht erkannt sein, welche Möglichkeiten ein Sprechstunden-Angebot bietet und welche Risiken dadurch minimiert werden können. Alle Beiträge haben eine familienorientierte Gesundheitsversorgung im Fokus. Ein Ansatz, der zwar vielfach diskutiert, jedoch in Konzepten noch kaum umgesetzt wird. Die Leserschaft wird eingeladen, Angehörige nicht als Bedrohung, sondern als Chance für ihre berufliche Tätigkeit zu verstehen. Einmal mehr wird in diesem Buch aber auch deutlich, zu welchen sinnvollen Beiträgen zur Gesundheitsversorgung Pflegende eigentlich in der Lage wären, wenn die Gesundheitspolitik die Berufsgruppe ebenfalls als Chance und nicht als notwendiges Übel begreifen würde. Dr. med. Mabuse 222 · Juli / August 2016


Buchbesprechungen

Verlag Barbara Budrich, Leverkusen 2014, 207 Seiten, 24 Euro

Christiane zur Nieden

Sterbefasten Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit – Eine Fallbeschreibung

A

ls vor sechs Jahren das Buch „Ausweg am Lebensende“ von Boudewijn Chabot und mir erschien, war der Begriff „Sterbefasten“ in Deutschland – außer bei ein paar Religionswissenschaftlern – noch so gut wie unbekannt. Nun ist dazu ein weiteres, sehr schönes Buch erschienen. Es wird hoffentlich dazu beitragen, dass das Ignorieren, Verschweigen oder verlegene Wegschauen bei diesem Thema irgendwann der Vergangenheit angehört. Es ist nicht einzusehen, dass eine uns von der Natur gegebene Möglichkeit, friedlich Abschied vom Leben zu nehmen, noch immer weitgehend tabuisiert wird. Christiane zur Nieden, staatlich geprüfte Heilpraktikerin für Psychotherapie und seit 1989 als Sterbe- und Trauerbegleiterin tätig, hat das vorzeitige Sterben ihrer 88-jährigen Mutter durch einen freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) betreut. Dieses Erlebnis – mit allen menschlichen und medizinisch-pflegerischen Facetten – wird ausführlich dargestellt. Anschließend wird das Thema unter verschiedenen Gesichtspunkten (zum Beispiel wo Sterbefasten stattfinden könnte beziehungsweise wo nicht) beleuchtet. Das Buch ist in einer sehr persönlichen, direkten und recht lebendigen Art verfasst, die viele ansprechen dürfte – ganz unabhängig von ihrer Dr. med. Mabuse 222 · Juli / August 2016

Weltanschauung oder Religion. „Sterbefasten“ ergänzt somit sehr gut das oben erwähnte frühere Buch, in dem statistische Daten, politische Aspekte und ethische Fragen stärker im Vordergrund stehen. Man muss sich allerdings darüber im Klaren sein, dass in zur Niedens Buch ein idealtypischer Fall beschrieben wird: Die Sterbende wird hingebungsvoll von der ganzen Familie gepflegt, und zu dieser gehören glücklicherweise eine erfahrene Sterbebegleiterin (die Tochter) sowie ein Arzt für Allgemeinmedizin mit Zusatzausbildung in Palliativversorgung (der Schwiegersohn). Die Komplikationen, die bei der Sterbenden auf dem 13 Tage dauernden Weg auftreten, halten sich in Grenzen und entsprechen in etwa einer durchschnittlichen Situation (wer sich ein breiteres Bild davon machen möchte, sei auf die Fallbeschreibungen bei www.sterbefasten.de verwiesen). Auch wenn es eine mit viel Mühe und wechselnden Gefühlen verbundene Erfahrung gewesen ist, sind am Ende alle sehr glücklich. Eine besondere Stärke des Buches liegt in der nachvollziehbaren Schilderung der Verstörung, die der Sterbewunsch selbst für die in solchen Dingen erfahrene Autorin hervorruft. Darf man ihm nachgeben – wo doch manchmal gleichzeitig der Wunsch noch weiterzuleben geäußert, dann aber auch widerrufen wird (sogenannte „double awareness“)? Kann man es ertragen, den Tod für viele Tage bei sich sozusagen zu Gast zu haben? Das Buch macht Mut und lässt uns an der tröstlichen Erfahrung teilhaben, dass sich in einer intakten Familie die Situation sehr positiv entfalten kann: Es vollzieht sich ein langes, ruhiges, manchmal sogar heiteres Abschiednehmen, ein Begleiten zu einem Ziel, das jetzt als das Richtige feststeht. Dabei geht es oft ganz konkret um die pflegerische Hilfe in einer Situation, die einer sich verschlimmernden Erkrankung entspricht. So wird unter anderem drastisch erfahrbar, dass der – grundsätzlich zu bewältigende – Prozess des Austrocknens sich manchmal nicht nur auf den Mund beschränkt, sondern auch die übrigen Schleimhäute und die Augen betreffen kann. Die Behandlung der verschiedenen Aspekte, die bei einer Entscheidung zum Sterbefasten sowie für dessen Durchführung unbedingt bekannt sein sollten (pflegerische Details, psychologische Aspekte, juristische Absicherung) erfolgt kompe-

Zurück ins Leben

NEU Hamm | Freyberger | Hamm

Psychoonkologie in der Nachsorge Ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Manual Psychoedukative und verhaltenstherapeutische Methoden können Krebspatienten bei der Bewältigung chronischer Belastungen wirksam unterstützen. In 10 aufeinander abgestimmten Modulen werden die wichtigsten Themen von Krankheitserleben und -bewältigung aufgegriffen und bearbeitet:

Irrtum und Preisänderungen vorbehalten. Abb.: © photocase.com

Die Ergebnisse sind für die konzeptionelle Arbeit im Pflegealltag, aber auch für die Theoriebildung wesentlich. Die Notwendigkeit der weiteren wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Themen wird deutlich. In diesem Sinne ist das Buch in meinen Augen für Praxis und Forschung gleichermaßen relevant. Ich wünsche ihm sehr viele aufmerksame LeserInnen. Annette Steeneck, Dipl.-Pflegewirtin, Frankfurt am Main

Stress und krankheitsbezogene Sorgen erkennen und überwinden Mit Schlafstörungen, Fatigue und kognitiven Defiziten umgehen lernen Negative Emotionen regulieren und ein negatives Selbstbild verändern 2016. Ca. 176 Seiten, 21 Abb., kart., mit 32 Arbeitsblättern zum Download Ca. € 24,99 (D) / € 25,70 (A) ISBN 978-3-7945-3180-6

www.schattauer.de

61


62

Buchbesprechungen

tent und in knapper, gut nachvollziehbarer Weise. Allerdings bleibt auch in diesem Buch einiges letztlich offen, etwa, ob Sterbefasten immer oder nur manchmal als Suizid zu bewerten ist. Andererseits wird hier endlich einmal auf den suizidalen Aspekt bei der Bitte um Behandlungsabbruch (der ja gesellschaftlich ziemlich breit akzeptiert wird) hingewiesen. Hinsichtlich des neuen Sterbehilfegesetzes wird angedeutet, dass zumindest diejenigen, die nicht mit dem Sterbenden verwandt sind und beim Sterbefasten wiederholt helfen, mögliche juristische Konsequenzen bedenken müssen. Damit wird einmal mehr deutlich, dass uns der Gesetzgeber einen Beschluss mit tückischer Mehrdeutigkeit beschert hat, der hoffentlich vor dem Verfassungsgericht nicht Bestand haben wird. Christian Walther, Neurobiologe i.R., Marburg

Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2016, 171 Seiten, 19,95 Euro

Deborah K. Padgett, Benjamin F. Henwood, Sam J. Tsemberis

Housing First Ending Homelessness, Transforming Systems, and Changing Lives

D

eborah K. Padgett, Professorin an der Silver School für Soziale Arbeit der New York University, forscht seit vielen Jahren zum Bereich der Wohnungslosigkeit und hat unter anderem qualitative Untersuchungen zum Ansatz des „Housing First“ durchgeführt. Benjamin F. Henwood (University of Southern California) ist als Sozialarbeiter und Forscher unter anderem mit der gesundheitlichen Situation von Menschen, die Wohnungslosigkeit erfahren haben, befasst, und Sam J. Tsemberis (Columbia University) kann als Begründer des Ansatzes „Housing First“ angesehen werden. Überzeugt vom Menschenrecht auf Wohnen setzt er 1992 zunächst in New York City ein Modell um, in dem wohnungslosen Menschen mit psychischen Störungen und Suchtproblematiken das unmittelbare Wohnen in der

eigenen Wohnung wieder ermöglicht wird. Dabei werden den ehemals wohnungslosen Personen flexible Unterstützungssysteme zur Verfügung gestellt, wenn sie dies wünschen und brauchen. Der Ansatz des „Housing First“ steht dem Stufenmodell des sogenannten „Treatment First“ gegenüber, durch das Menschen, die auf der Straße leben, durch spezielle Angebote und Programme befähigt werden sollen, sich auf lange Sicht mit dem Leben in der eigenen Wohnung zurechtzufinden. Die drei AutorInnen stellen in ihrem Buch Aspekte in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen, die für Menschen, welche Wohnungslosigkeit erfahren haben, eine subjektive Bedeutung besitzen. Gleichzeitig werden gesellschaftliche Verhältnisse kritisch reflektiert und insgesamt Bedingungen von Partizipation und Ausgrenzung grundsätzlich in den Blick genommen. Die Publikation besteht aus einem Vorwort, neun Kapiteln und einer Coda, die aktuelle Entwicklungen zum „Housing First“ ergänzt. Jedes Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung ab. Kapitel 1 und 2 führen in die Thematik ein. Es wird die Konzeption des „Housing First“ näher bestimmt, grundlegende Begriffe geklärt und (auch wissenschaftstheoretische) Zusammenhänge skizziert. Die gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA, die Wohnungslosigkeit begründen, werden kritisch und schlüssig in den Blick genommen. Im dritten Kapitel wird die Situation gängiger Wohnungslosenhilfeangebote, die eher dem Konzept des „Treatment First“ folgen, vorgestellt. Dabei werden drei inhaltlich unterschiedliche Entwicklungslinien entfaltet. Dies trägt dazu bei, sowohl ein tieferes Verständnis von der Bedeutung verschiedener Angebote der Wohnungslosenhilfe zu entwickeln als auch Ideen dazu, wie Systeme transformiert werden könnten. In Kapitel 4 erfolgt eine Zusammenfassung existierender Forschung sowie die Darlegung weiterführender Forschungsfragen zur Thematik. Diese befassen sich unter anderem mit der Frage danach, inwieweit das Konzept „Housing First“ auf andere Länder übertragbar ist. Die beiden folgenden Kapitel legen den Fokus auf die Erfahrungen ehemals wohnungsloser Menschen mit dem „Housing First“. Die Stimmen der interviewten Per-

sonen zeigen in ihren Geschichten und Lebenserfahrungen sehr eindrucksvoll die umfassenden Veränderungen des Lebens durch die eigene Wohnung. Sie berichten davon, sich unabhängig und sicher zu fühlen. Viele nehmen den Kontakt zu ihrer Familie wieder auf, der in der Regel während der Zeit der Wohnungslosigkeit abgebrochen ist. Kapitel 7 und 8 geben einen umfassenden Überblick über die Verbreitung des Ansatzes in den USA und über die USA hinaus. Kapitel 9 befasst sich mit der Wohnungslosigkeit im Kontext zunehmender sozialer Ungleichheit und lenkt den Blick auf zukünftige Herausforderungen. Das Buch informiert umfassend und differenziert über verschiedene Unterstützungsangebote der Wohnungslosenhilfe und zeigt unterschiedliche Ansätze und Ideen im historischen und gesellschaftskritischen Kontext auf. Interessant ist diese Publikation sowohl für diejenigen, die sich im Bereich der Wohnungslosenhilfe engagieren und hier tätig sind, als auch für Studierende, die sich mit grundsätzlich unterschiedlichen Ansätzen und deren Argumentationslogiken vertraut machen und einen Überblick über die Situation in verschiedenen Ländern erhalten wollen. Eine Stärke der Veröffentlichung liegt in der konsequenten Darlegung der Perspektive (ehemals) wohnungsloser Menschen. Die Darstellung ist theoretisch sowie empirisch fundiert und gleichzeitig gut verständlich und ansprechend geschrieben. Die Argumentation zum Ansatz des „Housing First“ ist überzeugend und kann auf die Lebenssituation anderer Menschen übertragen werden, die im Sinne Bourdieus über wenig Kapital beziehungsweise Ressourcen, welche sie einsetzen können, verfügen. Prof. Dr. Patrizia Tolle, Frankfurt University of Applied Sciences

Oxford University Press, Oxford/New York u. a. 2015, 248 Seiten, 19,99 Pfund

Dr. med. Mabuse 222 · Juli / August 2016


Buchbesprechungen

Henrike Sappok-Laue

Henriette Arendt Krankenschwester, Frauenrechtlerin, Sozialreformerin

D

ass im deutschsprachigen Raum eine pflegehistorische Dissertation mit einem Hochschulpreis ausgezeichnet wurde, ist, soweit ich weiß, einmalig. Forscherinnen und Forscher der Pflegegeschichte haben zwar in den letzten zehn bis 15 Jahren eine Reihe hervorragender Arbeiten vorgelegt, diese wurden bislang jedoch nicht in den Kreis der für preiswürdig erachteten Dissertationen einbezogen. Henrike Sappok-Laue hat mit ihrer Arbeit, die den Koblenzer Hochschulpreis 2015 erhielt, hoffentlich auch für nachfolgende Dissertationen aus diesem Bereich den Damm gebrochen! Denn die Pflegegeschichte hat ihr „Schattendasein“ längst verlassen, darauf weisen allein schon die einschlägigen Veröffentlichungen aus dem Mabuse-Verlag hin. Sappok-Laue hat eine Einzelkämpferin des beginnenden 20. Jahrhunderts in den Blick genommen, die dafür besonders geeignet erscheint, denn Henriette Arendt (1874–1922) war in der Krankenpflege, Sozialarbeit und bürgerlichen Frauenbewegung aktiv. Dass sie darüber hinaus eine Tante der bekannten Philosophin Hannah Arendt (1906–1975) ist, wissen nur wenige. Henriette Arendt war zwar schon verschiedentlich Gegenstand der Forschung, aber keine der Arbeiten hat sie mit Blick auf alle drei genannten Tätigkeitsbereiche untersucht. Die Zeit ihres Wirkens fiel in eine wichtige Phase, sowohl der

Verberuflichung der Krankenpflege (als Stichwort soll hier die Einführung des ersten Krankenpflegeexamens in Preußen 1906 genügen) als auch ihrer bereits beginnenden Ausdifferenzierung, die den Anfang mit der später sogenannten Sozialarbeit nahm. Darüber hinaus ist der Zeitraum durch ein seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erstarkendes Selbstbewusstsein des assimilierten Judentums in Deutschland gekennzeichnet, das sich auch in der Biografie Henriette Arendts wiederfindet. Die Autorin hat es geschafft, die Entwicklung einer Einzelperson in die zeitgenössischen Bedingungen und Strukturen einzubinden, beginnend mit der Jugend und Ausbildung eines jüdischen Mädchens des Bürgertums in Königsberg. Alle bedeutenden Stationen ihres Lebens wurden detailliert im historischen Kontext verortet, so die Ausbildung zur Krankenpflegerin beim Jüdischen Schwesternverein Berlin einschließlich der Arbeit im dortigen Jüdischen Krankenhaus sowie ihr hartes und entbehrungsreiches Leben als sogenannte „wilde“ Schwester, also als Krankenpflegerin, die keinem Mutterhaus angehörte. Henriette Arendt hat nicht nur als Autorin vielschichtige Spuren hinterlassen, sondern auch als erste Polizeiassistentin des Deutschen Reichs in Stuttgart, wo sie wegen ihres fehlenden Gehorsams schnell auf der Abschussliste stand. Als Grundlagen für die Darstellung Sappok-Laues dient unter anderem ein formal zwar fiktionales, aber sicher wohl auch autobiografisch gefärbtes Tagebuch einer Krankenschwester, das 1909 unter dem Titel „Dornenpfade der Barmherzigkeit. Aus

Zeitschrift mit Informationen und Kritik zu Gentechnik und Biopolitik

Schwester Gerdas Tagebuch“ von Henriette Arendt herausgegeben wurde. Dieses Tagebuch, für das eine der bedeutendsten Protagonistinnen der Krankenpflege im Deutschen Reich, Agnes Karll, das Vorwort geschrieben hat, gibt ausführlich Auskunft über die Arbeitsbedingungen in der Kranken- und Privatpflege, über ungenügende Bezahlung und die Folgen der fehlenden sozialen Absicherung, aber auch über das geringe gesellschaftliche Ansehen der Krankenpflegenden und die damit verbundenen Demütigungen einer selbstbewussten jungen Frau, die mit diesem Beruf ihren Lebensunterhalt verdienen will. Durch ihren Kampf gegen den Kinderhandel hat Henriette Arendt internationale Beachtung gefunden und wurde von Krankenschwestern, Reformerinnen und Protagonistinnen der Frauenbewegung zu Vorträgen ins Ausland eingeladen. Sie gehörte also zu den Frauen, die sich laut genug äußerten, um gehört zu werden, aber dafür auch ihren Preis zahlen mussten. Henrike Sappok-Laue hat ein sehr lesenswertes Buch geschrieben, das trotz mancher Wiederholungen sehr kurzweilig ist und dadurch nicht nur ein Fachpublikum, sondern auch einen breiten Leserkreis anspricht. Sylvelyn Hähner-Rombach, Stuttgart

Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2015, 280 Seiten, 39,95 Euro

Aus dem Inhalt: • Beratungsidee und Praxis

WISSENSTRANSFER UND ENTSCHEIDUNGSZWANG

• Kritik an Beratung aus der Behindertenbewegung • Aus der Praxis psychosozialer Beratung

Jetzt bestellen! • GID 235 • 50 Seiten • 8,50 Euro Dr. med. Mabuse 222 · Juli / August 2016

63


Diese Postkarten machen gute Laune!

„Kompetenz“, Nr. 17874, 1 EUR

„Teamarbeit“, Nr. 17870, 1 EUR

„Bollerwagen“, Nr. 17869, 1 EUR

„Restrisiko“, Nr. 33756, 1 EUR

„Warten“, Nr. 32201, EUR

„Königin des Wochenbetts“, Nr. 32203, 1 EUR

36 Postkarten für Hebammen, Schwangere und Eltern

Postkarten-Buch

Mabuse-Verlag

Oh Wehe! Postkarten-Buch mit 10 Postkarten, Nr. 01467, jetzt nur 2,99 EUR

36 Postkarten, Nr. 12000, statt 32,40 EUR nur 14,95 EUR

„Herzlichen Glückwunsch!“, Nr. 17876, 1 EUR als Klappkarte mit Umschlag, Nr. 19752, 2 EUR

Viele weitere Postkarten finden Sie auf www.mabuse-verlag.de

„Geschenke“, Nr. 16870, 1 EUR als Klappkarte mit Umschlag, Nr. 19754 2 EUR

„Sonnenbad“, Nr. 33757, 1 EUR

„Hörrohr“, Nr. 16866, 1 EUR als Klappkarte mit Umschlag, Nr. 19753, 2 EUR

Größere Mengen an Postkarten, auch gemischt, erhalten Sie zu günstigeren Staffelpreisen: ab 30 Ex.: 90 Cent/Stück, ab 50 Ex.: 80 Cent/Stück

Fordern Sie unseren Verlagsprospekt an und abonnieren Sie unseren Newsletter!

www.mabuse-verlag.de


Buchbesprechungen

Marietta Meier

Spannungsherde Psychochirurgie nach dem Zweiten Weltkrieg

P

sychochirurgische Eingriffe sind Eingriffe am Gehirn, die aufgrund einer psychiatrischen Indikation erfolgen. Diese wurden in den 1930er Jahren entwickelt und verbreiteten sich trotz massiver Kritik in den 1940er Jahren. Als Wirkung der Psychochirurgie beobachtete man eine Regulierung der „affektiven Spannung“, oder schlichter formuliert, eine Beruhigung, wenn PatientInnen vorher aggressiv oder erregt gewesen waren. Als größte Nebenwirkung zeigte sich bei den operierten Menschen eine Veränderung der Persönlichkeit. Der genaue Wirkungsmechanismus psychochirurgischer Therapien blieb jedoch unklar. Das Buch von Marietta Meier ist die überarbeitete Habilitationsschrift, die 2012 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich angenommen wurde. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema erfolgt mit einem kulturgeschichtlichen Ansatz und fragt nach dem Verhalten der verschiedenen Akteure. Methodisch nutzt die Autorin dabei drei unterschiedliche Vorgehensweisen. Zunächst untersucht sie die Interaktionsprozesse zwischen den Bereichen Wissenschaft und Gesellschaft und analysiert, wie Wissen zirkuliert und sich dadurch verändert. Daneben nimmt sie unterschiedliche Perspektiven ein, indem sie mikroanalytisch einzelne Kliniken und Fälle untersucht, regionale Schwerpunkte setzt und makroanalytisch zeitgenössische Diskurse und Publikationen in den Blick nimmt. Dabei wertet die Autorin die Psychochirurgie sowohl quantitativ als auch qualitativ aus. Neben zahlreichen veröffentlichten und unveröffentlichten Texten werden auch 300 Krankenakten aus 16 Kliniken in unterschiedlichen Regionen der Schweiz herangezogen. Mit ihrem multiperspektivischen Ansatz gelingt es der Autorin dabei, ein facettenreiches Bild der Psychochirurgie der Nachkriegszeit zu zeichnen. Marietta Meier schließt aus ihrer Analyse, dass nur bestimmte Bedingungen der Nachkriegsgesellschaft die Psychochirurgie förderten. Diese formuliert sie in vier Thesen: Die erste These geht davon aus, dass in der Nachkriegsgesellschaft Dr. med. Mabuse 223 · September / Oktober 2016

ein Persönlichkeitskonzept vorherrschte, dass „die Persönlichkeit als evolutionär wachsende, aber formbare Größe verstand“. Die Persönlichkeit ließe sich daher durch eine Operation schnell verändern. Diese Idee fügte sich auch in die zunehmende Technisierung der Gesellschaft ein. Als zweite These formuliert die Autorin eine bestimmte Vorstellung vom Subjekt, dass nämlich „die soziale Anpassung eines Subjekts höher als dessen Individualität“ gewertet wurde. Man ging davon aus, dass auch die PatientInnen ein Interesse daran hatten, besser in ihrem sozialen Umfeld zurechtzukommen. Als dritte These thematisiert die Autorin den Zweiten Weltkrieg als Ursache für einen Wandel der Wahrnehmung von Individuum und Gesellschaft. Der Krieg war somit ein Ereignis, „das die soziale Anpassung des Einzelnen verstärkte“. Jedoch geht die Autorin mit ihrer vierten These auch von einer „diskontinuierlichen Dynamik soziokulturellen Wandels“ aus, der sich darin zeigte, dass bereits in den 1950er Jahren die Gesellschaftsordnung infrage gestellt wurde. Die Behandlungsmethoden der Psychochirurgie wurden zwar in den 1950er Jahren innerhalb der Psychiatrie kritisiert, jedoch weiter angewandt und erst in den 1970er Jahren infolge konkreter Psychiatriereformen und gesellschaftlicher Protestbewegungen beendet. Das Buch mit seinen knapp 400 Seiten und einem beeindruckenden Quellenverzeichnis sowie einer Liste aktueller Literatur lässt sich gut lesen, erfordert jedoch aufgrund der verschiedenen Ansätze der Analyse eine hohe Konzentration. Unterstützt wird die Lektüre durch eine überlegte Gliederung und das übersichtlich gestaltete Inhaltsverzeichnis. Mathilde Hackmann, wiss. Mitarbeiterin an der Ev. Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie, Hamburg

Wallstein Verlag, Göttingen 2015, 392 Seiten, 42 Euro

Psychosozial-Verlag Thomas Harms (Hg.)

Körperpsychotherapie mit Säuglingen und Eltern Grundlagen und Praxis

455 Seiten • Broschur • € 39,90 ISBN 978-3-8379-2389-6 Dieser Sammelband vermittelt einen Überblick über die Strömungen, Hintergründe und Einsatzbereiche der körperorientierten ElternSäuglings-Kleinkind-Beratung und -Psychotherapie. Praxisnah berichten international bekannte Fachleute, wie sie Eltern und Babys dabei unterstützen, früh erfahrene Verletzungen und Bindungstraumata zu verarbeiten.

Thomas Harms

Emotionelle Erste Hilfe Bindungsförderung – Krisenintervention – Eltern-Baby-Therapie

270 Seiten • Broschur • € 22,90 ISBN 978-3-8379-2615-6 Thomas Harms beschreibt hier einen Weg, wie Eltern in schwierigen Zeiten nach der Geburt das emotionale Band zu ihren KinLMZV _QMLMZ Å VLMV ]VL [\qZSMV S VVMV Er gibt Antworten auf die Frage, wie Eltern und Säuglingen geholfen werden kann, wenn belastende Erfahrungen in dieser Zeit den Aufbau eines liebevollen Miteinanders verhindern. Walltorstr. 10 · 35390 Gießen Tel. 0641-969978-18 Fax 0641-969978-19 bestellung@psychosozial-verlag.de www.psychosozial-verlag.de

57


58

Buchbesprechungen

Volker Hess, Laura Hottenrott, Peter Steinkamp

Testen im Osten DDR-Arzneimittelstudien im Auftrag westlicher Pharmaindustrie, 1964–1990

I

m Frühsommer 2013 erregte ein Artikel des Magazins Spiegel, in dem über Medikamententests bundesdeutscher Pharmafirmen in der DDR berichtet wurde, große mediale Aufmerksamkeit. Die AutorInnen des Buchs „Testen im Osten“ haben aus medizinhistorischer Perspektive diese Praxis näher betrachtet. Um das zentrale Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Die DDR war keineswegs eine billige „Teststrecke“ für Menschenversuche, die in der Bundesrepublik nicht hätten durchgeführt werden können. Hess, Hottenrott und Steinkamp zeigen plausibel auf, dass klinische Auftragsstudien in dieser Zeit kein deutsch-deutsches, sondern vielmehr ein globales Phänomen waren. So testeten die großen Pharmaunternehmen ihre Medikamente in unterschiedlichen Ländern – unabhängig davon, ob diese kapitalistisch oder sozialistisch geprägt waren. Davon abgesehen bot die DDR aber auch spezifische Vorteile: Neben der „preußischen Mentalität“, die den Auftraggebern eine zuverlässige Durchführung gewährleistete, bot die DDR den Pharmafirmen ein gut organisiertes und zentralisiertes Krankenhauswesen. Während man sich in der BRD an die einzelnen Kliniken wenden musste und es keinesfalls gesichert war, dass genügend Teilnehmer für die Studie zusammenkamen, wandte man sich in der DDR als Auftraggeber direkt an das Beratungsbüro für Arzneimittel

und medizintechnische Erzeugnisse (Import) im Ministerium für Gesundheitswesen (BBA), welches als „Makler“ zwischen Pharmafirma und Prüfeinrichtung auftrat. Diese „Schnittstelle“ garantierte den Pharmafirmen eine schnelle und zuverlässige Durchführung ihrer Studie und die Behörden der DDR konnten dadurch zumindest ein paar Devisen in die klammen Kassen spülen. Dass die Zusammenarbeit für beide Seiten gut funktionierte, belegt die hohe Anzahl von 321 Studien, die durch die AutorInnen für die Zeit von 1964 bis 1990 ermittelt werden konnten. Da klinische Auftragsstudien, besonders im deutschen Sprachraum, bisweilen kaum bis gar nicht erforscht sind, kann die vorliegende Studie als Pionierarbeit auf diesem Gebiet gelten. Daher werden auch zu Beginn die Grundlagen und Voraussetzungen für die klinische Auftragsforschung näher dargestellt. Insbesondere die ausführliche Beschreibung der Quellenbasis ist erwähnenswert. Neben Zeitzeugeninterviews und Akten der Behörden, die in staatlichen Archiven lagern, gelang es den AutorInnen, Zugang zu für die Historiker oftmals verschlossenen Firmenarchiven zu erhalten und deren Aufzeichnungen zu nutzen. Ein Manko, mit dem sie selbst offen umgehen, ist die fehlende Patientenperspektive, die sich durch nicht vorhandene Selbstzeugnisse ergibt. Allerdings mutet es doch etwas merkwürdig an, wenn ein Arzt, der eben als Zeitzeuge zitiert wird, den Patienten als potenziellen Zeitzeugen die Fähigkeit abspricht, nach 30 Jahren Auskunft über die Vergangenheit geben zu können. Daran anschließend zeigen die AutorInnen am Beispiel des Antidepressivums

Levoprotilin anschaulich, wie es zwischen der Firma Ciba-Geigy und den Behörden der DDR zur Durchführung einer klinischen Studie kam. Neben Fragen der Patientenaufklärung und der Aufsicht über die Studie gehen sie ebenso auf die unterschiedlichen Motive der Akteure zur Teilnahme an solchen Studien näher ein. Auch der Überwachung der an den Studien beteiligten Personen durch das Ministerium für Staatssicherheit widmen sie sich. Anknüpfungspunkte für weitere Arbeiten in diesem Forschungsfeld liefert die vorliegende Studie nicht nur durch ihre zahlreichen, inhaltlichen Erkenntnisse, sondern auch durch den umfangreichen Anhang. Dort werden tabellarisch alle Hinweise auf klinische Auftragsstudien in der DDR erfasst und deren archivalischer Fundort genau angegeben. Dies stellt für künftige HistorikerInnen, die sich mit diesem Thema beschäftigen werden, nicht nur eine Fundgrube dar, sondern es wird ihnen auch viel Arbeit erspart. Pierre Pfütsch, wiss. Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart

be.bra Verlag, Berlin 2016, 272 Seiten, 26 Euro

Ja, ich bin bereit für mein neues Leben!

www.coach-in-magazin.de


Michael Coors, Ralf J. Jox, Jürgen in der Schmitten (Hg.)

Advance Care Planning Von der Patientenverfügung zur gesundheitlichen Vorausplanung

W

ie sinnvoll ist es, ein Buch zu kaufen beziehungsweise zu lesen, an dem 32 internationale AutorInnen aus unterschiedlichen Bereichen von Wissenschaft und Praxis über „gesundheitliche Vorausplanung“ berichten: was das bedeutet, warum dieser Ansatz entwickelt worden ist, welche wissenschaftliche Basis vorhanden ist und wo das Konzept bereits in der Praxis funktioniert? Eigentlich schreckt mich eine solche Aufstellung ab. Die didaktisch ausgezeichnete Einführung der Herausgeber hat mich ermutigt, die nahezu vollständige Lektüre dann zu dem Urteil gebracht: unbedingt empfehlenswert! Die Patientenverfügung ist grandios gescheitert. Das ist eine radikale Aussage, die aber belegt wird. Und das ist der Auftakt zur Beschäftigung mit „Advance Care Planning“, wieder kaum übersetzbar, von den Herausgebern wurde „Gesundheitliche Vorausplanung“ gewählt. Es geht um „die Annäherung an das Ideal einer gemeinsamen Entscheidungsfindung für künftige Behandlungsentscheidungen im Falle hypothetischer Krankheitsszenarien, in denen der Betreffende selbst krankheitsbedingt nicht einwilligungsfähig ist und daher die Entscheidung nicht mehr aktuell beeinflussen kann“. Mithilfe von geschulten Gesundheitsfachpersonen (facilitators) wird stufenweise im Gesprächsprozess – möglichst mit den Betroffenen selbst, sonst mit den designierten Vertretern – versucht, Werte, Grundhaltungen und Ziele für denkbare künftige Szenarien herauszufinden und festzuhalten. Diese Facilitators sind typischerweise nicht ÄrztInnen – diese werden aber in einem eigenen Schulungsprogramm in die Welt der gesundheitlichen Vorausplanung einbezogen. Wo gibt es das schon? In den USA („Respecting choices”), in Australien („Respecting Patient Choices“), in Neuseeland („Our Voice”), in Entwicklung auch in Kanada, Großbritannien und Singapur. Berichtet wird auch über ein deutsches Modellprojekt („beizeiten begleiten“). Es zeigt sich, dass es möglich ist, deutlich konkreter als in den PatientenverfügunDr. med. Mabuse 223 · September / Oktober 2016

gen aufzuschreiben, was Menschen tatsächlich wünschen, wenn es eng wird. Der Ansatz ist im Kern revolutionär. Er ist zudem deutlich fokussierter als das heute so beliebte Konzept des Shared decision making, das im Alltag ein Schattendasein führt. Und für wen lohnt die Lektüre? Für alle, die sich in ihrer gesellschaftlichen und beruflichen Rolle mit der Frage beschäftigen, wie es erreicht werden kann, dass aus dem häufig verzweifelten und ratlosen Nachdenken über eine Zukunft mit starken gesundheitlichen Einschränkungen, vor allem am Lebensende, ein kluger und nachdenklicher Prozess wird, welcher die Voraussetzungen schafft, Ängste und Bedürfnisse in ergebnisoffenen und wiederholten Gesprächen herauszufinden – und einzukreisen, welche Unterstützung sich Menschen dann vom professionellen Gesundheitssystem wünschen und welche Maßnahmen (eher) nicht. Das klingt jetzt noch sehr vage. Könnte aber heißen, dass jedes Krankenhaus, jedes Pflegeheim, jeder ambulante Pflegedienst ein Exemplar des Buchs ordert, hineinschaut und überlegt, Abschnitte in der Fortbildung einzusetzen. Und natürlich alle einschlägigen Aus- und Fortbildungsinstitutionen. Ich könnte diese Reihe ziemlich weit fortsetzen. Das Buch hilft nämlich, noch einmal ganz anders in beliebte Debatten des Musters „Zu Hause sterben ist Ziel Nr. 1“ oder „Ich will nicht an Apparaten hängen“ einzusteigen. Es ist ein enorm politisches Buch, weil es zeigt, dass die Voraussetzungen für das Umschalten auf „gesundheitliche Vorausplanung“ ziemlich groß sind. Ob, wie die Herausgeber hoffen, das neue Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung diesen Prozess fördert? Es ist müßig, darüber zu spekulieren. Ohne erhebliche Investitionen in Personal und Fortbildung jedenfalls kann es nicht gehen. Und wie immer muss ein solcher Neubeginn vernünftig wissenschaftlich begleitet werden. Dass das lohnt, beweist die Lektüre des Buchs. Norbert Schmacke, Bremen

Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2015, 363 Seiten, 29,99 Euro

ȜȜǂǂ ¤¤ ǂ ƽ ǀ Ȝ

MENSCHLICHKEIT WENN MENSCHL I CHKE I T DICH AUSMACHT: D I CH A US MA CHT:

Ausbildung Ausbildun ng Altenpfleger/in Altenpfleg ger/in Ein Beruf, der bewe ggtt . Ǧ Ȟǂ ¤ Ǧ ò Ǧ Û Ǧ ƽ ƽ Ǧ Ǧ Jetzt hier bewerben: Fachseminar für Altenpflege Am Mergelteich ǀ ȟȢ Ǧ ȟȟȝȝȠ ƿ țȝ ȞȜ - ȢȜ țȢ ȞȞȤ ǀ ʭ ǀ Fachseminar für Altenpflege ò ǀ ȡȤ Ǧ ȡțȟȞȞ ƿ ț ȡȤ - ȠȞț ȤȞ ȜȠȞ ǀ ǂ ʭ ǀ Berufsfachschule für Altenpflege Û ¤ ǀ Ȥ Ǧ ȢțȠȤȤ ƿ ț ȢȠ Ƞȟ - Ȥȣ ȤȤ ȣȟț ǀ ǂ ǀ

Mehr Infos auch unter: www .nik odemuswerk.de www.nikodemuswerk.de


60

Buchbesprechungen

Andrea Trost, Stefan Rogge

Umgang mit Menschen im Maßregelvollzug Basiswissen

D

er Anspruch, den die Pflegeexpertin Andrea Trost und der Pflegeentwickler Stefan Rogge mit dem Buch „Umgang mit Menschen im Maßregelvollzug“ anmelden, ist so hoch, dass ihm erst einmal entsprochen werden muss. Die geweckte Erwartung des Lesers ist groß. Trost und Rogge enttäuschen nicht. Sie beschreiben den State of the Art der psychiatrischen Pflege in der Forensik. Und sie erreichen noch mehr: Sie zeigen, dass die psychiatrisch Pflegenden in diesem spezifischen Arbeitsfeld nachhaltig Hausaufgaben zu machen haben. Kern ihres praxisorientierten und gut lesbaren Buchs ist die Beschäftigung mit verschiedenen recovery-orientierten Konzepten. So stellen sie unter anderem Möglichkeiten vor, wie das „Gezeitenmodell“ (Barker & Buchanan-Barker) im forensisch-psychiatrischen Alltag umgesetzt werden kann. Sie erklären: „Die Erfahrungen der Betroffenen im individuellen Umgang mit ihrer Erkrankung und deren Integration in den Lebensalltag waren die Grundlage für das Konzept.“ An einem Praxisbeispiel erläutern sie, wie der fokussierte Blick des Betroffenen auf eine Krankheitszuschreibung umzukehren versucht wird. Der untergebrachte Mensch wird er-

mutigt, seine Geschichte mit seinen Worten zu erzählen und wieder zurückzugewinnen, was in seiner Biografie vor der psychiatrischen Klinik geschehen ist. Überhaupt liegt die Einbeziehung zeitgemäßer Konzepte in die psychiatrische Pflege im Maßregelvollzug Trost und Rogge am Herzen. Sie zeigen, wie die Adherence-Therapie auf die Forensik übertragen werden kann. Sie unterstreichen, wie wichtig „Experienced Involvement“, also die Einbeziehung psychiatrie-erfahrener Menschen in die konkrete stationäre Arbeit, ist. Es könne ein Paradigmenwechsel vollzogen werden, „indem Mitarbeitende von den Betroffenen aus erster Hand erfahren, was ihnen gutgetan hat oder noch immer guttut, was sie sich im Umgang mit Professionellen wünschen“. Insofern gehen Trost und Rogge deutlich über die Gegenwart hinaus, deuten an, über welche Hindernisse psychiatrisch Pflegende im Maßregelvollzug in den kommenden Jahren noch springen müssen, um die Professionalisierung der psychiatrischen Pflege voranzutreiben. Über sämtliche angesprochenen Themen wie Milieu- und Beziehungsgestaltung hinweg werden die Spezifika der psychiatrischen Pflege im forensischen Umfeld deutlich. Schließlich scheint es mehr als notwendig, die eigene Haltung im Umgang mit Menschen zu reflektieren, die gesellschaftlich eher unerwünscht sind. Eine positive, konstruktive Grundhaltung gelte es zu entwickeln, so Trost und Rogge.

Dies muss im Spannungsfeld zwischen einer gewünschten Humanität, einem gesellschaftlichen Auftrag und einer oft systemimmanenten Lebendigkeit gelingen. Pragmatisch blicken die beiden Pflegenden Trost und Rogge auf Phänomene, die sie wahrscheinlich selbst erleben oder erlebt haben. Die Haltung von Mitarbeitenden gegenüber den untergebrachten Menschen zeige sich darin, wie in Dienstübergaben über sie geredet werde oder wie sie in Entscheidungsprozesse im stationären Alltag eingebunden seien. Ein Ausdruck der persönlichen Haltung sei auch das Sich-Verstecken hinter institutionellen Regeln. An Deutlichkeit mangelt es dem Buch nicht. Es gehört in das Bücherregal eines jeden, der gegenwärtig im Maßregelvollzug pflegerisch, aber auch in anderen psychiatrischen Professionen tätig ist. Gespannt sein kann man, was passiert, wenn Trost und Rogge die Entwicklungen der nächsten Jahre begleiten und den Stationsschlüssel mit dem Schreibtisch tauschen. Christoph Müller, Fachautor und Krankenpfleger auf einer forensischen Station, Bornheim

Psychiatrie Verlag, Köln 2016, 160 Seiten, 17,95 Euro


Buchbesprechungen

Alina Bronsky, Denise Wilk

Die Abschaffung der Mutter Kontrolliert, manipuliert und abkassiert – warum es so nicht weitergehen darf

S

chon lange nicht mehr hat mich die Lektüre eines (Sach)Buches mit solch gemischten Gefühlen zurückgelassen. Zwei Frauen, Schriftstellerin die eine, Doula die andere, wagen sich an eine Bestandsaufnahme, wie es um das Muttersein in Deutschland bestellt ist. Das Inhaltsverzeichnis verspricht Interessantes: Themen wie assistierte Fortpflanzung, Geburt, Stillen, Wochenbett, Kinderbetreuung und nicht zuletzt die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf werden diskutiert. Tenor aller Kapitel ist der Wunsch der Autorinnen, als Mutter wertgeschätzt und nicht nur als Produktionsstätte (bei künstlicher Befruchtung oder Leihmutterschaft), als risikobehaftetes Wesen (während der Schwangerschaft) oder als lästiges Übel (in Kitas und Schulen) gesehen zu werden. Das Kapitel zu Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett hat mir gut gefallen. Kritisch beleuchten Bronsky und Wilk, wie Frauen entmündigt werden, keine Unterstützung erfahren. Sie prangern an, dass Schwangerschaft per se als risikobehafteter Zustand gesehen wird: „Nie vorher und nie nachher sehen die meisten deutschen Frauen eine Arztpraxis so häufig von innen wie in ihrer Schwangerschaft.“ Im Kapitel über die Geburt machen die Autorinnen deutlich, wie auch diese „körperliche und psychische Grenzsituation“ überwacht und manipuliert wird und so ihre Normalität verliert. Auch mit dem zurzeit sehr kontrovers diskutierten Thema Stillen setzen sie sich auseinander: „Ein Kind an der Brust zu ernähren gehört genauso zu uns Menschen wie das Laufen auf zwei Beinen und das Atmen mit Hilfe der Lungen.“ Sie plädieren für das Stillen in der Öffentlichkeit und prangern die Doppelmoral unserer Gesellschaft an, in der Facebook-Bilder von stillenden Frauen gelöscht werden und gleichzeitig kaum eine Werbung ohne (halb)nackte Frauenkörper auskommt. Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit Kinderbetreuung, Vätern und der Vereinbarkeit von Kindern und Beruf. So oft ich beim Lesen der ersten Hälfte des Buchs genickt habe, umso mehr Bauchschmerzen bereitet mir der zweite Dr. med. Mabuse 223 · September / Oktober 2016

Teil. Die Autorinnen werden nicht müde zu betonen, dass sie kein Lebensmodell grundsätzlich kritisieren oder gar verteufeln wollen und doch entsteht gerade dieser Eindruck bei mir. Ich kann nicht nachvollziehen, warum sie das Engagement von Vätern so kritisch sehen. Sicher gibt es immer Vertreter, die es übertreiben, die mit der Durchsetzung ihrer Interessen ihren Kindern mehr schaden als nutzen, doch mir scheinen das Einzelfälle zu sein, und beim Lesen des Kapitels „Der Vater als bessere Mutter“ werde ich auch nicht vom Gegenteil überzeugt. Ähnlich ergeht es mir bei den Ausführungen zur Fremdbetreuung von Kindern. Das Angebot ist hier bunt und vielfältig, dessen bin ich mir bewusst. Doch warum werde ich den Eindruck nicht los, dass Bronsky und Wilk hier eben doch missionieren wollen und ein SchwarzWeiß-Bild entwerfen? Sie betonen, dass es ihnen nicht darum geht, „Krippen und Kindergärten grundsätzlich zu dämonisieren“. Doch das gepaart mit dem Hinweis auf dem Klappentext, dass beide insgesamt zehn Kinder haben, lässt mich vermuten, dass es für sie eben doch nur den einen richtigen Weg gibt, seine Kinder groß zu ziehen. Im letzten Kapitel schreiben die beiden von ihrer „Utopie: Wie wir mit Kindern leben wollen“. Viele ihrer Wünsche sind auch meine: eine grundsätzlich positive Resonanz gegenüber Familien, ein sorgsamer Umgang mit Reproduktionsmedizin, Respekt gegenüber Schwangeren und Stärkung ihrer Eigenverantwortung sowie Wahlfreiheit des Geburtsortes. Das von den Autorinnen ausgemachte Eltern-Bashing nehme ich nicht so wahr und ich kann auch nicht unterschreiben, dass „Mütter in Deutschland gerade in den letzten Jahren deutlich an Stärke, Ansehen und Respekt eingebüßt“ haben. Und wenn doch, dann sollten wir uns meiner Meinung nach alle an einen Tisch setzen und nicht einem gut gemeinten Buch den reißerischen Untertitel „Kontrolliert, manipuliert und abkassiert – warum es nicht so weitergehen darf“ verpassen. Katharina Kerlen-Petri, Hebamme, Berlin

DVA, München 2016, 256 Seiten, 17,99 Euro

Hans-Ulrich Dallmann, Andrea Schiff

Ethische Orientierung in der Pflege

D

ie Autoren, beide Hochschulprofessoren im Bereich des Gesundheitsund Sozialwesens, Andrea Schiff für Pflegewissenschaft und Hans-Ulrich Dallmann für Ethik, stellen mit ihrem Buch grundlegende ethische Aspekte der Pflege vor. Durch das AutorInnen-Duo entstand ein leicht verständliches, gut gegliedertes und perspektivreiches Studien- oder Lesebuch. Es nimmt Anleihen aus dem Studienbuch „Ethik in der Sozialen Arbeit“ von HansUlrich Dallmann und Fritz-Rüdiger Volz (2013) auf. Die einzelnen Kapitel stehen für sich und stellen ein Ganzes vor. Voraussetzungen pflegerischen Handelns werden in den ersten fünf Kapiteln (Die guten Gründe – Sich in der Pflege orientieren; Der gute Mensch – Anthropologische Aspekte für die Ethik der Pflege; Gesundheit und Krankheit; Das gute Leben und Sterben; Die guten Pflegenden) erörtert. Die gute Patientin, Bewohnerin sowie das gute pflegerische Handeln stehen in den Kapiteln 6 und 7 im Zentrum des Geschehens. Flankiert wird diese Erörterung von den Rahmenbedingungen pflegerischen Handelns in den Kapiteln 8 bis 12 (Das gute Team; Die gute Einrichtung; Die gute Profession, Die gute Pflegewissenschaft und -forschung; Die „gute Policey“). Zum Abschluss thematisieren die AutorInnen im Kapitel 13 die gute Urteilsbildung. Die inhaltliche Breite des gesamten Buches führt nicht zur Verflachung der Aussagen in den einzelnen Kapiteln. Diese stellen den Dreh- und Angelpunkt dar, indem der Leser sich die Frage stellen kann: Was ist mir wichtig und woran orientiere ich mich? Was leitet mein Handeln? Oder, wovon wird mein Handeln beeinflusst? Dallmann und Schiff fordern die LeserInnen mithin auf, sich mit sich selbst über den Text auseinanderzusetzen. Sie geben keine Rezepte, sondern Denkanstöße, ja, wollen sogar zur kritischen Reflexion anregen. Es geht ihnen folglich darum, dass die LeserInnen ihre Standpunkte klären und ihre Orientierungspunkte überprüfen (theologisch: Was ist mir heilig? ethisch: Was ist mit guten Gründen anzustreben?). Mit dem Spruch von Immanuel Kant „sapere audere“, „Habe

61


62

Buchbesprechungen

Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, geht es folglich um ein „sich selbst aufklären“, wobei das Buch in diesem Sinne als Medium dient. Exemplarisch kann dies an Kapitel 7 – Das gute pflegerische Handeln – verdeutlicht werden. Dieses Handeln steht im Zusammenhang mit den sozialpolitischen Vorgaben (Kapitel 12), den Bedingungen der Einrichtung (Kapitel 9), den Möglichkeiten im Team (Kapitel 8), dem State of the Art-Wissen (Kapitel 11), den Voraussetzungen pflegerischen Handelns (Kapitel 1 bis 5) sowie der Urteilsbildung (Kapitel 13). Pflegende werden hier aufgefordert, ihr Entscheidungshandeln im Kontext fallorientierter Bedürftigkeit zu überprüfen. „Schließlich setzt die Zuschreibung von Verantwortung voraus, dass die Betreffenden auch anders hätten handeln können. Es müssen Alternativen vorgelegen haben“, heißt es. Alternativ werden folgende Entscheidungsgründe angeführt: Handle ich fachwissenschaftlich, paternalistisch, folge ich den Praxisroutinen und/oder handle ich verständigungsorientiert? Kritisch anzumerken ist, dass die Kapitelüberschrift „Die gute Patientin, Bewohnerin“ eine normative Assoziation auslösen kann. Hier hätte man auf das Adjektiv „gute“ verzichten können. Darüber hinaus wären am Ende jedes Kapitels Reflexionsfragen zum Finden eines eigenen Standpunktes und zur Orientierungsbestimmung hilfreich, um den kritischen Reflexionsprozess anzuregen. Das Kapitel 13 ist mit seinen sechs Seiten zur Herausbildung einer kritischen Urteilsfähigkeit, ohne Kontextualisierung und nur mit einem werte-ethischen Ansatz hinterlegt, erweiterungsfähig. Insgesamt ist das Buch von Dallmann und Schiff für Studierende und interessierte LeserInnen sehr empfehlenswert. Es kann sowohl im Ganzen als auch kapitelweise gelesen werden. Es regt die LeserInnen zum Nachdenken, Überdenken und Querdenken der „Ethischen Orientierung in der Pflege“ an. Prof. Dr. Wolfgang M. Heffels, Professor für Ethik und Erziehungswissenschaft an der Kath. Hochschule NRW

Mabuse Verlag, Frankfurt am Main 2016, 157 Seiten, 19,95 Euro

Cornelius Borck

Medizinphilosophie zur Einführung

C

ornelius Borck, Direktor des Instituts für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität Lübeck, zieht mit diesem Band eine neue Blickebene ein: Medizinphilosophie will über Medizin reflektieren, das Feld also weder den Ärzten/Medizinerinnen überlassen noch sich auf medizinhistorische oder -ethische Herangehensweisen beschränken, die historische Kontexte bzw. grundlegende Werte und Normen der Medizin betrachten. Seit der Einführung der Medizinethik bzw. des Querschnittsbereichs Geschichte-Theorie-Ethik der Medizin rangeln sich Medizinethikerinnen und Medizinhistoriker um die Zuständigkeit – Medizintheorie führt ein Nischendasein. Auf gut 200 Seiten gelingt Borck ein grandioser Wurf, weil er diesen Auseinandersetzungen nicht folgt. Er wendet sich hingegen den methodischen Grundlagen innerhalb der Medizin sowie den Bedeutungen und dem Wandel grundlegender Begrifflichkeiten zu. Heutzutage ist die Medizin leistungsfähiger denn je, und doch fühlt sich die/der Einzelne immer kränker, mit Diagnosen behaftet, einem System und vielen verschiedenen Konzepten ausgeliefert. Borck überblickt die medizinische und medizinhistorische Reflexion nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch auf der anderen Seite des Atlantiks. Er hat sich tief eingegraben in die Vorstellungen und Folgen von Gesundheit und Kranksein. In seinem Ansatz verfolgt er die von Hans-Jörg Rheinberger geprägte Erkenntnisphilosophie, die historische Bedingungen untersucht und fragt, wie Objekte des Wissens entstehen oder generiert werden. Die Publikation gliedert sich in sechs Teile, wobei drei davon das meiste Gewicht bekommen: die Reflexion darüber, was „Gesundheit“ ist, die Praxeologie, also die Medizin als Handlungswissenschaft und die Frage nach der künftigen Ausrichtung der Medizin. Borck gibt einen Einblick in die Intentionen und Hintergründe der theoretischen Autoren – u.a. Ludwik Fleck, Michel Foucault, Georges Canguilhem und Viktor von Weizsäcker. Die Entstehung einer Krankenhausmedizin, wo nicht mehr der Arzt den Patienten besucht, sondern die Patientin sich für

Diagnose und Therapie in eine Klinik begibt, wird klug und klar vermittelt. In gut nachvollziehbaren Schritten entwickelt der Autor, wie sich die Medizin durch das Bedienen an naturwissenschaftlicher Methodik und die Einführung der Labormedizin zur Biomedizin umformte – auch ein Exkurs über den Menschenversuch in der Medizin fehlt hier nicht. Der Gesundheit stellt Borck eben nicht die Krankheit gegenüber, sondern das Kranksein und bricht damit eine Beharrungstendenz auf, die insbesondere in der deutschen Medizintheorie verbreitet ist. Wir dürfen auch anders denken und andere Begriffe verwenden – und so geht es um Kranksein und Wohlbefinden. Die Kategorisierung von Krankheiten nach Laborparametern führt zu einer biowissenschaftlichen Medizin, in der Symptome und Krankheitswert hinter objektivierbaren Parametern zurückstehen. Im Abschnitt zur Praxeologie reflektiert Borck, wie und unter welchen Grundannahmen Ärzte handeln, welche Formen von Medizin entstehen – als Handlungs- und eben nicht als eine Naturwissenschaft. Er widmet sich vor allem der evidenzbasierten Medizin, bei der der statistische Wirksamkeitsnachweis einer medikalen Handlung oder eines Medikaments im Zentrum steht. Borck demaskiert die zugehörige Terminologie mithilfe seiner philosophischen Werkzeuge. Notwendigerweise klammert er einige Felder aus – so die Psychiatrie und auch alternative medikale Kulturen – nicht jedoch, weil er davon nichts versteht oder nichts hält, sondern weil sie für seine Argumentation hier nicht notwendig sind. Zielpublikum dieses zum Diskutieren und Reflektieren anregenden Buches sind Menschen, die gerne einen anspruchsvollen und dennoch verständlichen Text lesen – eben nicht nur ÄrztInnen, denn mit dem Medizinsystem oder Konzepten von Kranksein und Gesundfühlen kommen wir alle qua unserer Leiblichkeit in Berührung. Dr. Marion Hulverscheidt, Ärztin und Medizinhistorikerin, Kassel

Junius, Hamburg 2016, 232 Seiten, 14,90 Euro Dr. med. Mabuse 223 · September / Oktober 2016


Bücher für starke Kinder im Mabuse-Verlag

Andrea Hendrich, Monika Bacher, Ulrich Koprek Yunis und Aziza 3 Ein Kinderfachbuch über Flucht und Trauma Die Flüchtlingskinder Yunis und Aziza sind neu im Kindergarten. Wie sie sich fühlen und wie Erwachsene und Kinder mit ihnen umgehen können, zeigt dieses sensible Kinderfachbuch auf. Gerichtet an alle, die Kindern das Thema Flucht und Trauma behutsam und verständlich erklären wollen. 2016, 49 S., gebunden, vierfarbig, 16,95 EUR, Nr. 202315

Anne Südbeck Papa Panda ist krank 3 Ein Bilderbuch für Kinder mit depressivem Elternteil

Regina Deertz, Leonie Rösler Mondpapas 3 Ein Buch für Kinder mit abwesenden Vätern

Der junge Pandabär Paul liebt es, mit seinem Vater zu spielen. Doch in letzter Zeit will Papa nicht mehr, er hat zu gar nichts mehr Lust. Die Eltern streiten sich jetzt oft. Paul hat Angst, dass Papas seltsames Verhalten seine Schuld sein könnte. Doch als er seiner Mutter davon erzählt, erklärt sie ihm, dass Papa krank ist. Er hat eine Depression. Das Buch bearbeitet insbesondere die Angst von Kindern, Schuld am Verhalten der Eltern zu sein. 2016, 69 S., gebunden, vierfarbig, 16,95 EUR, Nr. 202296

„Wo ist Papa? Warum holt er mich nicht vom Kindergarten ab?“ Ist ein Vater dauerhaft abwesend, sind solche Fragen schwer zu beantworten. Schnell wird es emotional. Oft sind die Gründe komplex. Das Buch gibt Erklärungen an die Hand, um die Situation altersgerecht verständlich zu machen. Liebevolle Zeichnungen und ein Ratgeberteil machen es zu einer wertvollen Hilfe für das Gespräch mit kleinen Kindern. 2. Aufl. 2016, 45 S., gebunden, vierfarbig, 12,90 EUR, Nr. 202230

Anette Temper Schattenschwester 3 Ein Kinderfachbuch für Kinder mit einem depressiven Geschwisterkind Dieses Buch thematisiert Ängste und Gefühle bei der Depression eines Geschwisterkindes und zeigt Wege des Umgangs mit der Situation in einfachen Sätzen und schönen Bildern auf. Abgerundet durch einen Kinderfachteil bietet es (nicht nur) für Eltern die Möglichkeit, psychische Erkrankungen und die mit ihnen verbundenen Ängste und Fragen von Kindern sensibel zu thematisieren. Das Buch richtet sich an Kinder ab dem Kindergartenalter. 2016, 72 S., 16,95 EUR, Nr. 202308

Schirin Homeier, Andreas Schrappe Flaschenpost nach irgendwo 3 Ein Kinderfachbuch für Kinder suchtkranker Eltern

Schirin Homeier Sonnige Traurigtage 3 Ein Kinderfachbuch für Kinder psychisch kranker Eltern

Schirin Homeier, Irmela Wiemann Herzwurzeln 3 Ein Kinderfachbuch für Pflege- und Adoptivkinder

Irgendwas muss sich ändern: Marks Papa trinkt zu viel, die Eltern streiten nur noch, und in der Schule geht alles drunter und drüber. Einfühlsam, liebevoll illustriert und im bewährten Stil des Buches „Sonnige Traurigtage“ erhalten Kinder von suchtkranken Eltern durch eine Bildergeschichte und einen altersgerechten Erklärungsteil Hilfestellung für ihren Alltag. Ein Ratgeber für erwachsene Bezugspersonen und Fachkräfte rundet das Kinderfachbuch ab. 3. Aufl. 2015, 143 S., gebunden, vierfarbig, 22,90 EUR, Nr. 00117

In letzter Zeit ist mit Mama etwas anders: sie ist so kraftlos und niedergeschlagen. Auf diese „Traurigtage“ reagiert Mona wie viele Kinder psychisch kranker Eltern: Sie unterdrückt Gefühle von Wut oder Traurigkeit, übernimmt immer mehr Verantwortung und sehnt sich nach glücklichen „Sonnigtagen“. Erst als sich Mona einer Bezugsperson anvertraut, erfährt sie, dass ihre Mutter unter einer psychischen Krankheit leidet und fachkundige Hilfe benötigt. 6. Aufl. 2014, 127 S., gebunden, vierfarbig, 22,90 EUR, Nr. 01416

Durch eine liebevoll illustrierte Bildergeschichte und einen altersgerechten Informationsteil erhalten Pflege- und Adoptivkinder sowie deren Bezugspersonen in diesem Buch Erklärungen und Anleitungen, um ihre spezielle Situation besser zu verstehen und anzunehmen. Ein prägnanter Ratgeberteil für Erwachsene rundet das Kinderfachbuch ab. 2016, 175 S., gebunden, vierfarbig, 22,95 EUR, Nr. 202226

Carolina Moreno Alexandra Haag

Mabuse-VerlagMabuse-Verlag

Alexandra Haag Paula und die Zauberschuhe 3 Ein Bilderbuch über körperliche Behinderung Paula ist ein Vorschulkind und fährt einen Rollator. Auch wenn in ihrem Körper eine Spastik wohnt, geht sie mit ihren körperlichen Herausforderungen ganz natürlich um. Paula weiß, was sie will und was sie kann – und ist meistens fröhlich. Wenn sie aber mit ihrer körperlichen Behinderung an ihre Grenzen kommt, kann sie richtig sauer oder traurig werden. Das liebevoll illustrierte Buch wendet sich an alle, die mit Vorund Grundschulkindern zum Thema Infantile Cerebralparese (ICP), Körperbehinderung und Spastiken lesen möchten. 2017, 56 S., 16,95 EUR, Nr. 202317

www.mabuse-verlag.de

Fordern Sie unseren Verlagsprospekt an und abonnieren Sie unseren Newsletter!


60

Buchbesprechungen

Jon Palfreman

Stürme im Gehirn Dem Rätsel Parkinson auf der Spur

E

s hat schon viele wissenschaftliche Bücher gegeben, von denen gesagt wurde, sie seien spannend wie ein Krimi – meist entpuppte sich das als Euphemismus im Dienste der Werbung. Die „Stürme im Gehirn“ von Jon Palfreman sind da eine rühmliche Ausnahme. Das Buch erweist sich als „Pageturner“ der Extraklasse, den man in einer Nacht durchlesen könnte – wenn das nicht zu schade wäre, da man dann zu wenig davon hat. Der bereits mehrfach preisgekrönte Journalist und emeritierte Professor für Journalismus der Universität Oregon, Jon Palfreman, erlebte 2011 an sich selbst, wie die Diagnose Parkinson alles veränderte: sein Leben ebenso wie seine Persönlichkeit. Wie schon viele Journalisten vor ihm wählte er, um mit diesem Schicksalsschlag fertig zu werden, die Flucht nach vorne, die intensive Beschäftigung mit dem Thema. Mit der Hartnäckigkeit eines Forschers studierte er Parkinson, bis er zum Spezialisten in eigener Sache wurde. Herausgekommen ist ein Buch, das einem – außergewöhnlich gut erzählt – die Geschichte dieser von James Parkinson vor 200 Jahren zuerst beschriebenen Krankheit nahebringt. Palfreman erzählt von spektakulären Fällen, wie dem von sechs Drogensüchtigen, die durch verunreinigten „Stoff“ im Schnelldurchgang an Parkinson erkrankten und durch ihr tragisches Los der Wissenschaft eine Fundgrube an Erkenntnissen boten. Er nimmt die Leser mit auf einen Gang durch das Gehirn, bei dem die Zusammenhänge der verschiedenen Strukturen anschaulich werden. Über vieles hat man möglicherweise noch nie nachgedacht, zum Beispiel über die Basalganglien, die uns automatisierte Bewegungsabläufe überhaupt erst ermöglichen. Der Autor stellt Therapieansätze wie die sogenannte „deep brain stimulation“ vor, auch unter dem Begriff „Gehirnschrittmacher“ in der Öffentlichkeit bekannt, und sondiert so weit wie möglich zwischen Versprechungen, Erwartungen und nachgewiesenen Ergebnissen. Er beschreibt verblüffende Beobachtungen bei Therapieversuchen mit Bewegung. Man weiß ja, dass heute eigentlich bei jeder Erkrankung – außer vielleicht bei Fußpilz – körperliches Training zur Standardemp-

fehlung gehört, bei Parkinson ergab sich eine spannende Besonderheit: Programme, bei denen der Patient dazu gebracht wurde, mehr zu leisten, als es dem eigenen Rhythmus entsprach, zeigten auffallende Erfolge. Wer auf einem Tandem hinten als „Heizer“ fuhr und nicht vorne als „Kapitän“ die Geschwindigkeit vorgeben konnte, erfuhr eine auffallende Reduktion seines Tremors. Schließlich erklärt Palfreman die neusten Forschungsansätze über „falsch gefaltete“ Eiweißstücke im Organismus, die auch anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie zum Beispiel Alzheimer zugrunde liegen. Hier könnten die Grundlagen zukünftiger Therapien zu finden sein. Für Ärzte ist immer die Heilung das Ziel, aber in diesem Buch lernt man auch, dass es das eigentliche Herzstück der ärztlichen Kunst ist, das Leben mit einer solchen Krankheit zu erleichtern, zumal bei einer unheilbaren. Es ist allgemein üblich, dass Autoren einer Rezension statt eines Entgeltes das besprochene Buch erhalten, in diesem Fall ist es eines der besten Honorare, das ich je bekommen habe. Sonja Chevallier, Hamburg

Beltz Verlag, Weinheim 2016, 320 Seiten, 22,95 Euro

Verena Rothe, Gabriele Kreutzner, Reimer Gronemeyer

Im Leben bleiben Unterwegs zu Demenzfreundlichen Kommunen

V

or mehr als zehn Jahren gründete die Robert Bosch Stiftung die Initiative „Gemeinsam für ein besseres Leben mit Demenz“ mit dem Ziel der Vernetzung verschiedener Fachgebiete. Mithilfe des Netzwerks sollten die Disziplinen Medizin, Pflege, Soziologie und Sozialarbeit die Wirkung von Beispielen aus der Praxis aufzeigen, Lücken in der Versorgung aufspüren und neue Ansätze erproben. Aus der gemeinsamen Arbeit entwickelte sich rasch ein Verein gleichen Namens. Die Stiftung erarbeitete ein Förderprogramm, das Initiativen dabei unterstützt, innerhalb von Kommunen bürgerschaftliches Engagement und Demenz in ein neues Verhältnis zu setzen. Fast 80 Projekte sind

zwischen 2008 und 2015 in das Förderprogramm aufgenommen worden. Das vorliegende Buch kann als Prozessbeschreibung, Abschlussbericht und/oder Ideensammlung gelesen werden. Der Theologe und Soziologe Reimer Gronemeyer geht in seinem Beitrag auf die Anfänge der Initiative ein. Er stellt die Frage: „Was tun wir, um Orte zu schaffen, an denen wir im Leben bleiben können – statt nur am Leben?“ Damit stellt er der „Demenz-Bürokratie“ die Notwendigkeit von „Demenz-Allianzen“ gegenüber. Er warnt davor, „Lokalität in die planenden Hände von Bürokraten“ geraten zu lassen und plädiert für ein Ansammeln von „kulturellem Humus“, um „die Kommune mit einer neuen Schicht zu bedecken, die Gemeinsamkeit wachsen lässt“. Die Soziologin und Projektleiterin Verena Rothe erläutert im Anschluss umfangreich und detailliert das Programm „Menschen mit Demenz in der Kommune“. Sie beschreibt zum Beispiel die Auswahl der Projekte, die Zielgruppe, die Vielfalt der Ideen, unterschiedliche Themen und Aktionen, gewählte Methoden und erzielte Wirkungen sowie die Evaluation. Die Autorin verweist auf symbolische Aktionen und Sensibilisierung der Öffentlichkeit, Migration und Kultursensibilität, Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement, Erfahrungsaustausch und Konkurrenz. Die Kultur- und Medienwissenschaftlerin Gabriele Kreutzner widmet sich im dritten Beitrag der Frage: „Aktion Demenz – bis wohin sind wir gekommen?“ Sie verweist dabei auf Außenwirkungen durch Sensibilisierung mittels medialer Aufmerksamkeit und versucht sich in einer begrifflichen Klärung der Schlagworte: Versorgung – Sorge – Care, erkundet die Neuerfindung nachbarschaftlichen Miteinanders und propagiert: „Neues Kümmern braucht das Land“. Abschließend werden (nach Bundesländern geordnet) alle Projekte aufgelistet, die durch die Robert Bosch Stiftung gefördert wurden. Somit können LeserInnen direkt Kontakt aufnehmen und sich mit Informationen versorgen. Die Notwendigkeit von kreativen Lösungen in demenzfreundlichen Kommunen zeigt der Ende 2016 erscheinende „7. Altenbericht der Bundesregierung“ mit dem Titel „Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften“. Folglich ist das vor über zehn Jahren initiierte Dr. med. Mabuse 224 · November / Dezember 2016


Projekt als Trendsetter zu verstehen und thematisch in den zuständigen Ministerien auf Bundesebene angekommen. Karl Stanjek, M.A., FH Kiel Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit transcript Verlag, Bielefeld 2015, 288 Seiten, 24,99 Euro

Thomas Hartung, Eike Hinze u. a.

Wie viel Richtlinie verträgt die Psychoanalyse? Eine kritische Bilanz nach 50 Jahren Richtlinien-Psychotherapie

D

rei Mitglieder der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV), die sich für die „hochfrequente Psychoanalyse“ einsetzt, blicken auf 50 Jahre Psychotherapierichtlinie zurück, die zuletzt 2016 vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) aktualisiert wurde. Diese Richtlinie und der im Psychotherapeutengesetz verankerte und von der Bundesärzte- und Bundespsychotherapeutenkammer geleitete „Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie“ bestimmen maßgeblich, welche Formen von Psychotherapie in welchem Umfang und mittels welcher Genehmigungsprozeduren von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert werden. In sechs Kapiteln geht es in Variationen darum, die Entwicklung und den Einfluss dieser Richtlinie vor dem Hintergrund der Geschichte der Psychoanalyse (PA) in Deutschland zu beschreiben und zu interpretieren. Ziel dieser Publikation ist in erster Linie, noch einmal die Grundsatzdebatte um den besonderen Stellenwert der Psychoanalyse im Allgemeinen und die von der DPV favorisierten vierstündigen PA ins Gespräch zu bringen. Die Argumentationskette beginnt mit der Feststellung, dass Sigmund Freud den medizinischen Krankheitsbegriff nicht akzeptierte, dass er sich ausdrücklich gegen die Vereinnahmung der PA durch die Medizin wandte und es der PA nicht um Symptombekämpfung gehe. Schäfer schreibt dazu: „Die Psychoanalyse erarbeitet mit dem Patienten jedes Mal aufs Neue ein tieferes Verständnis unbewusster Konfliktdynamik und somit eine Steigerung an Freiheitsgraden von Lebensbewältigung“. Psychoanalytiker können Dr. med. Mabuse 224 · November / Dezember 2016

unter der Überschrift „Analytische Psychotherapie“ zunächst bis zu 160 Stunden, maximal 300 Stunden, auf Kosten der Krankenkassen durchführen. Dies ist für die DPV ein Kompromiss, der ihrer Vorstellung einer wöchentlich vierstündigen Analyse mit prinzipiell unbefristetem Verlauf widerspricht. Der Status quo wird von den Autoren vor allem im Lichte der Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Vertreter der PA und der sehr komplizierten Suche nach einem neuen Standort der PA nach 1945 prinzipiell als Fortschritt betrachtet. Damit ist die PA auch für diejenigen erreichbar, die sie sich aus Eigenmitteln unmöglich leisten könnten. Die Hauptkritik richtet sich dann aber auf den Einfluss, den die Richtlinie auf die neue Generation von Analytikern und vor allem auf das obligatorische Begutachtungsverfahren ausübt. Die Richtlinie führe zur Akzeptanz des medizinischen Krankheitsverständnisses und zur Beschränkung des erforderlichen Behandlungsumfangs: Das Akzeptieren der Richtlinie wird demzufolge als eine Art Unterwerfungsritual gedeutet. Damit wird der Leserschaft die Haltung der DPV eindrucksvoll nahe gebracht, auch durch – für einen Psychotherapie-Laien erstaunliche – narrative Passagen aus der Welt der PA. Der Rezensent (stellvertretendes Mitglied im G-BA, mit der Psychotherapierichtlinie allerdings nicht befasst) nimmt zur Kenntnis, dass die Begründungen für die Grundannahmen der DPV sehr knapp ausfallen. Man muss schon den wenigen Literaturhinweisen vor allem zur vergleichenden Psychotherapieforschung ausführlicher nachgehen, um sich ein eigenes Bild darüber zu machen, ob eine analytische Psychotherapie mit vier statt mit drei Sitzungen pro Woche tatsächlich überlegen ist oder wie es um den Standort der PA innerhalb der psychotherapeutischen Verfahren generell bestellt ist. Das Klagen über ungenügende Vergütungen teilt diese Darstellung nun aber mit allen interessengebundenen Publikationen im Feld der Gesetzlichen Krankenversicherung. So ganz schlecht ist die PA bislang jedenfalls doch wohl nicht mit der Aufnahme in die Richtlinie gefahren. Es sei daran erinnert, dass Ina Weigelt, Vorsitzende der Dt. Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT) von 1981 bis 1983, zum Streit zwischen den psychoanalytischen Gesellschaften der Zeitzeugin Regine Lockot zu-

Daniela Flemmings persönlichstes Buch zum Thema Demenz

Daniela Flemming

Neun Jahre Doris Ein Anruf der Schwester stellt klar, dass die vielgeliebte Tante nicht mehr allein zurechtkommt – Altersdemenz. Und nichts liegt näher, als Daniela darum zu bitten, sich um sie zu kümmern. Daniela Flemming ist Sachbuchautorin und Dozentin für die Pflege Demenzerkrankter. Doch sie lebt die Hälfte des Jahres auf einer kanarischen Insel, hat eine eigene Familie und mit der Heimat der als Journalistin und Autorin bekannten Tante nichts zu tun: Saarbrücken ist für sie Hotel und Familienbesuch, lange Anreise, irgendwo an der französischen Grenze. Sie wird Betreuerin der Tante und mit der realen, alltäglichen Seite dessen konfrontiert, was sie sonst wissenschaftlich bearbeitet. Aus der Bitte der Schwester werden neun Jahre Betreuung und eine Achterbahnfahrt zwischen Momenten der Nähe, des Triumphs über Hindernisse und Verzweiflung. ISBN 978-3-95602-105-3 192 Seiten, Hardcover, 14,90 Euro

www.conte-verlag.de


62

Buchbesprechungen

folge gesagt hat: „Als es um’s Geld ging, hörten die Konflikte auf“. „Mehr Geld“ – das ist die Melodie, auf die nach Niklas Luhmann das Gesundheitswesen am liebsten hört. Norbert Schmacke, Bremen

Psychosozial-Verlag, Gießen 2016, 139 Seiten, 19,90 Euro

Annette Leo, Christian König

Die „Wunschkindpille“ Weibliche Erfahrung und staatliche Geburtenpolitik in der DDR

I

m Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts beschäftigten sich die Historikerin und Publizistin Annette Leo und der Historiker Christian König mit der Geschichte der hormonellen Kontrazeption in der DDR, der sogenannten „Wunschkindpille“. Leo und König beziehen sich in ihrer Arbeit auf knapp 60 auf Oral History basierende Interviews. Oral History ist eine geschichtswissenschaftliche Methode, bei der die Interviewten – möglichst unbeeinflusst – frei erzählen sollen. Anscheinend erwies es sich als schwierig, InterviewpartnerInnen zu solch einem intimen Thema zu finden, was die Interviewenden dazu veranlasste, auf den eigenen Bekanntenkreis zurückzugreifen. Dies stellt insofern ein methodisches Problem dar, als dass die Anzahl der verwertbaren Texte für generelle Aussagen über die Aufnahme der Pille in der DDR zu gering erscheint, zumal sie sich auf unterschiedliche Generationen verteilen. Besonders das Interviewen von Bekannten wirft Fragen bezüglich der professionellen Distanz der Interviewer und etwaigen Hemmungen der Befragten gegenüber den Fragenden auf. Auch dominieren gut ausgebildete und eher städtisch lebende Frauen die Interviewten. Das Buch ist in drei Schwerpunkte unterteilt, die sich an den Generationen der „Kriegskinder“, der „Kinder des Aufbaus“ und der „Babyboomerinnen“ orientieren. Anhand der Interviews, zeitgeschichtlicher Exkurse und kontextueller Einbettungen erfahren die LeserInnen, unter wel-

chen wissenschaftlichen, ökonomischen und politischen Umständen die Pille in der DDR entwickelt, vermarktet und von den Frauen angenommen wurde. Dabei wird deutlich, dass sichere Kontrazeption ebenso wie die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ein wichtiges Anliegen der Frauen und Funktionärinnen war – ihre Durchsetzung auf höchster politischer Ebene war jedoch nur möglich, weil die Frauen als Arbeitskräfte für die wirtschaftliche Entwicklung der DDR benötigt wurden. Dies spiegelt sich auch im Umgang mit Nebenwirkungen der hormonellen Verhütung wieder. Waren es gerade diese Nebenwirkungen, die bei vielen Frauenärzten anfangs Skepsis gegenüber der Pille hervorriefen, wurden sie später heruntergespielt, um die Akzeptanz gegenüber der neuen Verhütungsmethode zu steigern. So ist das Buch nicht nur ein medizinund pharmaziehistorisches Werk, sondern ebenso wichtig in Bezug auf Frauenund Gesellschaftspolitik. Das Kapitel über die Geschichte des Schwangerschaftsabbruchs stellt eine wichtige Ergänzung dar; der Sinn des Abschnitts „Der männliche Blick“ erschloss sich mir angesichts des frauenfokussierten Projekttitels jedoch nicht ganz. Das Buch liest sich flüssig und ist auch für ein größeres Publikum als Einblick in einen bisher eher unerschlossenen Teil der DDR-Geschichte zu empfehlen. Dem Fachpublikum werden ein ausführlicher Fußnotenapparat und die vollständige Literaturliste fehlen. Auch macht es den Eindruck, als hätten sich Leo und König bei der Transkription der Interviews nicht ganz zwischen den LeserInnengruppen entscheiden können: Für eine populärwissenschaftliche Publikation sind die Interviews zu sehr im „O-Ton“ abgedruckt, für eine Fachpublikation jedoch meiner Meinung nach zu stark bearbeitet. Insgesamt ist es eine sehr interessante und gut geschriebene Publikation mit kleinen methodischen Schönheitsfehlern. Die Rezensentin ist mit Annette Leo bekannt. Sie erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Dr. Anja K. Peters, Dipl.-Pflegewirtin (FH), Medizinhistorikerin, Neubrandenburg

Wallstein Verlag, Göttingen 2015, 314 Seiten, 29,90 Euro

Christina Mundlos

Gewalt unter der Geburt Der alltägliche Skandal

A

ber beim nächsten Kind – da weiß ich es besser! Da werde ich mich und mein Kind zu schützen wissen“, so beschreibt es eine Frau in Christina Mundlos’ Buch, das nichts für schwache Nerven ist. Es ist systemkritisch, erschüttert und deckt ein bislang eher tabuisiertes Gewaltthema auf. Jede Frau befindet sich während der Geburt eines Kindes in einer der verletzlichsten Phasen ihres Lebens. In dieser sollte sie Unterstützung, Rückhalt und einen sensiblen Umgang mit ihrer Privatsphäre, Achtung ihrer Bedürfnisse, Würde, Rechte und Wünsche erfahren. Dass diese Aspekte mit der Realität teilweise gar nichts zu tun haben, machen die Erfahrungsberichte von betroffenen Müttern, Vätern, aber auch von Hebammen, Hebammenschülerinnen und -studentinnen sehr deutlich. Das Thema Gewalt unter der Geburt wird so aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet und ermöglicht einen lebhaften und gleichzeitig schockierenden Einblick. Dies sorgt bereits beim Lesen für ein Wechselbad der Gefühle. Christina Mundlos ist Soziologin und Autorin. In erster Linie geht es ihr um die Aufdeckung und Anerkennung der Tatsache, dass es Gewalt in der Geburtshilfe gibt und nicht länger als Behandlungsstandard akzeptiert werden darf. In diesem Zusammenhang verweist sie auf die herrschenden Missstände in der Geburtshilfe, auf Systemprobleme wie den Abbau von Beleghebammen, die hohen Arbeitsbelastungen in der Klinik, die Zeitverdichtungen und Beschleunigungen in der Behandlungsstruktur der Krankenhäuser. Sie deckt auf, dass der achtsame Umgang mit den Gebärenden und die Dauer einer natürlichen Geburt offensichtlich mit den Behandlungsstandards im Kreißsaal und der Einsparpolitik der Krankenhäuser kollidieren. „Viele Routinemaßnahmen stehen gar nicht erst zur Disposition; Frauen und Paare, die vom vorgesehenen Prozedere abweichen möchten, werden eher als Störfaktoren wahrgenommen und erfahren oft starke Widerstände“, erzählt eine Frau im Buch. Beschleunigungen des Geburtsvorgangs durch verschiedene medizinische Eingriffe sind dann die Folge. Die Dr. med. Mabuse 224 · November / Dezember 2016


Buchbesprechungen

Autorin stellt kritisch zu bedenken, dass die Krankenkassen aufgrund ihres Abrechnungswesens den Kliniken sogar finanzielle Anreize bieten, verstärkt in natürliche Geburten einzugreifen. Im letzten Teil des Buches richtet sich das Augenmerk auf Maßnahmen und politische Forderungen, für eine Veränderung der heutigen Geburtskultur – mit der Rückbesinnung auf mehr Menschlichkeit und Beziehung auf Augenhöhe. Immer wieder plädiert die Autorin für eine systematische Aufklärung. Das Fachbuch ist in sich stimmig und vom Aufbau gut strukturiert. Es regt die Auseinandersetzung mit einem Tabuthema an, hinterfragt kritisch und regt zu Diskussionen an. Die Autorin gibt einem bislang eher verschwiegenen Thema ein Gesicht. Allerdings wurden die Erfahrungsberichte, die den Kern des Buches bilden, nicht weiter wissenschaftlich analysiert. Auch der Schreibstil ist in sich noch nicht stimmig und von vielen Wiederholungen geprägt. Thematisch ist es jedoch ein zentrales Buch für die Enttabuisierung von Gewalt unter der Geburt, das mit zahlreichen Fachinformationen gefüllt ist. Carina Lagedroste, M.A. Erziehungswissenschaft, Bielefeld

Tectum Verlag, Marburg 2015, 217 Seiten, 16,95 Euro

Edgar Bierende, Peter Moos u. a. (Hg.)

Krankheit als Kunst(form) Moulagen der Medizin

V

on Lepra entstellte Gesichter, eitrige Abszesse und von einer fortgeschrittenen Syphilis-Erkrankung gezeichnete Körper – kaum jemand würde vermuten, solch erschreckende Krankheitsbilder in einer Ausstellung zu finden. Im Museum der Universität Tübingen MUT war dies der Fall: Unter dem Titel „Krankheit als Kunst(form)“ zeigte eine Schau, die maßgeblich von Studierenden konzipiert und umgesetzt wurde, zahlreiche sogenannte Moulagen, Wachsnachbildungen krankhaft veränderter Körperteile. Seit dem späten 19. Jahrhundert wurden die handgefertigten Modelle vorrangig als Lehrmittel in der Dermatologie genutzt. Neben der Dr. med. Mabuse 224 · November / Dezember 2016

Tübinger Hautklinik legte auch das Institut für Ärztliche Mission eine umfangreiche Sammlung an. Die zur Ausbildung von Tropenärzten angeschafften Moulagen zeigen nahezu „lebensecht“ die Symptome exotischer, zum Teil ausgestorbener Krankheitserreger. Ein Grund, warum die historischen Wachsmodelle auch heute noch immer MedizinerInnen faszinieren. Aber auch für Laien bot die nüchterne Darstellung der Objekte, die sich bewusst von Gruselkabinett-Effekten absetzte, mehr als nur einen „reizvollen Schrecken“. Die Ausstellung stellte vor allem die Nutzungs- und Entstehungskontexte beider Sammlungen in den Mittelpunkt. Eine inszenierte Werkstatt gab darüber hinaus Einblicke in die Anfertigungstechniken. Inwiefern die zur Einführung präsentierten Arbeiten der Tübinger Wachsbildhauer Johann und Wilhelm Haselmeyer tatsächlich als Wegbereiter der Moulagenfertigung zu sehen sind, ließ die Darstellung jedoch offen. Schuldig bleibt die Antwort leider auch der Katalog zur Ausstellung. Davon abgesehen lässt die Aufsatzsammlung jedoch nahezu keine Wünsche offen: Über 20 AutorInnen aus diversen Fachdisziplinen beleuchten das Objekt Moulage aus unterschiedlichen Perspektiven und liefern einen gelungenen Überblick. Ergänzt werden die Aufsätze durch einen umfassenden Katalogteil, in dem Studierende in kurzen Artikeln jeweils ausgewählte Objekte vorstellen. Insbesondere die Beiträge zu den bislang wenig bekannten Tübinger Moulagensammlungen und Wachsbildnern stechen dabei hervor, während die übrigen Beiträge nur wenig Neues zu liefern vermögen. Auch eine stärkere inhaltliche Abstimmung der einzelnen Beiträge hätte dem Sammelband gut getan, der bisweilen etwas redundant wirkt. Abgesehen von diesen Schwächen und kleineren Fehlern stellt er jedoch eine lesenswerte und hochwertig bebilderte Rundumschau zum Thema dar, die deutlich über die Begleitung der Ausstellung hinausgeht. Henrik Eßler, Historiker, Hamburg

Schriften der Universität Tübingen 2016, 350 Seiten, 24,90 Euro

KOFELGSCHROA BAAZ

CD & VINYL Mit dem Instrumentarium einer halben Blaskapelle, ergänzt durch Orgel, Zither und Klanggeschepper, einem Sprachsog aus Dialekt und Hochdeutsch, mit unverstellten Blicken in die ungesehensten Alltagswinkel, haben Kofelgschroa es geschafft, ihren ganz eigenen Kosmos in die Welt hinauszutragen – und nun haben sie mit BAAZ eine neue Umlaufbahn erreicht.

LAUT YODELN FERN-NAH-WEIT LAUT yodeln ist ein Mitschnitt des Yodel-Festivals in München, veranstaltet von Trikont und dem Münchner Kulturreferat. Im Mittelpunkt steht die Kulturtechnik des Yodelns, das „unartikulierte Singen aus der Gurgel“, das weltweit verbreitet ist. Den Beweis können Sie auf LAUT yodeln nachhören.

STIMMEN BAYERNS HIMMEL & HÖLLE Himmel & Hölle, scheinbar so gegensätzlich, aber oft ziemlich nah beieinander – kommts einem nur so vor, oder gilt das in Bayern ganz besonders? Eine einzigartige Enzyklopädie der bayerischen Seele. Gedichte, Kurzgeschichten, Essays, Musik, Songs und Sketche, Radiofeatures, Soundcollagen, Film-Tonspuren und O-Töne. Fordern Sie unseren kostenlosen Katalog an: Trikont, Kistlerstr. 1 Postf. 901055, 81510 München

UNSERE STIMMEN

www.trikont.de

63


64

Buchbesprechungen

Paula e. V., Martina Böhmer, Karin Griese (Hg.)

Ich fühle mich zum ersten Mal lebendig ... Traumasensible Unterstützung für alte Frauen

D

ie Herausgeberinnen widmen sich in ihrem Buch den verschiedenen Formen von Therapie und Beratung alter Frauen, die Gewalt und Traumatisierung erlebt haben. Nach einer einführenden Darstellung möglicher Gewalterfahrungen erhält der Leser in vier weiteren Kapiteln praxisnahe Beschreibungen traumasensibler Unterstützung. Autorinnen verschiedener Professionen beschreiben Therapieansätze aus ihrer jeweiligen fachlichen Perspektive und ergänzen diese um konkrete Handlungsanleitungen und Fallbeispiele. Diese Arbeitsansätze wurden von der Kölner Beratungsstelle Paula e.V. im Rahmen eines zweieinhalbjährigen Projektes zur traumasensiblen Unterstützung von alten bis hochaltrigen Frauen zusammengetragen. Sie geben BeraterInnen, PsychotherapeutInnen, aber auch Pflegekräften und Angehörigen hilfreiche Anregungen zur Stärkung und Stabilisierung betroffener Frauen. Luise Reddemann und Monika Hauser weisen in ihren Vorworten auf die Bandbreite struktureller Gewalt gegenüber Frauen hin. Besonders die „dunklen Schatten der Vergangenheit“ aus NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg wurden oft tabuisiert und

Werner Wollenbergers klassisch gewordene Erzählung: Die wohl anrührendste Weihnachtsgeschichte überhaupt.

totgeschwiegen. Möglichkeiten der Verarbeitung können auch Töchtern und Enkelinnen, die im Rahmen der transgenerationalen Weitergabe oft ebenfalls betroffen sind, und Frauen aus heutigen Krisengebieten zugutekommen. Die Langzeitfolgen von Gewalt und Traumatisierung können sich bei der Pflege und Versorgung von Zeitzeuginnen des Zweiten Weltkrieges in den unterschiedlichsten Formen zeigen. Inka Wilhelm gibt einen Überblick über mögliche Spätfolgen von Kriegstraumatisierungen und Konsequenzen für die Pflege. Martina Böhmer beschreibt sehr praxisnah die Entwicklung eines Handlungsleitfadens für die stationäre Altenpflege, der alle Lebensbereiche einbezieht und Anregungen zum Umgang mit auffälligen Verhaltensweisen gibt. Auch die Folgen mütterlicher Traumatisierung auf die nächste Generation und die Arbeit ambulanter gerontopsychiatrischer Dienste werden beschrieben. Psychotherapeutische und psychosoziale Ansätze bilden ebenfalls eine Möglichkeit zur Behandlung von Traumatisierungen. Anhand von exemplarischen Fallgeschichten werden die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT) und Therapien auf der Basis eines strukturierten Lebensrückblickes vorgestellt. Die Problematik der Abgrenzung von Traumafolgen und Demenzsymptomen wird erläutert und umfassend diskutiert. Ein weiterer Schwerpunkt des Buches liegt auf der Biografiearbeit. Das Erzählen

oder Aufschreiben der Erlebnisse wirkt stabilisierend auf betroffene Frauen. Gleichzeitig wird aber dargelegt, dass das wiederholte Erzählen auch zu psychischer Belastung und zu Trauma-Reaktivierungen führen kann. Die Beschreibungen eines ergotherapeutischen Projektes und der Verbesserung körperlicher Symptome traumatisierter Frauen durch KundaliniYoga runden die klar und übersichtlich gegliederte Sammlung der Projektergebnisse ab. Ein umfangreicher Anhang mit weiterführender Literatur gibt Empfehlungen zum Weiterlesen. Auf rund 260 Seiten wird in überzeugender Weise deutlich, wie wichtig es ist, kreative Wege im Umgang mit Traumatisierungen zu finden. Die hier beschriebene Vielfalt der Möglichkeiten widerlegt die noch weit verbreitete Auffassung „Im Alter kann man ja nichts mehr machen“. Dass sich betroffene Frauen, die sich so weit wie möglich von ihren traumatischen Gewalterfahrungen befreien, wieder mehr dem Leben zuwenden können, lässt das titelgebende Zitat einer Patientin erahnen: „Ich fühle mich zum ersten Mal lebendig“. Astrid Romeike, Altenpflegerin, M.A. Pflegemanagement, Aachen

Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2016, 265 Seiten, 29,95 Euro

Ein strahlender Text über die Liebe, die Poesie und Vollkommenheit. Aus dem Französischen von Monika Schlitzer 112 Seiten, Leinen

80 Seiten, Leinen

Unionsverlag Dr. med. Mabuse 224 · November / Dezember 2016


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.