Buchbesprechungen 2017

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Buchbesprechungen


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Karen Nolte

Todkrank Sterbebegleitung im 19. Jahrhundert: Medizin, Krankenpflege und Religion

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s fällt sehr schwer, eine Rezension für dieses sehr interessante und informative Buch zu schreiben, das sehr zwiespältige Gefühle in mir hinterließ. Am sinnvollsten wird es wohl sein, wenn ich diesen Zwiespalt berücksichtige und die Aspekte zu Inhalt und Form getrennt bespreche. Beginnen wir mit der Form des Buches: Sie macht das Lesen schwer, nicht des Inhaltes wegen, sondern weil es ein wissenschaftliches Buch ist. Zuweilen nehmen die Fußnoten auf einer Seite mehr Platz ein als der eigentliche Text und man muss eben doch manchmal auch die Fußnoten lesen, weil sie den Text ergänzen. Dann verliert man den Rhythmus oder muss sich sehr anstrengen, den Text zusammenhängend lesen und verstehen zu können. Eine weitere formale Erschwernis bestand für mich darin, dass manche Fakten mehrfach auftauchen, wenn die Verfasserin die Berichte in den verschiedenen Kapiteln und Zusammenhängen wiederholt, manchmal mit den gleichen Formulierungen, die ein bald ermüdendes Wiedererkennen bewirken. Die Versuchung ist groß, den Text dann einfach zu überfliegen und den Faden abreißen zu lassen. Da es sich um ein wissenschaftliches Buch handelt, müssen diese Fußnoten und ständigen Rückgriffe wohl sein, aber die Lesbarkeit leidet sehr darunter, man muss sich den Inhalt ernsthaft erarbeiten. Das Fazit am Ende des Buches ist dagegen so anschaulich und informativ, dass ich es mir bereits am Ende eines jeden Kapitels wünschen würde.

Nun zum Inhalt: Die Verfasserin schildert sehr eindrucksvoll die Behandlung von todkranken Menschen im 19. Jahrhundert, wobei die medizinischen Sachverhalte weniger Raum einnehmen – was aber sicher kein Schaden ist, denn allzu viele Möglichkeiten gab es nicht. Sehr plastisch und gut nachvollziehbar werden dagegen die Einstellungen der verschiedenen Behandler den Patienten gegenüber dargestellt, ebenso die der Priester und Pfarrer sowie vor allem die der pflegenden Diakonissen, die in ihren Berichten den Geist dieser Zeit und der diakonischen Arbeit sehr gut spürbar machen. So zeigt sich auch, dass die Ärzte sich nicht nur um das körperliche Befinden der Patienten kümmerten, sondern auch um die seelischen Schwierigkeiten und – was mich überraschte – auch um ihre soziale Position, zu deren Besserung sie manchmal auch beizutragen versuchten, etwa indem sie eine kräftigende Kost verschrieben. Dies geschah nicht aufgrund einer medizinischen Indikation, sondern schlicht weil die Patienten hungerten. Auch die Position der Theologen wird ersichtlich, die sich überwiegend um das Seelenheil der Patienten sorgten. Besonders deutlich wird im Wirken der Diakonissen auch der religiöse Hintergrund dieser Arbeit. Hinter den konkreten Fakten wird dabei nicht nur das Rollenverständnis der verschiedenen Akteure sichtbar, sondern auch das Menschenbild, das je nach Profession durchaus unterschiedliche Prägungen erfährt. So ist es gut möglich, sich in die verschiedenen Rollen hineinzuversetzen. Man mag auch überlegen, wie man sich selbst vielleicht in dieser Situation verhalten hätte und vergleicht es mit der heutigen Zeit. Für alle ist der Patient ganz selbstverständlich das Objekt der Fürsorge, im medizi-

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www.mabuse-verlag.de Dr. med. Mabuse 225 · Januar / Februar 2017

nischen, sozialen aber auch spirituellen Sinne, während nach heutigem Verständnis eines selbstbestimmten Lebens der Mensch unter Berücksichtigung seiner Würde nicht mehr als Objekt betrachtet werden darf, auch nicht als Objekt der Fürsorge. So wäre es interessant, in Weiterführung dieser Untersuchung den Wandel dieser Beziehung vom 19. in das 20. Jahrhundert und in die Gegenwart zu verfolgen, um zu sehen, in welchen Bereichen sich dieser Wechsel abzeichnete und wie die verschiedenen Berufsgruppen lernten, damit umzugehen. Fazit: Es lohnt sich, die formalen Schwierigkeiten in Kauf zu nehmen, um an die Vielzahl der lebendigen und atmosphärisch so eindrucksvollen Informationen zu kommen. Dr. med. Peter Weyland, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoonkologe, Allgemeinmediziner i.R., Ingoldingen

Wallstein Verlag, Göttingen 2016, 260 Seiten, 24,90 Euro

Ulrike Anderssen-Reuster, Effi Mora

Wie Bindung gut gelingt Was Eltern wissen sollten

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lrike Anderssen-Reuster greift in diesem Ratgeber auf ihre Erfahrungen als leitende Ärztin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Städtischen Krankenhauses Dresden-Neustadt zurück, insbesondere auf ihre Arbeit in

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der Psychotherapeutischen Elternambulanz. Effi Mora studierte Bildende Kunst in Dresden. Ihre Illustrationen bereichern die einzelnen Kapitel. Zunächst konzipiert als ein Buch zur Selbsthilfe für Eltern, die „nicht aus einer perfekten, heilen Welt kommen und die manches erlebt haben, das nicht ideal ist“, so Ulrike Anderssen-Reuster im Vorwort, hat dieses Buch weitaus mehr zu bieten! Mit dem zentralen Thema der Bedeutung sicherer Bindungserfahrungen für Kinder zwischen der Schwangerschaft und dem dritten Lebensjahr ist das Buch ein hilfreicher Ratgeber für alle Eltern, da sichere Bindungserfahrungen ein lebenslanger Schutzfaktor sind. Besonders praxisnah und alltagstauglich sind die Anleitungen zu Achtsamkeitsübungen, die als Audiodateien zum Download bereitgestellt wurden und die den Abschluss eines jeden Kapitels bilden. Das Buch beinhaltet insgesamt elf Kapitel und beginnt mit der Schwangerschaft und den damit verbundenen Auswirkungen auf den eigenen Körper sowie auf die Paardynamik. Diese neue Situation und der häufige, unrealistische Wunsch nach dem „perfekten“ Kind können zu erhöhtem Stresserleben führen. Achtsamkeit als Gegenteil von Stress und entsprechende Übungen helfen, aus Stresssituationen auszusteigen. So heißt die erste Übung „Einfach mal Pause machen!“ und soll einen Weg aus dem gehetzten Modus aufzeigen. Das zweite Kapitel behandelt Geburt und Wochenbett, auch die Wochenbettdepression und weitere seelische Belastungen werden mit diversen Lösungsansätzen benannt. Wichtig ist es, die eigene Ruhe und Entspannung zu fördern, da diese für den Umgang mit dem Säugling entscheidend sind. Es werden praxistaugliche achtsame Körperwahrnehmungsübungen, die zur Entspannung beitragen, vorgestellt. Anschließend behandeln die Autorinnen den Einfluss von Stress auf das kindliche Gehirn, beschreiben in Kapitel vier die intuitive elterliche Kompetenz und deren Störungen, um im fünften Kapitel das zentrale Bindungsthema ausführlich und sehr verständlich darzustellen. Die weiteren Kapitel beschäftigen sich damit, welche Auswirkungen die eigenen Kindheitserfahrungen auf das Verhalten gegenüber dem Baby haben, etwa in Bezug auf kindliche Regulationsstörungen und der Kommunikation. Auch die Frage „Was tun bei Hochstress?“ wird beant-

wortet. Den Abschluss bildet ein Exkurs zur Frage der Umsetzung von Achtsamkeit im Alltag mit Kindern. Im Anhang finden sich nützliche Adressen, Webadressen und Unterstützungsmöglichkeiten. Christiane Kreis, Supervisorin in Frankfurt am Main, L.O.T.U.S GbR

Schattauer Verlag, Stuttgart 2015, 176 Seiten, 24,99 Euro

Anette Dowideit

Vorsicht, Arzt! Wie unser Gesundheitssystem uns krank und andere reich macht

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chon wieder ein Ärztehasser-Buch? Nicht wirklich. „Wie unser Gesundheitssystem uns krank und andere reich macht“ heißt der Untertitel. Ärzte sind nun mal der Leitberuf in diesem System, deshalb bekommen sie zuerst ihr Fett weg. Gemeint sind aber alle. Hier schreibt mir eine Journalistin aus der Seele. Auf 220 Seiten beschreibt Anette Dowideit en detail alle Widrigkeiten unseres Gesundheitssystems. Das soll zwar eines der besten der Welt sein, aber auch eines der teuersten und wird immer mehr zur Gesundheitswirtschaft, wo die Gesetze des Marktes gelten. Und Markt heißt immer: Es geht primär ums Geld. Gleich im ersten Kapitel, ohne Vorwort, geht es um Korruption: Ein Privatdetektiv beschattet eine Radiologin, die anderen Ärzten in die Briefkästen ihrer Privathäuser Umschläge mit Geldscheinen steckt, damit sie ihre Patienten nur in ihre Röntgen- und Bestrahlungspraxis überweisen. Das tut der Detektiv nicht im Auftrag der Polizei, sondern eines anderen Radiologen, der sich im selben Gebiet niederlassen will, aber wegen der Bestechungspraxis fürchtet, keine Patienten zu bekommen. Das mögen selbst Leute kaum glauben, die beispielsweise in der Patientenberatung so einiges hören. So geht es in dem Buch aber weiter. Alle skandalträchtigen Themen werden abgehandelt: die Selbstzahler-Leistungen (IGeL), Korruption durch Ärzte und Apotheker, die raffinierten Gelddruckmethoden der Pharmaindustrie, die

Gefahr durch kranke Ärzte und durch Keime in Krankenhäusern, die ungleichen Chancen verschiedener Arztgruppen, die Verquickung zwischen Industrie und Forschung. Erst auf den letzten zehn Seiten fragt die Autorin, was der einfache Patient dagegen tun kann. Viel fällt auch ihr nicht ein. Das System wird von oben gelenkt, der Fisch stinkt vom Kopf. „Brauchen wir ein anderes Gesundheitssystem?“, fragt sie und schaut auf Systeme in Ländern, die stärker vom Staat kontrolliert werden, dabei aber auch transparenter sind. Und stellt fest, dass das auch Nachteile hat. Datenschutz verhindert Transparenz, und in Deutschland sind die Regeln des Datenschutzes besonders hoch, das wollen wir ja auch nicht aufgeben. Ganz am Ende des Buches preist die Autorin das belgische Gesundheitssystem, in dem die Krankenkassen direkt mit den Ärzten verhandeln, ohne dass ärztliche Selbstverwaltungskörperschaften dazwischen stehen. Aber wollen wir, dass AOK, DAK, Barmer, TK usw. bestimmen, ob der 80-jährige Patient noch eine künstliche Hüfte bekommt? Sind das nicht, wie bei uns, eher ärztliche Entscheidungen? Ist unser System dann doch besser als sein Ruf? Nicht solange Ärzte auch hier immer mehr finanziellen Erwägungen folgen (müssen) als medizinischen. Wir brauchen ein System, das es Ärzten ermöglicht, „wieder mehr ans Wohl ihrer Patienten zu denken und weniger ans Geld, das sich mit diesen erzielen lässt“. Die ständigen kosmetischen Reparaturen, die jede neue Regierungskoalition veranlasst oder unterlässt, haben unser System nicht besser gemacht. Aber zu einem „großen Wurf“ fehlt den Politikern bisher der Mut. Außerdem wissen sie nicht, wohin der Wurf gehen soll: zu einem noch freieren, deregulierteren System oder zu einem staatlicheren, kontrollierteren. Neue Systeme fangen sowieso zuerst in den Köpfen an. Erst denken, dann handeln. Zum Denken ist dieses Buch schon mal eine sehr gute Anregung. Christoph Kranich, Verbraucherzentrale Hamburg

Plassen Verlag, Kulmbach 2016, 224 Seiten, 19,99 Euro Dr. med. Mabuse 225 · Januar / Februar 2017


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Dirk K. Wolter

Schmerzen und Schmerzmittelabhängigkeit im Alter Die gerontopsychiatrische Perspektive

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er schon lange nach einem zusammenfassenden Buch zur Schmerzthematik im Alter gesucht hat, wird nun endlich fündig. Warum eigentlich erst jetzt? Die Gruppe schmerzertragender Älterer wächst doch schon länger, ebenso rasant wie die Analgetika-Verordnungshäufigkeit in Deutschland. Allemal Grund genug, sich mit dieser Materie fundiert auseinanderzusetzen: Das macht Dirk Wolter mit diesem Buch, und zwar gründlich. Schon die Einleitung zeigt deutlich, dass es sich hier nicht um ein Lehrbuch eines einzelnen Faches, sondern um eine Zusammenfassung spezifischen Wissens verschiedener Fachrichtungen handelt. Mit den ersten vier Kapiteln des Buches werden dem Leser neurobiologische, (patho-)physiologische Modelle, Mythen und Fakten zu Schmerzen im Alter sowie Genderaspekte vermittelt, didaktisch klug und aufeinander aufbauend. Infoboxen, verständliche Abbildungen und extra kenntlich gemachte Exkurse erleichtern die Erfassung der nicht ganz leichten Materie. Mit den klinisch bezogenen Themen der folgenden Kapitel sind gut zwei Drittel des Buches gefüllt: Es geht zunächst um Kommunikations- und Beziehungsaspekte bei Schmerzen, anschließend in ausführlicher Form um Schmerzen bei (neuro-)psychiatrischen Erkrankungen. Hierbei werden nicht nur die bekannten diagnostischen und therapeutischen Be-

Dr. med. Mabuse 225 · Januar / Februar 2017

sonderheiten bei Demenzerkrankten (samt serviceorientierter Angabe, wie und wo Assessment-Instrumente zu finden sind), sondern auch die schmerzspezifischen Besonderheiten verschiedener psychiatrischer Störungen (von affektiven und Psychose-Erkrankungen über somatoforme Störungen und Posttraumatische Belastungsstörungen bis zum Delir) anschaulich vermittelt. Nach Darstellung der Einsatzmöglichkeiten, Wirkung und Nebenwirkung der verschiedenen Gruppen der Psychopharmaka werden in sehr ausführlicher Form die schwierigen Zusammenhänge zwischen Schmerz und Schmerzmittelabhängigkeit dargestellt und insbesondere auf Opiatanalgetika und deren Suchtrisiko ausführlich und differenziert eingegangen. Kennzeichnend für das Buch ist, dass im Schlusskapitel, Behandlung und Begleitung aus gerontopsychiatrischer Sicht, auch den nicht medikamentösen und psychologischen sowie weniger bekannten Therapieansätzen samt deren Weiterentwicklung viel Raum gegeben wird. Hier wird besonders gut deutlich, wie in diesem Buch auch über den Tellerrand geschaut wird und welche therapeutischen Anleihen neben den etablierten ärztlichtherapeutischen Trampelpfaden möglich sind, aber wohl viel zu selten Anwendung finden. Das Buch zeigt, was der Autor besonders gut kann: Wissen vermitteln, Querund Weiterdenken, Verbindungen herstellen. Dirk Wolter beschränkt sich nicht auf die Darstellung evidenzbasierter Studienergebnisse und des aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstandes. Und er scheut sich auch nicht, scheinbar Altbekanntes zu hinterfragen, es anzureichern und mit eigenen Einschätzungen und Be-

wertungen zu ergänzen, wobei er diese eigene Sicht hinreichend klar kennzeichnet. Zudem hat der Autor eine enorme Menge an Literatur akribisch und mit Sorgfalt recherchiert, was sich im umfangreichen enzyklopädischen Register mit 1.400 Literaturangaben niederschlägt. In das Buch fließt neben jahrelangem wissenschaftlichem Interesse die klinische Erfahrung des Autors als ärztlicher Leiter gerontopsychiatrischer Abteilungen im In- und Ausland ein, aber auch eine gehörige Portion Herzblut. Dirk Wolter handelt und schreibt aus Überzeugung. Man kann das umfängliche Buch in einem durchlesen (die innere Logik und der stringente Aufbau verleiten einen schon sehr dazu), man muss es aber nicht. Auch durch das Lesen einzelner Kapitel, die in sich schlüssig und verständlich sind, ist zu speziellen Fragestellungen hinreichend Grundlage, weiterführendes Wissen und Anregung zu erhalten. Das Buch richtet sich an unterschiedliche Professionen: Vor allem Klinikern wird es eine breite Grundlage für ihr Handeln geben. So kann dieses Buch zu einem Standardwerk über psychologische und psychiatrische Aspekte von Schmerzen im Alter werden. Das Zeug dazu hat es. Es gibt bislang kein vergleichbares Werk. Und schließlich hat das Buch auch noch einen halbwegs moderaten Preis. Dr. Tilman Fey, Chefarzt der Abteilung für Gerontopsychiatrie, LWL-Klinik Münster

Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2016, 348 Seiten, 59 Euro

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Anna-Elisabeth Neumeyer

Neuerscheinung Neuerscheinungen en im MabuseVe erlag Mabuse-Verlag

Die Angst vergeht, der Zauber bleibt Therapeutisches Zaubern® in Arztpraxen und Krankenhäusern

D Anette Temper e

Schattenschwester Ein Kinderfachbuch a für Kinder m mit einem depressiven Geschwisterkind 72 Seiten, 16,95 Euro ISBN 978-3-86321-308-4 Dieses Buch thematisiert Ängste und Gefühle bei der Depression eines Geschwisterkindes und zeigt Wege des Umgangs mit der Situation in einfachen Sätzen und schönen Bildern auf. Abgerundet durch einen Kinderfachteil bietet es (nicht nur) für Eltern die Möglichkeit, psychische Erkrankungen und die mit ihnen verbundenen Ängste und Fragen von Kindern sensibel zu thematisieren.

Ingritt Sachse

Die Kröte Schild Sprachspiele und Bilder für die Kinderpsychotherapie 84 Seiten, 16,95 Euro ISBN 978-3-86321-330-5 Aus der Erfahrung in der KinderpsyKinderpsy chotherapie entstand die Idee, ein Kinder(fach)buch mit Sprachspielen, Phantasiegeschichten und angedeu angedeuteten Bildern zu gestalten. Im MittelMittel punkt stehen verschiedene Facetten der kindlichen Welterfahrung. Empffo ohlen für die psychotherapeuapeu tische und pädagogische Arbeit mit Kindern.

www www.mabuse-verlag.de .mabuse-verlag.de

ie Wissenschaft hat die Magie aus der Medizin vertrieben, aber nicht aus uns Menschen. Die Hypnotherapeutin und Sozialpädagogin Anna-Elisabeth Neumeyer hat aus ihrer eigenen Leidenschaft für Schauspiel und Zauberei eine ganz eigene neue Form entwickelt: das therapeutische Zaubern. Mit „Die Angst vergeht, der Zauber bleibt“ legt sie jetzt ihr viertes und umfassendstes Buch vor, in dem aus jeder Seite die langjährige praktische Erfahrung und eine große Liebe zu den oft kleinen Patienten spricht. Mit vielen Fallbeispielen und auch den Querverbindungen zu alten und modernen therapeutischen Traditionen wie der Arbeit des US-amerikanischen Psychiaters und Hypnotherapeuten Milton Erickson ist es eine Fundgrube und eine Anregung für jeden Leser, der sein Repertoire von Metaphern und Geschichten um unglaublich anschauliche und wirkungsvolle Interventionen erweitern möchte. Annalisa ist eine moderne Hexe – und das meine ich voller Respekt vor ihrer Pionierleistung, den heilsamen Zauber für die Psychotherapie und die ärztliche Praxis wiederzuentdecken. Wir lernten uns kennen und schätzen über die Zauberei und die Hypnotherapie, auf den Kongressen und zuletzt bei meiner „HUMOR HILFT HEILEN“-Akademie. Da brachte Annalisa das therapeutische Zaubern den Clowns bei, die im Auftrag meiner Stiftung Kinder im Krankenhaus besuchen und mit Musik, Kunststücken und Humor „verzaubern“. Ich habe erlebt, wie wirksam die scheinbar kleinen Effekte sind, die in diesem Buch beschrieben werden: „Das stärkste Kind der Welt“ lässt tatsächlich Kinder über sich hinauswachsen. Ein Kind, was überzeugt davon war, nicht mehr laufen zu können, „vergaß“ sogar in der Interaktion mit den zaubernden Clowns seine Störung. Wunderbar. Beschrieben werden Kunststücke mit Haargummis, die zwischen den Fingern hüpfen und sich verketten, was sich wunderbar eignet, auch bettlägerigen Kindern etwas in die Hand zu geben, mit dem sie spielen und üben können. Und womit sie dann auch andere

Kinder und Erwachsene verblüffen können. Meine absolute Lieblingsidee: wie man aus der Blut-Entnahme eine Blut-Zunahme macht! Kinder bis ins frühe Schulalter denken sehr magisch. Eine Blutentnahme macht ihnen Angst, nicht nur durch die Nadel und den Einstich, sondern auch durch die Vorstellung, dass ihnen ein Stück Lebenssaft genommen wird, auf nimmer Wiedersehen. „In einem Zauberritual bekommt das Kind Kirsch- oder Johannisbeersaft zu trinken und dazu erklärt, dass sie damit das abgenommene Blut auffüllen können. Sie dürfen das ganze Glas behalten, nur ein kleines Röhrchen wird am Arm abgezweigt, um zu schauen, ob der Saft angekommen ist. Die Kinder bleiben die ‚Gewinner‘“. So einfach und so klug, dass man sich wundert, warum da vorher noch niemand darauf gekommen ist. Und sich wundert, warum es nicht schon längst überall praktiziert wird. Wenn wir die moderne Psychotherapieforschung und das heutige Wissen über die durchschlagende Kraft von einer positiven Erwartungshaltung im PlaceboEffekt verbinden mit dem alten Wissen von der Kraft der Rituale und Geschichten, entsteht etwas bewährtes Neues! Die moderne Wissenschaft hat noch kein Mittel erschaffen können, das so beruhigend ist wie der Klang einiger herzlicher Worte und Gesten. Gleichzeitig hat sie noch kein Mittel erschaffen, das die Vergiftung durch verletzende Worte und unnötige Ängste aufheben könnte. Und deshalb sollten alle in Gesundheitsberufen Tätigen viel mehr wissen, über die Kraft ihrer Persönlichkeit, ihrer Worte und ihrer Haltung. Und ein paar gute Geschichten, Metaphern und Tricks drauf haben! Dem Buch wünsche ich viele Leser, und allen Patienten, dass ihnen oft der Mund vor Staunen offen steht – nicht nur beim Zahnarzt. Eckart von Hirschhausen, Komiker, Autor und Moderator. Sein neues Buch „Wunder wirken Wunder“ wirft einen humorvollen Blick auf die bunte Wunderwelt der Heilkunst.

Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2016, 215 Seiten, 19,95 Euro Dr. med. Mabuse 225 · Januar / Februar 2017


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Heinz Böker, Paul Hoff, Erich Seifritz (Hg.)

„Personalisierte“ Psychiatrie – Paradigmenwechsel oder Etikettenschwindel?

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eit über zehn Jahren ist das menschliche Genom erforscht. Dadurch entstand in der Medizin die Hoffnung, eine auf den individuellen Patienten zugeschnittene „personalisierte Medizin“ zu entwickeln – ein Gedanke, der hoffnungsvoll stimmt, da Patienten mit gleicher Diagnose auf die gleiche Therapie häufig unterschiedlich positiv oder gar nicht ansprechen. So wurden durch Gentests und Biomarker Subgruppen bei verschiedenen Krankheiten (z. B. Karzinomen) und spezifisch wirkende Medikamente (hier Chemotherapeutika) identifiziert. Dieser optimistische Ansatz wurde auch auf die Behandlung von Menschen mit schweren seelischen Erkrankungen wie Depression und Schizophrenie übertragen: Sowohl Psychiatern als auch Patienten ist bekannt, dass zum Beispiel Antidepressiva bei einem großen Teil der Betroffenen effektlos sind (non-Responder) und bei den Respondern auch noch ein Teil auf den Placebo-Effekt zurückzuführen ist. Die Therapie besteht häufig in einem Probieren, welches Psychopharmakon einen positiven Effekt bei möglichst wenig unerwünschten Nebenwirkungen hat. Also, wo liegt überhaupt das Problem einer „personalisierten Psychiatrie“? Die Herausgeber machen deutlich, dass es durchaus ein Problem gibt. Es kommen nicht nur Kritiker der personalisierten Psychiatrie zu Wort, sondern auch Befürworter. Beide Seiten waren 2012 Gegenstand eines Kolloquiums an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich („Burghölzli“), das die Chancen und Gefahren dieses Ansatzes aufzeigen sollte. Im ersten Teil des Buches wird „Der Begriff der Person in der Psychiatrie“ thematisiert. Es werden Kritiker zitiert, die von einer „depersonalisierten Psychiatrie“ (Fuchs, Heidelberg) oder „Psychiatrie ohne Ansehen der Person“ (Küchenhoff, Basel) sprechen, wenn die Erkrankung auf einen genetischen oder biochemischen Parameter reduziert wird, ohne die klinische Psychopathologie und Lebensgeschichte des Patienten zu berücksichtigen. Befürworter der biologischen Psychiatrie wie Holsboer (München) schwärmen: „Die personaliDr. med. Mabuse 225 · Januar / Februar 2017

sierte Medizin wird die Gesundheitsverwaltung und -politik, die Versicherungsindustrie, aber auch das Geschäftsmodell der Pharmaindustrie von Grund auf verändern.“ Er spricht sich dafür aus, anstelle der klinischen Diagnose die Ergebnisse der Neurowissenschaften ins „Epizentrum“ zu stellen. Im Anschluss beschäftigen sich die AutorInnen mit „psychiatrischer Grundlagenforschung: Konsequenzen für Psychiatrie und Psychotherapie“. Hier werden aus unterschiedlichen Perspektiven der Verhaltensforschung (Prägung) und Psychoanalyse neurowissenschaftliche Konzepte zum Beispiel zur Schizophrenie vorgestellt. Das folgende Kapitel „Individualisierte Ansätze bei psychiatrischen Erkrankungen“ erscheint inhaltlich außerordentlich interessant und lehrreich. Allein wegen der darin enthaltenen Diskussion über affektive Störungen (Depression, bipolare Störungen) lohnt sich das Buch. Im vierten Abschnitt „Historische und ethische Aspekte der Debatte um Personalisierung“ kommen zwei Medizinethiker (Vollmann und Maio) zu Wort und kritisieren die Gefahr der Ökonomisierung der „Personalisierung“. Böker und Hoff fassen die Beiträge am Ende noch einmal zusammen und äußern ihre Einschätzung, dass es des problematischen Begriffs der „personalisierten“ Psychiatrie im Grunde nicht nicht bedarf. Dennoch sehen sie die Notwendigkeit, diagnostische, therapeutische und prognostische Parameter zu verfeinern. Dabei müssten neben den „molekulargenetischen und weiteren biologischen und neurobiologischen Faktoren insbesondere die psychosozialen Variablen“ einbezogen werden. Das Buch behandelt außerordentlich wichtige Entwicklungen der Forschung, Theorien und Therapien im Feld der Psychiatrie. Irritierend ist, dass nicht alle der rund 25 AutorInnen im Autorenverzeichnis aufgenommen sind. Prof. Dr. Matthias Elzer, Hochschule Fulda

Wenn Landschaften Menschen gut tun

Berndt Vogel

Grün für die Seele Menschen aufblühen lassen

Berndt Vogel

Grün für die Seele Menschen aufblühen lassen 2017. 224 S., 385 Fotos, Kt € 34,95 / CHF 45.50 ISBN 978-3-456-85687-2 Auch als eBook erhältlich

Wie sich grüne Innen- und Außenräume nutzen lassen, um die psychische Gesundheit von Menschen zu stabilisieren, Erholung und Recovery zu ermöglichen, Menschen zu aktivieren, Inklusion erlebbar zu machen und Kreativität und Fantasie zu entfalten, zeigt dieser opulent illustrierte und anschaulich gestaltete Bild- und Textband. Der Autor und Leiter der Garten- und Landschaftstherapie im St. Gallischen Kantonalen Psychiatrischen Dienst in Wil fasst darin unter anderem seine Green-Care-Arbeiten zusammen.

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Frank Wittig

Krank durch Früherkennung Warum Vorsorgeuntersuchungen unserer Gesundheit oft mehr schaden als nutzen

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ach seinem ersten Spiegel-Bestseller „Die weiße Mafia. Wie Ärzte und die Pharmaindustrie unsere Gesundheit aufs Spiel setzen“ legt der Wissenschaftsjournalist Frank Wittig mit diesem Buch seinen zweiten nach. Er untersucht die vielfach von Ärzten empfohlenen und auch durchgeführten Früherkennungen auf Brust-, Prostata-, Haut- und Darmkrebs sowie den allgemeinen Gesundheitstest beim Arzt, auch als „Check-up 35“ bekannt. Ebenso durchleuchtet er IGeL-Pakete auf ihre Sinnhaftigkeit. Brisanz erhielt das Thema kürzlich, als bekannt wurde, dass es üblich ist, dass Ärzte angehalten werden, die Codierung der Krankheiten ihrer Patienten zu optimieren, damit die Krankenkassen höhere Beträge abrechnen können. Klar ist, dass solche Schlagzeilen, die Emotionen schüren, ausreichen, um einige Menschen von Ärzten fernzuhalten. Doch ist das auch wissenschaftlich vertretbar? Seit vielen Jahren wird beispielsweise das Mammografie-Screening stark diskutiert. Auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat konstatiert, dass in zehn Jahren auf ein bis zwei gerettete Leben fünf bis sieben Überdiagnosen kommen. Laut IGeL-Monitor handelt es sich bei einer

Dr. med. Mabuse 226 · März / April 2017

Überdiagnose um eine „richtig erkannte Krankheit, die jedoch nicht auffällig geworden wäre, wenn man nicht nach ihr gesucht hätte“. Ebenso kommt der PSATest, mit dem man nach Prostatakrebs fahndet, nicht gut weg. Auch hier gibt es viele falsch positive Krebsdiagnosen mit möglichen Folgeschäden wie Impotenz und Inkontinenz. In den meisten Fällen lebten die Männer sehr gut mit diesem unerkannten Krebs und verstarben eher selten daran. Der in Praxen oft viel beworbene „Check-up 35“ zeigte bei 150.000 Studienteilnehmern keinen Einfluss auf die Sterblichkeit, zumal die Grenzwerte für den Blutdruck oder den Blutzucker immer weiter gesenkt werden. Sind Früherkennungsuntersuchungen also eher überflüssig? Dazu hat der Autor eine klare Meinung. Er möchte fair aufklären, überlässt es aber dem Leser, seine Schlüsse aus dem Gelesenen zu ziehen. Ein reifer Ansatz, der sich angenehm von der üblichen grellen Werbung für die Vorsorgeuntersuchungen abhebt. Wenn Frank Wittig sich gegen eines wendet, dann dagegen, dass aus ökonomischen Gründen aus Gesunden Kranke gemacht werden. Er betont jedoch auch, dass Vorsorge im Einzelfall durchaus Leben retten kann. Martina Eirich, Braunsbach

riva Verlag, München 2015, 224 Seiten, 19,99 Euro

Penny Simkin, Phyllis Klaus

Wenn missbrauchte Frauen Mutter werden Die Folgen früher sexueller Gewalt und therapeutische Hilfen

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as Buch ist ein Grundlagenwerk über ein komplexes Thema und ein Ratgeber für die Heilung der Wunden betroffener Frauen. Der Weg fing in den USA in der Mitte der 1980er Jahre mit dem Feststellen eines Mangels an: fehlendes Wissen und unzureichende Forschung über die langfristigen Folgen, die ein Kindesmissbrauch nach sich ziehen kann und fehlende Kompetenz des medizinischen Fachpersonals. Die Erfahrung von Schwangerschaft und Geburt kann (nicht: muss!) an frühe Zustände von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein erinnern und traumatische Zustände und Gefühle wieder hervorrufen. Die Autorinnen sind seit Jahren in der Schwangerschaftsberatung, Geburtshilfe und Nachsorge tätig, auch mit Veröffentlichungen. Zwischen theoretischen Ausführungen und praktischer Anwendung nehmen sie die Lesenden mit in ihre Praxis. Sie berichten über ihre Erfahrungen mit Betroffenen, mit dem medizinischen Personal sowie über ihr aus der Fachliteratur erworbenes Wissen über emotionale und körperliche Folgen der sexuellen Gewalt und über posttraumatische Belastungsstörungen. Zahlreiche Berichte von Betroffenen werden zur Illustration als Fallvignetten in den Text aufgenommen

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Pflegeprofis vertrauen. RHOMBO-MEDICAL ® Produkte basieren auf Erkenntnissen der professionellen Pflege und wurden entwickelt für prophylaktische und/oder therapeutische Anwendungen in Kliniken, Pflegeheimen, Rehabilitationseinrichtungen und in der häuslichen Krankenpflege. Vertrauen auch Sie den professionellen RHOMBO-MEDICAL ®Produkten und erleben Sie „Die Ruhe, die beweglich hält®.“

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und können den Lesenden sehr nahe gehen. Das Buch soll dazu beitragen, Ärzte, Pflegekräfte und Hebammen für eine feinfühlige Begleitung der Betroffenen zu qualifizieren, indem sie einen achtsamen Umgang erlernen und Retraumatisierungen vermeiden. Das Werk gliedert sich in vier Teile: 1. Zunächst werden mögliche langfristige Folgen eines sexuellen Kindesmissbrauchs aufgezeigt und mögliche (nicht zwangsläufige) Auswirkungen auf eine spätere Schwangerschaft herausgearbeitet (z. B. schwangerschaftsbedingte Konflikte, Befürchtungen, Phobien und Ängste). „Viele Missbrauchsüberlebende haben aus nachvollziehbaren Gründen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Kontrollverlust, Hilflosigkeit, Nacktheit oder Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit.“ Durch unbewältigte Kindheitstraumata können sich diese Schwierigkeiten verschärfen. Allerdings ziehen Missbrauchserfahrungen nicht zwangsläufig eine traumatische Geburt nach sich. – 2. Kommunikation, Hilfe und Heilung: Etlichen missbrauchten Frauen fällt es schwer, über das traumatische Geschehen zu sprechen. Viele Betreuerinnen trauen sich nicht, sich nach einem möglichen Missbrauch zu erkundigen. Selbsthilfemethoden für die Prävention und Bewältigung psychischer Gewalt, Geburtsberatung und Psychotherapie werden ausführlich dargestellt. 3. Klinische Schwierigkeiten und Lösungen: ausführliche Beschreibung der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung einer gynäkologischen Untersuchung. Im vierten Kapitel finden sich mehrere Fragebögen zur Selbstbeurteilung, zu Strategien für spezifische Triggerformen und zur Selbsteinschätzung des psychischen Befindens nach einer schwierigen Geburt. Zum Schluss ein kurzer Text zu postpartalen Stimmungsstörungen, Risikofaktoren, Symptomen und Genesung. Die abschließende umfangreiche Literaturliste verzeichnet nur US-amerikanische Literatur, davon einige wenige Veröffentlichungen in deutscher Übersetzung. Hans-Joachim Lenz, Freiburg i. Br.

Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015, 323 Seiten, 38 Euro

Edzard Ernst

Homeopathy The Undiluted Facts

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st es möglich, über Homöopathie noch einmal etwas Neues zu schreiben? Edzard Ernst gehört zu denen, die sich frühzeitig mittels eigener empirischer Studien und aktueller Literaturreviews um die Frage gekümmert haben, was an den verschiedenen Konzepten der sogenannten Alternativmedizin dran ist. Er war Inhaber des ersten Lehrstuhls für Komplementärmedizin in Exeter (Großbritannien). Jetzt im Ruhestand hat er sich vorgenommen, noch einmal, wie im Vorwort erläutert, sowohl für Laien als auch für Professionelle ohne allzu viel Fachjargon zu erläutern, was Homöopathie überhaupt ist und was von den befürwortenden wie ablehnenden Argumenten jeweils zu halten ist. Es geht um die Prinzipien der Homöopathie: Gleiches mit Gleichem behandeln, Potenzierung, Miasmen- und Krankheitslehre. Das Buch handelt von Legenden, dazu zählt Ernst die Vorstellung, Homöopathie gehöre zur Naturheilkunde oder habe grundsätzlich keine Nebenwirkungen. Man erfährt, wer Homöopathie in welchen Ländern nutzt und wie die Regierungen dies regulieren. Die Entwicklung der Homöopathie von Hahnemann bis zur Gegenwart wird auf knappem Raum geschildert. Für welche Erkrankungen wird sie eingesetzt? Warum versteht Homöopathie sich als Alternative zur sogenannten Schulmedizin? Was bedeutet eigentlich Evidenz im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Nachweisen? Und wie argumentieren Gegner und Befürworter? Das alles lässt sich auf 60 Seiten in wunderbarem Englisch nachlesen – und zwar deutlich systematischer und übersichtlicher als beispielsweise in dem auch nicht schlechten Wikipedia-Artikel. Dann schließt sich ein knapp 80 Seiten langes Lexikon an, das wirklich alles, was für ein vertieftes Verständnis der Homöopathie nötig ist, enthält: von Verschlimmerung (aggravation) über das Arndt-Schulz-Gesetz, Konditionierung und den Hawthorne-Effekt bis zu Luc Montagnier, Signifikanz und Vitalismus. Nun ist es kein Geheimnis, dass Edzard Ernst der Homöopathie kritisch gegenübersteht. Das Buch eignet sich aber meines Erachtens sehr gut als fundierte Basis für den heute ja wieder lebhaften Streit um die Verwendung und FinanzieDr. med. Mabuse 226 · März / April 2017


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rung der Homöopathie im deutschen Gesundheitswesen. Es hilft sehr, die eigenen Positionen zu überprüfen, außer man meint, das sei sowieso nicht nötig. Der Rezensent ist – das sei schließlich angemerkt – ein engagierter Kritiker der Homöopathie, der aber von der Lektüre profitiert hat: Hier spricht jemand, der wirklich alle Winkel dieses Konzeptes ausgeleuchtet hat. Norbert Schmacke, Bremen

Springer International Publishing 2016, 64 Seiten, 21,39 Euro

Wulf Bertram/Bernhard Siller

Der Igel Frederik

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er Igel Frederik lebt vergnügt unter einem Brombeerbusch und lauscht mit Vorliebe den spannenden Erlebnissen der anderen Waldtiere, die ihn oft und gerne besuchen. Dabei liegt er genüsslich ausgestreckt auf seinem stacheligen Rücken und lässt sich die warme Sonne auf seinen flauschig weichen Bauch scheinen. Besonders genießt er es, wenn seine Freunde, allen voran das Igelmädchen Ida, dabei den Flaum seines zarten Bäuchleins kraulen. Dann wünscht er sich, dass er am ganzen Körper nur so eine empfindsame flauschige Haut hätte und bedauert es, dass sein Rücken stattdessen mit spitzen Stacheln gespickt ist. Er beschließt, sich nie wieder zusammenzurollen. Welch bittere und lebensgefährliche Erfahrungen er machen muss, um seinen Panzer schätzen zu lernen, dabei aber nicht ins Gegenteil zu verfallen und sich der Welt nur noch als missmutig zusammengerollte Stachelkugel zu präsentieren, erzählt der Arzt und Psychotherapeut Wulf Bertram in seinem liebevoll geschriebenen und von Bernhard Siller hinreißend illustrierten Kinderbuch. Es thematisiert eine Fähigkeit, die es meist nicht nur für Kinder zu lernen gilt: Es geht um eine gesunde Nähe-DistanzRegulation, um eine adäquate Balance zwischen Vertrauen und Misstrauen, die nicht immer leicht zu finden ist. Das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit wollen die meisten von uns genießen. Doch ein ausgeprägter Gutglauben beziehungsweise Dr. med. Mabuse 226 · März / April 2017

eine unreflektierte Unvorsichtigkeit können uns schnell zum Verhängnis werden. Nur zu leicht verschlägt es uns dann in die extreme Gegenreaktion, in der wir jedes Zuwendungs- und Liebesangebot ängstlich abwehren, uns „einigeln“ und isoliert „verhungern“. „Der Igel Frederik“ mit Sillers kunstvollen Illustrationen und Bertrams liebevoll verständlichem Schreibstil ist ein außergewöhnliches Bilderbuch, welches nicht nur Kindern, sondern auch Erwachsenen Freude bereiten wird. Kinder werden es zunächst als kleine spannende Tiergeschichte verstehen, über deren Bedeutung für einen achtsamen Umgang mit seiner Umwelt man mit ihnen gut ins Gespräch kommen kann. Und wer mag, kann auch als Erwachsener eine kleine wertvolle „therapeutische“ Lebensweisheit herauslesen. Dr. med. Samia Little Elk, Berlin

CMZ Verlag, Rheinbach 2015, 32 Seiten, 12,95 Euro

Martina Sendera, Alice Sendera

Gesund heitlich en Risike entgege n nwirken

Das Buch zeigt Zusammenhänge zwischen den Arbeitsbedingungen und der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit von pädagogischen Fach- und Leitungskräften am Arbeitsplatz Kita auf. Es unterstützt Kindertageseinrichtungen auf dem Weg zur gesundheitsfördernden Organisation. 2017, 202 Seiten, broschiert, € 16,95 ISBN 978-3-7799-3313-7 Auch als E-Book erhältlich

Chronischer Schmerz Schulmedizinische, komplementärmedizinische und psychotherapeutische Aspekte

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ieses Buch widmen wir unserem Rudel, allen Menschen und Tieren, die uns begleiten und die wir lieben. DANKE!“ Diese Widmung ließ mich erst mal stutzen, denn ich hatte ein Fachbuch zum chronischen Schmerz erwartet, keinen esoterischen Wegweiser. Deshalb vorweg: Es ist tatsächlich ein Fachbuch! Ganz offensichtlich motiviert und angetrieben von der angenehm wertschätzenden Haltung der beiden Autorinnen Menschen gegenüber, die unter chronischen Schmerzen oder genauer an der Chronischen Schmerzerkrankung leiden. Martina Sendera (Allgemeinmedizinerin und Psychotherapeutin) und Alice Sendera (Pädagogin, Psychologin und Psychotherapeutin) sind Vertreterinnen der Dialektisch Behavioralen Therapie (DBT), einer speziellen Form kognitiver Verhaltenstherapie. Gemeinsam veröffentlich-

Method en zur Drogen aufkläru ng!

Die Einheit von Theorie und Praxis: Zunächst wird das Paradigma »Drogenmündigkeit« entwickelt, um dann Projektvorschläge aufzuzeigen, die mit wenigen Handgriffen schnell umsetzbar sind – also quasi das oft gewünschte Rezeptbuch. 2017, 216 Seiten, broschiert, € 34,95 ISBN 978-3-7799-3394-6 Auch als E-Book erhältlich www.juventa.de

JUVENTA

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ten sie auch schon andere Ratgeber, zu Themen wie Borderline oder „Trauma und Burnout in helfenden Berufen“. Auf der Homepage von Martina Sendera finden sich Therapie-, Beratungs- und Kursangebote zu Stressmanagement, Achtsamkeit, Krisenbewältigung, Skills-Training oder Umgang mit chronischem Schmerz. Das Buch vermittelt zunächst in allgemein verständlicher Sprache, wie chronischer Schmerz entsteht und diagnostiziert wird. Zudem werden epidemiologische und kulturspezifische Aspekte beleuchtet, dies alles allerdings sehr knapp auf insgesamt 30 Seiten. Zum Weiterlesen enthält jeder einzelne Abschnitt weiterführende Literaturangaben. Die Autorinnen betonen grundsätzlich, dass die Unterscheidung zwischen körperlichem und seelischem Schmerz im Kontext des chronischen Schmerzes nicht sinnvoll sei, weshalb sie biopsychosozialen Konzepten den Vorzug geben, in Verknüpfung mit multimodalen Therapieansätzen. Im zweiten Teil des Buchs (gut 100 Seiten) werden exemplarisch verschiedene Krankheitsbilder beschrieben, die als „typisch“ für den chronischen Schmerz gelten (z.B. Kopf- oder Rückenschmerz) oder die von chronischen Schmerzen begleitet werden (wie etwa Osteoporose oder Tumorerkrankungen). Die Auswahl scheint hier eher zufällig getroffen worden zu sein, so fehlt zum Beispiel Rheuma. Jede dieser zum Teil sehr knappen Schilderungen ist mit Therapiehinweisen versehen, einige bis hin zu Medikamentenangaben, inklusive ihrer Dosierung. Dieses scheint fragwürdig, da es sich hier nicht um ein medizinisches Lehrbuch im engeren Sinne handelt. Die Abschnitte „Schmerztherapie im Alter“ und „Palliativmedizin“ fallen ganz aus dem Raster „Krankheitsbilder“ und bleiben zudem sehr an der Oberfläche. Den interdisziplinären und multimodalen Behandlungsansatz stellen die Autorinnen im dritten Teil auf ebenfalls 100 Seiten vor – er bildet das Herzstück ihres Buchs. Vor allem Psychotherapien und Selbststärkungsmethoden werden ausführlich erläutert und in ihrer Anwendung beschrieben. Außerdem werden neuromodulare Verfahren, Elektrotherapie, Physio- und Ergotherapie, die Traditionelle Chinesische Medizin sowie komplementäre Ansätze (Homöopathie, tiergestützte Therapie und anderes mehr) zum Teil dargestellt, zum Teil nur erwähnt. Die Vielfalt der Therapieverfahren und die Notwen-

digkeit ihres Ineinandergreifens im Sinne einer ganzheitlichen Sicht auf den betroffenen Menschen werden jedoch deutlich. Das Buch kann als Einführung in die Thematik des chronischen Schmerzes empfohlen werden, gerade weil es so breit angelegt und allgemein verständlich geschrieben ist. Insofern eignet es sich zur Orientierung und Veranschaulichung. Die genannten Einschränkungen verweisen auf die Notwendigkeit, sich bei Bedarf mit der spezifischen Fachliteratur vertieft zu befassen. Dr. Monika Zoege, Hannover

Springer-Verlag, Wien 2015, 268 Seiten, 29,17 Euro

Raimund Geene, Michael Reese

Handbuch Präventionsgesetz Neuregelung der Gesundheitsförderung

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m Jahr 2015 war es endlich so weit. Nach drei gescheiterten Anläufen wurde endlich ein Präventionsgesetz verabschiedet, das in Teilen 2015 und dann in seinen finanzwirksamen Teilen 2016 in Kraft getreten ist. Es gibt der Prävention in Deutschland eine neue, kooperative und an Gesundheitszielen orientierte Grundarchitektur. Mit der Nationalen Präventionskonferenz besteht nun eine Steuerungsinstanz, die für eine nationale Präventionsstrategie mit gemeinsamen Zielen und Handlungsfeldern verantwortlich ist und über den Lauf der Dinge auch durch einen parlamentspflichtigen Präventionsbericht in jeder Legislaturperiode Rechenschaft abzulegen hat. Den konzeptionellen Rahmen stecken die von der Nationalen Präventionskonferenz formulierten „Bundesrahmenempfehlungen“ ab. Auf Länderebene werden zwischen den Sozialversicherungsträgern und den zuständigen Landesstellen Landesrahmenvereinbarungen abgeschlossen, um regionalen Bedarfen besser nachzukommen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wird mit Qualitätssicherungsaufgaben beauftragt und die Bundesvereinigung für

Prävention und Gesundheitsförderung organisiert mit einem Nationalen Präventionsforum einen zivilgesellschaftlich geöffneten Kommunikations- und Vernetzungsprozess. Etwas mehr Geld kommt auch ins System, 7 Euro sollen künftig pro Versicherten für Leistungen nach dem Präventionsgesetz ausgegeben werden. Das ist nicht die Welt, aber ein Anfang. Man kann an dem Gesetz vieles kritisieren, etwa dass die oft zitierte Strategie „Health in all policies“ nicht gut umgesetzt wird, weil das Gesetz primär nur die Krankenkassen in die Pflicht nimmt, oder dass der Öffentliche Gesundheitsdienst als eine der maßgeblichen präventiven Strukturen auf der lokalen Ebene schauen kann, dass er künftig nicht am Katzentisch der Prävention sitzt. Aber insgesamt war es ein überfälliger Schritt und das Gesetz bietet die Basis, Prävention und Gesundheitsförderung in den nächsten Jahren in einem positiven Sinne weiterzuentwickeln. Es kommt eben darauf an, was die Beteiligten jetzt daraus machen. Ein Gesetz nutzen, setzt voraus, es zu kennen. Raimund Geene und Michael Reese von der Hochschule MagdeburgStendal haben ein Werk vorgelegt, in dem sie minutiös die einzelnen Passagen des Gesetzes in ihrer Textgenese vorstellen, die Gesetzesbegründung dazu stellen und jeweils mit kurzen Erläuterungen versehen. Hilfreich ist auch die Synopse zu den präventionsorientierten Gesetzesänderungen jenseits der §§ 20 ff Sozialgesetzbuch V, etwa im Kinder- und Jugendhilferecht oder im Pflegerecht, da diese Aspekte leicht aus dem Blickfeld geraten. In der Einleitung gibt es einen kompakten Überblick über die wesentlichen Regelungsinhalte des Gesetzes sowie einen kurzen Rückblick auf seine Entstehungsgeschichte. Wer zum Verlauf der Dinge etwas mehr wissen will, dem seien die Aufsätze von Luetkens in der Zeitschrift Prävention 2/ 2014 und Meierjürgen et al. in der Zeitschrift Prävention und Gesundheitsförderung 4/2016 sowie die detaillierte Chronik im Highlights-Magazin 18/2015 empfohlen. Im Anhang des Buches werden zudem der Beschluss des Rechnungsprüfungsausschusses des Bundesrechnungshofs aus dem Jahr 2010, der wichtige Impulse zur Qualitätssicherung in der Prävention gab, die Landesrahmenvereinbarung Sachsen aus dem Jahr 2016 und die Bundesrahmenempfehlungen aus dem Jahr 2016 dokumentiert. Dr. med. Mabuse 226 · März / April 2017


Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2016, 350 Seiten, 34,95 Euro

Anja Dietrich, Daphne Hahn u. a. (Hg.)

40 Jahre Psychiatrie-Enquete Blick zurück nach vorn

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ie von der deutschen Bundesregierung beauftragte Psychiatrie-Enquete legte 1975 ihren Abschlussbericht vor. Vorangegangen war eine vierjährige intensive Arbeitsphase, die 1971 mit 19 Mitgliedern gestartet wurde. Im Laufe der Zeit wurden 192 Tagungen durchgeführt, 24 Untersuchungen und 21 Gutachten vergeben sowie sechs Informationsreisen ins Ausland unternommen. Anlass für die Einsetzung der Enquete waren die teilweise nicht menschenwürdigen Lebensumstände psychisch Erkrankter in auch baulich unzureichenden Großkrankenhäusern. Der „Zeitgeist“ der Studenten- und Bürgerbewegung der 1960er Jahre spielte ebenso eine Rolle für die zunehmende Sensibilität beim Thema Psychiatrie. Mit dem Rückblick nach 40 Jahren ist es den HerausgeberInnen des Sammelbandes sehr gut gelungen, nicht nur die Verbesserungen zu schildern, die sich in der Folge der Veröffentlichung für die PatientInnen, ihre Angehörigen sowie die Dr. med. Mabuse 226 · März / April 2017

helfenden Berufe in der Psychiatrie ergaben, sondern ebenfalls zu reflektieren, welche Ziele nicht erreicht wurden. Gut 40 AutorInnen erläutern anhand einzelner Aspekte, wie die Empfehlungen der Psychiatrie-Enquete umgesetzt wurden, nicht ohne dabei auch einen kritischen Blick auf die aktuelle Situation zu werfen. Das Buch gliedert sich in einen einführenden sowie fünf weitere Teile: die Organisation psychiatrischer Institutionen, die Erklärungs- und Bedeutungssysteme der psychiatrischen Wissenschaft, die Methodik der Behandlung, der Status/das Selbstkonzept der NutzerInnen, der Status der Professionellen und ihr Verständnis von Professionalität. Mit dieser Systematik gelingt es den HerausgeberInnen, die 35 Kapitel mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen, Ansätzen und Erfahrungen sinnvoll zu gliedern. Einige AutorInnen waren bereits in den 1970er Jahren in der Psychiatrie aktiv, andere kamen erst später mit ihr in Berührung. Wie die Auswirkungen der Psychiatrie-Enquete bewertet werden, ist daher auch recht unterschiedlich. Zusammenfassend lässt sich jedoch sagen, dass nicht alle hohen Ziele von damals erreicht wurden, besonders die immer noch fehlende Personenzentrierung der Angebote, mangelnde Koordination, fehlende Kooperation der Beteiligten sowie große regionale Unterschiede in der Versorgung werden kritisiert. Das Buch lässt sich gut lesen. Den sechs Teilen des Buches sind jeweils kurze Abschnitte aus der Psychiatrie-Enquete von 1975 vorangestellt. Diese kleinen Einführungen sowie die sinnvolle Untergliederung aller Kapitel in einem ansprechenden Layout unterstützen das Lesen. Alle Kapitel sind mit einem Literaturverzeichnis versehen und geben interessierten LeserInnen die Möglichkeit, sich in einzelne Themen genauer einzulesen. Daher hat der Sammelband einen hohen Informationswert für alle, die sich einen Überblick über die Entwicklung der deutschen Psychiatrie in ihrem gesellschaftlichen Kontext verschaffen wollen. Mathilde Hackmann, Hamburg

144 Seiten. DIN-A4 Format. Kartoniert € 12,90 | ISBN 978-3-406-69834-7

Das Handbuch von Geene/Reese ist kein juristischer Kommentar, sondern eine inhaltlich orientierte Aufbereitung des Präventionsgesetzes. Kleinere Fehler, etwa dass die Landesrahmenvereinbarung Thüringens fälschlicherweise auf den 24.3.2016 datiert und als erste ihrer Art präsentiert wird (S. 178), dass sich die Landesrahmenvereinbarungen auch auf die Erstellung des Nationalen Präventionsberichts beziehen würden (S. 172) oder der Gesetzentwurf vom Februar 2005 als „Antrag“ bezeichnet wird, sollten bei einer zweiten Auflage bereinigt werden. Dessen ungeachtet ist das Buch hilfreich, um sich schnell über das Gesetz zu informieren – als „Einsteigerhilfe“ sicher eine gute Anschaffung. Dr. Joseph Kuhn, Dachau

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Verlag C.H.BECK oHG · 80791 München Preise inkl. MwSt. | 166749 Psychiatrie Verlag, Köln 2015, 504 Seiten, 39,95 Euro


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Gerd Schuster

IM ALTER AL LTER T KRANK SEIN IST T NICHTS NI FÜR SCHWACHE SCHW WACHE NERVEN NERVEN

ISBN 978-3-407-86436-9 Auch als erhältlich

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Heim und Heimweh Zur Sehnsucht alter Menschen an einem befremdlichen Ort

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ie kommen alte Menschen mit dem Umzug in eine Pflegeeinrichtung, mit dem Verlassen des vertrauten Zuhauses zurecht? Welche Rolle spielt die Sehnsucht in Zusammenhang mit dem endgültigen Verlassen der bisherigen Wohnung und des angestammten Wohnumfelds und warum führt dieser Abschied häufig zu existenziellen Krisen? Diesen und ähnlichen Fragestellungen geht der Pflegewissenschaftler, Psychologe und Theologe Gerd Schuster in seinem Buch nach. Nach langjähriger Tätigkeit in unterschiedlichen Führungspositionen im Bereich der Altenhilfe leitet er gegenwärtig das Forschungsinstitut für Bildung, Altern und Demografie in Bamberg. Über die schrittweise Annäherung an die Kultur der Institution beschreibt er anschaulich die emotionale Welt der Betroffenen. Nach einem einleitenden Kapitel skizziert Schuster den aktuellen Stand der Heimweh-, Nostalgie- und Sehnsuchtsforschung sowie Forschungsansätze zur Befindlichkeit alter Menschen im Pflegeheim, um in der Folge psychologische und soziologische Perspektiven zu Alter und Altern aufzuzeigen. Es folgt eine Darstellung der Institution Pflegeheim als Wohn- und Arbeitswelt. Danach beschreibt er sein Forschungsprojekt bezüglich Zielsetzung, Fragestellung, Methodik und Struktur. Die Projektergebnisse und deren Diskussion findet der Leser im Anschluss. Das letzte Kapitel schließlich zeigt unter anderem Implikationen der dargestellten Forschungsergebnisse für die Praxis und den aus der Warte des Autors bestehenden weiteren Forschungsbedarf hinsichtlich der behandelten Thematik. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass Forschern, denen es gelingt, überhaupt Zugang zu dem Forschungsfeld stationärer Einrichtungen der Altenhilfe zu finden, Anerkennung zu zollen ist. Erfahrungsgemäß gilt es hier, im Vorfeld eine ganze Reihe von Vorbehalten, Sorgen, Befürchtungen und Verunsicherung zu beschwichtigen, und zu beseitigen. Dabei ist stets zu beachten, dass personenbezogene und ethische Rechte, Belange und Grenzen (Würde, Intimität, Scham etc.) nicht verletzt und überschritten werden.

Was das konkrete Vorgehen anlässlich des vorgestellten Forschungsprojekts anbelangt, ist darüber hinaus die zur Anwendung gebrachte Methodik positiv zu erwähnen, die sich grundsätzlich an den qualitativen Prinzipien der Grounded Theory orientierte und sich im Einzelnen einer angemessenen Auswahl von Ansätzen bediente. Auf diese Weise konnte zum einen sichergestellt werden, dass die benötigte Nähe des Forschungsprozesses zu dem zu erforschenden „Feld“ gegeben war. Zum anderen war dieses Vorgehen insofern effektiv, als das Ziel, die Lebenswelt alter Menschen in Pflegeheimen und deren Deutungs- und Sinnfindungsstrategien zu erforschen, erreicht wurde und zu interessanten Erkenntnissen führte. Zudem werden diese in der Veröffentlichung in einem sehr leserfreundlichen Stil vermittelt. Die präsentierten Ergebnisse sollten auch Mut machen, sich verstärkt — qualitativer Methoden in der Gerontologie und den Pflegewissenschaften zu bedienen; — mit Fragen des Forschungsdesigns und methodischen Vorgehens in hoch sensiblen Feldern wie stationären Altenhilfeeinrichtungen zu befassen; — geriatrisch, gerontopsychiatrisch und psychosomatisch relevanten Aspekten der Heimwehforschung zuzuwenden. Gerd Schusters Buch kann aufgrund seiner Thematik, seines breit gefächerten, kompetent aufbereiteten Inhalts und – last, but not least – wegen seines hohen, ansprechenden sprachlichen Niveaus bestens empfohlen werden. Nach Ansicht des Rezensenten hätte es dem Werk allerdings gutgetan, wenn der Autor an geeigneter Stelle seine Darstellungen und Ausführungen (stärker) mit Gedankengängen, Argumenten und Erkenntnissen aus dem Fundus der Phänomenologie, der verstehenden Soziologie sowie der Psychoanalyse hinterlegt und in Zusammenhang gebracht hätte. Harald Blonski, Sendenhorst

Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2016, 313 Seiten, 42,95 Euro

Dr. med. Mabuse 226 · März / April 2017


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Paul T. M. Smith

Stressreduzierende Pflege von Menschen mit Demenz Der Stress-Coping-Adaptations-Ansatz

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as Entscheidende in der Begegnung mit Menschen, die von einer Demenz betroffen sind, ist wohl, wie man den Weg zu einem Miteinander sucht. Dies ist die Botschaft des Buchs des britischen Pflegewissenschaftlers Paul T. M. Smith. Es macht einen hölzernen Eindruck, wenn man vom „Stress-Coping-Adaptations-Ansatz“ liest, aber Smith ist über die mehr als 200 Seiten ganz nah bei den betroffenen Menschen. Es ist schon Stress an sich, wenn ein Mensch in seiner Biografie demenzielle Veränderungen erlebt. Der Betroffene verliert den Boden unter den Füßen und ist darauf angewiesen, dass begleitende Menschen Rahmenbedingungen schaffen, die Sicherheit und Wohlgefühl in gleichem Maße vermitteln. „Die primäre Aufgabe der Demenzpflege sollte im Bewahren des Personseins liegen; Identität steht im Zentrum der Person“, schreibt Smith. Der Demenzbetroffene bleibt ihm zufolge ein handelndes Subjekt, kein Objekt der Fürsorge, das in einer erlernten Hilflosigkeit resignieren soll. So stellt Smith etwa das „Behinderungsmodell“ vor, das Prinzipien und Ideale bieten wolle, „welche die verbliebenen Fähigkeiten stärk[en] und gleichzeitig versuch[en], Behinderung zu kompensieren“. Wenn ein Mensch keine Beine habe, sei man gesetzlich verpflichtet, Prothesen zur Verfügung zu stellen oder Rampen zu bauen. Habe jedoch jemand eine Schädigung des Kurzzeitgedächtnisses, so gebe es keine Anpassung der Umgebung. Aus dem fachlichen Diskurs wird bei Smith immer auch eine politische Abwägung. Das ist gut so, schließlich gibt es bei den Hilfen, die Demenzbetroffenen zur Verfügung gestellt werden sollten, immer auch eine politische Dimension. Durch das Voranschreiten einer Demenz bleiben deren Versorgung und Begleitung stets dynamisch. Der Stress, dem sie ausgesetzt sind, verändert sich, indem sich die Toleranzschwellen reduzieren. Die Anpassungsleistung wird zu einer stetig wachsenden Herausforderung. Smith erläutert anschaulich und ausführlich die Zusammenhänge von DeDr. med. Mabuse 227 · Mai / Juni 2017

menz und Stress. Spannend wird es, wenn er den Stress und das innere Milieu darstellt. Gestörtes Verhalten könne das Ergebnis eines veränderten Körperrhythmus oder von ungelöstem Stress sein, so Smith. Für Pflegende sei es von großer Bedeutung, über ein verändertes Denken zu einer angepassten Haltung und einem sich wandelnden Handeln zu gelangen. Smiths Ansatz einer „Progressively Lowered Stress Threshold“ (dt. etwa: eine sich fortschreitend reduzierende Stressgrenze) geht von verschiedenen Prinzipien aus. So geht es um das „Maximieren einer sicheren Funktion durch prothetisches Unterstützen bei Ausfällen“, das „Sorgen für bedingungslose positive Wertschätzung“ und das „Nutzen von Angst und Vermeidungsverhalten zur Beurteilung des Aktivitäts- und Stimulationsniveaus“ – ein hoher Anspruch für Pflegende. Smith eröffnet Gestaltungsräume, die es zu füllen gilt. Nötig ist dafür jedoch, sich selbst durch eine engagierte teilnehmende Beobachtung einzubringen. Wer aufmerksam beobachtet und den Betroffenen zuhört, entwickelt eine Sensibilität, die der Begleitung demenziell veränderter Menschen entgegenkommt. Smith geht gar so weit, dass er Pflegende ermuntert, Künstler zu sein – im Gegensatz zu einem Verständnis als Dienstleister. Es ist sicher einen Versuch wert, sich bei „unterstützenden Pflegeumgebungen“ kreativ gestaltend einzulassen. Auch zu einer „Ästhetik des Pflegeheims“ äußert sich Smith. Konkret wird es, wenn er den „Körpersystemansatz“ beschreibt. Über die fünf Sinne eines Menschen macht er Vorschläge, wie angepasste Umgebungen im Pflegeheim, aber auch im häuslichen Umfeld, gestaltet werden können. Smiths Buch eröffnet Angehörigen wie beruflich Pflegenden Perspektiven – sowohl in der Weiterentwicklung der Hilfen für Betroffene als auch in der Haltung gegenüber den Menschen und den Phänomenen. Da werden in der Begegnung mit Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind, wirklich Fortschritte gemacht. Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Bornheim

Hogrefe Verlag, Bern 2016, 248 Seiten, 29,95 Euro

Angehörige begleiten

Angelika Feichtner, Bettina Pußwald

Palliative Care Unterstützung der Angehörigen facultas 2017 176 Seiten, broschiert EUR 18,40 ISBN 978-3-7089-1489-3 epub 978-3-99030-633-8

Wer schwer oder terminal erkrankte Patientinnen und Patienten in ihrer letzten Lebensphase begleitet, begleitet immer auch deren Angehörige. Im Bewusstsein, dass die gemeinsame Zeit begrenzt ist, wollen Angehörige diese wertvolle Zeit mitgestalten und – trotz eigener Belastung – den Betroffenen Unterstützung sein. Da liegt es an den Pflegenden und dem professionellen Betreuungssystem, sie in Achtung ihrer individuellen Bewältigungsstrategien dabei zu unterstützen. Das Praxisbuch „Palliative Care“ bietet Anregungen für Pflegende, wie die Zusammenarbeit mit Angehörigen in der palliativen Betreuungssituation gelingen kann, ist aber auch ein hilfreicher Leitfaden für Angehörige in dieser schwierigen Zeit.

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Benno Hafeneger, Marcus Velke u. a.

Geschichte der hessischen Landesärztekammern 1887–1956 Autonomie – Verantwortung – Interessen

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m Vorwort der umfangreichen Studie schreibt Siegmund Drexler, einer ihrer Initiatoren, dass die Aufarbeitung der Rolle gesellschaftlicher Institutionen ohne den Blick auf vorausgegangene Epochen nicht möglich sei. Die NS-Zeit habe im Bildungsbürgertum, bei konservativen Intellektuellen, an den Universitäten und in der überwiegend konservativen Ärzteschaft Unterstützung gefunden. Insbesondere eine biologistische Medizin und ein rassistisches Bild von Gesellschaft hatten Vorläufer. Kurz nach der Machtübernahme wurden 1933 jüdische Ärzte aus Praxen, Kliniken und Universitäten „entfernt“, später kranke Menschen als „unwertes Leben“ getötet. Nach dem Krieg gab es eine „erschreckende Kontinuität“, auch in den Körperschaften der Ärzteschaft, und die Forderung, die Vergangenheit ruhen zu lassen. 2013 hatte die Delegiertenversammlung der Landesärztekammer Hessen beschlossen, ihre Geschichte umfassend wissenschaftlich beforschen zu lassen; zuvor gab es einige Untersuchungen zur Rolle der Ärzteschaft in der NS-Zeit und zum Schicksal jüdischer Ärzte. Ein Team um Prof. Benno Hafeneger (Philipps-Universität Marburg) wurde mit dem Forschungsprojekt beauftragt. Beim Hessischen Ärztetag im September 2016 wurde der Abschlussbericht vorgelegt. Die Intention der Projektgruppe war es, „eine institutions- und regionalgeschichtliche Rekonstruktion der Standesgeschichte der organisierten Ärzteschaft und deren Politik und Vertretung in Form der hessischen Ärztekammern für den langen Zeitraum von 1887 bis 1956 vorzulegen“. Es handelt sich um vier Epochen: Kaiserzeit, Weimarer Republik, NSZeit und Nachkriegszeit. Hessen-Nassau spielte sowohl 1919 als auch 1946 eine „Schrittmacherrolle“ bei der Bildung von Ärztekammern. Die Autoren fragen: Wie haben sich die Kammern gebildet, was waren ihre zentralen Themen, welche Aufgaben sahen sie, welche Kontinuitäten und Diskontinuitäten finden sich, wer waren die Akteure der Standespolitik?

Die bewegte Geschichte der Kammern wurde durch detailliertes Quellenstudium in zahlreichen Archiven rekonstruiert. Dabei gewinnt der Leser einen Eindruck über das Denken und Handeln der Funktionsträger der Ärzteschaft im Kontext des jeweiligen politischen Systems. Es belegt zudem, dass die schnelle und willfährige Anpassung der Ärzteschaft an die NS-Ideologie eine Vorgeschichte hat und diese nach 1945 größtenteils weiter bestand durch Verdrängen und Verleugnen der menschenverachtenden Medizin der NS- und Vor-NS-Zeit sowie durch „Persilscheine“ und dreistes Lügen (z.B. Neuropathologe Hallervorden, Uni Gießen). Am Beispiel der Nürnberger Ärzteprozesse und der Berichterstattung Alexander Mitscherlichs im Auftrag der Ärzteschaft wird deutlich, wie Funktionsträger mit ihrer Vergangenheit umgegangen sind. Von 1945 bis 1946 war Paul Hofmann, Chirurg und Orthopäde aus Kassel, jüdischer Abstammung und überlebender KZ-Häftling, der erste Präsident der Ärzteschaft Groß-Hessens. Auf ihn folgte rasch Carl Oelemann. Interessant ist, dass die Bildergalerie in der Landesärztekammer Hessen kein Portrait von Hofmann zeigt. Dies soll inzwischen – auch eine Folge der Studie – nachgeholt werden. Das reichhaltige Quellenmaterial mit Protokollen, Presseartikeln, Briefen, Lebensläufen (z.B. Personenlexikon) macht das Buch zu einer spannenden und lehrreichen Lektüre über die Geschichte der Ärzteschaft am Beispiel Hessen. Bei der Gedenkfeier des Deutschen Bundestages zum Holocaust im Januar 2017 sagte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), dass „Ärzte zu Henkern (...) ehemalige Täter zu Ordinarien befördert, mit Verdienstkreuzen geehrt, ihre Taten verdrängt und die Opfer vergessen wurden“, dass jahrelange Gleichgültigkeit in Wissenschaft, Medien und Politik herrschte. Genau das belegt die Studie eindrücklich. Prof. Dr. med. Matthias Elzer, Hofheim am Taunus

Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts. 2016, 544 Seiten, 49,80 Euro

Wolf-Ulrich Klünker, Johannes Reiner u. a.

Psychologie des Ich Anthroposophie, Psychotherapie

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ieses Buch möchte nicht weniger als einen multiperspektivischen Beitrag zur wissenschaftlichen Fundierung anthroposophischer Psychotherapie im Diskursfeld der Subjektivierung leisten. Bemerkenswert dabei ist die methodische Diversität der AutorInnen. So werden nicht nur Kasuistiken und Therapieansätze, sondern auch eine Einordnung der anthroposophischen Weltsicht in eine chronologisch aufgebaute Geschichte der Geisteswissenschaft des Ichs „mit Zukunftsaspekt[en] des 21. Jahrhunderts“ aufgeboten, um ein zukünftig zu bearbeitendes Forschungsterrain – die Psychologie des Ich – abzustecken. Diese dezidiert bei Wolf-Ulrich Klünker ausgeführte Arbeit ordnet über Aristoteles, Thomas von Aquin, Albert Magnus und Hegel den Forschungsansatz historisch ein und verortet ihn schließlich bei und mit Rudolf Steiner. Wesentlich praxisorientierter führt Johannes Reiner in seinem ersten Beitrag „Lebensstruktur des Ich. Menschenkundliche Ausgangspunkte“ fünf Grundfähigkeiten zur Selbstentwicklung aus, die er von Rudolf Steiners 1904 verfassten „Nebenübungen“ ableitet. Maria Tolksdorf beschreibt in ihrem Beitrag aus ihrer Erfahrung als Kinderund Jugendlichenpsychotherapeutin die Wechselwirkungen von pädagogischen Imperativen und eng getakteten Tagesabläufen, die bei Kindern und Jugendlichen zu Erschöpfungszuständen und Selbstzweifeln führen. Durch die Überwindung automatisierter Denkbewegungen wird ein Wagnis zur Selbsterkenntnis vorgeschlagen, dass die (Selbst-)Krisen als Ausgangspunkte für ein neues Selbstbewusstsein versteht. Mit historischen Referenzen, wie den Vorträgen des Heilpädagogischen Kurses 1924, arbeitet Roland Wiese in seinen Beiträgen „Weltbezug des Ich. Subjektivität und Individualität“ und „Erfahrung des Ich. Ein Übungsansatz“. Er verbindet in wechselnder Intensität theoretische Ausführungen zu den Forschungsansätzen des Heilpädagogischen Kurses oder den Anthroposophischen Leitsätzen 11 bis 16 mit eigenen und historischen Fallgeschichten. Werden bei Wiese insbesondere im ersten Artikel Forschung und Dr. med. Mabuse 227 · Mai / Juni 2017


Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2016, 187 Seiten, 22 Euro

Klaus Dörner, Thomas Bock u. a. (Hg.)

Irren ist menschlich Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie

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as Buch „Irren ist menschlich“ von Klaus Dörner und Ursula Plog gehört zu den wenigen Büchern, für die ein Verlag gegründet wurde: der Psychiatrie Verlag vor nun genau 40 Jahren. Das Lehrbuch der Psychiatrie wurde von der ersten Auflage an zu einem Kultbuch. Die ersten 3.000 Exemplare wurden den frisch gebackenen Verlegern mehr oder weniger aus den Händen gerissen – bereits nach wenigen Wochen musste nachgedruckt werden. Mittlerweile liegt es bei 400.000 verkauften Exemplaren in der 24. Auflage vor. Dr. med. Mabuse 227 · Mai / Juni 2017

Es ist eine schier unglaubliche Geschichte: Vier Laien beschließen, einen Verlag zu gründen – eine psychiatrische Krankenschwester, ein Psychiater und die beiden Autoren. Zwei sozialpsychiatrische Hilfsvereine einer Anstalt in Wunstorf bei Hannover werden Träger und stellen ihre spärliche Infrastruktur zur Verfügung. Eine Ergotherapeutin und ein Sozialarbeiter werden, beide in ihrer Freizeit, die ersten Verleger. Und das erste Buch läuft und läuft und läuft – all das ohne professionelles Management und ohne Werbung. Das war nur durch die in der Anfangsphase enge Bindung des Verlages an die Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie (DGSP) möglich, die damals ebenfalls ihre Geschäftsstelle in Wunstorf hatte und für einige Jahre dritter Gesellschafter des Verlages wurde: Die DGSPler wollten ebenso wie das Buch eine andere, dem kranken Menschen zugewandtere Psychiatrie. Inzwischen hat sich einiges geändert: Das damals unansehnliche Buch mit dem schäbigen Pappeinband und der laienhaften Gestaltung ist ein Schmuckstück geworden, mit augenfreundlichem Layout und einem Einband, der gut in der Hand liegt. Beides ist auch nötig, denn das Buch bringt es bei knapp 1.000 Seiten inzwischen auf anderthalb Kilo Gewicht. Das Lehrbuch ist eher ein Handbuch geworden und es gibt nicht nur äußerliche Veränderungen: Von den Autoren ist nur Klaus Dörner geblieben, Ursula Plog ist 2002 verstorben. An ihre Stelle sind vier zusätzliche Herausgeber und insgesamt 22 MitarbeiterInnen getreten. Trotzdem besteht der Eindruck, dass es im neuen Team gelungen ist, ein einheitliches Werk vorzulegen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass das ursprüngliche Grundkonzept beibehalten wurde. So bleibt „Irren ist menschlich“ in erster Linie ein Buch über Kranke, ihre Leiden sowie über ihre Helfer – und keines über Krankheiten. Das schlägt sich unter anderem in den Kapitelüberschriften nieder. So heißt etwa das erste Kapitel, das sich den Therapeuten widmet, „Der sich und Anderen helfende Mensch.“ Im Kapitel „Der sich und Andere niederschlagende Mensch“ geht es um depressive Erkrankungen. In diesen Überschriften wird sowohl deutlich, dass jedes Ding zwei Seiten hat, als auch, dass Krankheiten nicht nur den unmittelbar Leidenden betreffen, sondern ebenso Angehörige und Menschen in der Umgebung. Die Wahl der Begrifflichkeit

Lutz Wesel, Arzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapeut und Psychoonkologe, hat vor einigen Jahren selbst eine schwere Krebserkrankung überstanden. In diesem Buch fasst er übersichtlich und gut verständlich zusammen, was man als Patient oder Angehöriger wissen muss, um gute und sichere Entscheidungen treffen und besonnen die richtigen Maßnahmen ergreifen zu können. Das Buch informiert über Schulmedizin und Komplementärmedizin, gibt Tipps, wie man mit Ärzten und Angehörigen kommuniziert, und zeigt, was man als Patient selbst tun kann, um wieder gesund zu werden. Es schaff fftt Verständnis, nimmt die Angst, macht Mut und gibt Zuversicht. Eine Checkliste hilfft, die notwendigen Schritte zu planen. Ein Servicekapitel gibt Hinweise auf Institutionen, Spezialkliniken, Krebsinformationsdienste, Selbsthilfegruppen und weiterführende Literatur.

229 Seiten, Kt, 2017 € (D) 24 ,95/€ (A) 25,70 ISBN 978-3-8497-0176-5

Praxis der „konkreten Verbindungsversuche des Ich mit dem Organismus“ mit Blick auf die Schwellenmomente des Aufwachens und Einschlafens aus dem Text heraus nachvollziehbar beschrieben, so scheint der zweite Artikel sich auf die jeweiligen Leitsätze nur als erweiternde Ausführung zu begreifen. Den Ansatz von Wiese weiterdenkend, dass die Leitsätze kein eigenes Erkenntnissystem, sondern ein „sich-ereignendes erkenntnis-Geschehen“ darstellen, macht die Entscheidung der Autoren, die betreffenden Leitsätze ebenfalls abzudrucken, durchaus nachvollziehbar. Auch wenn die historischen und philosophischen Anekdoten, die einige Beiträge des Bandes prägen, mehr illustrativen als argumentativen Charakter aufweisen, bleiben die Kernargumentationen in allen Beiträgen des Sammelbandes stets stichhaltig. Das Gesamtprojekt, Psychoanalyse und Psychosynthese zusammenzudenken, wird so als vielversprechendes und nutzbringendes Unterfangen dargestellt. Die Kombination aus Themenfeld, gemeinsamer Perspektive und nicht zuletzt den unterschiedlichen Methoden – von empirisch-berichtend bis historisch-analytisch – macht das Buch zu einer lohnenden Lektüre. Fabian Kirchherr, Weimar

127 Seiten, Kt, 2017 € (D) 177,,95/€ (A) 18,50 ISBN 978--3-8497-0188-8

Besonnen handeln!

Das Reden gehört wesentlich zu jeder Psychotherapie. Das brachte Carmen C. Unterholzer zu der im Grunde naheliegenden Frage, ob und wie sie als systemische Therapeutin auch das Schreiben in der Beratung lösungsorientiert einsetzen könnte. Dabei stellte sie fest, dass die meisten Bücher zum Thema eher zur Selbsthilffe anregen oder schreibpädagogisch ausgerichtet sind. „Es lohnt sich, einen Stifft zu haben – Schreiben in der systemischen Therapie und Beratung“ ist wahrscheinlich das einzige deutschsprachige Buch, das das Schreiben in der systemischen Therapie und Beratung positioniert und sich konsequent dem therapeutischen Nutzen des Schreibens innerhalb von therapeutischen Settings widmet.

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ist aus meiner Sicht nicht immer gelungen und ich hadere damit, seit sie in der zweiten Auflage eingeführt wurde. Die in den Überschriften gewählte Sprache der ersten Auflage gefällt mir noch immer besser und ich nehme an, dass es vielen Lesern, vor allem Ärzten, ähnlich geht. Aber niemand sollte sich dadurch abhalten lassen, das Buch in die Hand zu nehmen. Seine Lektüre ist auf jeden Fall eine Bereicherung – auch für Ärzte. Und die vielen anderen Berufsgruppen, die mit psychisch Kranken zu tun haben, werden mit „Irren ist menschlich“ ein sehr gutes, wenn auch etwas langes Lehrbuch finden. Ähnliches gilt für die Betroffenen selbst und für ihre mitleidenden Angehörigen. Asmus Finzen, Berlin

Psychiatrie Verlag, 24. vollst. überarb. Auflage, Köln 2017, 992 Seiten, 39,95 Euro

Renate Stemmer, Martin Schmid u.a. (Hg.)

Aufgabenverteilung und Versorgungsmanagement im Krankenhaus gestalten – von erfolgreicher Praxis lernen

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n 20 Kapiteln widmet sich das Buch der Fragestellung, wie angesichts der ökonomischen und demografischen Herausforderungen sowie der steigenden Anforderungen an die Behandlungs- und Pflegebedarfe von Patienten (im Folgenden wird die männliche Form verwendet, gemeint sind aber immer alle Geschlechter) eine qualitativ hochwertige Versorgung im Krankenhaus gewährleistet werden kann. Die Autoren fragen, wie die gesundheitliche und pflegerische Versorgung im Akutsetting durch eine Verteilung der Aufgaben zwischen den Berufsgruppen im Sinne der Patienten verändert werden kann. Zudem wird in den Blick genommen, wie die zunehmende Akademisierung klinischer Pflege dazu beitragen kann und welche Verantwortlichkeiten akademisch qualifizierte Pflegefachkräfte übernehmen können. Diese Frage ist von hoher Bedeutung, da immer mehr Absolventen ausbildungsintegrierter Pflegestudiengänge die Hochschulen verlassen. Ein angemessener und sinnvoller Einsatz der aka-

demisch qualifizierten Fachkräfte macht internationalen Erkenntnissen zufolge einen Unterschied im Ergebnis und in der Qualität der Krankenhausversorgung. Um diese Fragen beantworten zu können, ziehen die Autoren Ergebnisse von Modellprojekten heran, die in Kliniken in Rheinland-Pfalz bzw. in weiteren Ansätzen und Programmen umgesetzt und evaluiert wurden. Sie wollen wissenschaftliche Ansätze mit Praxisnähe verbinden, um konkrete Antworten zu finden. Im ersten Teil des Buches werden die Dimensionen von Aufgabenneuverteilung und Versorgungsmanagement thematisiert. Es sind eher einführende Themen, die von pflegerischer Bildung und Aufgaben im Umbruch bis hin zu ökonomischen und rechtlichen Aspekten der Aufgabenneuverteilung sowie ethischen Perspektiven auf das Krankenhaussystem reichen. Hier werden alle wesentlichen Grundlagen für die weiteren Kapitel des Buches diskutiert. Die Autoren argumentieren stringent und differenziert auf der Grundlage neuester Erkenntnisse aus den jeweiligen Fachgebieten. Insgesamt wird deutlich, dass sowohl aus bildungspolitischer wie auch aus ökonomischer und ethischer Perspektive viele Argumente für einen sinnvollen Einsatz akademisch qualifizierter Pflegefachkräfte sprechen. Die rechtliche Situation hingegen ist weniger eindeutig. Viele Fragen des Arztvorbehaltes, der Aufgabenzuweisung sowie der Delegation sind rechtlich nicht eindeutig geklärt. Im zweiten Teil werden die Ergebnisse von Modellvorhaben in rheinland-pfälzischen Kliniken vorgestellt. Diese zeigen eine Verbesserung im Versorgungsmanagement sowie Kosteneinsparungen und Produktivitätssteigerungen. Aber es wird auch deutlich, dass Vorbehalte, strukturelle, organisatorische und hierarchische Probleme Projekte dieser Art in der Umsetzung behindern können. In den sich anschließenden Erfahrungsberichten aus den Kliniken wird beschrieben, dass die Projekte die pflegerische Versorgung sowie das pflegerische Verständnis der Fachkräfte auch noch einige Zeit nach Projektende beeinflusst haben. Innovative Ansätze für die Neuverteilung von Aufgaben und für das Versorgungsmanagement in der Krankenhauspraxis werden im dritten Teil des Buches vorgestellt. Darin geht es um die „Reorganisation von Pflege anhand fachlicher

Schwerpunktsetzungen“, den „Einsatz akademisch qualifizierter Pflegender“ und das Thema „Behandlungskoordination und Versorgungsmanagement“. Zunächst werden zwei Pilotprojekte beschrieben: ein Pflegeberatungs- und ein Pflegekonsiliardienst. Im Anschluss werden Ergebnisse von fünf unterschiedlichen Projekten zum „Einsatz akademisch qualifizierter Pflegender“ dargestellt, die alle sehr unterschiedlich sind und sich beispielsweise mit der Integration von Bachelorabsolventen in die Pflegepraxis oder Konzepten zur Personalentwicklung befassen. Unter dem Punkt „Behandlungskoordination und Versorgungsmanagement“ finden sich Projektdarstellungen zum Entlass-, Versorgungs- und Case-Management, zur sektorenübergreifenden Versorgung von Menschen mit Knochenmarktransplantationen sowie zu Epilepsie Nursing bzw. zur Behandlungskoordinatorin Epilepsie. Das Buch ist allen Lesern unbedingt zu empfehlen, die sich mit Fragen des Einsatzes akademisch qualifizierter Pflegefachkräfte und einer möglichen Neuverteilung von Aufgaben in Krankenhäusern beschäftigen. Es ist bislang die umfassendste Publikation zu dieser Thematik in Deutschland, die nicht nur mit theorie-, sondern auch mit forschungsgeleiteten Erkenntnissen darstellt, dass Pflegefachkräfte mit einem akademischen Abschluss patientennah in Krankenhäusern eingesetzt werden können und damit zu einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung beitragen. Leider befinden sich die meisten der präsentierten Projekte noch in der Pilotphase und sind nicht nachhaltig umgesetzt. Für eine angemessene Implementierung neuer Aufgabenfelder sowie Verantwortlichkeiten von professionellen Pflegefachkräften müssen ähnliche Maßnahmen und Interventionen in ihrer Wirksamkeit untersucht werden. Am Ende des Buches vermisse ich lediglich ein zusammenfassendes Fazit, in dem die vielfältigen Projekte und Ergebnisse kritisch reflektiert sowie in ihrer Bedeutung eingeordnet werden. Martina Hasseler, Oldenburg

medhochzwei Verlag, Heidelberg 2016, 384 Seiten, 59,99 Euro Dr. med. Mabuse 227 · Mai / Juni 2017


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Martin Teising

Selbstbestimmung zwischen Wunsch und Illusion Eine psychoanalytische Sicht

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n zwölf Abschnitten erläutert der Psychoanalytiker und Facharzt für Psychiatrie Martin Teising die folgende, auf dem Klappentext des Buches zu lesende These: „Jeder Mensch möchte möglichst weitreichend über sich selbst verfügen. Doch unterliegen wir Naturgesetzen und vielfältigen gesellschaftlichen Bedingungen. Die Behauptung eines autonomen Individuums verschleiert sein gleichzeitiges Beherrschtwerden: intrapsychisch durch das Unbewusste, aber auch gesellschaftlich durch die Gesetze des Marktes und die technologische Entwicklung in einer digitalisierten Welt. Die Wirkmächtigkeit des Einzelnen hängt von der Anerkennung seines Eingebundenseins ab. Dies gilt für das Individuum, seine Selbstbestimmung und deren Grenzen, aber auch für die Begrenzung des technisch Machbaren in einem bedrohten Ökosystem.“ Entwicklungspsychologisch naheliegend setzt er beim Säugling an und hört bei dem seinem Lebensende entgegensehenden Menschen auf, wenngleich er das nicht streng chronologisch abarbeitet. Anschaulich beschreibt er die existenziellen äußeren Abhängigkeiten des Säuglings und die zunehmenden Äußerungen der Selbstbestimmung beim (Klein-)Kind. Ausführlich geht er auf die, wie er konstatiert, Illusion der Selbstbestimmung des er-

wachsenen Menschen ein, der er die vielfältigen Fremdbestimmungen der modernen Lebenswirklichkeit entgegenhält. In diesem Zusammenhang kritisiert er deutlich die fetischgleiche, narzisstische Überhöhung des Individualismus in unserer Gesellschaft. Nachdrücklich weist Teising auch die Vorstellung zurück, das Lebensende selbstbestimmt in die eigenen Hände nehmen zu können, sei es durch Suizid oder Patientenverfügungen. Die Selbsttötung des alten Menschen sei vielmehr ein verzweifelter Ausdruck seelischer Not. Patientenverfügungen seien somit kein Ersatz für das von ihm geforderte Einlassen aufs Loslassen-Können, das Akzeptieren der Realität des Alters mit all seinen Einschränkungen und das Annehmen der Abhängigkeit und Bedürftigkeit in „generationaler Gebundenheit“. Aber er gesteht auch ein, dass die „Abhängigkeit von anderen Menschen, von eigenen Kindern, Partnern, Freunden, Pflegekräften oder Wohlfahrtseinrichtungen (…) häufig als Ausgeliefertsein empfunden [werde], und zwar umso mehr, als der Betroffene mit der ‚Illusion der Selbstbestimmung und Unabhängigkeit‘ (Mieth, 2008) gelebt hat.“ Nicht zuletzt weil er einen zunehmenden Bedeutungsverlust für zwischenmenschliche Solidarität und die Entwertung des menschlichen „Beziehungs- und Bindungsbedürfnisses“ erkennt, plädiert Teising nachdrücklich für die Wertschätzung des Generationenvertrags: „In dieser letzten Lebensphase werden Autoritätsbeziehungen zwischen den Generationen

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grundlegend umgestaltet, wenn Hilfebedarf bei Aktivitäten des täglichen Lebens (...) entsteht, wenn der erwähnte Generationenvertrag als Ausdruck menschlicher Zivilisation und Solidarität in Form von Pflege- und Versorgungsleistungen zum Ausdruck kommt.“ Dem Autor hier uneingeschränkt zu folgen, fällt mir angesichts der massiven Defizite im Pflegesektor schwer. Womöglich müsste man an seinem Lob der Pflegeleistungen generationaler Art gewisse Abstriche machen, wenn die menschliche Zuwendung in der Familie auch dem Diktat der Unbezahlbarkeit institutioneller Leistungen geschuldet ist. Teising in seinen Ausführungen zu folgen, setzt zwar nicht zwingend Fachkenntnisse voraus, aber sie sind hilfreich, um seine differenzierte und mit zahlreichen Belegen versehene Darstellung nachzuvollziehen. Die zentrale Frage, ob ein freier Wille existiert oder nicht, hat auch außerhalb der akademischen Wissenschaft eine enorme gesellschaftliche Relevanz: Die Schuld und Verantwortung betreffenden Implikationen für das Moralgebäude, Rechtswesen und die Grundordnung des Rechtsstaates, die auf die Selbstverantwortlichkeit des Individuums wesentlich aufbauen, sind beträchtlich. Wolfgang Liers, Bad Hersfeld

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017, 82 Seiten, 10 Euro

Älter werden – gesund bleiben Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) e.V. (Hrsg.)

MOSES G. STEINVORTH

Älter werden – gesund bleiben BDP-Bericht 2016

Gebrauchsanweisung für eine ganzheitliche Krebsprävention

Der Bericht thematisiert den Stellenwert der Psychologie u. a. für die Stärkung von pfl egenden Angehörigen und die Gestaltung einer würdevollen letzten Phase.

Moses G. Steinvorth

Was schützt uns vor Krebs?

Die Krebsreise Ein kleiner Reisebegleiter für krebskranke Menschen

Gebrauchsanweisung für eine ganzheitliche Krebsprävention Was schützt uns vor Krebs?

2016, 96 Seiten, Broschur, ISBN 978-3-942761-42-0, 15,00 EUR

Moses G. Steinvorth

2004, 64 Seiten, Broschur, ISBN 978-3-931589-63-9, 12,80 EUR

2016, 80 Seiten, Broschur, ISBN 978-3-942761-41-3, 15,00 EUR

Der Autor wird bei seinen Betrachtungen der essenziellen Forderung nach Berücksichtigung von Körper, Geist und Seele auch beim Krebsgeschehen gerecht.

In verständlicher Sprache zeigt der Autor auf, was Krebs überhaupt ist und wie psychosoziale Faktoren den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen können.

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Zu beziehen über den Buchhandel oder direkt beim Verlag: Deutscher Psychologen Verlag GmbH Am Köllnischen Park 2 · 10179 Berlin · Tel. 030 - 209 166 410 · Fax 030 - 209 166 413 · verlag@psychologenverlag.de


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Wolfgang Oelsner, Gerd Lehmkuhl

Spenderkinder Künstliche Befruchtung, Samenspende, Leihmutterschaft und die Folgen

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Schutzkonzep te konkret umsetz en

Interessierte an Theorie und Praxis des Kinderschutzes in Organisationen finden empirisches Wissen und Praxisanregungen zur Umsetzung von Schutzkonzepten aus der Sicht von Kindern, Jugendlichen und Fachkräften. 2017, 270 Seiten, broschiert, € 19,95; Format: DIN A 4 ISBN 978-3-7799-3470-7 Auch als E-Book erhältlich

Über den Tod

Unter dem Begriff der Transmortalität wird in diesem Band in interdisziplinärer Perspektive der Frage nach dem Umgang mit dem menschlichen Körper im Kontext der Organtransplantation nachgegangen. 2017, 234 Seiten, broschiert, € 29,95; ISBN 978-3-7799-3631-2 Auch als E-Book erhältlich

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JUVENTA

ie Autoren des Buches sind zwei Kindertherapeuten, die selbst zwar keine praktische Erfahrung mit der Therapie von „Spenderkindern“ haben, dafür aber lange mit Adoptivkindern arbeiteten. Ihr Buch gliedert sich in drei Teile: Im ersten, „Eltern werden heute“, geht es um die Ansichten der Autoren zur modernen Reproduktionsmedizin. Im zweiten werden „Lebensskizzen“ von „Spenderkindern“ kurz vorgestellt, mit dem Fokus auf die abenteuerlichen Umstände der Entdeckung, aus einer Samenspende zu stammen. Hierfür haben die Autoren zehn Personen aus dem Verein „Spenderkinder“ interviewt, die mittlerweile erwachsen sind. Im dritten Teil „‚Kindermachen’ – und die Folgen“ werden die Fallskizzen dieser Menschen kommentiert. Die Autoren machen durchgängig keinen Hehl daraus, dass sie von den neueren Methoden der assistierten Reproduktion mithilfe Dritter nicht viel halten und dass sie selbst als Angehörige einer älteren Generation nicht viel mit der Familiengründung per Samenspende anzufangen wissen. Die erwachsenen Kinder, die Oelsner und Lehmkuhl für das Buch interviewten, erfuhren meist erst im Erwachsenenalter und unter ungünstigen Umständen von dem Familiengeheimnis ihrer besonderen Zeugung. So hatten sie nie die Chance, von Anfang an in ihre besondere Situation hineinzuwachsen, und sie bekamen auch kaum nähere Informationen über den Mann, von dem sie abstammen. LeserInnen, die erfahren möchten, wie sich Menschen fühlen, die von ihren Eltern über die Zeugung qua Samenspende lange Zeit belogen wurden, lesen die Lebensskizzen mit Gewinn. Die Fallvignetten können als abschreckende Erzählungen dienen, die zeigen, wie betroffene Eltern mit dem Thema Samenspende eben nicht umgehen sollten. In den geschilderten Fällen haben die Eltern nicht mit ihren Kindern gesprochen, als sie es hätten tun sollen. Vielmehr gingen sie verdruckst mit dem Thema um und instrumentalisierten ihre „Wunschkinder“ mitunter im Sinne einer Parentifizierung. Diese Eltern waren offensichtlich nicht mit der Nutzung einer Samenspende im Reinen, auch weil man

damals vonseiten der Ärzte dazu riet, besser Stillschweigen über die Angelegenheit zu wahren. Leider versäumen es die Autoren, auf die Situation der Kinder einzugehen, die heute mithilfe einer Samenspende zur Welt kommen. Denn das Verhalten und die Empfindungen moderner Familien nach assistierter Reproduktion fallen oft ganz anders aus als früher, als Samenspende noch ein absolutes Tabuthema war. Insofern hätte dem Buch etwas mehr Recherche nicht geschadet, vielleicht auch ein paar Interviews mit erwachsenen Kindern aus lesbischen Familien. Im Bereich der Reproduktionsmedizin eher feldunkundig scheinen sich die Autoren in einem Sammelsurium von Themen zu verzetteln: Sie wechseln mehrfach zwischen Gesellschaftskritik und verschiedenen Phänomenen wie Leihmutterschaft, Auslandsadoption, In-vitro-Fertilisation (IVF) und Samenspende hin und her und werfen dabei leider einiges durcheinander. Auch die Bilder, die von den betroffenen Familien gezeichnet werden, bleiben oberflächlich und einseitig. Die Väter werden als leidenschaftslose, willfährige „stumme Josefsväter“ charakterisiert und die Mütter kommen auch nicht sehr sympathisch rüber. Beide Elternteile haben scheinbar wenig Vorstellungsvermögen hinsichtlich der psychischen Innenwelt ihres Kindes (dafür umso mehr die Autoren). Was die portaitierten „Spenderkinder“ angeht: Angesichts der ausführlichen Schilderungen dramatischer „Kannbruchstellen“ in ihrem Leben, überrascht es, dass in den Beschreibungen ihrer Persönlichkeiten so wenig „Bruchstellen“ auftauchen. So wirken die Autoren mit den Berichten der „Spenderkinder“ letztlich überidentifiziert. Das Buch verpasst die Chance einer differenzierten Analyse verschiedener, auch unkonventioneller Familienkonstellationen. Die Rollenzuweisung nach dem „Drama-Dreieck“ – Täter (Eltern, Ärzte), Opfer („Spenderkinder“) und Retter (kinderschützende Therapeuten, Adoptionsfachkräfte) – hätte einer tieferen fachlichen Reflexion bedurft. Claudia Brügge, Bielefeld

Fischer & Gann, Munderfing 2016, 257 Seiten, 19,99 Euro Dr. med. Mabuse 227 · Mai / Juni 2017


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Maximilian Schochow u. a. (Hg.)

Inter* und Trans*identitäten Ethische, soziale und juristische Aspekte

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ich mit Inter* und Trans*sexualitäten zu beschäftigen und diese als Identitäten zu bezeichnen, kann in heutigen Zeiten als gewagt und provozierend betrachtet werden. Doch nicht nur um Agitatoren vom rechten Rand, die Identität durch Heimat und Nationalität begründen, eine Alternative zu bieten, lohnt sich die Lektüre dieses Sammelbandes. Im Rahmen einer Klausurwoche in Halle/Saale haben sich 2014 Wissenschaftler*innen und Interessensvertreter*innen zu den aktuellen Entwicklungen um Trans- und Intersexualität zusammengefunden und gemeinsam diskutiert. Als Ausgangspunkte dienten aktuelle Entwicklungen und Veränderungen: die Stellungnahme des nationalen Ethikrates von 2012 zu Intersexualität, die Veränderungen im Personenstandsgesetz, die im November 2013 wirksam wurden, und die S3-Leitlinie „Geschlechtsdysphorie: Diagnostik, Beratung und Behandlung“, die bis Dezember 2017 erstellt werden soll. Es ist nicht selbstverständlich, dass intersexuelle und transidente Menschen gemeinsam um etwas ringen und miteinander diskutieren. Vielleicht weil sie von Außenstehenden häufig verwechselt werden, sind die Tendenzen zur Abgrenzung umso stärker. Den Herausgeber*innen ist zu verdanken, dass sich aus der vorliegenden Publikation ein konzises Bild ergibt. Der Band gliedert sich in vier Bereiche. Im ersten werden selbstbestimmte und naturwissenschaftliche Perspektiven gewählt: Livia Prüll zeichnet ihr Bild einer transidenten Frau, die Kinderärztin Ursula Kuhnle-Krahl referiert über biologische Faktoren, die Männer von Frauen unterscheiden. Der zweite Teil behandelt ethische Fragen: Laura Münker widmet sich dem angemessenen Umgang mit frühen medizinischen Eingriffen bei intersexuellen Kindern, die ex post von vielen Betroffenen abgelehnt würden. Friederike Maaßen betrachtet Kinder als Akteure in der medizinischen Behandlung und zeigt, weshalb diese angemessen einbezogen werden sollten. Der pensionierte Kinderarzt Jörg Woweries denkt in seinem Beitrag über Geschlechtsidentitäten und Rollenzuschreibungen nach. Die binäre Gleichsetzung von männlich und weiblich lehnt er ab und schlägt vor, auf den Dr. med. Mabuse 228 · Juli / August 2017

Geschlechtseintrag im Geburtenregister zu verzichten. Hieran knüpft im dritten Teil die renommierte Jura-Professorin Konstanze Plett in ihrer Darstellung des veränderten Personenstandsgesetzes an. Sie verweist auf das Preußische Landrecht, in dem mit Erreichen der Volljährigkeit der Mensch selbst entscheiden konnte, welchem Geschlecht sie/er sich zuordnete. Im vierten Teil wird auf die individuellen und gesellschaftlichen Herausforderungen sexueller Identitäten eingegangen. Erwähnt sei noch der Beitrag zu einer Studie über transidente Kinder „unsicher. klar. selbstbestimmt“ aus Sachsen-Anhalt. Denn gesellschaftliche Veränderungen in der Wahrnehmung und im Ausleben finden nicht nur in den Metropolen statt, sondern auch dort, wo national-konservative Meinungen wieder erstarken. Insgesamt gelingt den Herausgeber*innen ein aktueller Beitrag nicht nur zu Inter* und Trans*identität, sondern zur Identitätsfrage überhaupt. Der Psychosozial-Verlag hat in seinen „Beiträgen zur Sexualforschung“ in den vergangenen Jahren mehrere wichtige Publikationen zu Inter- und Transsexualität veröffentlicht, die in dem kontrovers diskutierten und oft durch Unkenntnis oder auch Überinterpretation geprägten Feld fruchtbare, wenn auch polyvalente Erkenntnisse bieten – etwa der Band Intersexualität kontrovers von Richter-Appelt und Schweizer (2012), die zu dem hier rezensierten Buch ein Vorwort beigesteuert haben. Die Standards of Care der Transgender-Gesundheitsversorgung, 2014 übersetzt und kommentiert von Richter-Appelt und Nieder, sind in diesem Verlag erschienen; ebenso Intergeschlechtlichkeit – Impulse für die Beratung von Manuela Tillmanns (2015) oder die Dokumentation einer Tagung der Organisation TIAM, Trans-Inter-Aktiv in Mitteldeutschland, Geschlechtliche Vielfalt (er)leben. Trans*- und Intergeschlechtlichkeit in Kindheit, Adoleszenz und jungem Erwachsenenalter. Wer sich mit Inter* oder Trans* identität beschäftigen will, kommt am Psychosozial-Verlag nicht vorbei! Dr. Marion Hulverscheidt, Medizinhistorikerin und Ärztin, Kassel

333 erprobte Vorschlä ge

Anregung ist Zuwendung, gerade auch für Menschen mit fortgeschrittener Demenz. Aber woher die Ideen nehmen? Die Autorin leitet seit vielen Jahren eine Tagesstätte für Demenzpatienten, in der sich die Patienten wohlfühlen, weil ihre Lebensqualität durch Angebote für Kopf, Hand und Herz erhöht wird. 2017, 96 Seiten, broschiert, € 19,95 ISBN 978-3-7799-3164-5 Auch als E-Book erhältlich

Übergä ng gestalte e n Konzep , te vermitte ln

Die praxisnahe Darstellung des Bandes stellt Konzepte zum biografischen Lernen und zu biographiesensibler Alltagsbegleitung vor und ordnet sie in den Kontext der Erwachsenenund Altenbildung ein. 2017, 238 Seiten, broschiert, € 19,95 ISBN 978-3-7799-3153-9 Auch als E-Book erhältlich

Psychosozial-Verlag, Gießen 2016, 409 Seiten, 39,90 Euro

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Andreas Brandhorst u. a. (Hg.)

Kooperation und Integration – das unvollendete Projekt des Gesundheitssystems

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eichte Kost sieht anders aus – auf 610 klein bedruckten Seiten zu einem nicht gerade einfach zu verdauenden Thema des deutschen Gesundheitswesens folgt das Buch dem Leitbild des interdisziplinären Diskurses. Folglich kommen sehr verschiedene Protagonisten der Gesundheitsgemeinschaft zu Wort. Das nicht gerade neue Thema wird von vielen Seiten beleuchtet, zum Teil mit bekannten Argumenten, aber auch mit überraschenden, originellen und am Ende dann doch ganz optimistischen und mutigen. Die bisherigen Bemühungen um eine umfassende Kooperation und Integration der verschiedenen Sektoren und Berufsgruppen des deutschen Gesundheitswesens sind auf halbem Weg stehen geblieben, nicht weil es ein Erkenntnis-, sondern weil es ein Umsetzungsproblem gibt, stellt Luthe im Vorwort richtig fest. Wozu aber dann noch ein weiteres Buch, mag man sich angesichts dessen fragen. Nach einem Überblick über Stand und Entwicklung der Integrierten Versorgung befassen sich verschiedene Vertreter der Wissenschaft mit dem Thema. Der systemtheoretische Blick von Baecker auf das Krankenhauswesen ist absolut empfehlenswert, zumal für alle, die in einem Kran-

kenhaus arbeiten. Der Nährwert für die Fragestellung Kooperation und Integration scheint auf den ersten Blick begrenzt. Aber so manches, was im Krankenhaus nicht vernünftig gestaltbar erscheint, wird leichter verständlich – auch, warum die Zusammenarbeit im Alltag dann doch immer wieder funktioniert. Im dritten Teil kommen die Akteure zu Wort und wenig überraschend sind alle für mehr Kooperation und Integration. Einige Beiträge unterliegen allerdings eher der Versuchung der Eigenreklame, als dem Drang zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem bis dato eher kümmerlichen Stand im deutschen Gesundheitswesen. Im vierten Teil werden die Schlüsselbereiche und Ansatzpunkte für mehr Kooperation und Integration beleuchtet. Auf den ersten Blick gleicht dieser Abschnitt eher einem Flickenteppich aus lose nebeneinander stehenden Themen und Vorschlägen. Hier werden die Dilemmata des deutschen Gesundheitswesens besonders schmerzhaft spürbar: die Beharrungskraft der gut organisierten und bestens artikulationsfähigen Interessengruppen im Gesundheitswesen sowie die ständig gegenwärtige Kollision zwischen Wettbewerb und Gemeinwohl. Die Idee, die Integrierte Versorgung finanziell besser auszugestalten und über mehr Transparenz und eine konsequente Evaluation sichtbarer zu machen, erscheint an dieser Stelle nicht übermäßig originell. Die Vorstellung, dass dadurch die Integrierte Versorgung für Versicherte

bei der Kassenwahl zum wichtigen Kriterium wird, erinnert schon ein wenig an das berühmte Pfeifen im Wald. Ausführlich widmen sich im fünften Teil mehrere Autoren den Accountable Care Organizations (ACO) als neue Form der Kooperation, die in den USA in kurzer Zeit schon rund 25 Millionen Versicherte umfassen. Die neue Versorgungsform setzt auf regionale, populationsorientierte Modelle der Gesundheitsversorgung mit einer Werte-basierten Vergütung. Dass die ACOs als zentraler Bestandteil von „Obamacare“ nun unter dem neuen US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump wieder Gefahr laufen, zurückgedreht zu werden, konnten die Autoren noch nicht ahnen. Das Modell findet zwischenzeitlich über die Grenzen der USA hinweg Beachtung und Nachahmer, was wiederum Anlass zur Hoffnung auf einen dauerhaften Impuls in Richtung Kooperation und Integration gibt – vielleicht ja auch in Deutschland. Den letzten Teil haben die Herausgeber zwar mit „Befund“ überschrieben, sie gehen aber über die reine Befunderhebung hinaus und entwickeln zwei Perspektiven für die Zukunft: zum einen die Struktur einer kooperativen und integrativen Ausrichtung des Gesundheitswesens über den Weg der Regionalisierung und Kommunalisierung. Und zum anderen die Idee einer Sprunginnovation mit Sprengkraft für das derzeitige deutsche Gesundheitswesen. Bei einer solchen Sprunginnovation wird es zugleich Voraussetzung und Ergebnis sein, die „eingefrore-

Psychologie studieren – und dann? Claudia Rockstroh, Ulrich Winterfeld

Psychologie: Dein Start in den Traumberuf Karriereplanung für Studierende 2017, 200 Seiten, Broschur, ISBN 978-3-942761-44-4, 22,00 EUR

N EU

Dieses Lern- und Arbeitsbuch enthält alle wichtigen Informationen und konkrete Übungen, um nach dem Psychologiestudium im Arbeitsleben erfolgreich Fuß fassen zu können.

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nen“ Versorgungs- und Versicherungsorganisationen aufzutauen. Ob das gelingen wird? In Artikel 31 des Buches wird es recht schlüssig bejaht. Ganz mutig und optimistisch meinen die Herausgeber hier: „Die Zeit regionaler Netzwerkorganisationen und Systemanbieter wird kommen – und das eher schneller als gedacht.“ Insgesamt erfüllt das Werk seinen eigenen Anspruch, einen Beitrag zur Fortentwicklung des Gesundheitssektors zu leisten – so es denn die Leser findet, die über die Bereitschaft und die Möglichkeit verfügen, das Umsetzungsproblem, das derzeit noch prägend für das deutsche Gesundheitssystem ist, zu verkleinern. Dr. Karlheinz Jung, Freiburg

Springer VS, Wiesbaden 2017, 624 Seiten, 69,99 Euro

Hans Wedler

Suizid kontrovers Wahrnehmungen in Medizin und Gesellschaft

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er Autor Hans Wedler ist als lehrender Professor und praktizierender Psychiater ein seit Jahrzehnten bekannter und ausgewiesener Experte der Suizidforschung. Das Buch belegt in kurzer Fassung, was der Titel verspricht: Suizid und Suizidalität bleiben in Wissenschaft und Gesellschaft sehr kontrovers wahrgenommene Themen. Ich finde es sehr sympathisch, wie der Autor die Thematik mit der Begegnung einer suizidalen Patientin in seinen ersten Berufsjahren beginnt. Schon damals stößt ihm die moralische Bewertung der suizidalen Handlung als äußerst problematisch auf. Auch bei der weiteren Lektüre sind die Darstellungen der „Fälle“ wesentlich. Die wissenschaftlichen Daten werden also immer wieder durch konkrete Erfahrungen ergänzt. Überhaupt ist die Darstellung vielstimmig: Neben die Experten treten die von Suizidalität Betroffenen sowie Literaten, Künstler, Musiker, die in diesem Kontext eine sensible Wahrnehmung haben und teilweise auch direkt betroffen sind. So Dr. med. Mabuse 228 · Juli / August 2017

werden die Motive und Nöte der Suizidenten anschaulich. Zahlreiche Hinweise auf die Fachliteratur machen deutlich, dass sich das vorliegende Buch auf die zusammenfassende Übersicht konzentriert. Einen Schwerpunkt bildet die Problematik des begleiteten Suizids, der Sterbebeschleunigung, der Palliativmedizin und der Euthanasie. Diese und weitere Begriffe beziehungsweise Sachverhalte werden geklärt und die medizinischen sowie individuell psychologischen Bedingungen erläutert. Hier wird deutlich, wie kontrovers in verschiedenen Ländern mit Suizidalität umgegangen wird. Eine Beurteilung oder Bewertung muss dringend und entscheidend die Befangenheiten der Urteilenden bedenken. Ein weiterer Schwerpunkt am Ende des Buches ist der Umgang mit Suizidalität zwischen Akzeptanz und Präventionsbemühen. Als hilfreich gilt das Angebot der Kommunikation bei gleichzeitigem Respekt vor der letztendlichen Autonomie des Gegenübers. Die psychiatrisch Tätigen haben hier eine begrenzte Verantwortung. „Im Umgang mit Suizidpatienten kommt es mehr auf die Haltung an als auf Maßnahmen“, so ein Zitat aus Irren ist menschlich von Klaus Dörner und Ursula Plog. Die Ausführungen zum Scheitern im menschlichen Leben machen dies besonders deutlich. Die Leser werden nach der Lektüre einen differenzierten Einblick bekommen haben mit dem wichtigsten Hinweis auf die „Verführung zum Leben“. Dies gelingt Hans Wedler nicht zuletzt auch mit einer Verführung zum Lesen seiner favorisierten Autorenauswahl. Zuletzt: Irritierend ist gleich am Anfang des Buches die einzige Abbildung – eine gerupfte Gans mit der Schlinge um den Hals und an einem Strick aufgehängt. Eine Radierung von Hans Fuglsang mit dem Titel „Selbstmörder“. Warum diese „seltsame Besonderheit“ von Hans Wedler solch eine exponierte Darstellung erhält, klärt sich auch in der sehr knappen Ausführung zu „Suizid und bildender Kunst“ eher nicht. Rolf Brüggemann, Göppingen

Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2016, 148 Seiten, 26 Euro

In der Ruhe liegt die Krafft. er wied nfach llafen Ein h c s t gu en! könn

HERBST H ERBST 2017 2017 99 , , 7 ca. € (D) 9,95 ISBN 978-3-8497-0200-7 auch als eBook erhältlich Zusatzmaterial online

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Buchbesprechungen

Peter und Sabine Ansari

Unglück auf Rezept Die Anti-Depressiva-Lüge und ihre Folgen

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aben wir nicht den Siegeszug der evidenzbasierten Medizin erlebt? Wie kann es sein, dass laut des Autorenpaars Ansari die Psychiatrie seit 2.000 Jahren und weiterhin im Trüben fischt und Experimente sowie bloße Annahmen als Mittel der Wahl an die Betroffenen weitergibt? Oder werden in dieser Arbeit eines Humanbiologen und einer Heilpraktikerin ausschweifend Verschwörungstheorien gepflegt? Sabine und Peter Ansari legen ein sehr gut recherchiertes, teilweise reißerisch formuliertes Werk vor, das die medikamentöse Depressionsbehandlung in seine Einzelteile zerlegt und als unbrauchbar zurückweist. Antidepressiva werden ihnen zufolge in Deutschland viel zu leicht verordnet und unwilligen Patienten regelrecht aufgezwungen. Ganze Branchen profitierten von der schnellen und dauerhaften Verschreibung von Antidepressiva. Mit einer Vielzahl von Fakten stimmen die Autoren den Leser auf die deutlichen Missstände ein. 2014 beispielsweise wurden siebenmal so viele Antidepressiva wie noch 1990 verordnet. Frühberentungen von Menschen mit Depressionen haben sich in den letzten zehn Jahren verdreifacht. Die Autoren schließen daraus, dass Antidepressiva nicht helfen, mit ihren Fehl- und Nebenwirkungen sogar dauerhaft krank machen. Viele Personen entwickeln bezeichnenderweise unter der Einnahme dieser Medikation erste Depressionen. Es wird sogar eine Verbindung zwischen Gewaltdelikten und der Einnahme bestimmter Medikamente gezogen. An dieser Stelle fragt man sich unweigerlich, was eine ganze Branche den Menschen antut, wie die verordnenden und behandelnden Ärzte so blind sein können – und ob sie es tatsächlich sind. Die Autoren behandeln nach einer Einführung in Krankheit und Behandlung ausführlich die chemischen Zusammensetzungen und Wirkungen der Psychopharmaka. Das Urteil fällt erwartungsgemäß eindeutig aus: Antidepressiva sind unwirksam. Seitenlang werden Pharmaskandale aufgeführt, im Mittelpunkt stehen vorwiegend das Medikament Prozac® und die Praktiken der Herstellerfirma Eli

Lilly, die aggressiv die Unterstützung zahlreicher Akteure auf dem Markt erkauft. In dem sehr informativen Kapitel „Pillenhistorie“ zeigen die Autoren nicht nur die historische Entwicklung der medikamentösen Depressionsbehandlung, sondern auch die Entwicklung der Therapieverfahren seit Hippokrates auf. Da erfährt man manches über Mythen und Ideen, die große Rolle der „schwarzen Galle“ oder „melan cholie“, abgeleitet aus der sogenannten Viersäftelehre. Dieser historische Überblick ist hervorragend recherchiert und sehr aufschlussreich. Zum Abschluss des Buches werden alternative Behandlungsmethoden dargestellt – leider auf nur zwanzig Seiten. Davon entfallen bereits acht Seiten auf ein ausführlich dargestelltes Fallbeispiel. Als empfohlene Methoden werden unter anderem Psychotherapie, Bewegung, Biofeedback, Kräuterextrakte, Massagen, das Schreiben eines Tagebuchs, Meditation und spirituelle Ansätze vorgestellt. Die Kürze dieses Kapitels ist nach der langen sehr tief gehenden vorherigen Argumentation etwas enttäuschend, da das Ehepaar Ansari in der gemeinsamen Praxis Betroffene begleitet und unterstützt. Vielleicht ist aber auch die eher populärwissenschaftlich gehaltene Auseinandersetzung mit den Medikamenten die Vorarbeit für ein Behandlungsbuch mit den von ihnen präferierten Methoden. Patrick Nieswand, Köln

Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2016, 300 Seiten, 16,95 Euro

Gerd Reuther

Der betrogene Patient Ein Arzt deckt auf, warum Ihr Leben in Gefahr ist, wenn Sie sich medizinisch behandeln lassen

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s ist schlimm, dass ein solches Buch geschrieben werden muss – aber es muss sein! Die detaillierten und gut belegten Fakten rund um die Gesundheitsindustrie decken die Verkommenheit des Medizinbetriebs und die fortlaufenden Vorspiegelungen falscher Tatsachen durch deren Akteure schonungslos auf. Obwohl die einzelnen Erkenntnisse weder

neu noch sensationell sind, und die daraus resultierenden Thesen zur Verbesserung in kritischen Fachkreisen schon lange, wenn auch verhalten, diskutiert werden, ist es immer wieder wichtig, die Finger in die Wunden der allmächtigen Gesundheitswirtschaft zu legen. Diese ist, mit einem Anteil von zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts, inzwischen zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig gewachsen. Kranke, die früher als Bremse des Fortschritts empfunden wurden, bedeuten heute nicht weniger, sondern mehr Wertschöpfung im System. Die Gesundheitsindustrie erzeugt, verlängert und verwaltet Krankheiten, und das zu einem Preis, der in keinem Verhältnis zur allgemeinen Gesundheit steht. Von Heilen kann nicht die Rede sein. Entgegen den geleisteten Heilsversprechen heilen die meisten Behandlungen nicht, sondern verlängern ein Leben, das oft genug verlängertes Leiden ist. Denn wer länger lebt, ist länger Patient: Frauen waren im Durchschnitt 14, Männer elf Jahre Patient, wenn sie das Rentenalter erreicht haben. Gewidmet ist das Buch allen, die ernstlich krank werden könnten, und denen, die sich in einem Gesundheitsberuf unsinniger Medizin verweigern und notwendige Behandlungen empathisch vornehmen. Auch dieses Buch wird an der expandierenden medizinischen Unvernunft nicht viel ändern, aber man kann froh sein, dass es immer mal Gegenstimmen gibt und nicht alle Ärzte an der Ausweitung medizinischer Unvernunft teilhaben. Letztlich werden es aber nicht die Ärzte, schon gar nicht die Gesundheitsindustrie sein, die dem Treiben Einhalt gebieten, sondern die Patienten, die den Betrug an ihrer Gesundheit und an ihrem Geld merken müssen und sich diesem allumfassenden Gesundheitsdenken verweigern. Man kann viel für die Gesundheit tun, aber Gesundheit kann man nicht kaufen. Gesundheit ist keine Ware, auf die man Anspruch und Garantien bekommt. Gesundheit geschieht im Verborgenen, wie der Philosoph Hans-Georg Gadamer es ausdrückte. Stephan Heinrich Nolte, Kinderarzt, Marburg

riva Verlag, München 2017, 400 Seiten, 19,99 Euro Dr. med. Mabuse 228 · Juli / August 2017


Barbara Baumeister, Trudi Beck (Hg.)

Schutz in der häuslichen Betreuung alter Menschen Misshandlungssituationen vorbeugen und erkennen – Betreute und Betreuende unterstützen

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as ist das Besondere an dem Buch „Schutz in der häuslichen Betreuung alter Menschen“, das sich einmal mehr mit Aggressionen und herausforderndem Verhalten beschäftigt? In erster Linie ist der qualitative Zugang zu Misshandlungssituationen und deren Prävention eine seltene Herangehensweise. Betreuende und Betreute kommen zu Wort. Dies führt dazu, dass man im Nachempfinden dessen, was zur Sprache kommt, ganz nahe an den Kern wichtiger Fragen gelangt. Ein Beispiel für eine abgrenzende Beziehung: Die Unterstützungsleistung durch einen betreuenden Menschen ist nach Einschätzung der AutorInnen an Erwartungen geknüpft. Wertschätzung und Dankbarkeit werden seitens der Helfenden erhofft, um daraus Motivation für weitere Pflegeleistungen zu schöpfen. Bekommen sie diese Anerkennung nicht, findet eine Abgrenzung statt, in deren Rahmen die Frage gestellt wird, wieso sie sich aufopfern sollen. Andererseits wagen die AutorInnen eine Schlussfolgerung, die aufhorchen lässt. Eine betreuende Person habe hohe Ansprüche an die Qualität einer Betreuung durch Drittpersonen und nehme Hilfeleistung eher als Belastung, denn als Entlastung wahr. In Positionierungen dieser Art liegt eine Menge Konfliktstoff verborgen. Sie deuten Antworten auf Fragen an, wie und warum alte Menschen in der Betreuung misshandelt werden. Sie gewähren Einblicke in die Dynamiken zwischenmenschlichen Geschehens. Vor allem zeigen sie, wo Unterstützungsleistungen für betreuende Menschen weiterentwickelt werden müssen, um Aggressionen und Tendenzen zur Misshandlung vorbeugend begegnen zu können. Das Phänomen der Selbstvernachlässigung bei alten Menschen ist in der psychosozialen Fachdiskussion bislang vernachlässigt worden. Der Pflegewissenschaftler Jürgen Georg nimmt es daher näher unter die Lupe. Er identifiziert die Selbstvernachlässigung als Kernfrage zu einem Selbstschutz alter, betreuter Menschen. In seiner Betrachtung geht er zwar Dr. med. Mabuse 228 · Juli / August 2017

nicht so weit, mit einem Nachdenken über den Eigensinn alter Menschen die Selbstvernachlässigung als bewusst gewolltes Ergebnis anzusehen, deutet aber Interventionen an, die eine Selbstvernachlässigung vermeiden könnten. Ein weiterer Mehrwert des Buchs „Schutz in der häuslichen Betreuung alter Menschen“ ist die Multiperspektivität, mit der auf die Misshandlung alter Menschen geblickt wird. Dass die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) und die Polizei in Überlegungen zur Prävention einbezogen werden, hat Seltenheitswert. Umso wichtiger sind die Hoffnung auf Sensibilisierung und die Erwartung auf eine Vernetzung, „um dadurch das große Dunkelfeld sichtbarer zu machen“. Das Buch ist ein Meilenstein. Denn es ist nicht nur ein Schatz, den verschiedene psychosoziale Dienstleister im Kanton Zürich gemeinsam gehoben haben. Es zeigt auch eine Tiefgründigkeit, die nur wenige Veröffentlichungen zu Aggressionen gegenüber alten Menschen und deren Prävention bieten. Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Bornheim

Hogrefe Verlag, Bern 2017, 216 Seiten, 29,95 Euro

Ursula Henzinger

Bindung und Autonomie in der frühen Kindheit Humanethologische Perspektiven für Bindungstheorie und klinische Praxis

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er meint, alles über Bindung zu wissen, wird aller Voraussicht nach beim Lesen dieses Buches überrascht sein. Es bietet erstaunliche Einblicke in die Welt frühkindlichen Verhaltens. Jedes Kapitel schließt mit einer prägnanten Zusammenfassung – stufenförmig aufgebaute Übersichten erläutern Entwicklungsverläufe der Stammes- und Kulturgeschichte sowie der Individualentwicklung. Im ersten Teil beschreibt Ursula Henzinger die Methoden der vergleichenden Verhaltensforschung (Humanethologie) und lädt zu einer wertungsfreien Beob-

AUTOBIOGRAFIE DES GROSSEN PSYCHOLOGEN

224 Seiten, gebunden, € 16,95 D ISBN 978-3-407-86460-4 erhältlich Auch als

In seiner Autobiografie erzählt der weltberühmte Psychologe von den entscheidenden Erfahrungen, die jene innere Haltung formten, die ihn zum Vordenker der Resilienz und Begründer der sinnzentrierten Psychotherapie machten. Zahlreiche Fotografien aus dem Familienarchiv ergänzen Frankls Autobiografie, die trotz Leid und Verlusten von Heiterkeit, Optimismus und Menschenliebe geprägt ist. »Wir sind es, die zu antworten haben auf die Fragen, die uns das Leben stellt. Und diese Lebensfragen können wir nur beantworten, indem wir unser Dasein selbst verantworten.« Viktor E. Frankl

Leseprobe auf www.beltz.de


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Buchbesprechungen

achtung dessen ein, was zwischen Eltern und Kindern in den ersten Jahren in verschiedenen Kulturen passiert. Dabei geht es um Unterschiede und deren Auswirkungen, aber vor allem auch um Kultur und Epochen übergreifende Gemeinsamkeiten, ohne dass es dabei zu romantisierenden Verallgemeinerungen kommt. Im zweiten Teil, der gut zwei Drittel des Buches umfasst, wird im Anschluss an einen Theorieteil zur Bindungstheorie und dessen Erweiterung im Zürcher Modell die Nähe-Distanz-Regulierung in vier Phasen von der Geburt bis zum Alter von vier Jahren beschrieben. Der inhaltliche Fokus liegt auf dem spontanen, selbst gesteuerten Sozialverhalten und den unglaublichen Kompetenzen von Säuglingen und Kleinkindern. Genauso wie in anderen Settings zeigt sich auch in der familiären Umgebung, dass sich gesundes und sozial kompetentes Verhalten ohne Druck und ohne aufwendige Motivationsmaßnahmen, die im Gegenteil oft eher kontraproduktiv wirken, von selbst entfalten kann, wenn die Rahmenbedingungen gut genug sind. Dabei muss nicht alles reibungslos verlaufen – Trotz- und Aggressionserlebnisse gehören zur Persönlichkeitsreifung und bieten für beide Seiten, Kinder und Eltern, Chancen zur Weiterentwicklung. Neben anderen Faktoren ist Gelassenheit im Umgang miteinander ein wesentliches Element guter familiärer Rahmenbedingungen. Dieses Buch kann zu etwas mehr Gelassenheit beitragen, indem es dabei hilft, kindliches Verhalten besser zu verstehen und einzuordnen. Im Geleitwort schreibt der Körperpsychotherapeut Thomas Harms: „Ursula Henzinger verkörpert das, was sie in diesem Buch beschreibt: den Glauben an die ungeheuren Wachstums- und Entfaltungspotenziale von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen. Ihr Blick ist stets auf das Gesunde gerichtet, auf das Mögliche und das, was das Kind verwirklichen möchte.“ Diese Haltung zieht sich konsistent von der ersten bis zur letzten Seite des Buches durch. Aus diesem Grund und

Psychosozial-Verlag, Gießen 2017, 462 Seiten, 44,90 Euro

wegen der gelungenen Verknüpfung von wissenschaftlichen Modellen und anschaulichen, oft liebevoll-lustigen Beispielen aus der humanethologischen Feldforschung ist es allen zu empfehlen, die beruflich oder privat mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Dr. Brigitte Borrmann, Bielefeld

Miriam Funk

Tabuthema Fehlgeburt Ein Ratgeber

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nter 100 Schwangerschaften sind 80 erfolgreiche und 20 Fehlgeburten. Mindestens. Offiziell. Die Dunkelziffer ist jedoch wesentlich höher, sagt Autorin Miriam Funk in ihrem Buch Tabuthema Fehlgeburt. Frauen, die in den ersten Schwangerschaftswochen ihr Kind verlieren, wird die Erlaubnis zu trauern abgesprochen. Sie hören den Satz: „Sei froh, dass es so früh und nicht später passiert!“ (S. 14) Doch ein Verlust ist immer schwer zu ertragen, egal zu welchem Zeitpunkt. Ich gebe zu, dieses Buch war harte Kost, denn es behandelt ein Thema, mit dem sich vermutlich niemand gerne beschäftigt. Umso wichtiger ist die Aufklärung, damit man dazu beitragen kann, das Leid der Betroffenen zu vermindern, anstatt es durch unüberlegte Aussagen noch zu verstärken. Ich kann mich an kein anderes Sachbuch erinnern, das mich so berührt hat und in mir den Wunsch hervorgerufen hat, fast von jeder Seite ein Zitat zu bringen. Schon allein die Vorarbeit, die Miriam Funk geleistet hat, war unglaublich aufwendig: Sie hat 430 betroffene Frauen befragt und ihre Antworten in dieses informative Buch eingebaut. Ich habe viel gelernt. Mir war nicht klar, wie viele Wahlmöglichkeiten betroffene Eltern haben. Aus dem Buch geht hervor, dass es nicht nur mir so geht. Mütter haben zum Beispiel die Wahl, zu warten und das Kind selbst zur Welt zu bringen, anstatt sich überrumpeln zu lassen und die Schwangerschaft sofort nach der schockierenden Nachricht von medizinischer Seite beenden zu lassen. Sie haben die Wahl, die schwierige Situation mit Unterstützung einer Hebamme durchzustehen, sie haben ein Recht auf Mutterschutz und Wochenbett und sie haben die Wahl, das Kind bestatten zu lassen – sei es auch noch so klein. Die Re-

gularien zur Bestattung variieren übrigens von Bundesland zu Bundesland. Wichtig ist in dem Zusammenhang das Thema Schuldgefühle. Oft wird der Mutter bewusst oder unbewusst eingeredet, Schuld an der Fehlgeburt zu haben. So gut wie alle Frauen stellen sich in so einer Situation die Frage, was sie falsch gemacht haben. Die Autorin hat tröstende Worte für sie, denn: Sie haben nichts falsch gemacht! In den meisten Fällen musste das Kind gehen, weil es in seinem Körper nicht überlebensfähig gewesen wäre – unabhängig von dem, was die Mutter getan oder auch nicht getan hat. Was mich am meisten betroffen hat, ist der lieblose Umgang vonseiten des Fachpersonals. Ja, für einen Gynäkologen mag eine Fehlgeburt natürlich und zu erwarten sein, aber für die Frauen ist sie das nicht. Auch die zitierten Kommentare von Schwestern und anderen Krankenhausangestellten haben mir Tränen in die Augen getrieben. Die Autorin betont aber bei allem, was sie bespricht, dass es auch eine andere Seite gibt – und auch dafür gibt es immer Beispiele. Was sollte geschehen, wenn es mehrmals hintereinander zu einer Fehlgeburt kommt? Warum kann es besser sein abzuwarten, anstatt gleich das durchzuziehen, was im Fachjargon lieblos als Ausschabung bezeichnet wird? Welche Trauerrituale können helfen? Darf man das Kind auf dem Standesamt melden? Wie geht es betroffenen Frauen, aber auch Männern, und wie kann man sie unterstützen? Miriam Funk hat unfassbar viele Tipps für direkt und indirekt Betroffene – auch Tipps für Ärzte gibt es. Manche gehen sogar mit einem beispielhaften Informationsflyer voran, der ebenfalls im Buch abgedruckt ist. Den Abschluss bilden Zitate der befragten Frauen. Sie verraten, was sie sich von ihrem Umfeld gewünscht hätten. Das Buch finde ich uneingeschränkt empfehlenswert. Es ist eine große Stütze für alle, egal, ob sie diese schmerzliche Erfahrung machen mussten oder nicht. Sandra Schindler, Kinderbuchautorin, www.sandra-schindlerschreibt.de

Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2017, 119 Seiten, 16,95 Euro Dr. med. Mabuse 228 · Juli / August 2017


Buchbesprechungen

Ulrike von Lersner, Jan Ilhan Kizilhan

Kultursensitive Psychotherapie * Alexandra Liedl, Maria Böttche u. a. (Hg.)

Psychotherapie mit Flüchtlingen Neue Herausforderungen, spezifische Bedürfnisse

* Iris Tatjana Graef-Calliess, Meryam Schouler-Ocak (Hg.)

Migration und Transkulturalität Neue Aufgaben in Psychiatrie und Psychotherapie

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er Mensch ist das Lebewesen, das „wir” sagt. Dieses „Wir” umfasst immer so etwas wie Kultur, also Regeln für die Gruppe und Ideen über das Leben. All das wird vermittelt und gepflegt durch Verhaltensweisen und eine gemeinsame Sprache. In der erzählt man die Geschichte der Ideen und diskutiert, was sich überlebt hat. Die Psychologie hat inzwischen nachgewiesen, dass Kultur im weiteren Sinne die Psyche eines Menschen mit prägt. Sie prägt, wie er wahrnimmt, fühlt oder denkt, beeinflusst kognitive Schemata, die wir benötigen, um Wissen zu erwerben und uns in der Welt zurechtzufinden. Und sie bestimmt mit, wie ein Mensch sich selbst sieht, seine Mitmen-

Dr. med. Mabuse 229 · September / Oktober 2017

schen erlebt und mit ihnen interagiert. Kulturelle Prägungen sind implizit gelernt und deshalb nachhaltig. Sie lassen sich aber modifizieren, wenn man das will und Mühe darauf verwendet. Konkrete Aspekte der Kultur reichen von Kleidung bis Musik, von Gesundheitsverhalten bis zu Essensvorlieben, von Körpersprache bis zum Umgang mit dem Tod. Abstrakter kann man Kultur beschreiben als Überzeugungen, Werte und Interaktionsweisen. Wissenschaftlich gut operationalisierbar sind vor allem die fünf Kulturmerkmale des Sozialpsychologen Gert Hofstede. Er entwickelte sie zwar anhand der Mitarbeiterschaft internationaler Firmen, doch sie haben sich auch beim Thema psychische Krankheit bewährt. Drei sind da besonders hilfreich: wie eine Kultur mit Macht umgeht, wie sie Geschlechterrollen definiert und wo sie auf der Achse individualistisch-kollektivistisch zu verorten ist. Wie kulturelle Faktoren psychische Gesundheit, Stigmatisierung und Behandlungserfolg beeinflussen, wird seit Jahren seriös erforscht. Für praktische PsychoProfis lautet das Stichwort interkulturelle Kompetenz. Aus drei wissenschaftlichen Arbeitsgruppen in Deutschland gibt es jetzt neue Bücher zu diversen Aspekten der Thematik. Das kürzeste widmet sich der „kultursensitiven Psychotherapie”. Ulrike von Lersner forscht als psychologische Psychotherapeutin an der Berliner HumboldtUniversität und ist Erstautorin der „Leitlinien” zu interkulturellen Kompetenztrai-

nings für Psychotherapeuten. Jan Ilhan Kizilhan lehrt Psychologie an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg und verantwortet außerdem das Therapieprogramm für 1.000 vom IS gefolterte Jesidinnen, das die baden-württembergische Landesregierung finanziert. Auf weniger als 100 Seiten bietet ihr Buch einen erstaunlich umfassenden und wissenschaftlich sauberen Überblick: Was verstehen wir unter Kultur, wie beeinflusst sie die eigene Identität, wie die psychische Gesundheit? Was sollten Psychotherapeuten bei der Diagnostik beachten, was bei der Behandlung, wenn ihre Patienten andere kulturelle Denkschemata im Kopf haben als sie selbst, etwa kollektivistischere, selbst wenn sie hier geboren sind? Was unterscheidet Migranten psychisch von Flüchtlingen? Eigene Kapitel informieren über kulturell Relevantes bei Menschen mit Schizophrenie, Depression, Angststörungen oder Posttraumatischer Belastungsstörung. Fallgeschichten illustrieren die Kernpunkte, Tabellen und Merkkästen fassen das Wesentliche zusammen. Das ist klare Fortbildung, kurz, knapp und sehr gut. Auf die Zielgruppe traumatisierter Flüchtlinge beschränkt sich das Buch, das vier Psychologinnen um Alexandra Liedl herausgegeben haben. Ausdrücklich konzipieren sie den psychotherapeutischen Zugang im Rahmen diverser Lebensaspekte der Betroffenen – hier, im fremden Land, in der fremden Kultur. In zehn Kapiteln widmet es sich erwachsenen und minderjährigen Geflüchteten, dem Sozia-

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Buchbesprechungen

len, der Begutachtung und der Diagnostik. Die Begriffe Migration und Flucht werden korrekt unterschieden, sinnvolle therapeutische Vorgehensweisen genauer beschrieben, bis hin zur Arbeit mit Dolmetschern. Die meisten der 13 Autoren arbeiten als Psychologen praktisch mit Traumatisierten, vor allem bei Refugio München und im Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin. In dem Buch bündeln sie ihre reiche Erfahrung kompetent und praxisbezogen. Das ist eine profunde Weiterbildung für alle, die sich daran beteiligen wollen, psychisch kranke Flüchtlinge zu versorgen – immerhin sind das hochgerechnet mehrere hunderttausend in Deutschland. Das dritte Buch enthält 32 Einzelkapitel, herausgegeben haben es Iris-Tatjana Graef-Calliess aus Hannover und Meryam Schouler-Ocak von der Berliner Charité. Die transkulturell ausgewiesenen Psychiaterinnen wollen „neue Aufgaben” ihres Faches beschreiben und „neue Perspektiven” zeigen. So enthält das Buch Forschungsergebnisse, etwa über ein Anti-Suizid-Programm für junge türkischstämmige Berlinerinnen. Es diskutiert Kulturfragen in Behandlung und Supervision, die praktische Arbeit auf Station, Selbsterfahrung der Profis, Dolmetscher und Sprache allgemein und berichtet über Migranten aus konkreten Herkunftsländern und über Flüchtlinge. Alles überzeugend. Doch dass ein so umfassend konzipiertes Werk zwar drei Kapitel über Supervision enthält, aber keines über Religion, keines über Frauen und Männer und keines über kollektivistische oder individualistische Orientierung – Themen, die niedergelassenen Ärzten und Psychologen unter den Nägeln brennen –, das ist höchst bedauerlich. Selbst das Wenige, was in den Texten dazu en passant auftaucht, fehlt im Stichwortverzeichnis. Dafür schaffen es mehrere Kapitel, den Rest des Buches zu desavouieren. Für sie gibt es eigentlich keine Kultur, höchstens noch parallele Kulturen diverser Kleinstgruppen. Es wird eine „postmigrantische” Gesellschaft hierzulande ausgerufen, ein Begriff, den man in internationalen wissenschaftlichen Datenbanken vergeblich sucht. Dort bezieht sich „post” im Zusammenhang mit Migration immer auf die Situation der Migranten im Ankunftsland – genau wie im restlichen Buch. Hier aber heißt postmigrantisch, Kultur auf eine privatistische Einstellung zu reduzieren.

Gleichzeitig wird jede Idee übergreifender kultureller Merkmale, etwa der europäischen, als Stereotyp stigmatisiert. Alles im unlesbaren Alt-68er-Soziologendeutsch. Das lässt einen dann einfach ratlos zurück. Dr. Barbara Knab, Wissenschaftsautorin, München

Hogrefe Verlag, Göttingen 2017, 99 Seiten, 19,95 Euro

Schattauer Verlag, Stuttgart 2016, 179 Seiten, 29,99 Euro

Schattauer Verlag, Stuttgart 2017, 400 Seiten, 69,99 Euro

Raimund Schmid

Wehe, du bist alt und wirst krank Missstände in der Altersmedizin und was wir dagegen tun können

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ie Not, in die alte Menschen im Krankheitsfall geraten können, ist vielfach beschrieben worden. Die darauf Bezug nehmenden Gesundheitsreformen verlaufen im Schneckentempo. Grundlegende Reformvorschläge wie die des Sachverständigenrates ruhen in der Schublade. Für Insider, vor allem diejenigen, die den Alltag der Versorgung kennen, ist das nichts Neues. Es stellt sich mithin die Frage, an wen sich das hier besprochene Buch mit Gewinn wenden kann. Der Autor erläutert anhand ausgewählter Literatur, vor allem aber als Journalist aus unmittelbarer Anschauung von Einzelschicksalen sechs Themen. Er zeigt, 1. dass mehr gegen unsinnige Mehrfachverschreibungen von Arzneimittel getan werden könnte,

2. dass der Hausarzt alten Typs erfolgreich durch multiprofessionelle Teams ersetzt werden kann, 3. dass Hausbesuche systematisch gefördert werden müssen, 4. dass sich die Krankenhäuser nicht nur in Vorzeigemodellen auf die Bedürfnisse alter Menschen einstellen müssen, 5. dass Entlassmanagement nach wie vor ganz überwiegend ein Schlagwort ist und 6. dass moderne Kommunikationstechnik von der Medizin behandelt wird als sei es ein Gefahrgut. Das alles wird so anschaulich geschildert, dass ich das Buch als Bereicherung empfinde: weil es möglicherweise auf die hier vorgenommene journalistische Art mehr Menschen erreichen kann als viele kluge Berichte, die keiner liest oder zu wenige verstehen. Das Buch liefert viel Stoff zum Diskutieren, weil es natürlich nicht zu allen Fragen Patentrezepte gibt. Wie genau sich die hausärztliche Versorgung im Verbund mit geriatrischen Spezialeinrichtungen weiterentwickeln sollte, ist ja gerade eine der schwierigen Fragen, die aber nicht immer wieder auf die lange Bank geschoben werden darf, weil die Superspezialisten nach mehr Geld rufen. Das Buch schließt mit Tipps für Senioren und ihre Angehörigen sowie mit Rezepten für die Politik bis 2020: von der Notfallversorgung bis zur Prävention. Ich schließe mich Ferdinand Gerlach an, dem Vorsitzenden des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, der im Geleitwort dem Buch weite Verbreitung wünscht. Norbert Schmacke, Bremen

Beltz Verlag, Weinheim/ Basel 2017, 263 Seiten, 19,95 Euro

Edith Scherer, Thomas Lampert

Angehörige in der Psychiatrie

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er heute in psychiatrischen Kliniken oder in der Gemeindepsychiatrie danach fragt, ob die Angehörigen psychisch erkrankter Menschen im Blick Dr. med. Mabuse 229 · September / Oktober 2017


Buchbesprechungen

Dr. med. Mabuse 229 ¡ September / Oktober 2017

Psychiatrie Verlag, KĂśln 2017, 152 Seiten, 17,95 Euro

www.klett-cotta.de/fachbuch

NEU

181 Seiten, broschiert ₏ 20,– (D) ISBN 978-3-608-96149-2

der Psychiatrie noch eine Menge Arbeit wartet. Breiten Raum nimmt auch die Bewältigung der Situation als AngehĂśriger eines psychisch erkrankten Menschen ein. Gerade den psychiatrisch Tätigen mĂźsste beim Nachdenken Ăźber dieses Buch klar werden, welch unglaubliche Kraft in kleinen Gesten versteckt ist. „AngehĂśrige beschreiben oft, dass sie sich bereits verstanden gefĂźhlt hätten, wenn sie jemand vom Personal einfach mal nach ihrem Befinden gefragt habe.“ Dabei lassen die Autoren nicht unerwähnt, dass AngehĂśrige gelegentlich schwierig sind. Die Frage, ob ihr Auftreten mĂśglicherweise nicht sogar die Desorientierung des psychiatrischen Systems widerspiegelt, stellen Scherer und Lampert nicht. Sie werben fĂźr Verständnis. Die Spannungsfelder zwischen AngehĂśrigen und psychiatrisch Tätigen zeigten die unterschiedliche Sicht und das differente Verständnis von Begebenheiten und Entwicklungen. Realität sei immer ein Konstrukt der eigenen Wahrnehmung, eigene Erfahrungen stĂźnden oft Pate fĂźr die Entwicklung von LĂśsungsoptionen fĂźr andere. Hilfreich an dem Buch ist, dass es sich intensiv mit den Haltungen der sich begegnenden Menschen auseinandersetzt. Gleichzeitig wird es praktisch und beschreibt auch die eine oder andere Stolperfalle. Die Frage nach der Schweigepflicht haben die Autoren im Blick, ebenso werden die verschiedenen Formen des Einbezugs von AngehĂśrigen konkretisiert. Wer mit dem unmittelbaren Willen, AngehĂśrigen-Arbeit in der psychiatrischen Versorgung umsetzen zu wollen, das Buch von Scherer und Lampert in die Hand nimmt, der wird schnell erkennen, welche Herausforderungen auf ihn warten. Die grĂśĂ&#x;te Aufgabe wird es sein, die Anliegen der AngehĂśrigen Ăźber Lippenbekenntnisse hinaus in den Alltag zu integrieren. Danke fĂźr die vielen AnstĂśĂ&#x;e, Frau Scherer und Herr Lampert. Christoph MĂźller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Wesseling

Angelika Rohwetter VersĂśhnung Vergeben, verzeihen, versĂśhnen ist leichter gesagt als getan, wenn alte Verletzungen durch Eltern, Geschwister, Freunde an uns nagen. Die Autorin zeigt, warum es so schwer ist, den Weg der VersĂśhnung zu gehen und was wir gewinnen, wenn wir es trotzdem tun.

NEU

Leben Lernen 296 160 Seiten, broschiert ₏ 23,– (D). ISBN 978-3-608-89203-1

sind, der wird stets eine positive Antwort bekommen. Die Sorge um die AngehĂśrigen wird als Selbstverständlichkeit angesehen. Wagt man eine Nachfrage bei Eltern, Geschwistern oder auch anderen Menschen im unmittelbaren Umfeld eines Betroffenen, so scheint es nur bedingt eine Ăœbereinstimmung von Reden und Handeln zu geben. Die Pflegefachleute Edith Scherer und Thomas Lampert schenken den Mit-Betroffenen mit ihrem Buch nun wieder Aufmerksamkeit. Es gelingt ihnen, die Situation der AngehĂśrigen realistisch und engagiert zu beschreiben. Psychiatrisch Tätige ermuntern sie, sich in die Rolle der AngehĂśrigen zu versetzen. Wer den Perspektivwechsel probiere, werde der Sorge und der Verletzlichkeit der AngehĂśrigen auf andere Weise begegnen. Aus der eigenen langjährigen Erfahrung pflegerischer Praxis ist Scherer und Lampert die Autonomie der Menschen bewusst, die von einer seelischen Erkrankung betroffen sind. Denn ob AngehĂśrige gleich zu Beginn in die Behandlung einbezogen wĂźrden, sei grundlegend vom Einverständnis der Patienten abhängig, unterstreichen die Autoren. Damit berĂźhren sie einen sensiblen Punkt, der in den Reihen der AngehĂśrigen andauernd diskutiert wird. Die Belastungen der AngehĂśrigen, die sich aus der seelischen Erkrankung eines nahestehenden Menschen ergeben, stehen im Fokus von Scherer und Lampert. Der „Verlust der Selbstverständlichkeit“ scheint eine besondere Rolle im Alltag zu spielen. „Erkrankt eine Person psychisch, dann wird schon das Aufrechterhalten der Alltagsroutine in der Familie zu einer groĂ&#x;en Belastung. AngehĂśrige beschreiben, dass ihr Alltag vĂśllig aus den Fugen gerät, die Planung von Aktivitäten schwierig wird und plĂśtzlich nichts mehr ist, wie es zuvor war.“ Es gebe einen Verlust an Beziehung und Vertrauen, so die Autoren. Dies sind nicht die einzigen Einschnitte in den Familien, die von einer psychischen Erkrankung betroffen sind. Selbst die eigene Biografie werde verändert. Kinder wĂźrden parentifiziert. Viele Menschen nähmen Abschied von eigenen LebensentwĂźrfen. Bei der LektĂźre fällt auf, dass Scherer und Lampert aus der psychiatrischen Praxis heraus viele Phänomene benennen. Es wird gleichzeitig offensichtlich, dass in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den AngehĂśrigen in

Katharina Drexler Ererbte Wunden heilen Ererbte seelische Wunden sind in der Psychotherapie behandelbar und heilbar. Das erste systematische Behandlungskonzept erklärt, wie Traumata an nachfolgende Generationen weitergegeben werden und wie Patienten sich davon befreien kÜnnen. Auch fßr Betroffene geeignet!

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Buchbesprechungen

Rita Charon, Sayantani DasGupta u. a.

ISBN 978-3-89334-562-5 2. Aufl., geb., 180 S., 19.-

www.asanger.de

ISBN 978-3-89334-393-8 3. Aufl., 194 S., 22.-

Gerd Wenninger Stresskontrolle und Burnout-Prävention Lesebuch und Praxisleitfaden für Gestresste und Erschöpfte und alle, die ihnen helfen wollen. „Ein in jeder Hinsicht anregendes und praxistaugliches Werk!” (Prof. Dr. Hermann Englberger, Hochschule München)

Sven Tönnies Entspannung – Suggestion – Hypnose Praxisanleitungen zur Selbsthilfe und Therapie. „... wer ein gut lesbares Buch mit Praxisnähe und vielen praktischen Übungsanleitungen sucht, der braucht nicht länger zu suchen.“ (Tinnitus-Forum)

ISBN 978-3-89334-572-4 6. Aufl., 176 S., 19.50

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Helmut Schaaf Gleichgewicht und Schwindel Wie Körper und Seele wieder auf die Beine kommen. „Das Buch ist eine Bereicherung nicht nur für den Patienten, sondern auch für den Arzt.” (PD. Dr. Leif Eric Walther im TF 3 2012)

The Principles and Practice of Narrative Medicine

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ie sogenannte narrative Medizin steht für das Wieder-in-den-Mittelpunkt-Nehmen des individuellen Erlebens der PatientInnen sowie der individuellen Erfahrung der Menschen, die im medizinischen Kontext tätig sind. Ursprünglich sollte das Konzept der narrativen Medizin ein Korrektiv zu den Defiziten in der evidenzbasierten Medizin sein. Die Ärztin und Professorin Rita Charon und ihr Team legen mit „The Principles and Practice of Narrative Medicine“ die Grundlagen ihrer Arbeit innerhalb des Masterprogramms „Narrative Medicine“ an der Columbia Universität in New York (USA) dar. Der Inhalt des Buches ist so komplex wie das Unterfangen der narrativen Medizin selbst, die vorgestellte Vision nichts Geringeres als ein sozial gerechteres, humaneres Gesundheitssystem und die Verbesserung der Gesundheitsversorgung für alle. Ziel der narrativen Medizin ist es, die narrative Kompetenz und Fähigkeit zur Selbstreflexion von ärztlich, therapeutisch, pflegerisch oder beratend Tätigen im medizinischen Kontext zu stärken. Dazu gehören die Fähigkeiten, unterschiedliche Sichtweisen wahrnehmen, Ambivalenz und Unsicherheit als zentrale Merkmale der Medizin aushalten und sich in andere Menschen hineinversetzen zu können. Es gilt, die Kontingenz der eigenen Wahrnehmung und Erfahrung zu erkennen und eine erhöhte Aufmerksamkeit und Sensibilität dafür zu entwickeln. Zentral ist in der New Yorker Schule der narrativen Medizin die den kritischen Literaturwissenschaften entlehnte Methode des „close reading“. Damit wird im übertragenen Sinne die Lese- und Interpretationsfähigkeit gestärkt, was sich in der Folge positiv auf den Arzt-Patienten-Kontakt auswirkt, etwa durch eine erhöhte „Zuhör-Fähigkeit“ und soziale Kompetenz. Die Kapitel des Bandes führen von den theoretischen Grundlagen über die Vermittlung in Lehre, Aus- und Weiterbildung bis hin zu den Umsetzungsmöglichkeiten im klinischen Alltag. Die AutorInnen erläutern die Bedeutung von Erzählungen für die menschliche Identi-

tät und zeigen, dass sie erst wirksam werden können, wenn die Bereitschaft da ist, sich auf die Geschichten und das Erleben anderer – sei es in Romanen, Filmen oder konkreten Begegnungen mit PatientInnen – einzulassen. Als Grundlagen der narrativen Medizin werden die Kritik am immer noch dominanten kartesischen Dualismus in der Biomedizin sowie philosophische, sozial- und literaturwissenschaftliche Ansätze genannt. In diese unterschiedlichen Denktraditionen führen die AutorInnen verständlich ein und verdeutlichen sie anhand von zahlreichen Beispielen aus Literatur und Film. Das über 300 Seiten lange Buch konzentriert sich auf die Vermittlung von narrativer Medizin in der medizinischen Ausbildung. Es bietet eine Fülle an Material und Anregungen sowohl zu den theoretischen Grundlagen als auch zum Geschehen in den Workshops und Seminaren. Neue Wege der Umsetzung in die medizinische Praxis werden im letzten Kapitel von Rita Charon benannt, stehen jedoch nicht im Fokus dieses Bandes. Wer sich für die Bedeutung von Erzählungen in der Medizin interessiert, auf der Suche ist nach einem Ansatz, der – machbar, wenn auch herausfordernd – eine menschlichere Praxis für unterschiedlichste Bereiche des heutigen Gesundheitssystems verspricht, der wird dieses Buch mit großem Gewinn lesen. Eine ausführlichere Rezension des Buches ist unter www.socialnet.de erschienen.

Vera Kalitzkus, Institut für Allgemeinmedizin, Medizinische Fakultät, Universität Düsseldorf

Oxford University Press, Oxford 2017, 360 Seiten, ca. 50 Euro

Dr. med. Mabuse 229 · September / Oktober 2017


Kraft Krafft aus der Ruhe Ruhe

ie bereiten sich heute Frauen und Paare auf die Geburt ihres Kindes vor? Diese Frage stelle ich mir in meiner Arbeit als freiberufliche Hebamme öfter. Besuchen sie einen Kurs? Wird das Internet befragt? Werden Bücher zurate gezogen? Wahrscheinlich ist es meist eine Mischung aus allem und so ist meine Neugier groß, als ich das Buch von Wolf Lütje, Geburtshelfer in Hamburg, zu lesen beginne. „Gelassen und entspannt in den Kreißsaal“ lautet der Untertitel des Buches: ein hoher Anspruch! Der Chefarzt des Amalie-Sieveking-Krankenhauses formuliert es gleich im Vorwort: „Dieses Buch will Frauen und ihren Partnern Mut machen, sich auf eine natürliche Geburt einzulassen.“ Damit dies gelingen kann, spricht der Autor in mehreren Kapiteln verschiedene Aspekte an: die Geburt als Kraftquelle, die Reflexion der eigenen Geburtsgeschichte, Entscheidungshilfen für den Geburtsort, Sinn und Unsinn des Kaiserschnittes, Bedingungen für eine gute Geburt sowie die Begleitung bei der Geburt. In fast allen Kapiteln stellt Lütje heraus, dass der weibliche Körper gebären kann, dass eine Geburt ein natürlicher Vorgang ist. Es gefällt mir gut, wie er hier Mut macht, erklärt, welche Hormone warum eine Rolle spielen und weshalb Vertrauen und Hingabe wichtige Faktoren bei der Geburt sind. Die Lektüre des Buches kann Schwangere ermuntern, über ihre eigene Geburt nachzudenken, die Eltern dazu zu befragen. Lütje ist überzeugt, dass das Körpergedächtnis hier Vieles speichert und es hilfreich sein kann, sich guter und nicht so guter Erlebnisse bewusst zu werden. Im Kapitel über den Kaiserschnitt positioniert sich der Autor sehr klar. Er listet die medizinischen Gründe für diese Geburtsform auf, aber auch die sogenannten weichen Faktoren wie etwa Ängste vor Kontrollverlust, Schmerzen, Unbekanntem und langwieriger Anstrengung. So können sich Leserinnen vielleicht bewusst darüber werden, was hinter ihrem Wunsch nach einem Kaiserschnitt steckt. Am Schluss des Kapitels entlarvt er den Dr. med. Mabuse 229 · September / Oktober 2017

Kösel Verlag, München 2016, 144 Seiten, 14,99 Euro

Auch Auch als eBook erhältlich

W

FFast ast jeder Dritte hat hat Schlafstörungen. Sch hlafstörungen. W as tun, tun, Was w enn „Schäf chen zzählen“ ählen“ nich ft? t wenn „Schäfchen nichtt hilf hilft? Gudrun Klein und Michael Bohne g eben einen geben Betroffenen, überraschenden Rat: Rat: Sie empfehlen empfehlen Betroffenen, überraschenden tensiv auf das Schlaf fstatt sich ab zulenken, sich in statt abzulenken, intensiv Schlafproblem zu konzentrieren konzentrieren und dabei leicht leicht auf problem verschiedene Stellen des eigenen eigenen K örpers zu klop verschiedene Körpers klop-fen. Diese sanfte sanffte t Selbstbehandlung Selbst genügt o ft fen. genügt oft finden. bereits, um Entspannung Entspannung und Schlaf zu finden. bereits, ungewöhnliche Methode basier Die ungewöhnliche basiertt auf der Embodimentfokussierten PsychoPsychoProzess- und Embodimentfokussierten Prozesson Michael Bohne en twickelt und (PEP), die vvon logie (PEP), entwickelt vvon on Gudrun Klein für die Behandlung von von SchlafSchlaffstörungen modifizier de. Zusätzlich Zusätzlich erfährt erfährt störungen modifiziertt wur wurde. Wissenswertes über individuelle Schlaf fman Wissenswertes Schlafrh ythmen, den natürlichen natürlichen Schlafverlauf Schlafverlauf oder wie rhythmen, man sein tägliches Schlafbedür fnis einschließlich Schlafbedürfnis Siesta und T V-Nickerchen richtig richtig berechnet. berechnet. TV-Nickerchen

Auch A uch als eBook erhältlich erhält

Gelassen und entspannt in den Kreißsaal

99 Seiten, Seiten, Kt, Kt, 2017 € (D)9,95/€ (D)9,95/€ (A)10,30 (A)10,30 978-3-8497-0200-7 978-3-8497-0200-7

Vertrauen in die natürliche Geburt

„Sanften Kaiserschnitt“ und die „Kaisergeburt“ als das, was sie sind: PR-gesteuerte Wortschöpfungen. Mit Freuden habe ich auch das Kapitel über die Bedingungen für eine gute Geburt gelesen: den Reservetank gut füllen, dem Körpergefühl vertrauen, Ambivalenzen zulassen – ja, ja, ja! All seine Beobachtungen kann ich aus meinen eigenen Geburtserfahrungen und denen aus meiner Arbeit nur bestätigen. Und doch meldet sich leise Skepsis, und die wird spätestens beim Kapitel über die Begleitung bei der Geburt unüberhörbar: Wie soll all dies bei der momentanen Situation in den Kreißsälen gelingen? Wie soll eine Gebärende bei dem aktuellen Personalmangel ausreichend Unterstützung bekommen? Eine natürliche Geburt braucht einen geschützten Raum und Zeit. Wo ist das in deutschen Kreißsälen noch möglich? Fazit: Dem Buch ist ein großer LeserInnenkreis zu wünschen, doch in der jetzigen Situation müsste es um ein politisches Statement ergänzt werden: Es ist nicht egal, wie wir geboren werden! Unsere Gesellschaft muss erkennen, dass das Gebären in vielerlei Hinsicht Auswirkungen hat und daher genauso wichtig und schützenswert ist wie Rettungsschirme für Banken. Lütje ist optimistisch – am Ende seines Buches schreibt er: „Der Markt der Geburtshilfe ist einer, auf dem mit den Füßen der Frauen und ihren Bedürfnissen abgestimmt wird. Letztlich werden Frauen sich eine Klinik aussuchen, in der sie die besten Betreuungsangebote für sich sehen.“ Ich teile seinen Optimismus nicht. Ich erlebe tagtäglich Gebärende, die wegen der vermeintlichen Sicherheit unwürdige Situationen ertragen und sich nicht wehren. Aber dennoch werde ich das Buch empfehlen und hoffen, dass es Früchte trägt! Katharina Kerlen-Petri, Hebamme, Berlin

Seiten,, Kt Kt,, 2017 172 Seiten (D)) 19,95 / € (A) 20 20,60 € (D ,60 ISBN: ISB N: 978-3-8497-0198-7 978-3-8497-0198-7

Wolf Lütje

er wied nfach lafen Ein ch s t u g en! könn

„„Alles Alles im K Kopf“ opf nennt nennt Andrea And drea Kaindl Kaindl ihr Manual für Kinder und Jugendliche chronischen Schmer-Jugendliche mit chr onischen Schmer zen, zen, das kognitiv-verhaltenstherapeutische kognitiv-verhaltenstherapeutische und hypnosystemische Interventionen zusammen-hypnosystemische In terventionen zusammen führ t. Kinder und Jug endliche erlernen damit führt. Jugendliche Str ategien und Einstellung en, die einen ach tsamen Strategien Einstellungen, achtsamen Umg ang mit dem eig enen K örper in den Mittel Umgang eigenen Körper Mittel-punkt stellen und Wohlbefinden Wohlbefinden und FFreude reude in den Alltag zurückk ehren lassen zurückkehren lassen.. „Endlich wieder ein kkompetentes ompetentes Buch zu chr ochronischen Schmerzen Schmerzen bei K indern und Jugendlichen Kindern – noch dazu anwenderfreundlich anwenderrfr f eundlich und praktisch praktisch mit vielen Beispielen, Materialien Materialien und wörtlichen wörtlichen Suggestionstex xten!“ Burkhar dP eter Suggestionstexten!“ Burkhard Peter Milton-Erickson-Gesellschafft München Milton-Erickson-Gesellschaft

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Buchbesprechungen

Marco Bonacker, Gunter Geiger (Hg.)

Menschenrechte und Medizin Grundfragen der medizinischen Ethik

DGSP-Kurzfortbildungen September / Oktober / November 2017 In folgenden DGSP-Kurzfortbildungen sind noch Plätze frei: Recovery – der individuelle Weg zur Genesung 22./23. September in Bielefeld Referent: Hans-Jürgen Nötzel Inklusion praktisch – was da alles drin ist! 13./14. Oktober in Bielefeld Referent: Fritz Bremer, Psychiatrie-Erfahrene Sexualität im Gespräch – (k)eine einfache Sache? 20./21. Oktober in Köln Referent: Klemens Hundelshausen Forensik – ein Buch mit sieben Siegeln 27./28. Oktober in Würzburg Referent: Friedhelm Schmidt-Quernheim Verwickeln? Entwickeln! Umgang mit Borderline-Patienten 10./11. November in Bielefeld Referent: Wolfgang Stinshoff Verrückt ist nie einer allein! Familientherapie in der Psychiatrie 10./11. November in Frankfurt/M. Referent: Ansgar Cordes Kurzfortbildungen 2018: Das neue Programm mit fast 70 Seminaren ist ab Oktober 2017 erhältlich! Fordern Sie unser ausführliches Programmheft an: DGSP-Geschäftsstelle Zeltinger Str. 9, 50969 Köln Tel.: (02 21) 51 10 02 Fax: (02 21) 52 99 03 E-Mail: dgsp@netcologne.de Internet: www.dgsp-ev.de

V

on Herbst 2015 bis Sommer 2016 hielten die im Buch vertretenen Fachleute aus Geschichte, Medizin, Pflege, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Politik, Soziologie, Theologie und Philosophie Vorträge im Rahmen der Ringvorlesung „Menschenrechte und Medizin“ im Bonifatiushaus der Katholischen Akademie des Bistums Fulda. Die vorliegende Textsammlung ist der aus dieser Veranstaltungsreihe resultierende Vorlesungsband. Die Herausgeber haben die Beiträge nach einem Vorwort und einem Geleitwort von Philipp Rösler den Kategorien „Ethische Grundüberlegungen zur medizinischen Praxis“, „Menschenrechte am Anfang und Ende des Lebens“, „Medizin und Mensch im gesellschaftlichen Diskurs“ und „Aktuelle menschenrechtsrelevante Spannungsfelder der medizinischen Ethik“ zugeordnet. Die Vielfalt der behandelten Themen wie auch die Unterschiedlichkeit der Textgestaltung ist so groß, dass ich hier weniger auf einzelne Texte als vielmehr grundsätzlich auf das Buch eingehen möchte. Die AutorInnen sind wie auch ich als Rezensentin in einer römisch-katholisch geprägten Medizinethik verwurzelt. Die hervorragend argumentierten Debattenbeiträge von Rupert M. Scheule – „Menschenrechte für Ungeborene? Ein Versuch“ – und Eberhard Schockenhoff – „Was heißt selbstbestimmt sterben? Zur Debatte um die Suizidbeihilfe“ – werden ein ebenso sozialisiertes Fachpublikum bestärken, VertreterInnen anderer Denkrichtungen aber kaum ansprechen. Ebenso wird der hochinteressante Beitrag von Elke Böthin – „Medizinische Versorgung von Flüchtlingen – eine gesellschaftliche Verantwortung und ein ärztlicher Auftrag“ – eine Bereicherung für in der Flüchtlingsfrage liberale LeserInnen sein, anders Gesinnte aber nicht erreichen. Das Buch enthält aus meiner Sicht viele hervorragende Texte, ist aber insgesamt zu wenig diskursiv ausgerichtet, um außerhalb seiner Echokammer Aufmerksamkeit zu erregen. Die genannten Beiträge bewegen sich auf einem hohen akademischen Niveau.

Andere sind sehr viel praxisnäher ausgerichtet oder aus persönlichen Erfahrungen heraus entstanden. Beispiele hierfür sind die Aufsätze „Mehr Leben und mehr Tage? – Erfahrungen aus der Praxis der Kinderpalliativmedizin“ von Monika Führer und „Sterben in dieser Zeit“ von Franz Müntefering. Gerade der Beitrag von Müntefering macht es einfach, sich in den gehaltenen Vortrag hineinzuversetzen. Diese Artikel sind sehr anschaulich geschrieben und eine gute Grundlage für Diskussionsoder Lehrveranstaltungen. Allerdings interpretieren einige VerfasserInnen das Thema des Bandes „Menschenrechte und Medizin“ sehr weit. Das Buch reiht sich ein in die Liste jüngerer Einführungspublikationen zur ärztlichen und pflegerischen Ethik. Als Aufsatzsammlung ist es sehr gut geeignet, um ein interessiertes Fachpublikum anzuregen und Impulse in Lehrveranstaltungen im Hebammenwesen, der Medizin und der Pflege zu setzen. Ich habe die Lektüre einiger Beiträge außerordentlich genossen, musste mich aber auch nicht – siehe oben – aus meiner medizinethischen Komfortzone hinaus bewegen. Den Herausgebern ist dafür zu danken, dass sie das für viele Menschen abstrakte Themenfeld der Medizinethik aus den Kliniken und Universitäten herausgeholt und einem breiteren Publikum zugänglich gemacht haben. Dr. Anja K. Peters, Diplom-Pflegewirtin (FH), Medizinhistorikerin, Neubrandenburg

Verlag Barbara Budrich, Opladen/Berlin/Toronto 2016, 302 Seiten, 34,90 Euro

Dr. med. Mabuse 229 · September / Oktober 2017


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Buchbesprechungen

Christian Pross

„Wir wollten ins Verderben rennen“ Die Geschichte des Sozialistischen Patientenkollektivs Heidelberg

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acht kaputt, was euch kaputt macht!“ Dieser Song der Rock-Band „Ton Steine Scherben“ drückte unsere Stimmungslage aus. Damals, als wir nach 1968 gegen die gesellschaftlichen Sklerosen anstürmten und um eine bessere Medizin kämpften. Ein Leuchtturm des Aufbruchs in unserer damaligen Wahrnehmung war das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) Heidelberg. Die psychiatrischen Anstalten bezeichneten wir als Schlangengruben, die Kranken wurden unter teils menschenunwürdigen Bedingungen verwahrt. Das Anschnallen in den Betten, Zwangsjacken, eiskalte Bäder, Elektroschocks und andere martialische „Therapiekonzepte“ waren Alltag. In Italien machte sich Franco Basaglia an die Auflösung der Anstalten. Und in Heidelberg versuchte Professor Walter von Baeyer, die Psychiatrische Universitätsklinik zu reformieren. Der Internist Heinrich Huebschmann interpretierte Krankheit als einen Körperstreik gegen desolate Lebensverhältnisse. Es waren wilde Zeiten der Veränderung und die Tradition der psychosomatischen Medizin in Heidelberg beförderte gerade dort ein offenes Reformklima für eine humane Medizin. 1971 setzte der Deutsche Bundestag die Expertenkommission „PsychiatrieReform“ ein und 1978 erschien dann im

Psychiatrie-Verlag das Buch von Uschi Plog und Klaus Dörner „Irren ist menschlich“. 1980 demonstrierten in Bonn über 10.000 Menschen für eine menschliche Psychiatrie. Die von Christian Pross unter Mitarbeit von Sonja Schweitzer und Julia Wagner vorgelegte Studie zur Geschichte des SPK Heidelberg analysiert wissenschaftlich exzellent die dramatischen Ereignisse von damals: Der Arzt Wolfgang Huber machte sich zum Außenseiter der medizinischen Institutionen und zum Liebling seiner Patienten. Als die Universitätsklinik den ebenso rebellischen wie selbstgerechten und fleißigen wie patientennahen Kollegen kündigte, wagten seine Patienten den Aufstand. Die Basisgruppe Medizin, viele Medizinstudenten und reformorientierte Psychiater, auch renommierte Gutachter wie beispielsweise der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter, unterstützten und begleiteten wohlwollend das Experiment einer psychiatrischen Selbsthilfegruppe, eines kooperativen Bündnisses von Arzt und Patient und einer beziehungsbasierten Heilkultur für psychiatrisch Kranke. Von Februar 1970 bis Juli 1971 versammelte der charismatische Doktor Huber etwa 500 Patienten um sich und entfaltete eine ideologisch verblendete, paranoide und selbstzerstörerische Psychodynamik. Es endete mit einer Hausdurchsuchung, Waffenfunden und der Verurteilung von Wolfgang Huber wegen „Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung“. Das historische Forschungsprojekt arbeitet nun die Psycho- und Soziodynamik der Ereignisse um das Heidelberger Pati-

entenkollektiv detailliert auf. Das daraus entstandene Buch berichtet in zwölf Kapiteln über die Hintergründe und Zusammenhänge des Geschehens, verbindet das Schicksal einzelner Patienten mit der Lebenswelt des Kollektivs und seinem Scheitern. Es ist ein einzigartiges Werk entstanden, das sich spannend, mitreißend und lehrreich liest. Gerade heute, wo die gesellschaftlichen Widersprüche erneut als individuelle Krankheitssymptome zum Ausdruck kommen, ist ein „Lehrbuch“ über die Risiken und Gefahren einer politischen Medizin wertvoll und hilfreich. Es zeigt auf, wie die „Revolution ihre eigenen Kinder fressen“ oder wie eine Gruppe im Kampf gegen böse Verhältnisse selbst böse werden kann. Wir lernen, wie sich humanistische Idealisten zu zynischen Despoten, bewunderte Hoffnungsträger zu egomanen Fundamentalisten oder gute Absichten zu schrecklichen Entgleisungen wandeln können. Das Buch ist aus meiner Sicht eine lehrreiche „Pflichtlektüre“ für Psycho- und Soziotherapeuten, Public Health-Mediziner und Gesundheitspolitiker. Wenn reformierte Versorgungssysteme unter die Zwänge von Bürokratie und Ökonomie geraten, müssen wir wissen, was dabei auch passieren kann. Ellis Huber, Berlin

Psychiatrie Verlag, Köln 2016, 500 Seiten, 39,95 Euro

Dr. med. Mabuse 230 · November / Dezember 2017


Buchbesprechungen

Maria Kotulek

Seelsorge für Angehörige von Menschen mit Demenz

G

ibt es Aspekte, die in den zahllosen Ratgebern, Schulungskursen und Gruppenangeboten für Demenzerkrankte und ihre begleitenden, betreuenden und pflegenden Nächsten keine oder zu wenig Beachtung finden? Maria Kotulek, ihres Zeichens Fach-Pastoralreferentin für Demenz im erzbischöflichen Ordinariat München, bejaht dies und verweist auf Spiritualität. Eine interessante, lohnenswerte und sicherlich komplexe Fragestellung, zumal mit dem praktischen Bezug zur Seelsorge. Allerdings geht es dem schlanken Buch nur kurz und einführend um einen differenzierten Einstieg in das Thema. Vielmehr legt die Autorin einen Reader zu einem liturgisch geprägten Angebot für pflegende Angehörige von Demenzerkrankten in einem kirchlich-christlichen Gemeinde-Kontext vor. Sie konzipierte den sogenannten IKS-Kurs (informativ, kommunikativ, spirituell) und evaluierte ihn im Rahmen ihrer Dissertation. Wie in einem Kochbuch werden Hinweise für Zutaten, Zeitplanung und Zielgruppe gegeben, Psalm- und Bibeltexte als Kopiervorlagen mitgeliefert und detaillierte Ablaufpläne für fünf etwa eineinhalbstündige Kurstermine dokumentiert. Einzelheiten sind bis hin zur Farbe der Tücher, die vor Erscheinen der TeilnehmerInnen in der Raummitte um eine Osterkerze zu drapieren sind, beschrieben. Die vorangestellte Einführung ist knapp, aber informativ, der Theorie-Abschnitt über Demenz und die spezifische Situation der begleitenden, betreuenden und pflegenden Nächsten ansprechend. So erfährt man, dass fast jede zweite Frau und jeder dritte Mann ab 65 Jahren bei der aktuellen Lebenserwartung im Laufe der Zeit an einer Demenz erkrankt, welche Formen gemeinhin unterschieden werden und in welcher Weise Kommunikation im Krankheitsverlauf gelingen kann. In Deutschland überwiegt die häusliche Pflege, entsprechend groß ist die Zahl der betroffenen Angehörigen. Überdurchschnittlich häufig entwickeln sie psychische und physische Beschwerden. Die Betroffenen stehen vor den spezifischen Herausforderungen abnehmender Sozialkontakte, Dr. med. Mabuse 230 · November / Dezember 2017

des Rollentausches vor allem bei ElternKind-Beziehungen und des ständigen Gefühls von Abschiednehmen-Müssen und Trauer um Lebende sowie um die gemeinsame Biografie. Dem Thema „Spiritualität“ nähert sich die Autorin zunächst offen mit Verweisen auf die Wortherkunft, auf die historische Wandlung des Begriffs von „Geistlichem“ in christlich-kirchlichen Bezügen zu einem später vor allem im gesundheitlichen Kontext von Religion und Konfession losgelösten Konzept. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) umfasse Spiritualität demnach Kraftquelle(n), Sinngebung und das lebendig Erhaltende eines Menschen sowie seine lebenslange Beziehung dazu. Religiosität beziehe sich hingegen auf institutionelle Glaubens- oder theologische Ideensysteme, wobei Überschneidungen häufig seien. Zentral erscheint hier das Zitat, nach dem religiöse und spirituelle Bezüge dem Erkrankten „Sicherheit bei der Erhaltung des Selbst“ geben können. In anschaulicher Weise werden Musik, Kunst, Natur und Biografie in den Zusammenhang der Spiritualität gestellt. Es ist dann fast bedauerlich wie sich anschließend der Fokus auf eine christlich-kirchlich-liturgische Situation verengt. Die Abschnitte zu den sogenannten Grundvollzügen von Kirche und die Theologie der Gottesdienstfeier richten sich offensichtlich an entsprechend vorgebildete LeserInnen – wer sonst kann ohne Weiteres die Bedeutung der biblischen Emmaus-Erzählung und das Pascha-Mysterium Christi einordnen? Und was meint schließlich „Seelsorge“, dieser etwas altmodisch und betulich, nach kirchlich bemühtem Balsam und einer leicht verstaubten Idee klingende Begriff? Er schafft in erster Linie Räume, in denen Fragen und Sehnsüchte artikuliert werden können, und zwar durch Mithören, -gehen, -suchen und -deuten. Hier wird es noch einmal spannend, wird doch die SeelsorgerIn mit dem Zusatz „mystagogisch“ versehen. Umschrieben wird damit die Begleitung eines Menschen auf dem Weg zu „seinem Geheimnis“, im Weiteren gleichbedeutend mit dem „in Berührung mit Gott bringen“. Leider bleibt die „diakonisch-mystagogische Seelsorge im Kontext von Spiritual Care“ hier nur vage angedeutet. Unter dem Strich erscheint der Titel etwas groß geraten für den Inhalt des Buchs, das weniger die Bandbreite von

Seelsorge im Zusammenhang mit Demenzerkrankten und ihren begleitenden Angehörigen als vielmehr eine einzelne konkrete Handreichung in einem spezifischen Pfarrgemeinde-Setting beschreibt. Alice Nennecke, Hamburg

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017, 104 Seiten, 20 Euro

Reimer Gronemeyer, Charlotte Jurk (Hg.)

Entprofessionalisieren wir uns! Ein kritisches Wörterbuch über die Sprache in Pflege und sozialer Arbeit

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in lesenswertes, spannendes Buch, an einigen Stellen akademisch verschwurbelt, das aus einem „Gefühl des Widerwillens, ja Ekels angesichts einer zunehmend abstrakten, kalten und gleichmacherischen Sprache in allen Zweigen des Sozialen“ entstanden ist. Es regt zum Nachdenken über den Sprachgebrauch an, wenn „das Soziale“ nur noch verwaltet wird, fordert aber auch zum Widerspruch heraus. Etwa wenn die Herausgeber in ihrer Einleitung „Über die Sprache der Versorgungsindustrie: Wie Plastikwörter die Sorge um andere infizieren und warum wir uns davon befreien müssen“ das neue Bundesteilhabegesetz anführen. An dem lässt sich wirklich Vieles bemängeln. Gronemeyer und Jurk kritisieren, es sei „geradezu infiziert von Sozialraumbezogenheit. Der Sozialraum soll retten, was durch die gezielte Zerschlagung solidarischen Miteinanders angerichtet worden ist.“ Da greifen die Autoren zu kurz: Ginge es nur um das „Plastikwort“, könnte man es einfach vermeiden und vielleicht durch die Vokabel „solidarisches Miteinander“ ersetzen. Gewonnen wäre dadurch aber nichts. Zu kritisieren ist – und die Autoren meinen das wohl auch – nicht das Wort, zu kritisieren sind die Verhältnisse, die es verbergen soll. Zu Recht attackieren die Herausgeber „die Sprache sozialer Expertise“, die „ihre Herkunft aus der industriellen Sphäre nicht verleugnen“ kann. Sie sehen diese Sprache als Ausdruck der Professionali-

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Buchbesprechungen

Traumatisierungen Traumatisierungen im Kontext medizinischer Behandlungen

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TRAUMA & GEWAL LT l OMP\ LMV ?MO ^WV LMZ 3TQVQS LWZ \PQV _W /M_IT\ MV\[\MP\ l LQ[S]\QMZ \ LQM 8ZĹť^MV\QWV ^WV /M_IT\ ]VL LQM -V\OMOV]VO I]N /M_IT\ l ^MZJQVLM\ LQM STQVQ[KPM ;QKP\ UQ\ OM[MTT[KPIN\TQKPMV 8MZ[ X M S \ Q ^M V

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sierung, „die unter dem Vorwand der Optimierung sozialer Dienstleistung tatsächlich eine radikale Verdinglichung mitmenschlicher Zuwendung betreibt“. Die findet sich etwa unter dem Stichwort der „AngehĂśrigenarbeit“, in der aus Anteilnahme und Zuwendung ein abhakbarer „Gegenstand der professionellen Betreuungskonzepte“ wird. Aber auch das liegt nicht an der Vokabel „AngehĂśrigenarbeit“, sondern daran, dass – wie der Autor es benennt – sogar noch die Einbeziehung der AngehĂśrigen in die Sorge um einen kranken, leidenden Menschen zu einem marktgängigen Produkt verunstaltet wird. So grasen die AutorInnen das breite Feld des oft seltsam anmutenden Vokabulars ab. Wie Hans Bartosch das „Management“ durchleuchtet, ist geradezu komisch – auch wenn diejenigen, die es in ihrem Sozialverwaltungsalltag anwenden (mĂźssen), das sicherlich nicht komisch finden. Der Autor amĂźsiert sich beim sogenannten „Qualitätsmanagement“ Ăźber die „teilweise hochreligiĂśse Ganzhingabe an solche Systeme“ und fragt beim Begriff „Wundmanagement“, hinter dem er die anspruchsvollen Seiten der Pflege sieht: „Aber, um Himmels Willen, wie hieĂ&#x; das denn frĂźher, das mit den Wunden und deren Behandlung?“ Alles ist irgendwie Management. Da sind wir bei den industriellen Organisationsprinzipien, die dem Sozialen ĂźbergestĂźlpt werden: „Was fĂźr Toyota gut war, kann doch fĂźr Diakonie, Arbeiterwohlfahrt und kommunale Jugendhilfe nicht das Leitmedium werden, oder?“ An dieser Stelle – wie an zahlreichen anderen – wird klar, dass die Herausgeber oder der Verlag einen falschen, sogar ärgerlichen Titel gewählt haben. Der ganze Zauber um das Management und die aus der Industrie Ăźbernommenen Methoden ist „ein BĂźndel klassischer (...) innenrevisorischer Mittel, die nunmehr von externen Kostenträgern (...) aufgestellt werden, um Finanzmittelzuweisungen zu regulieren“. Sich diesem Diktat zu unterwerfen, ist nicht Ausdruck einer Professionalisierung, sondern gerade des Gegenteils. Die Forderung „Entprofessionalisieren wir uns!“ hat schon erfĂźllt, wem diese modernen Managementmethoden wichtiger sind als das Wissen, das KĂśnnen und die Ethik seiner Profession. Wenn man der Ansicht ist, dass es diese Berufe braucht, weil deren Aufgaben in Pflege und Sozialer Ar-

beit nicht Jede und Jeder zum Wohle der Umsorgten erledigen kann, muss die Forderung lauten: Lassen wir uns die Professionalität nicht nehmen! Burkhard Plemper, Soziologe, Hamburg

Transcript Verlag, Bielefeld 2017, 260 Seiten, 29,99 Euro

Ralph-Christian Amthor (Hg.)

Soziale Arbeit im Widerstand Fragen, Erkenntnisse und Reflexionen zum Nationalsozialismus

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er Aufsatzband stellt sich erstmals in der Professionsgeschichtsforschung der Sozialen Arbeit der Aufgabe, den Widerstand gegen den Nationalsozialismus innerhalb der Berufsgruppe zu untersuchen und anhand zahlreicher biografischer Skizzen darzustellen. Dabei erhebt der Herausgeber nicht den Anspruch einer vollständigen Abhandlung; vielmehr hält er bereits in der EinfĂźhrung fest, dass Forschungsdesiderate bestehen. Neben der Präsentation berufshistorischer Erkenntnisse ist es das Ăźbergeordnete Anliegen der AutorInnen, diejenigen KollegInnen zu wĂźrdigen, die sich unter Lebensgefahr dem nationalsozialistischen System entgegenstellten. Im ersten Teil des Buchs – Allgemeine Grundlagen der Widerstandsforschung – skizziert der Herausgeber den aktuellen Forschungsstand, offene Fragen und den Aufbau des Buchs. Daran schlieĂ&#x;t sich eine Darstellung Sozialer Arbeit im nationalsozialistischen Deutschland von Carola Kuhlmann an sowie der Beitrag von Christa Paulini Ăźber die Entwicklung der Berufsverbände ab 1933. Diese beiden Kapitel eignen sich hervorragend fĂźr berufshistorische Lehrveranstaltungen. Adriane Feustel legt mit ihren AusfĂźhrungen zu Verfolgung, Flucht und Exil in der Sozialen Arbeit die Grundlage zum Verständnis der zahlreichen Biografien im Buch. Im zweiten Teil – Hauptrichtungen und Orte des Widerstands – beleuchten Martin Biebricher (Progressive Jugendarbeit Dr. med. Mabuse 230 ¡ November / Dezember 2017


als Motiv), Sven Steinacker (Linkssozialistischer/kommunistischer Widerstand), Gudrun Maierhof (Jüdischer Widerstand), Sabine Toppe (Bürgerliche soziale Arbeit), Birgit Bender-Junker (bekennende Kirche und Innere Mission) und Andreas LobHüdepohl (Caritas und katholische Kirche) widerständiges Verhalten in der Sozialen Arbeit anhand zahlreicher Einzelbeispiele und in verschiedenen Settings. Als roter Faden zieht sich die Frage durch die Texte, ob diejenigen Berufsangehörigen, die Widerstand leisteten, dies aufgrund ihrer beruflichen oder ihrer weltanschaulichen Sozialisation taten. Ich finde die Frage wichtig. Gleichwohl scheint sie mir in ihrer Vehemenz in diesem Buch übertrieben. Unabhängig von ihrer primären Motivation können die widerständig handelnden Frauen und Männer als positive Rollenvorbilder in der Sozialen Arbeit vorgestellt werden. Dies gilt umso mehr, als ein weiteres wiederkehrendes Thema die Feststellung ist, dass sich der Beruf insgesamt angepasst und systemstabilisierend verhielt, viele Berufsangehörige die eugenische, rassistische und antisemitische Sozialgesetzgebung des NS-Staates befürworteten und aktiv unterstützten. Im dritten Teil – Weiterführende Reflexionen und Ausblick – wird mit Aufsätzen von Beate Kosmala (Widerstand gegen die Judenverfolgung), Susanne Zeller (Berufsethiken jenseits der NS-Ideologie) sowie Juliane Sagebiel und RalphChristian Amthor (Widerstand in der Sozialen Arbeit in den besetzten Gebieten) der Blick auf die Shoah, grundlegende ethische Fragen und über Deutschland hinaus gelenkt. Er schließt mit Auszügen aus einem Gespräch zwischen drei SozialarbeiterInnen verschiedener Altersgruppen über die Frage nach Widerstand an sich. Das Gespräch hebt sich stilistisch sehr vom übrigen Buch ab. Erfreulicherweise enthält das Buch ein Abkürzungsverzeichnis und ein kurzes biografisches Lexikon sowie ein Verzeichnis relevanter Archive und Gedenkstätten. Hiermit hebt es sich von anderen vergleichbaren Publikationen ab. Ärgerlich und dem Lektorat anzulasten sind die Schreibfehler. Manche sind lässlich, aber wenn aus Bernburg Brandenburg wird, ist der Fehler sinnentstellend. Insgesamt ist der Band eine Bereicherung der Literatur zum Nationalsozialismus und ein wertvoller Beitrag zur Ge-

schichte der Sozialen Arbeit. Ich kann es sowohl für das Studium der Sozialen Arbeit wie auch zum Erwerb für Einrichtungen und Fachbibliotheken sehr empfehlen. Dr. Anja K. Peters, Neubrandenburg

Beltz Juventa, Weinheim/ Basel 2017, 356 Seiten, 34,95 Euro

Christiane Steinert, Falk Leichsenring

Psychodynamische Psychotherapie in Zeiten evidenzbasierter Medizin Bambi ist gesund und munter

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sychodynamisch orientierte Forscher haben es schwer, wissenschaftlich hochwertig zu veröffentlichen. Das hat – in Zeiten evidenzbasierter Medizin – auch etwas mit einer Methodik zu tun, die eher zu (testpsychologisch) messbaren Symptomen passt als zu Therapiemodellen, die auf bewusste und unbewusste Konflikte wie Beeinträchtigungen in Ich-Funktionen fokussieren. Dabei zielen diese auf ein tieferes Verständnis des Selbst und des Anderen sowie auf die Fähigkeit, befriedigende Beziehungen zu führen und Affekte besser zu steuern – auch in der Annahme, dass sie seine Symptome und Probleme mitbedingen oder aufrechterhalten. Es hat aber auch etwas mit der Fehlannahme „alter“ Psychodynamiker zu tun, dass manche ihrer Grundannahmen und Konzepte empirisch kaum überprüfbar seien. Steinert und Leichsenring postulieren im Gegenteil, dass man mithilfe klinischer Studien durchaus überprüfen kann, ob es aufgrund von Therapien, die auf nachvollziehbaren Konzepten beruhen, zu messbaren Veränderungen kommt. Unabhängig vom Konzept sollte eine Psychotherapie der Linderung eines wie auch immer gearteten Problems dienen und zumindest diese Linderung sollte empirisch überprüft sein. Dazu schildern die AutorInnen lesbar und verständlich die relevante Methodik. Man lernt, wie man mit „Statistik“ zu sehr unterschiedlichen Aussagen kom-

Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten Die Reihe Fluchtaspekte unterstützt psychosoziale Fachkräfte, Sprachmittler und ehrenamtlich Engagierte in ihrer Begegnung und Arbeit mit geflüchteten Menschen mit theoretischem Hintergrund- und nützlichem Praxiswissen. Die kompakten Handreichungen rüsten die in der Geflüchtetenarbeit Tätigen für ihre vielfältigen, oft ganz neuen Aufgaben und setzen Impulse in diesem Arbeitsbereich. Jeder Band ca. 104 Seiten, kartoniert je € 12,– D eBook: je € 9,99 D Weitere Titel sind in Vorbereitung. www.v-r.de/fluchtaspekte -r.de www.v liche

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Dr. med. Mabuse 230 · November / Dezember 2017

Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht


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Buchbesprechungen

men kann, vor allem, wenn eine zur Fragestellung nicht passende Methode eingesetzt wird. Dabei gehen sie auch auf die Reproduzierbarkeit klinischer Forschung ein. Zu den Faktoren, die zu der mit unter 50 Prozent geringen Replizierbarkeit beitragen, gehören unter anderem kleine Stichproben, selektives Berichten und der Druck, „etwas“ publizieren zu müssen. Als nicht zu unterschätzenden Risikofaktor benennen sie die „Allianz der Forschergemeinschaft“, die auch dank des sogenannten Peer-Review-Verfahrens – durchaus interessengebunden – in der Lage ist, Publikationen anzunehmen, zu modifizieren oder abzulehnen. Dies hat möglicherweise auch dazu geführt, dass dieses Büchlein notwendig wurde, um im Konzert der Forscher, die sich allein richtig fühlen, die Stimme zu erheben. Dann führen Steinert und Leichsenring „evidenztauglich“ und störungsbezogen eine Vielzahl an methodisch sauberen Untersuchungen an, die den Wert des psychodynamischen Vorgehens belegen können. Gleichzeitig zeigt sich wieder einmal, dass das Heil nicht im Entwederoder, sondern im Sowohl-als-auch liegt, und vor allem in dem, was passt: zum Patienten und zum Therapeuten. Als allgemeine Wirkfaktoren werden dargestellt: eine gute Therapeuten-Patienten-Beziehung; ein vertrauensvolles, den Heilungserfolg begünstigendes Therapiesetting; ein Therapeut, der eine psychologisch abgeleitete und kulturell eingebettete Erklärung für das emotionale Problem des Patienten zur Verfügung stellt, die für diesen realisierbar, glaubhaft und akzeptierbar sein muss; Methoden, Techniken oder Rituale, auf die sich Therapeut und Patient einlassen können und die den Patienten dazu bringen, etwas Positives in Gang zu setzen. Darüber hinaus bilanzieren die AutorInnen aufgrund der Erfahrung von mehr als 2.000 berücksichtigten Studien sowohl verhaltenstherapeutischer wie psychodynamischer Art als übergreifendes Ergebnis: das Hervorrufen von Emotionen in expositionsbasierten, verhaltenstherapeutischen Behandlungen von Angststörungen, konkrete Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie bei der Depression und Zuwächse im Selbstverständnis in den psychodynamischen Verfahren. Letztlich ist dieses gut lesbare Buch eine Einladung zur kritischen Auseinandersetzung mit Publikationsergebnissen

und eine Ermunterung zum schulenübergreifenden Denken und auch Handeln. Dr. med. Helmut Schaaf, Bad Arolsen, www.drhschaaf.de

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017, 83 Seiten, 10 Euro

Diana Auth

Pflegearbeit in Zeiten der Ökonomisierung Wandel von Care-Regimen in Großbritannien, Schweden und Deutschland

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ie Bundestagswahl lieferte eine gute Gelegenheit, um darüber nachzudenken, wie es in gut zehn Jahren in der Altenpflege aussehen wird. Dann komme ich, wie so viele aus der Baby-BoomerGeneration, langsam ins Rentenalter. Welche Probleme wird die Altenpflege dann haben? Über welche Ressourcen dürfen wir nachdenken? Wie können Ziele formuliert werden, die in der deutschen Gesellschaft mehrheitsfähig wären? Und welche Maßnahmen müssten ergriffen werden, um diese Ziele zu erreichen? Auf der Suche nach Überlegungen zur Zukunft der Pflege stoße ich auf das Buch von Diana Auth. Die Politikwissenschaftlerin analysiert darin die Entwicklungen in der Pflegewirtschaft über die letzten Jahrzehnte. Dabei nimmt sie nicht nur die professionelle Pflege in den Blick, ihr Thema ist die Gesamtheit der in unserer Gesellschaft nötigen Pflegearbeiten. Dazu muss sie die Leistungen der pflegenden Angehörigen einbeziehen. Sie reflektiert auch die Situation von ArbeitsmigrantInnen, die hier als Angestellte in Krankenhäusern und Altenheimen arbeiten oder sich in den Grauzonen der „24-StundenHaushaltshilfe“ verdingen. Die Autorin vergleicht die Entwicklung in Großbritannien, Schweden und Deutschland. Seit dem 1. Januar 2017 gilt in Deutschland ein neues Konzept von Pflegebedürftigkeit. Auth beschreibt anschaulich, dass in Schweden und Großbritannien weniger auf nationale Regeln gesetzt wird. Die Zuständigen haben sehr viel größere Entscheidungsspielräume, wenn über den

Hilfebedarf der Menschen entschieden wird. Seit den 1990er Jahren wurde etwa in Schweden die Verantwortung für die Zuweisung pflegerischer Unterstützung in die Kommunen verschoben. Zudem liefert Auth Antworten auf folgende Fragen: Entstehen neue Pflegearbeitsformen zwischen beruflicher und familiärer sowie zwischen bezahlter und unbezahlter Pflege? Zeichnen sich Präkarisierungstendenzen ab oder sind die Pflegearbeitsformen im Laufe der Zeit besser abgesichert worden? Seit mehr als zehn Jahren verfolge ich die medialen Debatten zur Pflege. Da ist definitiv eine Lücke, in die Auths Arbeit stößt. „Ökonomisierung“ lässt sich für die Altenpflege in Deutschland in „Minutenpflege“ übersetzen. Viel Kritik an Entscheidungen der Pflegekassen und am Alltagsleben in Pflegeheimen ranken seit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 um diesen Begriff. Viele Altenpflegeprofis haben den Beruf verlassen und sprechen rückblickend von Frühdiensten als „Waschstraße“. An vielen Stellen liefert Auth wichtige Hintergrundinformationen zu den Rahmenbedingungen, die zu „Burn-out“ und Berufsausstieg führen können. Aber es bleiben auch Fragen offen, die in der aktuellen pflegepolitischen Debatte wichtig sind: Welche Rolle könnten Pflegekammern bei der Sicherstellung verlässlicher pflegerischer Versorgung der BürgerInnen spielen? In welchem Umfang trüge eine einheitliche Pflegeausbildung dazu bei, mehr Pflegeprofis auszubilden? Welche Fördermaßnahmen machen es pflegenden Angehörigen möglich, auf Dauer ihre Lieben zu versorgen? Welche Maßnahmen laufen eher ins Leere? Schade ist, dass dem Buch kein Stichwortregister gegönnt wurde. Dennoch sollte das Buch jeder lesen, der in Deutschland mehr Verantwortung der Städte und Gemeinden für die (Alten-)Pflege fordert. Und auch darüber hinaus, wünsche ich dem Buch viele aufmerksam Lesende! Georg Paaßen, www.pflegegrad.info

Westfälisches Dampfboot, Münster 2017, 500 Seiten, 44 Euro

Dr. med. Mabuse 230 · November / Dezember 2017


Buchbesprechungen

Peter Lehmann, Volkmar Aderhold u. a.

Neue Antidepressiva, atypische Neuroleptika Risiken, Placebo-Effekte, Niedrigdosierung und Alternativen

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ie Autoren haben sich umfassend mit den aktuellen psychiatrischen Behandlungsmethoden befasst. Peter Lehmanns Eingangsartikel zeigt übersichtlich die Wirkungsweisen, (Gegen-)Indikationen und unerwünschten Wirkungen neuer Antidepressiva sowie atypischer Neuroleptika. Er informiert über von Herstellern eingestandene Probleme in Schwangerschaft und Stillzeit, deren Warnhinweise an Ärzte, bei welchen Symptomen die Mittel sofort abzusetzen seien, und die mangelhaften und damit verantwortungslosen Vorgaben, wie diese abzusetzen seien. Es folgt ein Abschnitt über sehr seltene sowie chronische und lebensbedrohliche Störungen und deren frühzeitige Ankündigung. Das Abhängigkeitsrisiko wird ebenfalls thematisiert. Zuletzt informiert Lehmann über die beängstigende Wiederkehr des Elektroschocks, die uferlose Ausweitung von dessen Indikationen (auch bei Schwangeren oder Menschen mit Demenz und Down-Syndrom) und über Behandlungsalternativen. Im zweiten Kapitel setzt sich der Schweizer Arzt und Psychotherapeut Marc Rufer mit dem relativen Wert „evidenzbasierter Wirksamkeitsstudien“ auseinander. Placebo-Effekte und erwartete therapeutische Wirkungen könnten im Prinzip nicht auseinandergehalten werden. Anschließend beschreibt der Münchner Allgemeinarzt und Psychotherapeut Josef Zehentbauer in langer Praxis erprobte Hilfestellungen, angefangen bei naturheilkundlichen Mitteln und weniger schädlichen Psychopharmaka über Ernährungsmaßnahmen bis hin zu psychotherapeutischen Gesprächen. Volkmar Aderhold, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, gibt im vierten Kapitel eine Anleitung zur Minimaldosierung von Neuroleptika, sollten Menschen partout nicht ohne sie zurechtkommen oder sie nicht mehr vollständig absetzen können. Er listet die notwendigen Kontrolluntersuchungen auf, um Risiken in Grenzen halten und bei ersten Anzeichen sich entwickelnder Schäden rechtzeitig Konsequenzen zu ziehen. Im gemeinsamen Schlusskapitel folgen Ratschläge für MenDr. med. Mabuse 230 · November / Dezember 2017

schen, die ihre Psychopharmaka absetzen wollen. Es gelte, sich über Entzugsprobleme zu informieren, bei längerer Einnahmezeit schrittweise vorzugehen und sich mit dem Sinn der Depression oder Psychose auseinanderzusetzen, um nicht bald in die nächste Krise zu stolpern. Bei entzugsbedingten, absolut nicht anders zu bewältigenden Schlafstörungen empfehlen die Autoren unter Abwägung des Abhängigkeitsrisikos eine zeitlich eng begrenzte Einnahme von Benzodiazepinen mit mittellanger Halbwertszeit. Wie viele Wiedereinweisungen ließen sich verhindern, würden Ärzte solche Ratschläge berücksichtigen! In einem medizinjuristischen Nachwort fordert die Oberstaatsanwältin Marina Langfeldt einen Bewusstseinswandel bei der Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortung und zivilrechtlichen Haftung der Hersteller und Anwender von Psychopharmaka. Mein Fazit: Endlich gibt es ein kritisches und unabhängiges Buch zu den Risiken neuer Psychopharmaka und Elektroschocks. Es kommt ohne Zeigefinger daher und basiert auf reiner Faktenlage. Die Ausführungen der Autoren, die zusammen auf 150 Jahre Praxiserfahrung zurückblicken, in denen sie „Menschen (...) helfen, ernste psychische Krisen ohne den Einsatz riskanter Psychopharmaka zu bewältigen und den Weg aus den therapeutischen Sackgassen zu finden, in die sie Mainstream-Psychiater mit großem finanziellen Aufwand hineinmanövrierten“, sind so überzeugend, dass sogar Andreas Heinz, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Nervenheilkunde und Psychosomatik, in seinem Geleitwort allen psychosozial Tätigen die Lektüre dieses Buchs nahelegt. Ich kann mich der Empfehlung nur anschließen. Iris Heffmann, Berlin

Peter Lehmann Publishing, Berlin/Shrewsbury 2017, 241 Seiten, 19,95 Euro

Ein Buc h gegen Barriere n

Zwanzig kurze Biografien porträtieren behinderte Frauen und Männer vom Mittelalter bis in die Gegenwart mit unterschiedlichen körperlichen, geistigen oder psychischen Einschränkungen. Das Buch stellt zum ersten Mal die historische und bis heute wirkende Opferrolle behinderter Menschen ‚auf den Kopf‘. 2017, 174 Seiten, broschiert, € 16,95 ISBN 978-3-7799-3611-4 Auch als E-Book erhältlich

Erschütt erung der Demok ratie

Der Angriff der Antidemokraten erschüttert die Demokratie. Was sind Ziele und Methoden der neurechten Feinde der Demokratie, wer ihre Verbündeten? Und: wie können wir ihren Angriff abwehren? 2017, 224 Seiten, broschiert, € 14,95 ISBN 978-3-7799-3674-9 Auch als E-Book erhältlich www.juventa.de

JUVENTA

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