Buchbesprechungen 2020

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Buchbesprechungen


ANTHROPOSOPHISCHE MEDIZIN

Ein Grundlagenwerk zur Wechselwirkung leiblicher und seelischer Kräfte Sabine Trautmann-Voigt, Bernd Voigt

Mut zur Gruppentherapie! Das Praxisbuch für gruppenaffine Psychotherapeuten. Leitfäden – Interventionstipps – Antragsbeispiele nach der neuen PT-Richtlinie

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igentlich spricht auch im ambulanten Psychotherapie-Setting vieles für eine Gruppentherapie: — Eine Gruppe bildet schon „an sich“ einen wirksamen Mikrokosmos, in der sich interaktionell in der Regel alles das wiederspiegelt, was auch „draußen im richtigen Leben“ wirksam ist. — Gegenseitige Empathie, aber auch zunehmende Ambiguitäts- und Frustrationstoleranz können dazu verhelfen, die eigene Identität zu stärken und wichtige soziale Kompetenzen zu entwickeln. – Gruppentherapien können einen besseren Zugang schaffen: viele PatientInnen pro TherapeutIn. — Seit 2017 ermöglicht die neue Psychotherapie-Richtlinie Erleichterungen und vereinfachte Kombinationsmöglichkeiten mit der Einzelpsychotherapie, was allerdings 2021 „überprüft“ werden soll. — Gruppentherapien werden gut bezahlt, sofern sie verlässlich stattfinden können. Dennoch werden ambulant kaum Gruppentherapien angeboten. Die Autoren des vorliegendes Buches glauben, dass dies vor allem der – alten! – gruppenfeindlichen Psychotherapie-Richtlinie geschuldet ist, die quasi alle derzeit Niedergelassenen geprägt habe. Der Rezensent befürchtet darüber hinaus, dass die meist ungeliebte Antragstellung, in der Therapeuten gerade in Bezug auf Gruppen selten geübt sind, eine weitere Rolle spielen dürfte und möglicherweise auch der notwendige Platzbedarf. Um diese Situation zu verändern, bedarf es mindestens einer Einstellungsund Verhaltensänderungen aufseiten der TherapeutInnen. Dazu wollen die AutorInnen, Ausbilder und Absolventen der Köln-Bonner Akademie für Psychotherapie, den niedergelassenen psychodynamisch (!) arbeitenden KollegInnen „Anregungen zur selbstbewussten Durchführung von Gruppentherapien in der ambulanten Kassenpraxis geben“ und „Mut machen“. Dazu bieten sie ein „Lernen am Modell“ an und empfehlen, sich durch erfahrene Gruppentherapeuten anregen zu lassen: etwa durch unterschiedlich akzentuierte, tiefenpsychologisch fundierte KonDr. med. Mabuse 243 · Januar / Februar 2020

zeptionsentwürfe, Praxishandreichungen, Leitfäden, Beispiele aus der Praxis für die Praxis, hilfreiche Arbeitsmaterialien und – wohl nicht zuletzt – genehmigte Anträge. Auf dieser Basis soll man – sich selbst – ein individuell passendes Konzept für eine Psychotherapie-Gruppe in der eigenen Praxis überlegen. Die AutorInnen liefern kein weiteres Lehrbuch zur Gruppenpsychotherapie oder ein psychodynamisches Manual, „was den Anschein erwecken könnte, es gäbe störungsspezifische oder altersspezifische ‚Rezepte‘, wie ‚man‘ Gruppen ‚macht‘“. Im Eingangskapitel wird ein Ansatz der Gruppenpsychotherapie vorgestellt, der auf die interaktionelle Methode nach dem Göttinger Modell und mögliche Varianten unter Einschluss allgemeiner Überlegungen zur Gruppendynamik und allgemeiner Wirkfaktoren abzielt. Dem folgen in sich geschlossene Kapitel zu verschiedenen Alters- beziehungsweise Personengruppen, um zu verdeutlichen, dass beispielsweise die interaktionelle Gruppentherapie auch im Kinder- und Jugendbereich eingesetzt werden kann. Die Darstellungen sollen einen eigenen Anreiz schaffen, einzelne Interventionstechniken oder Methoden kennenzulernen oder in das eigene psychodynamisch ausgerichtete Arbeitsfeld zu integrieren. Das abschließende Kapitel enthält ein Plädoyer für Kombinationsbehandlungen. Die einzelnen Kapitel verbindet eine psychodynamische Grundperspektive sowie eine Anerkennung und Wertschätzung jeder Gruppe als eine komplexe und gleichzeitig einzigartige Matrix. Darüber hinaus findet man immer wieder die Bereitschaft, komplizierte Interaktionszusammenhänge auf der Basis theoretischer psychodynamisch-integrativer Konzepte zu verstehen, um diese (therapeutisch reflektierten) Wahrnehmungen dann wiederum im Dienste der Patientengruppe auch praktisch und selbstbewusst zur Intervention zu nutzen. Insgesamt finden sich in diesem Buch viel Stoff und viele Tabellen, denen manchmal ein übersichtlicheres Format gutgetan hätten. Es gibt viele Appelle und nicht wenig an Voraussetzungen, was den Interessentenkreis doch sehr einengt. Umso mutiger darf man den Verlag nennen, der dennoch dieses Buch mit vielen Ausrufezeichen ermöglicht hat. Nötig ist es, denn schon vier Jahre nach Inkrafttreten der Psychotherapie-Richtlinie soll 2021 „über-

Volker Fintelmann, Markus Treichler Seele & Leib in Gesundheit und Krankheit Ein Beitrag aus der Anthroposophie 506 Seiten, Broschur € 26,00 ISBN 978-3-95779-106-1

Im Zentrum einer ganzheitlichen Medizin steht der Mensch @KR $HMGDHS UNM 2DDKD TMC +DHA !DETMC TMC !DÅ MCDM RHMC nicht voneinander zu trennen. Mit dieser Perspektive der Psychosomatik machen sich die beiden Autoren Volker Fintelmann und Markus Treichler für eine von der Anthroposophie inspirierte Medizin stark. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis eines jahrelangen Dialogs der beiden Autoren.

Der andere Krebsratgeber Besinnung auf den roten Faden des eigenen Lebens Bart Maris Besinnung finden im Leben mit Krebs Gedanken und Orientierung für Betroffene 112 Seiten, Klappenbroschur € 12,90 ISBN 978-3-95779-108-5 Auch als

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Krebs fordert die betroffenen Menschen heraus, sich umfassend über geeignete Therapien zu informieren und wichtige Entscheidungen zu treffen. Sie sind aber auch gefragt, sich auf das Leben mit dem Krebs einzulassen. Dieses Buch möchte dabei helfen, sich in einer schwierigen Zeit neben den medizinischen Aspekten zu besinnen und enthält zudem Hintergrundwissen zur Entstehung der Krebserkrankung und erklärt die besonderen therapeutischen Eigenschaften der Mistel. Unsere Bücher erhalten Sie im Buchhandel oder direkt beim Info3 Verlag: T: 069 58 46 47 F: 069 58 46 16 E-Mail: vertrieb@info3.de www.info3.de

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prüft“ werden, ob die Kombination von Gruppen- und Einzeltherapie in der Praxis angenommen wurde und sich bewährt hat. Es bleibt als nur noch wenig Zeit, die neuen Chancen zu nutzen! Und hier teile ich das Ausrufezeichen der AutorInnen. Dr. med. Helmut Schaaf, Bad Arolsen, www.drhschaaf.de

Schattauer Verlag, Stuttgart 2019, 298 S., 40 Euro

Helga Kotthoff, Damaris Nübling

Genderlinguistik Eine Einführung in Spache, Gespräch und Geschlecht

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s gehört gewissermaßen zur DNA von Dr. med. Mabuse: das „Binnen-I“. Bei Mabuse lesen Sie meist nicht Patienten, sondern PatientInnen, nicht Ärzte, sondern ÄrztInnen, nicht Therapeuten, sondern TherapeutInnen. Das Binnen-I war der erste Versuch in den 1970er-Jahren, Frauen und Männer gleichermaßen sichtbar zu machen. Es hat aber Gegner, insbesondere die Verfechter des sogenannten „generischen Maskulinums“, die sagen, alle könnten sich unter „der“ Patient genauso gut die Patientin vorstellen, und unter „einem“ Arzt eine Ärztin. Empirisch ist das falsch, wie das erste Standardwerk zur „Genderlinguistik“ belegt, verfasst von den Linguistik-Professorinnen Damaris Nübling und Helga Kotthoff: Gerade im Singular denkt bei solchen Wörtern nahezu niemand an eine Frau, im Plural eher, aber längst nicht immer.

„Gender“ beschreibt Geschlecht als soziale, nicht biologische Variable, und Genderlinguistik untersucht, wie sich das auf die Sprache als solche auswirkt und ganz praktisch auf das Sprechen. Den Forschungsstand dazu haben Nübling und Kotthoff unaufgeregt und polemikfrei aufbereitet, glasklar durchdacht und lesbar formuliert. „Gendern“ nennt man es, wenn Frauen beziehungsweise Weibliches in der deutschen Sprache sichtbarer gemacht werden als früher, etwa durch Binnen-I, Sternchen, Nennung beider Varianten oder Partizipien wie Pflegende. Die Genderlinguistik überprüft dann, ob solche Änderungen erreichen, worauf sie abzielen. Ergebnis: ja, aber nicht uneingeschränkt. Sprache ändert sich beständig, und dennoch wurzelt sie tief in sozialen Strukturen und der Weltsicht der Menschen, die sie im Lauf der Zeiten sprachen. Jahrhundertelang war die soziale Welt von Männern dominiert. Im Gesundheitsbereich gab es zwar Hebammen – aber Heiler, Ärzte oder Priester waren wirklich Männer. Ein „generisches Maskulinum“, das Frauen automatisch mit-meinen soll, konnte es da gar nicht geben. Tatsächlich wurde es erst in den 1960er-Jahren erfunden. Samt dem neuen Maskulinum „Pfleger“, unter dem heute schon mal auch Krankenschwestern laufen. Im Rahmen von Gesundheit und Krankheit geht es aber nicht nur um Begriffe, sondern ganz wesentlich um Gespräche. PatientInnen sprechen auch mit Profis darüber, wie sie ihre Krankheit subjektiv sehen und erleben. Die Heilung wird davon beeinflusst, wie gut sie sich von ihren BehandlerInnen verstanden fühlen, und davon, wie gut sie deren Worte verstehen. Wie Gesprächsführung durch das Geschlecht der Beteiligten beeinflusst wird

und wie von unserer Muttersprache selbst, ist auch Thema des Buches. Insgesamt 15 Kapitel stellen vor, was die Wissenschaft mit Blick auf „Gender“ alles schon unter die Lupe genommen hat, von Stimme bis Redeweise, von Artikeln bis Satzbau, von sprachlichen Interaktionen zwischen Kindern oder im Netz, von Standardsprache oder Eigenarten, von Inklusion und Gendern bis zur rigiden „Basta“-Behauptung. Gespräche und Sprache im medizinischen Kontext werden gerne direkt untersucht. Dort zeigt sich etwa, dass männliche Patienten besserwisserischer aufzutreten scheinen als Patientinnen, oder dass Ärztinnen, wie Frauen in anderen Berufen, teilweise als weniger kompetent wahrgenommen werden. Tröstlich: Es liegt nicht am Geschlecht, wie viel einzelne Personen sprechen. Gerade wer den eigenen PatientInnen auf Augenhöhe begegnen und von ihnen richtig verstanden werden möchte, findet in diesem Buch viele bedenkenswerte Fakten. Die lassen sich sogar anwenden. Aber das ist nicht Linguistik; das muss man selbst tun. Barbara Knab, Wissenschaftsautorin, München

Narr Francke Attempto Verlag, Tübingen 2018, 393 S., 26,99 Euro

Christian Sauer

Draußen gehen Inspiration und Gelassenheit im Dialog mit der Natur

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raußen gehen ist der Schlüssel zu mehr Zufriedenheit und sogar zum Erfolg [...].“ Dieser Satz ziert das Lesezeichen von „Draußen gehen“ und bringt die „Sauersche Philosophie“ auf den Punkt. Eine schlichte Wahrheit für unaufgeregtes Tun mit großer Wirkung. Für den Autor Christian Sauer ist draußen gehen deshalb mehr, als eine nette Gewohnheit oder harmlose Freizeitbeschäftigung. Es ist „eine bedeutende Psycho- und Kulturtechnik, die uns Leben und Arbeit erleichtern kann.“ Und sie ist gar nicht langweilig oder schnöde, wie manch einer vielleicht denkt. Sauer geht es weder um Pulsfrequenzen und Herzschlag noch um FettverbrenDr. med. Mabuse 243 · Januar / Februar 2020


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nung und Muskelaufbau oder extreme Herausforderungen, die nur gelingen, wenn der innere Schweinehund niedergerungen und der Berg bezwungen ist. Sauer will anstiften, hinauszugehen und einzutauchen in die Landschaft, die einen umgibt. Sich einzulassen. Und wenn es in der Mittagspause für eine halbe Stunde einmal um den Block geht. Okay, der Gang um den Block findet in einer Stadtlandschaft statt. Auch in die lässt sich eintauchen. Mit weitem Blick – weg vom Detail. Also nicht an jedem interessanten Schaufenster stehen bleiben, auch nicht an jedem exotischen Blümchen am Wegesrand. Das Gehen könne die Perspektive zurechtrücken, und schon ein kleiner Gang führe zu mehr Weite im Denken, gebe Klarheit und Kraft für eine schwierige Aufgabe oder Entscheidung, sagt Sauer. Das Smartphone darf dann allerdings nicht mit. Auch bei einer Stadtwanderung gebe es alles, was man brauche, um den Kopf frei zu bekommen: eine (Stadt-)Landschaft, wechselnde Perspektiven oder längere Gehstrecken ohne Halt. Deutlicher ist der Effekt des Kopf-frei-Bekommens und KraftTankens beim Gehen in der Natur, dann macht das kontrollierte Denken einer vertieften Aufmerksamkeit Platz. Die Hirnforschung gibt Sauer recht: Schon regelmäßige, moderate körperliche Aktivität wirkt stimmungsaufhellend und erfrischt Körper und Geist. Gehen in natürlicher Umgebung führt zu wohltuendem Abschalten – das in Wahrheit inten-

sive Denkaktivität ist. Das sind wichtige Zutaten für ein gesundes Berufsleben. Einfach, kostenfrei, jederzeit und überall zu haben. Wirkungsvoll! Sauers – sehr persönliches Buch – besteht aus drei Teilen: Der erste beschäftigt sich mit Draußen-Gehen als Kulturtechnik, der zweite mit dem Gehen im Dialog mit der Landschaft und sich selbst, und zum Schluss geht es um „alle Sinne in der Landschaft“. Sauer, stets im Gespräch mit seinen Leserinnen und Lesern, führt sie zu seinem Dialog mit der Landschaft. Der Quelle für Inspiration. Auf Wissensteile, in denen er sowohl auf eigene Erfahrungen als auch auf die Wissenschaft und alte Gelehrte zurückgreift, folgen persönliche Geh- und Wandergeschichten, die sich typografisch absetzen. Christian Sauer, Publizist, Weiterbildungsdozent, Coach und – natürlich – passionierter Draußen-Geher, wendet sich vor allem an Kreative. Und beschreibt Gehen als Hilfe zur Überwindung kreativer Blockaden oder Krisen. Das ist schade, beschreibt er doch etwas universal Gültiges. Auch die, die im Gesundheitswesen arbeiten, durchleben (Schaffens-)Krisen und müssen den Kopf frei bekommen, weil sie blockiert sind vom Ärger im Beruf oder im Privatleben. Nicht-Kreativen (also keine schreibende, musizierende oder malende Zunft) kann es bisweilen Mühe bereiten, sich Sauers Erläuterungen zu übersetzen, wenn zum Beispiel von einem „leeren Blatt Papier“ die Rede ist. GesundheitsarbeiterInnen sollten sich dadurch

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nicht abschrecken lassen – auch nicht von dem vollständigen Satz auf dem Lesezeichen, der so prominent daherkommt: „Draußen gehen ist der Schlüssel zu mehr Zufriedenheit und sogar zum Erfolg, gerade für Menschen, die von ihren Ideen leben.“ Letztendlich arbeiten auch sie kreativ und brauchen Ideen. Oder? Zumindest sind sie – wie Wandernde – bisweilen gezwungen, schnell kreative Lösungen zu finden, um eine schwierige Situation zu meistern. Draußen gehen befähigt sie dazu, es macht lebenstüchtig, schreibt Sauer. Durch Sauers Buch lässt sich mühelos flanieren – gelegentlich unterbrochen durch eine Nachdenkpause. Auch nach einem anstrengenden Arbeitstag lässt sich bei der Lektüre abschalten, vielleicht inspiriert sie, nach draußen zu gehen – egal ob kurz oder lang. Denn das ist eine einfache und effektive Form der Selbstfürsorge und hilft auch denjenigen gesund zu bleiben, die in Burn-out-gefährdeten Berufsfeldern wie der Pflege oder Medizin arbeiten. Bettina Salis, Fachjournalistin für Gesundheit, Hebamme, Hamburg

verlag hermann schmidt, Mainz 2019, 176 S., 29,80 Euro

Erinnerungen wecken mit Sprichwörtern, Liedern und Musik Hochbetagte und demenzkranke Menschen begleiten

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Ulrike Eiring Aktivieren und Erinnern 96 Seiten, mit CD ISBN 978-3-7957-1917-3 € 24,50

Dr. med. Mabuse 243 · Januar / Februar 2020

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Für immer traumatisiert? Leben nach sexuellem Missbrauch in der Kindheit

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ie Zeit ist reif für dieses Buch. Die Autorin hat selbst als Kind sexuellen Missbrauch erlebt. Durch Erfahrungsberichte von Betroffenen zeigt sie eindrücklich, wie es trotz der belastenden Erlebnisse in der Kindheit möglich ist, sich das eigene Leben zurückzuerobern. Noch vor wenigen Jahren war das Interesse für einen differenzierten und stärkenden Umgang mit der Thematik gering. Durch die Aufdeckung von Missbrauchsskandalen in Heimen, Internaten und Kirche sowie letztlich durch die #MeToo-Debatte ist es gelungen, weltweit eine breitere Öffentlichkeit zur Verurteilung sexueller Übergriffe herzustellen. Das vorliegende Buch ermöglicht einen Perspektivwechsel. Sieben Frauen und ein Mann erzählen ihre ganz eigenen, individuellen Geschichten mit unterschiedlicher Färbung, Tiefe und Emotionalität. Die Täter waren Väter, Onkel, Brüder, Lehrer und Freunde der Eltern oder Mütter. Die ProtagonistInnen schildern die belastenden Erlebnisse sowie die Auswirkungen auf ihr Leben und antworten auf zentrale Fragen: Welche Auswirkungen hatte das Reden oder Schweigen über das Erlebte für sie? Welchen Umgang mit der eigenen Betroffenheit hätten sie sich in der Familie oder im sozialen Umfeld gewünscht? Sie rücken gängige Zuschreibungen zurecht, mit denen sie konfrontiert sind, und zeigen eindrücklich, wie sie sich – meist schon ein Leben lang – mit den Gewalterfahrungen auseinan-

dergesetzt und ihren Weg der Verarbeitung gefunden haben. Sie bestimmen selbst, wie sie über ihre Geschichte berichten, und gewinnen so ein Stück Kontrolle und Deutungshoheit über den Diskurs zum Thema Missbrauch zurück. Was sich wie ein roter Faden durch die Erfahrungsberichte zieht, sind Aussagen, die verdeutlichen, wie wichtig es den Betroffenen war, den Mut zu fassen, sich anderen Menschen mitzuteilen: „(…) neben dem eigentlichen Missbrauch, war es für mich ebenso ein großes Trauma damit alleine zu sein.“ Oder: „Es war wie ein Befreiungsschlag, darüber zu sprechen.“ Als Wendepunkt beschreiben sie oft den Beginn einer Therapie: „Endlich konnte ich einen Teil von mir zum Ausdruck bringen, den ich bis dahin weggeschlossen hatte.“ Dabei war es zum Beispiel für eine Erzählerin eine wichtige Erkenntnis, dass die Auseinandersetzung mit dem Missbrauch nicht zwangsläufig die Konfrontation mit dem Vater und die Zerstörung ihrer Familie bedeutete, sondern sie es alleine in der Hand hatte, wie weit sie gehen wollte. Alle Interviewten beschreiben, dass sie die Erfahrungen zwar sehr geprägt haben, aber dass sie sich dadurch nicht vollständig bestimmen lassen. Viele sind sogar mit einem Bewusstsein für die eigene Stärke daraus hervorgegangen. Sie schöpfen etwa „Kraft und Zuversicht daraus, Schwieriges überwunden zu haben“. Andere beschreiben, dass sie durch die Erfahrungen eine emotionale Tiefe entwickelt haben, die es ihnen ermöglicht, viel Empathie für andere zu empfinden und sich eng mit anderen Menschen verbinden zu können. Es ist sehr wertvoll, diese hoch reflektierten und zugleich bewegenden Auseinandersetzungen mit der eigenen Le-

bensgeschichte zu lesen. Jede biografische Erzählung beleuchtet unterschiedliche Facetten der Thematik und eröffnet wichtige Perspektiven. Das Buch gibt eine vielstimmige Antwort auf die Frage „Für immer traumatisiert?“ und enthält die ermutigende Botschaft für Betroffene: Eine Bewältigung und Integration der schweren Erfahrungen ist möglich. Auch wenn der Weg oft lange und mühsam ist, ist es lohnenswert, sich der schmerzhaften Vergangenheit zu stellen. Ich bin sicher, dass neben den Betroffenen selbst auch Familienangehörige, FreundInnen, PartnerInnen, TherapeutInnen und BeraterInnen von diesem Buch in hohem Maße profitieren können. Es sollte als Standardlektüre zu jeder Therapieausbildung dazu gehören, in allen Bibliotheken, Beratungsstellen und therapeutischen Praxen verfügbar sein. Die Autorin und jede einzelne ErzählerIn tragen mit dieser mutigen Publikation dazu bei, das Thema weiter zu enttabuisieren und besprechbar zu machen – und damit letztlich auch Ohnmacht und Unsicherheit im Umgang mit Betroffenen entgegenzuwirken. Karin Griese, Bereichsleitung Trauma-Arbeit bei medica mondiale e.V.

Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2019, 144 S., 16,95 Euro

Birgit Laue, Angelikka Gräfin Wolfffskeel von Reichenberg Praxisratgeber Wocchenbett Homöopathie und Scchüßler-Salze in der Hebammenarbeit 176 Seiten, 22,95 Euro, ISBN 978-3-86321-448-7 Hebammen begleiten mit ihrem Wissen junge Mütter und Familien, um sie auf die Geburt und die Zeitt danach ideal vorzubereiten. Homöopathie und Schüßler-Salze bieten bei Befi findlichkeitsstörungen und Beschwerden eine natürliche Erweiterung des medizzinischen Repertoires. Dieses anwendungsorientierte und übersichtliche Bucch der beiden Fachautorinnen lieffe ert verlässliche Empffeh e lungen für die häufigstten Beschwerden im Wochenbett und in der Stillzeit bei Mutter und Kind. Es kombinier o t erstmals homöopathische Arzneimittel und Schüßler-Salze.

Mabuse-Ve Mabuse erlag

Beate Kriechel

Ne euerscheinung

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m März 1956 gönnt sich Josef Mengele eine Pause vom Exil. Von Buenos Aires aus fliegt er in die Schweiz. Zehn Tage lang fährt er in Engelberg Ski und logiert im Hotel Engel mit seiner Schwägerin Martha und zwei Zwölfjährigen, ihrem Sohn und seinem eigenen. Er wirbt um die Gunst der attraktiven Witwe seines verstorbenen Bruders. Zu befürchten hat er nichts, obwohl sein Name auf der Kriegsverbrecherliste steht. Der Arzt hat an der Rampe in Auschwitz 400.000 Menschen ins Gas geschickt und eigenhändig Kinder, Zwillinge und Kleinwüchsige bei Experimenten gefoltert, ermordet und seziert. Der Skiurlaub in der Schweiz ist nur ein Detail, mit dem Olivier Guez in seinem Buch über Mengeles Nachkriegsleben aufwartet. Der französische Autor hat intensiv recherchiert, viel gelesen, Zeitzeugen interviewt. Er folgte Mengeles Spuren in Südamerika und im schwäbischen Günzburg, seinem Geburtsort. Die Fakten verknüpft er mit Fiktion zu einem Tatsachenroman. Das Buch ist ein Überraschungserfolg. Er wurde in 26 Sprachen übersetzt. Die deutsche Ausgabe verkaufte sich 35.000 Mal, die französische über 300.000 Mal. Die Süddeutsche Zeitung bezeichnet Guez als „Autor der Stunde.“ Der Erfolg liegt auch daran, dass der KZ-Arzt als Inbegriff des Nazi-Mörders und des Bösen schlechthin gilt. Der Autor deutet seine Geschichte geschickt als Warnung vor der Wiederkehr des Ungeistes. Die größte Stärke des Buches ist, dass es zeigt, wie der Mörder unbehelligt blieb. Im Jahr 1949 ließ er sich unter falschem Namen in Argentinien nieder. Diktator Juan Peron hieß NS-Verbrecher willkommen. Mengele avanciert zu einer Hauptfigur der „Nazi-Society“ von Buenos Aires. Er leitet eine Möbelfabrik, nimmt illegale Abtreibungen in der Oberschicht vor und verkauft für das schwäbische Unternehmen seiner Familie Landmaschinen. Sein Leben lang unterstützt ihn die Familie. Im Jahr 1956 fühlt er sich so sicher, dass er im westdeutschen Konsulat seinen echten Namen angibt, als er Pass und Geburtsurkunde beantragt. Im September bekommt er beide. Er heiratet Martha, bezieht Dr. med. Mabuse 243 · Januar / Februar 2020

Aufbau Verlag, Berlin 2018, 224 S., 20 Euro

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192 Seiten, gebunden, mit Hör- CD € 2 4 ,– (D) SBN 97 8-3 - 608- 9 638 7 - 8

Das Verschwinden des Josef Mengele

eine Villa – im Telefonbuch steht sein Name. Doch kein Strafverfolger interessiert sich für ihn. Guez empört zu Recht, wie die westdeutsche Justiz NS-Ärzte und andere Kriegsverbrecher durch Wegschauen schützte. Für ihn ist die angebliche „Aufarbeitung“ der NS-Gräuel eine deutsche Lebenslüge. Eine Schwäche des Buches ist, dass Guez oft aus Mengeles Perspektive erzählt, das aber nichts erhellt. Mengele geriert sich nur als empathieloser Narzisst, der seine wissenschaftliche Ruhmsucht und Brutalität im KZ auslebt. Bis zum Tod hängt er der Rassen-Ideologie an. Was ihn und andere NS-Mörder antrieb, bleibt nebulös. Eine zweite Schwäche ist der Auftritt eines allwissenden Erzählers. Der nennt Mengele hochtrabend „Fürst der europäischen Finsternis“ und erklärt seine Grausamkeit mit „Charakterschwächen“ wie Eitelkeit oder Neid. Die Verbreitung der NSIdeologie führt er pauschal auf die „Moderne“ zurück, die die Gesellschaft „verstörte“. Kurz: Der Autor bietet zu einfache Erklärungen. Er lädt auch den Schluss mit viel Bedeutung auf. Im März 1960 schnappt der israelische Geheimdienst Mossad in Argentinien den Mitorganisator des Holocausts, Adolf Eichmann. Für Guez beginnt nun die letzte Phase von „Mengeles Verschwinden“. Er verkriecht sich im Dschungel Paraguays und Brasiliens. Nur gegen Geld beherbergt ihn eine ungarische Bauernfamilie. Er lässt neben ihrem Hof einen Wachturm bauen, wittert überall Verrat und hinter jeder Ecke Häscher. Er geht nur nachts aus dem Haus. Der Elite-Nazi und selbsternannte „Ingenieur der Rasse“ verliert seine Selbstgewissheit. Übrig bleibt ein krankes Nervenbündel, abgeschnitten von der Zivilisation und der Familie. 68-jährig ertrinkt er am 7. Februar 1979 an einem Strand bei São Paulo. Der Autor deutet das als Schlusspunkt einer „Höllenfahrt“, als ob eine höhere Instanz doch noch für Gerechtigkeit gesorgt hätte. Er verklärt so den banalen Tod eines Verbrechers, der ungestraft davonkam. Eric Breitinger, Autor und Redakteur, Pratteln/Schweiz

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Olivier Guez

Julianna Hei Die Liebesbeziehung skiste 5 4 Kar ten für eine gute Par tnerschaft Beziehungsprobleme verstehen und lösen – ein Kar tensatz für Paare und TherapeutInnen Die Therapiekar ten eignen sich: l IT[ ;MTJ[\PQTNM l b]Z 8ZŻ^MV\QWV l IT[ /M[KPMVS l NƧZ LQM \PMZIXM]\Q[KPM )ZJMQ\ UQ\ Einzelpersonen und Paaren

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Luke J. Tanner

Berührungen und Beziehungen bei Menschen mit Demenz Ein person-zentrierter Zugang zu Berührung, Beziehung, Berührtsein und Demenz

Als Musiktherapeutin fehlt mir bei Tanner natürlich die Berührung beim Tanz (stattdessen gibt es Bilder vom Fußball. Männer, ist ja klar!). Und ich bringe meinen StudentInnen auch noch bei, ihre PatientInnen bei einem Wiegenlied sanft zu schaukeln. Dorothea Muthesius, Musiktherapeutin, Masterstudiengang Musiktherapie, UdK-Berlin

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uke J. Tanner hat in seinem Leben die besten Erfahrungen für dieses geniale Buch gesammelt. Kein anderer hätte so ein wichtiges Thema so detailliert, vielseitig, tiefsinnig, freiherzig, empathisch, praktisch, vernünftig, hoffnungsvoll und fürsorglich bearbeiten können. Tanner ist Massagetherapeut, Körperpsychotherapeut, Dementia Care Trainer, erfahren in buddhistischen Meditationstechniken, ausgebildet in Bindungstheorie und person-zentrierter Psychologie und seit vielen Jahren Lehrender für Pflegende. Er beschreibt, wie er sich wunderte: Als Massagetherapeut darf er berühren; die Pflegende darf beim Waschen berühren; der Pflegenden wird aber untersagt, einen Patienten mit Demenz einfach mal zu streicheln. In der professionellen Versorgung von Menschen mit Behinderungen schwanken, besser torkeln wir beim Thema Berührung zwischen dogmatischer Askese und Vergewaltigung. Auf allen Ebenen arbeitet Tanner systematisch Berührungsarten durch. In welchen Beziehungsarten darf oder muss wer wen wie berühren? Vom Handgeben über das Umarmen bis hin zur Sexualität. Die Art der Berührung sagt immer etwas über die Art der Beziehung aus. Wie erkennt man Berührungsbedarf bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung (ich hätte lieber gesagt: Menschen mit eingeschränkter Reflexionsfähigkeit), also bei Menschen, die sich verbal nicht zu der Berührung äußern können? Wie kann man mit den eigenen Berührungsängsten und denen der Betreuten umgehen? Wie erkennt man Traumata? Wie kann man sogenannte funktionale Berührungen zu beziehungsbezogenen Berührungen werden lassen? Wie kann man das Thema Sexualität integrieren? Tanner durchzieht seine Ausführungen mit anschaulichen Tabellen, Listen, Diskussionsanregungen und mit einem umfangreichen Anhang von anregenden Übungen und Befragungen, mit denen man sofort Übungsstunden starten kann. Dr. med. Mabuse 244 · März / April 2020

hogrefe Verlag, Bern 2018, 272 S., 29,95 Euro

Potenzia le und Gre nzen

Petra Betzien

Krankenschwestern im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager Selbstverständnis, Berufsethos und Dienst an den Patienten im Häftlingsrevier und SS-Lazarett

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etra Betzien untersucht in ihrer nun als Buch vorliegenden Doktorarbeit die Tätigkeit und das Selbstverständnis sowie die Reflexion der Krankenschwestern und Pflegehelferinnen, die in den NS-Konzentrationslagern sowohl in den Krankenrevieren wie den SS-Lazaretten eingesetzt waren. Die Verfasserin ist Historikerin und forscht, publiziert und referiert zu Täterinnen im Nationalsozialismus. Hauptberuflich ist sie in einer Behörde im Bereich des Krankenhauswesens angestellt. Der umfangreiche Band ist gegliedert in acht Hauptkapitel. An den eigentlichen Text schließen sich eine sechsseitige Namensliste, die sicher hilfreich für weitere pflegehistorische und täterinnenbezogene Forschung sein wird, sowie ein umfangreicher Quellen- und Literaturanhang an. Nach der Einführung in Forschungsstand und Methodik umreißt Betzien im zweiten Kapitel die Geschichte der Krankenpflege vom Kaiserreich bis zum NSStaat. Diese Zusammenfassung dürfte derzeit der aktuellste Überblick über die deutsche Pflegegeschichte in diesem Zeitraum sein. Daran schließt sich eine Ausführung über die Verortung der Krankenschwestern in der NS-Gesellschaft an. Schwerpunkte liegen auf der Moral im NS und

Der Band stellt die Arbeits- und Problemfelder unter der Perspektive des Lebensbewältigungskonzeptes dar. Die Autor*innen diskutieren entlang der für den Ansatz zentralen Kategorien der Lebensalter, der Lebenslagen und der Handlungsmethoden, stellen Anwendungsbereiche dar und zeigen auf, wie Lebensbewältigung professionelle Praxis orientieren kann. 2020, 756 Seiten, Hardcover, € 49,95 ISBN 978-3-7799-1940-7 Auch als E-Book erhältlich

Gedank liche Grenzen überwin den

Der Sammelband richtet seinen Fokus auf unterschiedliche Perspektiven von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt über die Grenzen einzelner Fachdisziplinen hinweg. 2020, 416 Seiten, broschiert, € 29,95 ISBN 978-3-7799-3899-6 Auch als E-Book erhältlich

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JUVENTA

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dem Berufsethos in dieser Zeit. Dies bildet die Grundlage für die folgenden Kapitel, die sich zunächst ausschließlich mit der Krankenpflege im Konzentrationslager Ravensbrück sowie im Weiteren mit anderen KZs, dem Einsatz in den SS-Lazaretten, den Ravensbrück-Prozessen und der Rückschau von Krankenschwestern befassen. Vieles zu Ravensbrück wurde bereits veröffentlicht. Betziens Verdienst liegt hier in der Zusammenfassung und sorgfältigen Zitation des Existierenden sowie der erstmaligen Hervorhebung der Rolle, die Krankenschwestern im System der Konzentrationslager spielten. Damit weist die Autorin Frauen einen neuen, aktiven und gestaltungsmächtigen Platz auch innerhalb der SS zu. Prinzipiell stellt Betzien damit das Rollenverständnis von Pflegefachleuten infrage – konstruktiv, wie ich finde. Neu in Bezug auf das Material sind vor allem Betziens umfassende Nachforschungen zu kleineren und unbekannteren KZs. Sie macht deutlich, dass Krankenschwestern von Anfang an in ein mörderisches Geflecht von Ausbeutung und Vernichtung eingebunden waren. Kritisch sehe ich die etwas erratisch wirkende Methoden- und Quellenvielfalt sowie die Subsumierung aller KZKrankenschwestern unter dem Begriff „NSSchwester“. Auch hätte ich mir zu den hervorstechenden Krankenschwestern mehr genuine biografische Recherche gewünscht. Dies sind allerdings Kritikpunkte an einer pflegehistorischen Arbeit, die sich auf sehr hohem Niveau bewegt. Das Lektorat war offensichtlich gründlich; die Druckqualität ist erfreulich gut. An einigen Stellen hätte eine Straffung der Lesbarkeit gutgetan. Petra Betzien hat mit ihrem Buch einen grundlegenden Beitrag zum Verständnis von Krankenpflege im NS geleistet. Das Buch ist sicher eher für Lehrende, Forschende und Studierende denn für den Einsatz im Pflegeunterricht geeignet. Dennoch sollte es Eingang sowohl in Fachwie in Berufsschulbibliotheken finden. Dr. Anja K. Peters, Dipl.-Pflegewirtin, Dozentin an der Ev. Hochschule Dresden

kula Verlag, Frankfurt am Main 2018, 600 S., 64 Euro

Hilarion G. Petzold u. a. (Hg.)

Die Neuen Naturtherapien Handbuch der Garten-, Landschafts-, Wald- und Tiergestützten Therapie. Band I: Grundlagen Garten- und Landschaftstherapie

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inen Überblick über die gegenwärtigen Naturtherapien, wie ihn der Titel verspricht, bietet das Buch nicht. Der Plural „Neue Naturtherapien“ steht hier vielmehr für eine Schule rund um den Hauptherausgeber und bezeichnet ein Ensemble von Garten-, Landschafts-, Wald- und Tiergestützter Therapie in Ausprägung jener integrativen Schule. Der Sammelband umfasst die Abschnitte Theorie, Gartentherapie, Landschaftstherapie und Weiterbildung. Ein geplanter zweiter Band soll die Methodik dazu aufnehmen, ein dritter Waldtherapie und Tiergestützte Therapie. Fast alle AutorInnen haben einen Bezug zu Petzolds Institut (EAG), er selbst ist Autor oder Mitautor von zwölf der dreißig Beiträge. Im Theorieteil finden sich Überblicksartikel der Schule sowie einige Beiträge aus Philosophie, Psychotherapie, Neurowissenschaften und sogenannter Waldmedizin. Der Abschnitt Weiterbildung behandelt die Fortbildungen an der EAG sowie die Entstehung der Integrativen Naturtherapie. Integrative Therapie wird hier definiert als „schulen- und richtungsübergreifende[r] Ansatz, der Psychotherapie, Körperbzw. Leibtherapie, Soziotherapie und meditative Wege inkludiert und methodenintegrativ den Austausch mit Formen der Kunst- und Kreativitätstherapie, der Garten- und Landschaftstherapie, der personenbezogenen Bildungsarbeit und Gesundheitsförderung bzw. -beratung pflegt“ (S. 15). Was hier Naturtherapie genannt wird, ist also nur ein Element in einem ganzen Konzeptbündel, in dem ansonsten nicht auf Natur rekurriert wird. Ausdrücklich steht „Wissenschaftlichkeit“ an erster Stelle. Das bedeutet hier vor allem, dass eine nahezu überbordende Fülle von Studien kurz zitiert wird, gut lesbar ist das über tausend Seiten nicht immer. In der theoretischen Bezugnahme wird Naturwissenschaften, Medizin und Psychologie der Vorrang gegeben. Man wird den Band sicher auch lesen müssen als Dokument eines jahrzehntelangen Eintretens für die Anerkennung dieses Arbeitsansatzes in der krankenkas-

senfinanzierten psychotherapeutischen Landschaft. „Nur weil diese Therapieformen im universitären Bereich (noch) nicht so gut verankert sind, und deshalb nicht so breit mit empirischen Studien aufwarten können, heißt das keineswegs, dass sie schlechtere Wirkung zeigen als die traditionellen Therapieverfahren.“ (S. 16) Die neuere Psychotherapieforschung zeige, „dass alle konsistenten Ansätze Wirkungen haben“ und sich „in den Grundwirkungen (Beruhigung, Ruhe, Entspannung, Entlastung, Klärung, Selbstregulationsfähigkeit, Versicherung, Ermutigung, Distanzgewinn, Neuorientierung) nichts geben“ (S. 932). Zugleich weist Petzold auf Grenzen der Psychotherapie insgesamt hin. Diese könnten nur überwunden werden, wenn der Bereich psychischer Störungen und Belastungen in einen größeren Kontext gestellt werde. Dabei wird den Naturtherapien eine besondere Eignung zugeschrieben. Gerade in der Sicht auf die vielfältigen Bezüge des Menschen (sozial, ökologisch usw.) könnte sich die EAG gegenwärtig mit vielen FachautorInnen treffen, etwa denen des zeitgleich erschienenen Sammelbands von Eric Pfeifer (Rez. in Heft 241, S. 65f.). Doch werden in diesem Handbuch andere naturtherapeutische Ansätze weitgehend ignoriert, was sich nur als Versuch der Monopolisierung des Begriffs für das eigene Institut interpretieren lässt. Dem Ziel, die Neuen Naturtherapien in ihren fachlichen Grundlagen und Bezügen darzulegen, wird der Band gerecht. Die zahlreichen (vermutlich zu unterschiedlichen Zeiten und Anlässen entstandenen) Aufsätze aus derselben Feder bergen allerdings viele Redundanzen und auch manche kleine Unstimmigkeiten. So fragt man sich, ob nicht ein überschaubares Lehrbuch mit dem treffenderen Titel Integrative Naturtherapie die bessere Wahl gewesen wäre. Dr. Bettina Grote, Systemische Prozessgestaltung, Berlin

Aisthesis Verlag, Bielefeld 2019, 1.008 S., 48 Euro

Dr. med. Mabuse 244 · März / April 2020


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Das Politische ist persönlich Tagebuch einer „Abtreibungsärztin“

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Neuerscheinung im Mabuse-Verlag

ehr authentisch geschrieben gibt dieses autobiografische Buch Einblick in das Leben und die Gedankenwelt einer Vorreiterin für (Frauen-)Rechte. Besonders sticht dabei die angenehme Balance aus einerseits berechtigter, teils scharfer Kritik an Institutionen und Einzelpersonen, andererseits großherziger und differenzierter Weltanschauung seitens der Autorin heraus. Kristina Hänel ist die Frau, deren Name seit zwei Jahren in aller Munde ist, wenn es um die aktuelle Debatte um Abtreibung in Deutschland geht. Die Ärztin wurde von einem sogenannten Lebensschützer angezeigt, wegen vermeintlicher „Werbung“ auf ihrer Homepage – eine sachliche Information dazu, dass sie Abtreibungen durchführt. Die Rechtsgrundlage für die Anzeige bietet § 219a des Strafgesetzbuches, der ein Überbleibsel aus der Gesetzeslage im Nationalsozialismus ist. Er hindert Schwangere bis heute daran, sich bei einer ungewollten Schwangerschaft ausreichend zu informieren und gute ärztliche Beratung und Unterstützung zu finden. Er hindert ÄrztInnen und Institutionen daran, Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen zur Verfügung zu stellen. Das führt dazu, dass die Informationshoheit zu diesem Thema auf-

Dr. med. Mabuse 244 · März / April 2020

seiten der Abtreibungsgegner steht, die etwa auf haarsträubenden Websites wie www.babycaust.de Abtreibungen mit dem Holocaust gleichsetzen. Es ist nichts Neues, dass Ärztinnen wie Kristina Hänel von Abtreibungsgegnern angezeigt und angefeindet werden und dann nur wenig Rückhalt aus der Zivilgesellschaft erhalten. Neu ist, dass im Falle Hänel die Anzeige des „Lebensschützers“, der es übrigens als „Hobby“ bezeichnet, bereits 60 bis 70 solcher Anzeigen gestellt zu haben, vor Gericht kam. Die Ärztin ist zunächst ungläubig, geschockt. Doch sie schafft es nach und nach, sich einen großen, fähigen und aktiven Unterstützerinnenkreis aufzubauen und medial mehr und mehr präsent zu sein. Ihr Kampf soll nicht im Verborgenen und hinter vorgehaltener Hand geführt werden, wie die ganze Thematik schon seit viel zu langer Zeit behandelt wird. Sie macht ihr Anliegen publik, holt es aus der privaten Sphäre auf die politische Agenda, macht das Persönliche politisch – ihres ebenso wie das von so vielen anderen. Kristina Hänel wurde seit 2017 in verschiedenen gerichtlichen Instanzen nach § 219a verurteilt – doch sie kämpft weiter für die Abschaffung dieses Gesetzes. Sie will keinen einfachen Freispruch für ihre Person erreichen, sondern eine Veränderung der Gesetzeslage und hofft, in höherer Instanz endlich Gehör und Gerechtigkeit zu finden. In diesem Buch erfahren wir, warum sie sich dazu entschlossen hat, diesen beschwerlichen Weg einzuschla-

gen. Ebenso berichtet sie uns, was sie motiviert, bestürzt und welche Erkenntnisse sie in der Zwischenzeit gesammelt hat. Das Tagebuch einer „Abtreibungsärztin“, wie es im Untertitel heißt, scheint nur behutsam lektoriert worden zu sein, liest es sich doch wirklich tagebuchhaft – wenig belletristische Floskeln, dafür ein Mix aus Ereignissen, Interpretationen, Erläuterungen, Ansichten und Anekdoten. Manchmal etwas sprunghaft, aber immer „mittendrin“ formuliert, mag man das Buch kaum aus der Hand legen und fiebert dem Ausgang der ersten beiden Gerichtsverfahren (bis hierhin geht das Buch) entgegen – selbst wenn man ihn bereits kennt. Sehr intim sind ihre Gedanken nachzulesen, und genau das ist auch ihr Ziel: zu zeigen, dass dieser politische Kampf untrennbar mit Persönlichem verwoben ist und dass das eine sich nicht vom anderen abspalten lässt. Bravo für so viel Engagement und für die richtige Form, dies zu Papier zu bringen. Franziska Brugger, Psychologin (M.Sc.), Göttingen

Argument Verlag, Hamburg 2019, 238 S., 15 Euro

Deutsche Familienstiftung, E.-M. Chrzonsz, G. Niggemann-Kasozi, J. Spätling, L. Spätling (Hrsg.)

Handbuch Geburts- und Familienvorbereitung Grundlagen und Anwendung für die Kursarbeit 2020, 284 Seiten, Format DIN-A4, 39,95 Euro, ISBN 978-3-86321-288-9

– Grundlagenwissen aus der klassischen Geburtsvorbereitung und der Familienvorbereitung – „Wie gestalte ich meine Kurse?“ – Theorie und Ablaufpläne für die einzelnen Kursstunden – Infokästen – Kurswissen und Methoden für Kursleitende übersichtlich zusammengefasst – Übungen zur Körper- und Atemarbeit – 32 Arbeits- und Infoblätter für die KursteilnehmerInnen (Kopiervorlagen) – „Die 10 Phasen des Geburtsverlaufs einer normalen Geburt“ als farbige anatomische Tafeln

www.mabuse-verlag.de

Kristina Hänel

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Friso Ross, Mario Rund, Jan Steinhaußen (Hg.)

Alternde Gesellschaften gerecht gestalten Stichwörter für die partizipative Praxis

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ir werden immer älter, jeden Tag ein Stück.“ So könnte man eine Textzeile aus dem bekannten Song des Berliner GRIPS-Theaters aus den 1990erJahren umformulieren. Allerdings ist diese Erkenntnis nicht neu. Sie lässt sich zum Beispiel bereits im Alten Testament oder in Texten aus der griechischen Antike finden. Deren Schilderungen thematisieren die Macht der Alten oder die Klage über zunehmende Gebrechen. Sie verdeutlichen, dass das Altwerden Freude oder Last sein kann und wie Gesellschaften mit ihren alten Menschen umgehen. In Deutschland kam es besonders aus der Diskussion über die Folgen des demografischen Wandels in den vergangenen 30 Jahren zu zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema Alter(n). Insofern erscheint es mutig von Herausgebern und Verlag, im Jahr 2019 einen (weiteren) gerontologischen Sammelband zu veröffentlichen. Darin beschäftigen sich die 41 AutorInnen aus Hochschulen, Instituten und dem Landesseniorenrat Thüringen mit der Frage: Wie kann es gelingen, alternde Gesellschaften durch Partizipation gerecht zu gestalten? Im Vorwort empfehlen die Herausgeber, „nicht von einer oder der alternden Gesellschaft, sondern von alternden Gesellschaften auszugehen, um die gesellschaftliche Realität in ihrer Vielgestaltigkeit von Lebensformen und Ansprüchen zu würdigen.“ Sie verweisen auf Prozesse des Aushandelns, der Mitwirkung, der Teilnahme und Teilhabe. Es geht ihnen um Beteiligungs- und Einflussmöglichkeiten bei zentralen Belangen des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens in alternden Gesellschaften. Dafür nennt der Sammelband 14 Felder für eine partizipative Praxis: Bildung und Kultur, Demokratie, Gemeinwesen und Engagement, Gesundheit und Pflege, Kommunen, Kommunikation und Medien, Migration, Mobilität, Regionalentwicklung, Religion, Sozialpolitik, Stadtentwicklung, Vorsorge und Lebensende sowie Wohnen. Die AutorInnen benennen in den 34 Beiträgen Herausforderungen oder Bedarfslagen und skizzieren Bewältigungs-

strategien. So verweist Thomas Putz in seinem Kapitel auf soziokulturelle Projekte in Thüringen, etwa „Ein ganzes Dorf ist auf den Beinen“. Dennis Michels fragt: „Warum engagieren sich Menschen in Parteien?“ Der Geschäftsführer des Landesseniorenrates Thüringen Jan Steinhaußen referiert über die politische Mitwirkungspraxis älterer Menschen in kommunalen Seniorenbeiräten und -vertretungen. Thomas Klie beschäftigt sich mit Pflege, Engagement und der Zukunft der Pflege. Im Beitrag von Anja Hartung-Griemberg geht es um das Altern in digitalen Lebenswelten. Und Rolf Pfeiffer fragt nach dem Nutzen des gemeinschaftlichen Wohnens bei Altersarmut. Jeder Beitrag endet mit Quellenhinweisen als Beleg oder zur Vertiefung des Themas. Mit einigen praktischen Beispielen und Lösungsansätzen wollen die AutorInnen aufzeigen, wie engagierte Menschen vor Ort, in Politik und Verwaltung, bei freien Trägern in Einrichtungen und Initiativen „die gerechte Gestaltung des Gemeinwesens“ übernommen haben. Die Herausgeber verstehen ihre Publikation „als Einladung an eine breitere Öffentlichkeit, mit uns zu diskutieren, Erfahrungen mitzuteilen und Themen bzw. Stichworte für Folgeformate einzubringen.“ An dieser Stelle muss kritisch gefragt werden: Wie kann dies gelingen? Und, an welche Zielgruppe richtet sich der Sammelband? Fachlich Informierte kennen die Statements vieler AutorInnen bereits durch deren Veröffentlichungen oder von Tagungen. Thematisch Engagierte vor Ort sind vielleicht weniger an den akademisch vorgetragenen Ausführungen von HochschullehrerInnen interessiert, sondern suchen nach Anregungen für die Planung, Umsetzung und Verstetigung von partizipativen Projekten. Studierende vermissen ein Stichwortverzeichnis, um gezielt nach Informationen für Hausarbeiten und Referate zu suchen. Und ExpertInnen fragen im Blick auf den Titel der Veröffentlichung: Können im Kontext des Neoliberalismus alternde Gesellschaften überhaupt gerecht gestaltet werden? Ein Sammelband ist in der Regel ein Steinbruch, in dem unsortiert größere und kleine Brocken liegen. Die interessierten LeserInnen benötigen Orientierung oder einen roten Faden, zum Beispiel eine Erläuterung durch die Herausgeber, warum sie gerade diese Felder ausgewählt und andere unbeachtet gelassen haben.

Vielleicht hätte ein Nachwort oder ein Ausblick Zusammenhänge zwischen den Beiträgen deutlich gemacht. So liegt mit diesem Sammelband ein Reader vor, wie man ihn von Tagungen kennt. Nützlich, um sich an die unterschiedlichen Vorträge zu erinnern und etwas über bereits erfolgreich durchgeführte Projekte zu erfahren. Aber wenig ermutigend und hilfreich für seniorenpolitisch Engagierte, die konkret in ihrem Alltag gestaltend aktiv werden wollen. Karl Stanjek (M.A.), FH Kiel, FB Soziale Arbeit und Gesundheit

Verlag Barbara Budrich, Opladen u. a. 2019, 478 S., 56 Euro

Birgit Brand-Hörsting

Wertschätzende Kommunikation für Pflegefachkräfte und Ärzte

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ewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg ist ein Handlungskonzept, das von der humanistischen Psychologie, insbesondere der klientenzentrierten Psychotherapie nach Carl R. Rogers, aber auch von Mahatma Gandhi beeinflusst ist. Rosenberg erlebte unter anderem im Rahmen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zu Anfang der 1960er-Jahre nicht nur körperliche Gewalt, sondern auch, dass Worte tief verletzen können. Warum Menschen sich gegenseitig verletzen, was sie gewalttätig werden lässt und wie es möglich ist, auch in schwierigen Situationen mitfühlend zu bleiben, um solche Gewalt zu verhindern, waren die Fragen, mit denen sich Rosenberg daraufhin beschäftigte. Achtsamkeit und Wertschätzung – bezogen auf eigene, aber auch auf die Bedürfnisse anderer Personen – sah er dabei als Schlüssel zu einem friedvollen Miteinander. Dies erfordert Empathie – anderen und sich selbst gegenüber. Auch wenn den Menschen grundsätzlich die Fähigkeit zur Empathie eigen ist, liegt sie jedoch vielfach tief verschüttet und muss erst hervorgeholt werden. Dr. med. Mabuse 244 · März / April 2020


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Für die meisten Menschen bedeutet dies: üben, üben, üben. Dabei kann das vorliegende Buch helfen. Zunächst wird die Kraft der Sprache thematisiert. Man erkennt schnell, wie machtvoll Sprache sein kann. Das Konzept der Wertschätzenden bzw. Gewaltfreien Kommunikation wird anschließend in seinen zentralen Grundannahmen und Schritten vorgestellt. Dies erfolgt auf eine praxisnahe und gut verständliche Art. In der Kommunikation mit anderen wertschätzend zu sein, ist erst dann möglich, wenn der Prozess der Selbstklärung zur Selbstempathie geführt hat. Dieser zentralen Annahme des Konzepts wird hier Rechnung getragen. Daher wird der Blick auf sich selbst den weiteren Schritten vorangestellt. Erst danach beschäftigt sich das Buch damit, warum die Fremdempathie – Empathie gegenüber anderen Personen – im Kontext von Gesundheit und Krankheit so wichtig ist. PatientInnen und ihre Angehörigen sind Menschen mit vielfältigen Gefühlen. Damit müssen die im Gesundheitswesen Tätigen umgehen. Angst, Furcht, Hilflosigkeit, Scham, Ekel, Hoffnungslosigkeit und Trauer werden sowohl aus Sicht der PatientInnen als auch der Beschäftigten betrachtet. Wie mit Ärger umgegangen werden kann und wie es gelingen kann, sich aufrichtig mitzuteilen, sind weitere wesentliche Themen des Buches. Die Autorin scheut sich auch nicht, auf kritische Stimmen zur Gewaltfreien Kommunikation offen einzugehen. Den Abschluss bildet ein Kapitel zur wertschätzenden Führung. Beim ersten Blick in die Inhaltsangabe wird deutlich: Es handelt sich hier um ein Übungs- und Selbstreflexionsbuch. Wer sich primär mit dem theoretischen Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation beschäftigen will, sollte eher auf andere Veröffentlichungen zurückgreifen – wenngleich die Autorin auf viele theoretische Hintergründe Bezug nimmt und diese auch einbindet. Wertschätzende/Gewaltfreie Kommunikation muss geübt werden. Dazu gehört jedoch nicht nur das Durchführen von Übungen und der Einsatz des Geübten in der Praxis. Die Selbstreflexion vor, nach und zwischen den einzelnen Übungen und zu den verschiedenen Themen des Buches ist unablässig. Wer bereit ist, sich intensiv mit sich selbst auseinanderzusetzen, um durch Wertschätzende und Gewaltfreie Kommunikation die Qualität Dr. med. Mabuse 244 · März / April 2020

der eigenen Arbeit zu verbessern und dabei auch eigene Haltungen kritisch hinterfragen mag, findet dazu in diesem Buch viele Möglichkeiten. Martin Schieron, Dipl.-Pflegewissenschaftler (FH), Düsseldorf

Junfermann Verlag, Paderborn 2019, 192 S., 26 Euro

Angelica Ensel, Maria Anna Möst, Hanna Strack (Hg.)

Momente der Ergriffenheit Begleitung werdender Eltern zwischen Medizintechnik und Selbstbestimmtheit

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rei Frauen mit sehr unterschiedlichen und vielfältigen beruflichen Hintergründen haben ein äußert spannendes Buch herausgegeben: die Hebamme, Ethnologin und Hochschulprofessorin Dr. Angelica Ensel, die Philosophin, Erwachsenenbildnerin und Seelsorgerin Dr. Maria Anna Möst sowie die Pastorin i.R. und Religionslehrerin Hanna Strack. Die neun Kapitel – Momente des neuen Lebens, der Krise, der Entscheidung, des Verlustes, des Abschiednehmens, der Begegnung, der Glückseligkeit, des Willkommens und der liebevollen Sorge – sind jeweils gegliedert in Erfahrungen der Eltern, die Perspektive der Wissenschaft, die Erfahrung der Begleitenden und spirituelle Impulse in Form von Gedichten, Segnungen oder Gebeten. Jedes Kapitel beginnt mit einem Bild, das zur Meditation anregt, sowie einer Einführung. Die drei Herausgeberinnen haben 31 Autorinnen und vier Autoren für das Buch gewinnen können, in deren Beiträgen sich die Vielfalt des Themas spiegelt. Es gibt Interviews mit einer Hebamme und einer Säuglingsintensivschwester, sehr berührende Berichte von Müttern über glückliche Schwangerschaften und Geburten, aber auch über Verluste und Traumatisierungen, gefolgt und dadurch eingebettet in verschiedene wissenschaftliche und philosophische Betrachtungen. Die benutzte Literatur kann zu weiterer Lektüre führen.

Ute Kahle

Inklusion, Teilhabe und Behinderung Herausforderungen und Perspektiven der Transformationsprozesse von Organisationen der Behindertenhilfe aus institutioneller Sicht

1. Auflage 2019, 17 x 24 cm, broschiert, 560 Seiten, ISBN: 978-3-88617-223-8; Bestellnummer LBF 223 35,– Euro [D]; 40.– sFr.

Unterschiedliche Modelle und Diskurse über Behinderung sowie die rechtlichen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen dienen als Grundlage für die Analyse der aktuellen Veränderungsprozesse von Organisationen der Behindertenhilfe. Sie zeigt förderliche und hinderliche Einflussfaktoren zur Umsetzung von Inklusion. Abschließend Handlungsempfehlungen als Beitrag zur fachlich-konzeptionellen und ökonomischen Entwicklung von Organisationen der Behindertenhilfe. Karin Terfloth, Ulrich Niehoff, Theo Klauß, Sabrina Buckenmaier

Inklusion – Wohnen – Sozialraum Grundlagen des Index für Inklusion zum Wohnen in der Gemeinde

2. Auflage 2017, 17 x 24 cm, 360 Seiten, ISBN: 978-3-88617-220-7; Bestellnummer LBF 220 29,50 Euro [D]; 38.– sFr.

Was zur Entwicklung inklusionsorientierter Wohnangebote beiträgt, beantworten verschiedene Expert*innen in den Fachbeiträgen verständlich und praxisbezogen. Darüber hinaus veranschaulichen Praxisbeispiele aus unterschiedlichen Städten und Kommunen, wie ein Auf- und Ausbau inklusionsorientierter Wohnangebote gelingen kann. Bestellungen bitte an: Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V., Vertrieb, Raiffeisenstraße 18, 35043 Marburg, Tel.: (0 64 21) 491-123, vertrieb@lebenshilfe.de www.lebenshilfe.de

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Mich hat das Buch wahrhaftig ergrifBirgit Laue, fen. Zunächst war ich über den Titel verAngelika Wolffskeel von Reichenberg wundert. Aber je mehr ich las, umso mehr Praxisratgeber Wochenbett habe ich verstanden, worum es den HeHomöopathie und Schüßler-Salze rausgeberinnen und Autorinnen geht: Das in der Hebammenarbeit spirituelle Vakuum, das durch die Fokussierung auf die medizinischen und kontrollierenden Aspekte bei der heute übliie beiden Autorinnen Birgit Laue und chen Schwangerenvorsorge, bei der GeAngelika Gräfin Wolffskeel von Reiburt und bei der Wochenbettbetreuung chenberg passen bestens zusammen, beientstanden ist, zu benennen. Und dem de sind sehr erfahren in komplementärgesamten Spektrum der Prozesse und Ermedizinischen Behandlungen sowie im lebnisdimensionen im Kontinuum ElternSchreiben von Büchern. So ist dieses Buch werden wieder Raum zu geben. sehr gut aufgebaut, gestaltet und inforSo bietet das Buch Gedanken- und Seemativ. Erstmals werden homöopathische lenfutter und lädt ein, sich mit der eigeArzneimittel und Schüßler-Salze in einem nen Spiritualität zu beschäftigen und diese Buch vereint. Der Ratgeber bietet zu beiden Methomit in den beruflichen Alltag hineinzunehden gute Einführungen. Die Grundlagen men. Die durch diese Art der Begleitung der Homöopathie werden erläutert, wichentstehenden Begegnungen können zu tige Fragen zur Mittelfindung thematiBereicherungen führen, können eine Ressiert. Die Herstellung und Anwendung source sein. Für mich ist so ein Satz wie „Klarheit entsteht, wenn das Denken aufhört“ in einem Bericht Arzneimittel Gynäkologie & Geburtshilfe Modalitäten über ein ausgetragenes Kind mit Ferrum metallicum Schwangerschaftserbrechen. V: durch körperliche (Eisen) Anämie in der Schwangerschaft. Anstrengung oder StillTrisomie 18 eine solche Ressource. Blutverlust während der Entbindung. sitzen, nach Mitternacht. Uterusprolaps. B: durch langsames Oder die Überlegungen zu unseHarninkontinenz. Umhergehen rer Geburtlichkeit – wir kommen Gelsemium Schläfrig und schwach während der Wehen. V: durch Aufregung, „durch einander“ – im Gegensatz (Gelber Jasmin) Schmerzhafte Wehen mit Ausstrahlung in die Erwartungsspannung, Hüften und den Rücken. schlechte Nachrichten, zur Sterblichkeit. Über Letzteres Zervix rigide. Denken an die Beschwerden, durch Tabak, wurde und wird viel geforscht gegen 10:00 Uhr morgens B: durch Harnabgang und gedacht in der Geschichte der Ignatia Migräne und wechselnde Stimmung in hormonellen V: durch Berührung, (Ignatiusbohne) Umstellungsphasen. Tabakrauch, Kaffee, Philosophie, über Ersteres war es morgens B: durch Essen Hannah Arendt, die unsere Natalität beschreibt. Ihr Buch „Vita Activa oder Vom tätigen Leben“ ist meine weiterführende LiteLycopodium Vulvavarizen während der Schwangerschaft. V: zwischen 16:00 und (Bärlapp) Schleimhauttrockenheit. 20:00 Uhr, durch Wärme, ratur. Ovarialzysten, Ovarialtumore rechtsseitig. morgens B: durch warmes Essen Das Recht auf „Spiritual Care“ wird sowohl von der WHO als Nux vomica Schwangerschaftsübelkeit, -erbrechen. V: morgens, durch auch im Ethikkodex der Interna(Brechnuss) geistige Anstrengung, geschäftlichen Ärger und tionalen Hebammenvereinigung Sorgen, Genussmittel, nach dem Essen B: abends, durch Wärme benannt und gefordert. In den Ausbildungen der die werdenden Eltern begleitenden Berufe hat wird umfassend erklärt und DosierungsSpiritual Care am Lebensanfang noch nicht Eingang in die Curricula gefunden. Das empfehlungen gegeben. Mir fehlte nur der Buch füllt dieses Vakuum ganz handfest Hinweis, dass die Mittel von den verschieund inspirierend. Ich kann es nur empdenen Herstellern unterschiedlich verarfehlen. beitet werden (maschinell bzw. von Hand). Jule Friedrich, Bei den Schüßler-Salzen bringen einem Hebamme, Hamburg die Lehrsätze von Wilhelm Heinrich Schüßler sowie die Besonderheiten und Anwendung dieser Methode Sicherheit im Umgang. Die Potenzierung sowie die Wirkung der Mittel werden erklärt. Zudem gibt es Einnahmeempfehlungen und Vorgaben. Salze, die nicht zusammenpassen, werden Vandenhoeck & Ruprecht, in einer übersichtlichen Tabelle dargestellt. Göttingen 2019, 343 S., 35 Euro

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Bei beiden Methoden wird explizit darauf eingegangen, wie die Mittel einem Säugling verabreicht werden können. Dabei wird man gut an die Hand genommen und kann sofort Globuli oder SchüßlerSalze in die Wochenbettbetreuung aufnehmen. In übersichtlichen Tabellen werden die wichtigsten zwanzig homöopathischen Einzelmittel vorgestellt (siehe Abbildung) sowie alle Schüßler-Salze und Salben. Piktogramme zeigen klar an, um welche Methode es sich handelt. Alle wichtigen Themen, die sich im Wochenbett bei der Mutter oder dem Säugling ergeben können, werden abgehandelt und entsprechende Vorschläge gemacht, wie diese homöopathisch, mit SchüßlerSalzen oder Salben behandelt werden können. Häufige Beschwerden wie zum Beispiel schmerzhafte Nachwehen, Blähungen und Koliken, Neugeborenen-Konjunktivitis, aber auch Schlafstörungen oder traumatische Geburtserlebnisse wurden bedacht. Zur Einführung in das jeweilige Beschwerdebild werden Ursachen, Symptome und Maßnahmen vorgestellt. Zusätzlich werden weitere Beratungs- und Behandlungstipps aufgeführt. Davon werden manche Tipps nochmals genauer erklärt und wichtige Informationen gegeben: Wie ist eine Quarkauflage zu machen? Was ist bei einem Senfmehlfußbad zu beachten? Auch eine Narbenmassage wird anschaulich erklärt. Alles ist äußerst übersichtlich gestaltet und farblich unterlegt. Ansprechende Bilder begleiten das Buch. Literaturempfehlungen am Ende des Buchs machen es leicht, sich mit beiden Methoden umfassender auseinanderzusetzen. Ich kann das Buch jeder Kollegin, die neu in die Wochenbettbetreuung einsteigt, empfehlen. Ebenso wie bereits erfahrenen Kolleginnen, die sich neues Wissen in den beiden oder einer der Methoden aneignen möchten. Es macht Freude, mit diesem Buch zu arbeiten. Der Preis ist mit 22,95 Euro angemessen. Christine Maek, Hebamme und Heilpraktikerin, Nürnberg

Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2019, 176 S., 22,95 Euro Dr. med. Mabuse 244 · März / April 2020


Jan-Hendrik Heinrichs

Neuroethik Eine Einführung

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s ist ein beeindruckendes Buch, am Anfang erschreckend, dann fesselnd. Als Erstes dachte ich, dieses Buch sei nur für LeserInnen geschrieben, die sowohl philosophisch als auch medizinisch gebildet sind. Dann stellte ich erfreut fest, dass alle verwendeten Begriffe und Theorien kompakt und einprägsam vorgestellt werden, sodass sie einen durch das ganze Buch begleiten. Besonders eindrucksvoll gelingt es dem Autor, die durchaus nicht so einfachen Grundlagen der philosophischen Ethiktheorien vorzustellen. Er führt die LeserInnen dann durch die Geschichte der Neuroethik bis hin zu den aktuellen Fragestellungen, die sich aus den erweiterten medikamentösen wie auch mechanischen und physikalischen Möglichkeiten ergeben. Er zeigt auf, wie es heute möglich ist, die Aktivitäten des Gehirns immer genauer darzustellen und in manchen Fällen auch in die Funktionen einzugreifen. Klar und überzeugend weist er auf vielfältige Probleme hin, die sich im Zusammenhang mit diesen neuen Möglichkeiten stellen. Teils sind es bekannte Probleme wie die der Bias bei der Planung des Forschungsdesigns, etwa bei der selektiven Auswahl der Probanden, teils sind es wenig diskutierte Fragen wie etwa beim Umgang mit den Diagnosen, der Mitteilung von Zufallsbefunden und Ähnlichem. Manchmal sind es auch neue Fragestellungen, etwa die nach der Autonomie des Patienten bei möglichen Wesensveränderungen infolge einer neuen Behandlungsmethode. Es sind viele Aspekte, die der Autor eingehend und nachvollziehbar schildert. Leider können sie hier nur angedeutet werden. Als eine besondere Bereicherung betrachte ich den Abschnitt über die Neuroethik in der Alltagsmoral jenseits von Labor und Praxis. Hier macht Heinrichs auf Probleme aufmerksam, die in den üblichen Diskussionen innnerhalb der Fachdiziplinen, also unter Medizinern oder Philosophen, selten oder nie auftauchen und doch von großer persönlicher, gesellschaftlicher und moralischer Tragweite sind oder noch werden können. Es ist unmöglich, in kurzer Form die Vielfalt all dieser Fragen zu umreißen. Die äußerst differenzierte Darstellung der verDr. med. Mabuse 245 · Mai / Juni 2020

schiedensten Aspekte bei den medizinischen oder privaten Eingriffen, bei Doping und Enhancement bleibt dabei immer sachlich, informativ und spannend. Der Autor enthält sich in den unterschiedlichsten und oft strittigen Schilderungen des Diskurses stets einer eigenen Stellungnahme. Er vertritt aber sehr entschieden seine grundsätzliche Überzeugung, sich nicht von Vorurteilen, gesellschaftlichen Trends oder der Argumentation unterschiedlicher Interessengruppen leiten zu lassen, sondern nur den soliden wissenschaftlichen Erkenntnissen zu trauen. Diesen Anspruch stellt er fairerweise nicht nur an die Theorien der Neurowissenschaften, sondern auch an die philosophischen Stellungnahmen, die nur dann ernst zu nehmen sind, wenn sie ebenfalls den soliden Kriterien ihrer eigenen Wissenschaft genügen. Über die Bedeutung der Neuroethik für unser Selbstverständnis als Denkende und Handelnde führt er schließlich zu einem Ausblick in die Zukunft. Dabei betont er, welch großes Potenzial die Ergebnisse der Neurowissenschaften für den sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt bieten, vorausgesetzt man beschäftigt sich mit soliden Fakten und nicht mit futuristischen Spekulationen. Es ist ihm gelungen, diese Fakten und die vielen zu diskutierenden Fragen so fesselnd darzustellen, dass ich in diesem Buch sicher noch mehrmals lesen und es auch an Freunde verschenken werde. Dr. med. Peter Weyland, Ingoldingen

J. B. Metzler, Stuttgart 2019, 222 S., 39,99 Euro

Jochen Vollmann

Die Galle auf Zimmer 7 Welche Medizin wollen wir?

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ippokrates, der altgriechische Inbegriff des ethisch hochstehenden Arztes, ist bis heute Bezugspunkt der Medizinethik, die Jochen Vollmann in Bochum lehrt. Drei wesentliche Punkte hippokra-

GELASSENE Zeiten und ein wohlwollender Blick auf uns selbst – Yoga und Meditation verändern unsere

HALTUNG.


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Buchbesprechungen

tischen Denkens stellt er an den Anfang seines neuen Buches: Wer Kranke behandelt, sollte deren gesundheitliches Wohl im Blick haben, Schaden von ihnen abwenden und eigene Interessen zurückstellen. Leicht war es nie, so zu arbeiten im Gesundheitswesen, aber leichter als heute wohl schon. Nicht, weil die Menschen so schlecht geworden wären. Eher weil das Gesundheitswesen inzwischen Rendite abwerfen „muss“, also zunehmend ökonomisiert wird. Doch es gibt auch eine systematische Ursache: Die moderne Medizin war so erfolgreich, weil sie sich weniger auf Personen konzentriert hat als auf Krankheiten. Solange die meisten Behandelten unter akuten Krankheiten litten, passte das gut. In nicht einmal hundert Jahren verdoppelte sich die Lebenserwartung, vor allem, weil immer weniger junge Menschen an akuten Krankheiten starben. Das lag an Impfungen, Antibiotika, Kinderuntersuchungen, relativ gefahrlosen Operationen und Hygiene für alle – alles Maßnahmen, die auf die Krankheiten als solche zielten. Das Corona-Virus erinnert uns daran, dass das jederzeit wieder in den Vordergrund rücken kann. Dennoch sind Epidemien längst die Ausnahme. Die meisten Erkrankten hierzulande sind nicht akut krank, sondern chronisch, sie werden selten vollständig und niemals schnell gesund und sie sind nicht jung, sondern älter. Will man das rein naturwissenschaftlich lösen, wird aus einer individuell kranken Person die „Galle auf Zimmer 7“ – und die fühlt sich prompt als Nummer und deshalb unbefriedigend versorgt. Praktisch stellt Vollmann viele Fragen rund um Widersprüche dieser Art vor und diskutiert sie fundiert. Zunächst setzt die Ökonomisierung nicht nur falsche Anreize, etwa für einträgliche Operationen, die oft genug bestenfalls sinnlos sind. Sie zwingt Profis des Gesundheitswesens, ihre Arbeit mit Menschen in unprofessionelle kleine Handgriffe zu zerhacken, weil man das für „effizient“ und damit kostengünstig hält. Wen wundert es da, dass Pflegende ihren Job inzwischen nach durchschnittlich acht Jahren quittieren? Viele Entwicklungen in der Medizin führen dazu, dass bisherige Antworten nicht mehr greifen. Kranke „dürfen“ sich einer Behandlung verweigern. Die Grenzen des Lebens verschieben sich, seit man

Embryonen in der Petrischale „erzeugen“ kann und kaputte Organe durch gesunde ersetzen – die „leider“ erst mal jemand spenden muss. Gräben tun sich auf zwischen Palliativmedizin und Sterbehilfe oder langjähriger Pflegebedürftigkeit und teurer Spezialmedizin für biochemisch definierte Patientengruppen, die erstaunlicherweise „personalisiert“ heißt. Die wichtigsten Fragen: Wann bezahlt die Solidargemeinschaft was? Wann wird eine niedrige Erfolgsquote zum leeren Versprechen? Wie versorgt man Kranke gut, die man nicht heilen kann? Was ist Therapie, was doch eher Lifestyle? Wie bewerten wir die Spannung zwischen Lebenstagen und Lebensqualität? Das bündelt sich in der Frage: Welche Medizin wollen wir? Die darf, so Vollmann, nicht die Medizin alleine beantworten. Wir alle müssen sie demokratisch und öffentlich verhandeln. Das notwendige Wissen dafür liefert er in diesem Buch, auf hohem wissenschaftlichen und ethischphilosophischen Niveau, hoch spannend und überdies gut lesbar. Genau genommen Pflichtlektüre für alle. Barbara Knab, Wissenschaftsautorin, München

Wagenbach Verlag, Berlin 2019, 128 S., 16 Euro

Susette Schumann

Kompetenzen älterer Menschen Lehrbuch zur praktischen Umsetzung des umfassenden Pflegebedürftigkeitsbegriffs, Band 1

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er seit 2017 im Pflegeversicherungsgesetz verankerte neue, erweiterte Pflegebedürftigkeitsbegriff fordert nicht nur von den PflegebegutachterInnen der Medizinischen Dienste eine neue Herangehensweise an ihr Arbeitsfeld, sondern auch von den praktisch Pflegenden. Jedoch erschließen sich Begrifflichkeiten aus Gesetzen oder der Pflegewissenschaft nicht immer direkt so für die Praxis, dass

sie dort sofort praktisch umgesetzt werden können. Die neue Buchreihe „Altenhilfe verstehen und umsetzen“ des Kohlhammer Verlags setzt hier an und will insbesondere Begriffe, die sich aus den Pflegereformen der vergangenen Jahre ergeben, in den Fokus nehmen. Der erste Band beschäftigt sich mit den „Kompetenzen älterer Menschen“. Ziel dieses Lehrbuchs ist es einerseits, den Begriff „Kompetenz“ für die Pflegenden greifbar und somit in die Pflegeplanung integrierbarer zu machen. Andererseits will es dazu beitragen, pflegerisches Fachwissen mit methodischen Vorgehensweisen zu verknüpfen. Die Methodenkompetenz der Pflegenden soll verfeinert werden, um Kompetenzen der älteren Menschen strukturiert zu ermitteln und diese ganz konkret in eine ressourcenund einzelfallorientierte Pflegepraxis einzubinden. Auf der Metaebene wird durch die Anwendung pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Situation der einzelnen älteren Menschen zudem eine Steigerung der Pflegequalität angestrebt. Selbstbestimmung und Teilhabe der älteren Menschen stehen dabei im Mittelpunkt. Zunächst arbeitet die Autorin mit dem Begriff des Einzelfalls. Was ist überhaupt unter einem Einzelfall zu verstehen? Wie kann ein hermeneutischer und ressourcenorientierter Zugang in der pflegerischen Fallarbeit mit Menschen gestaltet werden? Anschließend werden Ressourcen und Kompetenzen der älteren Menschen in den Blick genommen. Auch hierbei steht das Verstehen im Mittelpunkt der Betrachtung. Daher werden zunächst die verschiedenen Gruppen von Ressourcen (z. B. körperlich, emotional oder sozial) erläutert und praktische Hinweise zu ihrer Ermittlung gegeben. Gleiches geschieht in Bezug auf die Kompetenzen, denen jedoch in der theoretischen Aufarbeitung mehr Raum gegeben wird. Der dritte Teil des Buchs konzentriert sich auf die Förderung der Kompetenzen älterer Menschen. Hierbei wird ein regelgeleitetes, systematisches Vorgehen empfohlen. Am Beispiel des sogenannten Zürcher Ressourcen Modells wird die systematische Vorgehensweise des Ermittelns und der Förderung individueller Kompetenzen aufgezeigt. Praktische Tipps sollen die Umsetzung des theoretischen Modells erleichtern. Der gemeinsame Aushandlungsprozess zwischen älteren Menschen Dr. med. Mabuse 245 · Mai / Juni 2020


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und Pflegenden als Grundlage kompetenzorientierter pflegerischer Unterstützung bildet den inhaltlichen Abschluss. Dabei ist zu beachten, dass dieser Prozess sowohl die Ermittlung als auch die Förderung der Kompetenzen ständig begleitet und nie wirklich endet. Auch hier erhalten die LeserInnen Praxistipps für den Arbeitsalltag. Zum Abschluss jedes Kapitels werden die Lernenden mittels der „eigenen Lerngeschichte“ und Lernfragen zur Reflexion der bearbeiteten Inhalte und ihres eigenen Lernens angeregt. Das Thema des Buches ist im Hinblick auf eine zunehmend alternde Gesellschaft, die Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und Teilhabe als wesentliche Werte erachtet, von immenser Bedeutung. Diese Werte im Pflegealltag zu berücksichtigen, ist eine wichtige pflegerische Aufgabe. Das vorliegende inhaltlich und auch sprachlich anspruchsvolle Lehrbuch spiegelt diesen hohen Anspruch wider. Lernerfahrene Pflegende können dieses Buch zum Selbstlernen nutzen. Für weniger lernerfahrene Personen erscheint eine angeleitete Erarbeitung der Inhalte notwendig. Martin Schieron, Dipl.-Pflegewissenschaftler (FH), Düsseldorf

Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2020, 77 S., 19 Euro

Beat Gerber

Warum die Medizin die Philosophie braucht Für ein umfassendes Verständnis von Krankheit und Gesundheit

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eat Gerber ist Facharzt für Allgemeine Medizin in der Schweiz und Philosoph. Nur die Philosophie könne es leisten, oft gering geschätzte Fragen zu beantworten: „Was sind die Ziele und worin liegt der Sinn der Medizin? Worin besteht ihre wissenschaftliche Methode? Ist die Medizin tatsächlich erfolgreich? Und wenn ja in welcher Beziehung? Was heißt überhaupt erfolgreich? Für wen ist sie erfolgreich?“ (S. 37). In den 18 nachfolgenden Kapiteln spannt der Autor einen breiten Bogen auf. Kein Grundbegriff der Medizintheorie bleibt ausgespart: Gesundheit, Krankheit, Medizin, Medikalisierung, Selbstverschulden, Lebensqualität, Salutogenese, Achtsamkeit, Gelassenheit, Leiblichkeit, Gefühle, Unsicherheit, Vanitas – um die vielleicht wichtigsten aufzurufen. Dann ist ein eindeutiger Schwerpunkt des Buches das Nachdenken über Tun und Nichtstun in der Medizin: bewusstes Handeln und bewusstes Unterlassen. Alternativmedizin, Qualität in der Medizin, Palliative Care und Spiritual Care sind weitere Überschriften, ehe abschließend von der „Suche nach der genuinen Medizin“ gesprochen wird. Wirft Gerber selbst die Frage auf, warum es so schwer ist, Philosophie und Me-

dizin miteinander ins Gespräch zu bringen, so stellt sich automatisch die Frage, wie er es bewerkstelligen möchte, diese weitgehende Sprachlosigkeit zu überwinden. Es mangelt nicht an Belegen, wie tief sich immer wieder philosophische Strömungen vor allem mit den Sinnfragen von Leben, Sterben und Tod beschäftigt haben. Ganz im Gegenteil: Jedes Kapitel ist nahezu eine Enzyklopädie, vor allem der geisteswissenschaftlichen Literatur. Für mich wirkte das des Öfteren überwältigend, auch redundant. Meine eigentliche skeptische Frage an den Autor aber lautet: Wie kann es denn gelingen, dass die Medizin tatsächlich von der Philosophie lernt, wie sie ihr in einer besseren Kooperation auch Aufgaben stellen könnte? Am Beispiel der so unglaublich wichtigen Thematik „Nichtstun“ in der Medizin heißt das: Dass ÄrztInnen nur handeln dürfen, wenn sie die Erlaubnis dazu haben, lehrt uns allein die Rechtslage – auch wenn diese im Alltag nach wie vor häufig negiert wird. Und dass Nichtstun – gern negativ empfunden – PatientInnen nicht selten vor unnötigen Eingriffen schützen kann, lehrt uns nun schon seit beträchtlicher Zeit die evidenzbasierte Medizin. Welchen weiteren Nutzen die philosophischen Grundlagen zu Handeln und Unterlassen für die Medizin dann haben kann: Ich hätte mir sehr gewünscht, das im Buch klarer formuliert zu finden. Und die Vision der genuinen Medizin setzt Gerber schließlich aus den Modellen integrierter Medizin, dem biopsycho-sozialen Modell und der Litera-

Ein Rettungsschirm für die DGSP – helft mit!

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Dr. med. Mabuse 245 · Mai / Juni 2020

Aufgrund der Corona-Pandemie können wir aktuell keine Fortbildungen und Tagungen anbieten. Hierdurch ist die Existenz unseres Verbands gefährdet – und das in einer Zeit, in der der Einsatz für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen wichtiger denn je ist. Wofür wir stehen und was wir tun: www.dgsp-ev.de

Danke und bleibt gesund!

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tur zur Patientenperspektive zusammen: ein Déjà-vu. Das alles soll kein Herummäkeln sein: Das Buch liefert sehr viel „Material“ zum Nachdenken und zur Überprüfung eigener Grundhaltungen. Man muss freilich einen langen Atem mitbringen, dieses zu durchdringen und zur Bereicherung der eigenen Sicht auf die Medizin zu nutzen. Norbert Schmacke, Bremen

hogrefe, Bern 2020, 384 S., 29,95 Euro

Katinka Schweizer, Fabian Vogler (Hg.)

Die Schönheiten des Geschlechts Intersex im Dialog

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er Titel dieses Sammelbandes will genau gelesen werden, nicht „das schöne Geschlecht“, sondern um Schönheiten des Geschlechts windet und schlingt sich ein, wie vorausgreifend gesagt werden darf, ästhetisch gelungener transdisziplinärer Dialog über Intergeschlechtlichkeit. Dieses lange Zeit ignorierte Phänomen wird hier sowohl dynamisch als auch ästhetisch wahrgenommen. Das Buch hat als Hardcover einiges an Gewicht und die vielen Farbabbildungen geben ihm den Touch eines Kunstbandes, wodurch es wie ein Coffee Table Book daherkommt. Der Inhalt ist in drei Sektionen gegliedert, die unterschiedliche Perspektiven versammeln und auch verlangen. Erschienen ist dieser Sammelband in einer Art „Zwischenzeit“. Die Arbeit an dem Projekt begann bereits 2016. Dann, fünf Monate vor dem Erscheinen des Buches im April 2018, gab das Bundesverfassungsgericht einer Beschwerde statt, und entschied, dass die gesetzgebenden Organe bis Ende 2018 einen positiven Geschlechtseintrag für Menschen einzurichten hätten, die sich nicht in die binären Kategorien „männlich“ oder „weiblich“ einordnen lassen. Dies geschah dann im Dezember 2018. Seit Januar 2019 exis-

tiert das Akronym „m/w/d“ in Stellenanzeigen und die Bezeichnung „divers“ wird vielerorts verwendet und verunsichert Verwaltungen und Menschen. Somit können die Beiträge dieses Bandes nun herangezogen werden, um offen interessierte Leser:innen informierend anzuregen und selbst über Intersex zu reflektieren. Dieser Reflexionsaufgabe haben sich auch alle Beitragenden gestellt, etwa die mit einem Geleitwort vertretene Soziologin und Psychoanalytikerin Ilka Quindeau und die zweite Hamburger Bürgermeisterin Katharina Fegebank. Der Band besticht durch die reichhaltige Bebilderung: Objekte des SkulpturKünstlers Fabian Vogler werden anregend in Szene gesetzt. Fotografien, die die Entstehungsprozesse seiner und anderer künstlerischer Annäherungen an das Thema dokumentieren, sind in ebenso guter Qualität abgedruckt wie Abbildungen von antiken Plastiken. In ihrer Einleitung skizzieren die Psychotherapeutin und Sexualwissenschaftlerin Katinka Schweizer und der Künstler Vogler ihr Ansinnen, sich mit Intersexualität mal anders zu beschäftigen: nicht als Schicksal oder Bedrohung, sondern als wahrzunehmende Schönheit und die Kunst inspirierende Wendung. Schweizer rekurriert in weiteren Beiträgen insbesondere auf Identität – identifiziere ich mich mit meinem Geschlecht, welche Rolle wird der Identität beigemessen? Und wie einflussreich sind einzelne Identitätskategorien? Wie binär denke ich, denkt die Gesellschaft? Diese Publikation versucht, sich dem Intersex nicht über das Konstrukt des Binären anzunähern, vielmehr werden ganz unterschiedliche Blickwege erkundet, die unterschiedliche Resonanz erzeugen. Im ersten Teil des Bandes mit der Überschrift „Intersex“ kommen Erfahrungsexpert:innen zu Wort und Autor:innen, die mit ihnen und über Intersex arbeiten, versuchen diese zu ergründen. Schön zu sehen, wie sich ein britischer Psychologe und eine australische Kinderärztin darauf einlassen, über Schönheit zu reflektieren. Peter Hegarty und Sonia Grover schauen auf die Entwicklung in verschiedenen Bereichen, nicht nur auf einen beklagbaren Status quo. So kommen Bewegung und auch Leichtigkeit auf. Unter der Rubrik „Mehr_Deutigkeiten“ sind Beiträge von Autor:innen aus der Rechtssoziologie, Philosophie, Biologie,

Kunstwissenschaft und Archäologie versammelt, die aufzeigen, wie vielfältig die Herangehensweisen sein können. Gut lesbar, anregend, sorgfältig redigiert, mit vielen Hinweisen zum Weiterlesen – unter anderem auf den Blog der Hamburg Open Online University beziehungsweise den des Projekts „intersex kontrovers“ (www.hoou.de, https://intersex-kontrovers.blogs.uni-hamburg.de). Mit der irritierenden Zwischenüberschrift „Multi_polare Perspektiven“ ist die dritte Sektion überschrieben. Hier finden sich gut verdichtete Beiträge aus der Kunstgeschichte zu Geschlecht und Ikonografie, zu uneindeutigen Reliquien, zu Phantasmen und zuletzt zur gesellschaftlichen Notwendigkeit, Inter anzuerkennen. Die Verleihung des Preises gegen Diskriminierung der Bundesregierung und der Antidiskriminierungsstelle an Lucie Veith im Oktober 2017 wird in diesem Band durch den Abdruck ihrer Dankesrede dokumentiert. Diese Ehrung hat auf mehreren Feldern etwas bewegt: Intersex wird anerkannt, mit der Preisträgerin wird eine Aktivistin und ein Vorbild geehrt und der Preis besteht aus einer Bronzeplastik von Vogler, verbindet also Kunst, Engagement und Politik auf sinnfällige und schöne Weise. Nicht alle Beiträge dieses abwechslungsreichen Bandes können hier erwähnt werden. Doch die Herausgeber:innen müssen gelobt werden für dieses Wagnis, Kunst, Aktivismus und Ästhetik in Schwingung zu bringen – auf einem Feld, das in anderen Zeiten von Monstrositäten und Fehlbildungen besetzt war: Hier wird mit Lust und Freude die Vielfältigkeit des menschlichen Seins gefeiert. Jeder Beitrag kann für sich gelesen werden und im Anschluss darf über die Komposition des Bandes sinniert werden, darüber, welche Kunstwerke zu den einzelnen Beiträgen spannungsvoll korrespondieren – anregend und schön. Marion Hulverscheidt, Ärztin und Medizinhistorikerin, Kassel

Campus Verlag Frankfurt am Main/New York 2018, 423 S., 42 Euro

Dr. med. Mabuse 245 · Mai / Juni 2020


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Annette Hilt (Hg.)

Die Krankheit der Gesellschaft Wilhelm Kütemeyers anthropologische Medizin

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n Zeiten von Fallpauschalen, Privatisierung des Gesundheitswesens, übermächtigen Pharmakonzernen und einer naturwissenschaftlich dominierten Medizin brauchen wir dringend Ansätze, die wieder den Menschen statt den Profit in den Mittelpunkt rücken. Das macht die Anthropologische Medizin, indem sie die Lebensgeschichte der PatientInnen, ihr soziales Umfeld und die Gesellschaft in den Heilungsprozess miteinbezieht. Wilhelm Kütemeyer (1904 –1972) war ein wichtiger Vertreter dieser Schule. Er studierte zunächst Philosophie. Als Gegner des Nationalsozialismus wurde er 1933 verhaftet, kam aber wenig später wieder frei und wechselte zur Medizin. Nach dem Krieg arbeitete er als Internist und Psychotherapeut an der Heidelberger Uniklinik und übernahm dort später, als wichtigster Schüler Viktor von Weizsäckers, dessen Station und Vorlesungen. Sein besonderes Interesse galt dem Zusammenspiel zwischen Körper, Geist und Seele. Im Unterschied zur psychosomatischen Medizin beschäftigte er sich aber nicht nur mit ausgesuchten Krankheitsbildern. Ein hoher Personalschlüssel erlaubte es ihm, in der Psychotherapie, aber auch in alltäglichen Begegnungen die eigentlichen Gründe oftmals schwerer körperlicher Erkrankungen wie Leukämie, Herzmuskelentzündungen oder Epilepsie herauszuarbeiten. Seine Vorlesungen baute Kütemeyer entlang dieser Krankheitsbilder und PatientInnengeschichten auf. Eine spezielle Auswahl von ihnen bildet das Kernstück des vorliegenden Buches. Obschon über 50 Jahre alt, sind sie noch immer hochinteressant. Besonders beeindruckend liest sich die Geschichte eines Leukämiekranken, dessen Nüchternheit angesichts des nahen, fast sicheren Todes verblüfft. Kütemeyer arbeitet in seiner Vorlesung heraus, wie wenig Zugang er zu seinen eigenen Gefühlen hat, geschweige denn zu anderen Menschen. In Anlehnung an den Philosophen Sören Kierkegaard spricht Kütemeyer von der „Verzweiflung, von der der Mensch nichts weiß“. Und er fragt an anderer Stelle, „ob nicht diese Entleerung eines Dr. med. Mabuse 246 · Juli / August 2020

Lebens, die das Herzblatt dessen herausbricht, was in der Kindheit mal angelegt war (…) in der Tat ein Äquivalent ist eines Vorgangs, der mit einer schleichenden Hinterlist den Körper zerstört.“ Auch bei Krankheiten, denen üblicherweise rein körperliche Ursachen zugeschrieben werden, zeigt er, dass der Zeitpunkt ihres Auftretens alles andere als zufällig ist: So erlitt ein späterer Hochschullehrer nach der Verhaftung eines politischen Gesinnungsgenossen im Zweiten Weltkrieg, zu der er schwieg, eine Magenblutung. Dies wiederholte sich Jahre später, als er es bei einer Intrige eines Arbeitskollegen gegen ihn wiederum versäumte, die Stimme zu erheben. Bei einem Patienten mit einer angeborenen Blutgerinnungsstörung fing das Blut trotz Medikation immer dann wieder an zu rinnen, wenn seine Frau ihn besuchen oder die Sprache auf seine Entlassung kam. In seinem Vortrag „Die Krankheit der Gesellschaft“, der dem Buch seinen Namen gibt, fragt Kütemeyer nach den Gründen für die Gefühlskälte einer Gruppe deutscher Offiziere, die einer Massenexekution jüdischer Menschen im Zweiten Weltkrieg beiwohnte. Dabei zitiert er den leitenden Betriebsarzt eines Stahlwerks, der, anlehnend an den amerikanischen Psychiater Harry Stack Sullivan, die These vertrat, dass sich schizophrene Erkrankungen vom einzelnen auf eine Gruppe oder gar ein ganzes Volk mit ebensolchen Zügen übertragen lassen. Diese „Erkrankung des Wir“ lasse sich jedoch nur erkennen, indem man aus der Gruppe heraustrete. Diese These ist auch heute noch relevant, lässt sie sich doch auf den sorglosen Umgang weiter Teile unserer Gesellschaft mit dem Klimawandel übertragen. Nach dem plötzlichen Tod des Klinikdirektors Karl Matthes fand die 50-jährige Heidelberger Tradition der Anthropologischen Medizin ein Ende. Der neue Klinikchef liquidierte Kütemeyers Station und zerschlug sein Team. Kütemeyer war in seiner Kritik an den Institutionen und der gängigen Medizin offensichtlich unbequem. Ein Grund mehr, ihn heute wieder zu lesen. Ingrid Wenzl, Politologin und freie Journalistin mit Schwerpunkt auf Wissenschaftsthemen Verlag Karl Alber, Freiburg/ München 2020, 424 S., 49 Euro

Desmond Morris

Aus dem Englischen von Willi Winkler Winkler 352 Seiten, Hardcover

»Dieses Buch ist ein Husarenstück. So unterhaltsam und zugleich so informativ hat noch keiner über die Surrealisten geschrieben! « Deutschlandf unk K Kuult ur

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Elke Steudter

Stroke – die unbestimmbare Krankheit Erleben von alten Menschen in der Schlaganfall-Akutphase

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lke Steudter, als Pflegewissenschaftlerin in Zürich tätig, hat eine äußerst spannende und sehr gute lesbare Arbeit zu den in der Pflegewissenschaft wie auch in der Medizin vernachlässigten Erfahrungen von Personen über 60 Jahren in der akuten Phase eines Schlaganfalls (Stroke) vorgelegt. Diese Erforschung der subjektiven Sicht von (älteren) Betroffenen eröffnet der (Pflege-)Wissenschaft wie den professionell unmittelbar beteiligten Personen eine Reihe von wichtigen neuen Erkenntnissen. Bevor die Verfasserin in die Untersuchung eintritt, erörtert sie die erkenntnistheoretischen Grundlagen ihrer Studie. Sie schließt sich methodologisch der „Grounded Theory“ an. Hier werden nicht vorab in der Theorie aufgearbeitete Kategorien auf ein Forschungsfeld übertragen und entsprechend empirisch bestätigt (oder abgelehnt), sondern es werden im Verlaufe des Forschungsprozesses Kategorien konstituiert und in einen neuen theoretischen Zusammenhang gebracht. Über 21 Monate hinweg stand Steudter in regem Kontakt mit einem Schweizer Akutkrankenhaus, um entsprechende PatientInnen für ein Gespräch zu rekrutieren. Nachdem etliche Personen wegen Beeinträchtigungen als für die Forschung ungeeignet ausgeschlossen werden mussten, kam es zu 23 narrativen Interviews. Diese Zahl ergab sich aus der Dynamik der Grounded Theory: Erst als die Forscherin davon überzeugt war, dass eine „Sättigung“ der gewonnenen Kategorien erfolgt war, wurde der Forschungsprozess abgeschlossen. Innerhalb dieses Prozesses generiert Steudter sodann eine Theorie der Erfahrungen von Menschen über 60 Jahren mit akutem Stroke, welche sich um die zentrale Kategorie „Unbestimmtheit des Ereignisses“ dreht. Diese Kategorie wird in der komplexen, aber brillant aufgeschlüsselten Darstellung der Ergebnisse abgebildet. Sie findet sich wieder in den Kontext- und Beeinflussungsfaktoren; in der ersten Erfahrungsphase (unmittelbare Wahrnehmung einer Veränderung) als „Wahrnehmung einer unbestimmten Veränderung“; in der zweiten Erfahrungsphase

(unbestimmte Suche nach Hilfe) als „Umgang mit dem Unbestimmbaren“; in der dritten Erfahrungsphase, in der die Betroffenen mit „Health Professionals“ in der Klinik Umgang haben, aber immer noch mit der Unbestimmtheit einer „Diagnose“ konfrontiert sind, und in der vierten Phase (in welcher die Interviews stattfinden) muss mit Blick auf die Gegenwart und die (unmittelbare) Zukunft mit der Unbestimmtheit des Stroke umgegangen werden. Es gelingt Steudter anschaulich, Zitate aus den Interviews in eine Konstellation zur Unbestimmtheit zu setzen, ohne dass der Eindruck entsteht, die Forscherin unterstelle ihren Probanden irgendetwas. Stets werden die Aspekte der Phasen, des körperlichen und vor allem emotionalen Empfindens und der je subjektiven Sicht (von immerhin 23 InterviewpartnerInnen) überzeugend mit der zentralen Kategorie „Ungewissheit“ in Verbindung gebracht. Dieses Forschungsergebnis ist neu und rückt die subjektive Sichtweise von durch Stroke existenziell betroffenen älteren und alten Personen in ein bislang unbekanntes Licht. Zugleich eröffnet es den „Health Professionals“ neue Erkenntnisse, die ihr Handeln stark beeinflussen sollten. Selbstkritisch betont die Verfasserin, dass der Forschungsblick ausgedehnt werden könnte auf das außerklinische Setting, was aber angesichts der Rahmenbedingungen des häuslichen Umfeldes nur schwer erfüllt werden könne. Wichtig erscheint die Erkenntnis, dass viele StrokePatientInnen sich manchmal von den „Health Professionals“ alleingelassen fühlen, was in den abschließenden Konsequenzen recht knapp wieder aufgegriffen wird. Und auch der Rezensent möchte kritisch anfügen, dass es wünschenswert gewesen wäre, wenn die Gruppe der „Health Professionals“ etwas differenzierter betrachtet worden wäre. Vielleicht hätte hier eine Pflegewissenschaftlerin ausführen können, dass (und was) auch ÄrztInnen aus den gewonnenen Erkenntnissen lernen könnten. Hier bleibt Steudter etwas zurückhaltend. Prof. Dr. Karl-Heinz Sahmel, SRH Hochschule für Gesundheit, Stuttgart

hogrefe Verlag, Bern 2020, 272 S., 39,95 Euro

Olle Wadström

Kopfzerbrechen Wenn das Grübeln zur Belastung wird

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ies ist ein Buch zum Verständnis, zur Selbsthilfe und zur Behandlung von quälendem Grübeln. Warum können wir mitunter – oder nie – aufhören, über bestimmte Fragen nachzudenken, sie wieder und wieder zu drehen, zu wenden, daran zu zweifeln, zu keinem Schluss zu kommen? Wir investieren Stunden, Tage, schlaflose Nächte, manche verbringen gar Monate und Jahre ihres Lebens mit dem gedanklichen Wiederkäuen und fruchtlosen Hadern. Warum lasse ich mich nicht scheiden? Warum war meine Bewerbung erfolglos? Warum habe ich diese und nicht die andere Reise gebucht? Der schwedische Verhaltenstherapeut Olle Wadström beschreibt einen Weg zur effektiven und nachhaltigen Loslösung von obsessiven, krankmachenden Gedanken. Gut strukturiert legt er dar, wie Grübeln selbstverstärkend wirkt, sozusagen als endlose Schleife zwischen gedanklicher Unruhe und gegenläufigem Trost. Diese nur den Menschen eigene Verhaltensweise ist entwicklungsgeschichtlich begründet im einstmals überlebenswichtigen Erkennen potenzieller Gefahren. Bedrohungen zu erkennen, wo keine sind, und über innere Debatten nach Klarheit zu streben, ohne sie je zu erreichen, führt aber zu zwanghaftem Grübeln, zu Unsicherheit und Angst. Ganz entgegen den üblichen Ratschlägen, sich abzulenken oder positivem Denken zuzuwenden, empfiehlt der Autor die eigenen Sorgen konsequent als plausibel anzunehmen, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt. Tendenziell soll man sich auch den schlimmsten Befürchtungen schonungslos aussetzen, ganz im Sinne einer klassischen verhaltenstherapeutischen Konfrontation. Wadström belegt seinen Ansatz mit eindrücklichen Beispielen von KlientInnen aus seiner langjährigen Praxis, ohne dabei Komplikationen und Rückschläge zu verschweigen. Der sachlich klinisch geschriebene, aber gut nachvollziehbare Text ist einfach zu lesen, zusammenfassende Kernbotschaften gliedern die Abschnitte. Das Konzept erscheint geradezu schlicht, praktikabel und auf vielerlei Situationen anwendbar. Mit einer gewissen Redundanz wiederholt sich die Grundidee, etwa in Bezug auf die verschiedenen Arten von TrostgedanDr. med. Mabuse 246 · Juli / August 2020


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Junfermann-Verlag, Paderborn 2019, 144 S., 20 Euro

Robert Bering, Christiane Eichenberg (Hg.)

Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise Herausforderungen und Lösungsansätze für Psychotherapeuten und soziale Helfer

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ie Corona-Pandemie greift tief in den Alltag ein. Gleichzeitig hinterlässt sie bei einigen Menschen tiefe seelische Spuren. Den Sorgen und Nöten begegnen psychosozial Tätige häufig mit Sprachlosigkeit, manchmal auch mit Hilflosigkeit. So sehr dies nachvollziehbar ist, den Betroffenen hilft es nicht in ihren misslichen Situationen. Eine erste Hilfe bietet der SamDr. med. Mabuse 246 · Juli / August 2020

melband „Die Psyche in Zeiten der CoronaKrise“. Die Psychotherapeutin Christiane Eichenberg und der Mediziner Robert Bering haben ExpertInnen versammelt, die Antworten auf die drängenden Fragen suchen, die mit dem seelischen Wohlbefinden zu tun haben. So geht es den AutorInnen um die psychosoziale Notfallversorgung, die therapeutischen Adaptionen und Hilfe für vulnerable Zielgruppen in der COVID-19Pandemie. Dabei nehmen sie den Alltag der Menschen in den Blick, vor allem den Alltag unter veränderten Bedingungen. Der Psychotherapeut Volker Beck ist der Überzeugung, dass wir gerade eine fundamentale Krise mit einem enormen Potenzial für eine massive Traumatisierung breiter Bevölkerungsgruppen durchleben. Es könne noch niemand sagen, „wie groß die Verwüstungen durch das CoronaVirus werden“ (S. 64). Es sei wichtiger denn je, dass in der Auseinandersetzung mit dem Corona-Virus niemand handlungsunfähig, sprachlos und beziehungslos würde. Die Psychologin Rosmarie Barwinski spitzt die Problemlage zu. Sie konstatiert, „dass der Umgang mit einer Pandemie nicht auf der individuellen Ebene gelöst werden kann“ (S. 108). Bei einer Pandemie gehe es um eine kollektive Traumatisierung, „die nur bewältigt werden kann, wenn wir eine zweite Polarisierung berücksichtigen: den Widerspruch zwischen Gesellschaft und Individuum“ (S. 108). Die Analyse der AutorInnen erscheint treffend. In den Beiträgen wird versachlicht, was in der Corona-Gegenwart subjektiv mehr als bewegend erlebt wird. So geben sie die Gelegenheit, den durch das Corona-Virus entstehenden Phänomenen mit Klarheit zu begegnen. Für psychosoziale PraktikerInnen bieten die Beiträge natürlich mehr als die inhaltliche Differenzierung. Sie stellen – bildlich gesprochen – Hinweisschilder auf, mit denen PraktikerInnen aufspüren können, wie den Problemlagen von Menschen begegnet werden kann, die seelisch durch den Lockdown aus der Balance geraten sind. Es wird deutlich, welche Folgen die Stressphänomene im Zusammenhang mit dem Lockdown haben. Robert Bering, Claudia Schedlich und Gisela Zurek schreiben über die letale Bedrohung, die ökonomische Existenzangst, die Isolation und die Befürchtungsdynamik. Mit dem Begriff der Befürchtungsdynamik wecken sie die Aufmerksamkeit. Diese Wachheit scheint

HEIMREISE Reise & Freizeit naturnah und ökologisch praktisch und informativ:

pmv Peter Meyer Verlag

89879466-0 ISBN 978-3-

ken und die entgegenzusetzende Haltung der Akzeptanz. Ein ganzes Kapitel widmet sich dem Grübeln im Kontext von Zwangsstörungen und sozialen Phobien, ein weiteres den alltäglicheren Zusammenhängen wie religiösen oder weltanschaulichen Sinnfragen, Entscheidungs- und Erwartungsangst. Auch hier wird der Ansatz klar und anschaulich mit zahlreichen Beispielen entwickelt, die individuellen Erscheinungen des Grübelns sind differenziert herausgearbeitet. Witzige Cartoons und hilfreiche Abbildungen ergänzen den Text. Tabellarische Übersichten zeigen beispielhaft, wie „Grübelgedanken“ von passenden Trostgedanken unterhalten und verstärkt werden, und welche Formulierungen langfristig Einhalt gebieten. Der Anhang bietet einen Selbsttest, konkrete Verhaltensempfehlungen und eine viermonatige E-Mail-Korrespondenz des Autors mit einem grübelnden Klienten. Trotz oder eher gerade wegen des mitunter trockenen Schreibstils passen Form und Inhalt von „Kopfzerbrechen“ gut zusammen. Der wissenschaftlich-analytische Ansatz wird durch Geschichten aus dem richtigen Leben angereichert, heraus kommt ein engagierter und praktischer Ratgeber für Betroffene ebenso wie für Fachleute. Dr. Alice Nennecke, Hamburg

pmv www.PeterMeyerVerlag.de

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auch nötig, schließlich geht es um wirklich einschneidende Ängste und Stressbelastungen. Es überrascht nicht, dass auch ein Phänomen wie die Einsamkeit thematisiert wird. Dabei geht es nicht um Allgemeinplätze, die gegenwärtig vielen aufgrund von Forschungen und Berichterstattungen bekannt sind. Volker Beck wagt eine weniger bekannte Beschreibung: Er geht davon aus, dass die gewohnte Nähe-Distanz-Relativität durch die Corona-Krise in einen Schleudergang gestürzt sei und in Elementarteilchen zerlegt werde. An die Orwell‘sche Verdrehung grundsätzlicher Kategorien menschlicher Beziehungen und Bedürfnisse müsste sich schnell angepasst werden. Das Buch „Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise“ zeigt sich als Rettungsanker für psychosozial Tätige. Sie können sich auch in Momenten der größten Not vergewissern, welches Phänomen ihnen begegnet und mit welchen Interventionen sie hoffentlich Abhilfe schaffen können. Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender und Fachautor, Wesseling

Klett-Cotta, Stuttgart 2020, 256 S., 25 Euro

Dietmar Schulze

„Auch der ‚Gnadentod‘ ist Mord“ Der Augsburger Strafprozess über die NS-„Euthanasie“-Verbrechen in Kaufbeuren und Irsee

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er Untertitel dieses Buches verweist auf das Verfahren, das hier im Mittelpunkt steht: der Augsburger Strafprozess über die NS-„Euthanasie“-Verbrechen in Kaufbeuren und Irsee. Herausgegeben hat den Band das Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags, das sich in verdienstvoller Weise nicht zum ersten Mal mit solchen Themen befasst. Autor ist der promovierte Historiker Dietmar Schulze. Auch er hat sich schon mehrfach mit Fragen der NS-„Euthanasie“ und der Psychiatriegeschichte beschäftigt.

Es geht um diesen Fall: Ein Schwurgericht beim Landgericht Augsburg verhandelte im Juli 1949 drei Wochen lang gegen den Obermedizinalrat und früheren Ärztlichen Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee Valentin Faltlhauser, gegen drei Krankenschwestern und einen Pfleger sowie gegen den ehemaligen Verwaltungsleiter der Anstalt. Der Vorwurf: Sie alle sollen an Patientenmorden beteiligt gewesen sein. Dazu gehörte das jahrelange Töten behinderter und fehlgebildeter Kinder, das gezielte Aushungern der Kranken durch völlig unzureichende, fett- und fleischlose Ernährung, ferner das Verabreichen hoher Dosen von Luminal, Veronal und Morphium-Skopolamin, die sehr rasch tödlich wirkten. „Zwei Offiziere der Gesundheitsabteilung der amerikanischen Militärregierung haben am 2. Juli in Kaufbeuren ein Vernichtungslager entdeckt, in dem bis zu diesem Datum Menschen planmäßig hingemordet wurden.“ So beginnt ein Artikel der Münchener Zeitung vom 7. Juli 1945, überschrieben „Massenmord in der Heilanstalt“. Dieser sehr frühe Text zum Thema nennt bereits die Namen einiger Tatverdächtiger und enthält zahlreiche wichtige Details. Es dauerte jedoch vier Jahre, bis die nicht leicht aufzuklärenden Vorfälle nach umfangreichen Vernehmungen vor Gericht kamen. Die Verteidiger der fünf Angeklagten erklärten dort, das Pflegepersonal habe sich nichts zuschulden kommen lassen; es sei nur der Pflicht gefolgt, Anweisungen des vorgesetzten Arztes auszuführen. Es habe nie gewusst, dass angesichts des „Euthanasie“-Gesetzes (das es nicht gab) solche Taten strafbar seien. Zudem habe man aus Mitleid „lebensunwertes“ Leben von schweren Leiden erlöst. Zu Faltlhauser ist anzumerken, dass er als Direktor in Irsee von 1929 an zunächst reformorientierte Wege gegangen war, doch nach etwa fünf Jahren mehr und mehr im Sinn der NS-Eugenik wirkte. Auch wenn der Fall damals – nach amerikanischem Strafrecht – öffentlich mit vielen Zeugen, Anwälten und zwölf Geschworenen erörtert wurde und zu Schuldsprüchen führte, geriet er wie so viele ähnliche bald in Vergessenheit. Faltlhauser erhielt „wegen Anstiftung zur Beihilfe zum Totschlag in mindestens 300 Fällen“ eine Haftstrafe von drei Jahren. Ein mildes Urteil, zumal nur die Anstiftung zur Beihilfe Grundlage war, nicht das systematische

Morden. Die Vollstreckung der Haft wurde mehrfach verschoben, 1954 folgte sogar Faltlhausers Begnadigung. Drei Pflegekräfte kamen mit deutlich geringeren Strafen davon. Der Verwaltungsleiter wurde freigesprochen. Es hatte Folgen, dass die Geschworenen sehr oft Vorwürfe gegen die Angeklagten zurückwiesen. Dietmar Schulzes Darstellung ist vorbildlich gegliedert. Kapitelüberschriften wie „Die gerichtliche Voruntersuchung“, „Die Angeklagten und ihre Verteidiger“, „Die Zeugen“, „Die Richter und die Geschworenen“ und „Das Urteil“ lassen sofort erkennen, um welche Aspekte es jeweils geht. Dem folgen ein sehr lesenswertes Resümee des Autors, ein Anhang mit 510 Anmerkungen, eine ebenso umfangreiche Quellen- und Literaturübersicht, ein Epilog (von Walter Bruchhausen), ein Personenregister und zahlreiche Dokumente. Schon diese Fülle an Materialien belegt, in welcher Breite und Tiefe man sich dem Geschehenen zuwandte. Es ist besonders dem späteren Ärztlichen Direktor Michael von Cranach zu verdanken, dass das möglich war. Er setzte sich von 1980 bis 2006 in Appellen, Ausstellungen und Publikationen sehr dafür ein, dass das, was in Irsee (und auch in Kaufbeuren) vorgefallen war, wieder öffentlich bewusst und endlich genauer untersucht wurde. Er bekam dafür mehrere Auszeichnungen. Diese Darstellung des Augsburger Prozesses von 1949 ist ein äußerst aufklärender Stoff; sie müsste (auch) in der Ausund Weiterbildung der Medizin- und Pflegeberufe genutzt werden. Dabei sollte es nicht allein darum gehen, wie es nach 1933 zu so schweren Verbrechen kommen konnte, sondern auch darum, wie lästig es schon von 1945 an für sehr viele Deutsche war, sich offen mit deren Folgen auseinanderzusetzen. Dr. Eckart Roloff, Medizinjournalist, Bonn

Grizeto Verlag, Irsee 2019, 240 S., 16,80 Euro

Dr. med. Mabuse 246 · Juli / August 2020


Helmut Schaaf, Gerhard Hesse, Hans-Christian Hansen

Schwindel Das Wichtigste für Ärzte aller Fachrichtungen

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irgendwo wird so viel geschwindelt wie beim Schwindel.“ Das ist wohl wahr, wenn man damit ausdrücklich die Dimension der Unwahrheit beschreiben will. Dieses Gefühl kann schnell aufkommen, wenn für den Untersucher der erkennbare somatische Befund so gar nicht zu der mit Schwindel ausgedrückten Not passen will. Dann schlägt sich in der Begegnung mit einem Patienten nieder, dass „Schwindel“ etymologisch auch mit dem Täuschen und Betrügen verbunden ist. Beim Schwindel haben wir es allerdings auch mit einem medizinischen Phänomen zu tun, das gar nicht so selten ist. Es gibt keinen adäquaten körperlichen Befund, sodass der Schwindel wohl psychosomatischer Natur sein muss. Das ist mir zu Beginn meiner eigenen langjährigen Krankengeschichte wiederholt passiert. Viele Erkrankungen, etwa Fibromyalgie, haben Jahrzehnte benötigt, um von der somatischen Medizin ernst genommen zu werden. Und ohne somatische Therapie blieb nichts anderes als die psychotherapeutische Herangehensweise und Deutung. Das bekannteste Beispiel ist die erektile Dysfunktion, die während meiner Studienzeit noch zu 90 % als psychosomatisch betrachtet wurde – ein Prozentsatz, der sich heute umgedreht hat. Beim Schwindel ergeben sich schon aus der Wortbedeutung drei verschiedene Aspekte: ein somatischer Vorgang, ein psychisches Erleben und ein sozialer Tatbestand, z. B. des Betrügens. So beinhaltet Schwindel in unterschiedlicher Gewichtung immer eine somatische, eine psychische und eben auch eine soziale Erlebnisdimension – sowohl für den Betroffenen als auch für sein Gegenüber. Das macht den Umgang manchmal schwierig. Auch deswegen kann kaum jemand den Anspruch haben, das Symptom in seiner ganzen Komplexität allein zu beherrschen. Realistisch ist es aber, die häufigsten Schwindelformen zu erkennen und die anderen so einzuordnen, dass sie entsprechend weiterbehandelt werden. Im vorliegenden Buch haben sich die Autoren an der neuesten S3-HausarztLeitlinie zu Schwindel orientiert. Sie zeigen Dr. med. Mabuse 246 · Juli / August 2020

den Weg vom Symptom zu den möglichen Ursachen und – in der Regel hilfreichen – Therapieansätze. Ihr Anliegen ist es, Zuversicht für den eigenen Umgang mit Schwindelpatienten zu erreichen; häufiger erfolgreich behandeln zu können oder – vor allem bei Älteren – unnötige Stürze zu vermeiden; Patienten mit Schwindel Klarheit und Hilfe zukommen zu lassen sowie diesen nach erfolgter Diagnose auch schriftlich etwas mitgeben zu können (Infoblätter u. ä.). Der erste Teil behandelt Drehschwindel, Benommenheit und Schwankschwindel sowie Gangunsicherheiten. Dem schließen sich Extrakapitel zum Schwindel im Alter und bei Jugendlichen sowie zu psychogenen/psychosomatischen Schwindelformen an. Dankenswerterwiese wird auch eine grundlegende Einführung zur Begutachtung der Schwindelerkrankungen und zur immer schwierigen Frage der Fahrtüchtigkeit gegeben. Dabei werden die Grundlagen soweit als nötig und immer noch verständlich dargestellt. Bei der Diagnostik wird besonders viel Wert auf die Untersuchungsmöglichkeiten gelegt, die keine besondere apparative Ausstattung benötigen. Auch wird in der Gesamtdarstellung dem Phänomen Rechnung getragen, dass mindestens 30 % der Schwindelerkrankungen zumindest eine psychogene Mitbeteiligung aufweisen, die sich nicht selten somatisierend im Leiden am Schwindel ausdrücken kann. Hier ist erkennbar, dass ein Psychosomatiker, ein HNO-Arzt und ein Neurologe gemeinsam Hand angelegt haben. Praxisgerecht werden die notwendigen Informationen in Form von Handzetteln dargestellt, die den Betroffenen mitgegeben werden können. Das kann die Compliance für die notwendigen Therapien deutlich erhöhen. So zeichnen das Buch sowohl die Orientierung an der neuesten Hausarztrichtlinie wie die Aufbereitung der jeweiligen Thematik in patientenverständlichen Faltblättern aus. Und mehr als eine Nebenbemerkung ist es wert, dass die Autoren ihr Honorar für medico international spenden, „mit Dank für ihre anhaltenden Bemühungen für ein Gleichgewicht in einer gerechteren Welt.“ Dr. med. Franjo Grotenhermen, Steinheim Elsevier, München 2019, 198 S., 37 Euro

» Fünfhundert Pesos, wenn ich's mache und es klappt. Ein kaputtes Knie, wenn ich's versuche und es nicht klappt. Zwei kaputte Knie, wenn ich so dumm bin, es nicht mal zu versuchen. Jetzt bist du dran, Rivarola.«

MARTÍN CAPARRÓS

Väter land

Roman

Martín Caparrós Väterland Roman gebunden mit Schutzumschlag 288 Seiten 22.– € / € (A) 22.70 ISBN 978-3-8031-3323-6

Auch als E-Book erhältlich

»Caparrós ist ein geschickter Fährtenleger, gesegnet mit einem einzigartigen Schreibstil.« Johann Dehoust, Spiegel Online

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Buchbesprechungen

Kirsten R. Müller-Vahl, Franjo Grotenhermen (Hg.)

Cannabis und Cannabinoide in der Medizin

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nzwischen geht es nicht mehr um die Frage, ob Cannabis medizinisch sinnvoll ist oder sich die Risiken im Verhältnis zum erwarteten Nutzen in Grenzen halten. Das hat lange gedauert. So wurde über kaum eine Medikamentengruppe so kontrovers diskutiert wie über Cannabis-basierte Medikamente. Während die BefürworterInnen auf eine Jahrtausende währende Tradition und Behandlungserfolge bei ansonsten zum Teil therapieresistenten PatientInnen verwiesen, hielten die KritikerInnen Cannabis für eine obsolete Droge, die auch im Rahmen einer ärztlichen Behandlung kaum steuerbar sei und häufig zu schwerwiegenden und persistierenden Nebenwirkungen führe. Dass jeglicher Gebrauch von Cannabis durch die Einordnung in das internationale Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel im Jahr 1961 verboten wurde, beruht nach Ansicht der Herausgeber vorwiegend auf politischen und weltanschaulichen Ansichten, nicht auf medizinischem Sachwissen. 1998 wurde der Cannabiswirkstoff Dronabinol (Tetrahydrocannabinol, THC), 2007 der Cannabisextrakt Sativex® verschreibungsfähig. Seit 2007 können PatientInnen eine Ausnahmeerlaubnis durch die Bundesopiumstelle zur Verwendung von Cannabisblüten aus der Apotheke erhalten. Seit Inkrafttreten des Cannabisgesetzes im Jahr 2017 müssen die Kosten für eine Therapie mit Cannabis-basierten Medikamenten – immer noch unter bestimmten Voraussetzungen – von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Diese gesetzlichen Änderungen haben zu einer deutlichen Zunahme der Verschreibungszahlen geführt, sodass aktuell in Deutschland schätzungsweise 50.000 PatientInnen mit Cannabis-basierten Medikamenten behandelt werden – mit weiterhin steigender Tendenz. Nun fragen sich viele, wie Cannabis richtig eingesetzt werden kann und welche (nicht unerheblichen) Formalitäten eingehalten werden müssen. In diesem praxisorientierten Fachbuch für „Health Professionals“ werden die wichtigsten Fragen beantwortet, etwa: Wann ist eine Verschreibung überhaupt erlaubt? Welche Dr. med. Mabuse 247 · September / Oktober 2020

Indikationen bestehen? Welche Nebenwirkungen sind klinisch relevant? Welche Wechselwirkungen können auftreten? Welche Präparate sind verschreibungsfähig? Was ist sonst bei der Verschreibung zu beachten? Wie gehe ich im konkreten Einzelfall vor? Gesondert behandelt werden der Einsatz von Cannabinoiden bei Kindern und die großen Themen Abhängigkeitspotenzial, psychische Nebenwirkungen und Fahrsicherheit. Das Buch profitiert nicht nur von der langjährigen praktischen Behandlungserfahrung der HerausgeberInnen, sondern auch von ihrem Detailwissen zu nahezu allen Aspekten zum Thema „Cannabis als Medizin“, die in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren verhandelt wurden. Zudem ist es ihnen gelungen, zu vielen relevanten Spezialthemen die bekanntesten ExpertInnen, darunter ApothekerInnen, JuristInnen und GrundlagenforscherInnen aus dem deutschsprachigen Raum, zu gewinnen. So bleibt nach der Lektüre keine aktuell relevante Frage unbeantwortet. Das Buch schafft eine ausreichende Sicherheit auch in Rechtsfragen im Umgang mit einem noch immer kontrovers diskutierten Medikament. Helmut Schaaf, Bad Arolsen

mwv, Berlin 2019, 359 S., 59,95 Euro

Bettina Hitzer

Krebs fühlen Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts

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uch wenn die Therapiemöglichkeiten in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte gemacht haben, geht mit der Diagnose Krebs noch immer eine direkte Angst vor dem Tod einher. Diesem Umstand geht Bettina Hitzer in ihrem mit dem Sachpreis der Leipziger Buchmesse gekrönten Buch „Krebs fühlen“ aus historischer Perspektive nach. Am Beispiel des Gefühls der Angst macht die Autorin zunächst deutlich, dass Emotionen als historische Kategorie verstanden werden müssen. Denn Angst ist nicht gleich Angst. Zu jeder Zeit verstand man

Neu im Mabuse-Verlag

Miriam Funk

Ungewollt kinderlos – und jetzt? Ein Ratgeber zum Umgang mit unerfülltem Kinderwunsch 112 S., 16,95 Euro, 2020 ISBN 978-3-86321-446-3 Wer sich ein Kind wünscht, bekommt auch eins? Leider sieht die Realität für etwa jedes zehnte Paar und viele allein lebende Menschen in Deutschland anders aus. Ungewollte Kinderlosigkeit ist so elementar, dass sie die Menschen in ihrem Innersten trifft. Sie müssen sich ihren Wünschen und Sehnsüchten stellen, sich neuen Lebenswegen öffnen. Die Autorin hat über 60 Menschen interviewt, die aus den unterschiedlichsten Gründen ungewollt kinderlos sind.

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darunter etwas Spezifisches, fühlte sich Angst anders an und brachte andere Implikationen mit sich. Um der Geschichte von Krebs umfassend gerecht zu werden, nähert sich Hitzer dem Untersuchungsgegenstand in vier Kapiteln von je einer anderen Seite. Zunächst steht die Erforschung von Krebs als Krankheit im Mittelpunkt. Heute gilt es als erwiesen, dass es durch die Vermittlung des Immunsystems eine Verbindung zwischen Gefühlen und dem Wachstum eines Tumors gibt. Bis zu dieser Erkenntnis war es jedoch ein langer Weg, den Hitzer am Aufstieg der Psychosomatik zur medizinischen Disziplin nachzeichnet. Im nächsten Kapitel steht das Erkennen von Krebs und damit allem voran die Entwicklung der Früherkennung im Zentrum des Interesses. Erste Früherkennungsuntersuchungen wurden bereits Anfang des 20. Jahrhunderts beworben. Dabei ging es zunächst darum, unspezifische Symptome zu erkennen und danach von einem Arzt abklären zu lassen. Später sollten dann bereits Check-ups durchgeführt werden, bevor überhaupt Symptome auftraten. Auch wenn sich die Früherkennungsuntersuchungen und die Werbung hierfür im Laufe des 20. Jahrhunderts änderten, blieb die Kernbotschaft doch dieselbe: Rechtzeitig erkannt ist Krebs heilbar. Das Kapitel „Über Krebs sprechen“ stellt die Mitteilung der Diagnose in den Mittelpunkt und widmet sich damit einem wichtigen Punkt in der Arzt-PatientenKommunikation. Die Autorin deckt hier ein heute kaum mehr vorstellbares Verhaltensmuster aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf. Demnach vermieden Mediziner es, im Patientengespräch konkret von Krebs zu sprechen, vielmehr umschrieben sie die Diagnose. Dies war eine paradoxe kommunikative Strategie, denn man ging vonseiten der Ärzte davon aus, dass der Patient verstand, dass er Krebs hatte. Nichtsdestotrotz sollte immer noch ein Fünkchen Ungewissheit und damit Hoffnung bleiben. Das änderte sich ab den 1970er-Jahren bis hin zur Etablierung von Patientenrechten in den 1990er-Jahren. Im letzten Kapitel wird die Geschichte der Krebstherapie fokussiert. Hitzer schildert nacheinander detailliert den Ablauf von Krebsoperationen, Bestrahlungen und Chemotherapie und geht dabei auch stark auf die Patientenperspektive ein. Dadurch

erfährt man nicht nur etwas über ärztliche Praktiken, sondern auch etwas über die Gefühlswelt der Patienten. So war bei Operationen am Anfang des 20. Jahrhunderts oftmals zu Beginn noch nicht klar, wohin sie letztendlich führten. Bei Brustkrebs wurde erst zu Beginn der OP der Tumor histologisch untersucht und wenn es Krebs war, die ganze Brust entfernt. Oftmals erfuhren die PatientInnen erst beim Verbandswechsel das ganze Ausmaß der Operation. In ihrem innovativen emotionsgeschichtlichen Ansatz beleuchtet Bettina Hitzer die Krankheit von vielen Seiten, kommt aber immer wieder auf die Frage zurück, welche Gefühle bei den PatientInnen in ihrem Alltag mit der Krebserkrankung ausgelöst wurden. Das macht das Buch nicht nur für HistorikerInnen, sondern auch für Laien oder gar Betroffene zu einer äußerst lohnenswerten Lektüre. Pierre Pfütsch, Stuttgart

Klett-Cotta, Stuttgart 2020, 540 S., 28 Euro

Kathy L. Kain, Stephen J. Terrell

Bindung, Regulation und Resilienz Körperorientierte Therapie des Entwicklungstraumas

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athy Kain und Stephen Terrell sind erfahrene Traumatherapeuten und praktizieren auch „Somatic Experiencing“. Gemeinsam haben sie ein Buch über frühkindliche Traumatisierung und den Weg zur Heilung geschrieben, sowohl für die Arbeit mit Kindern als auch mit Erwachsenen. Ihr Ziel ist es, fundiertes Wissen darüber zu vermitteln, wie man Menschen über ihre Entwicklungstraumata hinweghelfen kann, um ihnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. In der ACE-Studie, in der Mitte der 1990er-Jahre Versicherungsdaten von mehr als 17.000 US-AmerikanerInnen bezüglich des Zusammenhangs von belastenden Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, kurz ACEs) und dem Gesundheitszustand im Erwachsenenalter ausgewertet wurden, konnte

nachgewiesen werden, dass frühe Traumata erschreckend weit verbreitet sind. Sie stellen eine häufige Ursache für chronische Erkrankungen und unerklärliche Symptome im Erwachsenenalter dar, weil sie zu einer grundlegenden Dysregulation in der Funktion des autonomen Nervensystems führen. Ein frühes Trauma wird häufig als Resultat chronischer Vernachlässigung oder Misshandlung durch die Bezugspersonen verstanden. Nach Ansicht von Kain und Terrell greift dies allerdings zu kurz: Komplexe Traumafolgen können genauso gut von medizinischen Verfahren, Geburtskomplikationen, katastrophalen Ereignissen oder institutionellen Versäumnissen herrühren. Das Buch lässt sich grob in drei Teile gliedern: Im ersten wird sehr anschaulich beschrieben, wie die Eckpfeiler einer gesunden Entwicklung entstehen: durch Bindung, Regulation sowie die Wahrnehmung von Geborgenheit und Sicherheit. Eine zentrale Rolle spielt hier die Regulation. In den ersten Jahren ist die Entwicklung des Kindes ausgerichtet auf eine einfühlsame und zuverlässige Co-Regulation: Der Erwachsene muss dem Kind helfen, seine Erregungszustände, seine Gefühle und sein Verhalten zu regulieren und grundlegende Bedürfnisse zu erfüllen. Hierdurch wird das grundlegende Fundament für die gesamte weitere Entwicklung des Kindes in allen Bereichen gelegt. Im zweiten Teil geht es darum, was passiert, wenn „es nicht glatt läuft“ – also wie Traumatisierungen in der frühen Kindheit entstehen, welche Auswirkungen und Langzeitfolgen sie haben und welche kompensatorischen Anpassungsmechanismen Betroffene entwickeln. Besonders viel Zeit verwenden die AutorInnen darauf, sehr sorgfältig auch die somatischen und neurophysiologischen Auswirkungen aufzuschlüsseln. Dabei beziehen sie sich vor allem auf die Polyvagaltheorie von Stephen Porges – ein ganzes Kapitel befasst sich mit den neuronalen Plattformen für Regulation und Verbundenheit und den tief greifenden Veränderungen, die hier durch Traumatisierungen in der frühen Kindheit entstehen. Im dritten Teil schließlich geht es um Vorgehensweisen bei der Arbeit mit Entwicklungstraumata. Deren Kern fassen die AutorInnen mit einem Zitat der Psychologin Ann Bigelow zusammen: „Hauptsache, man gibt ihnen das, was sie nicht bekommen haben.“ Im Dr. med. Mabuse 247 · September / Oktober 2020


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Mittelpunkt steht eine therapeutisch unterstützte Regulation, die die Arbeit mit dem Körper einbezieht. Hierfür bieten sie eine Fülle von Gesichtspunkten und Strategien an. Kain und Terrell gelingt es in ihrem Buch, neue Erkenntnisse und neues Wissen aus unterschiedlichen Bereichen (Bindungstheorie, Polyvagaltheorie und andere neurowissenschaftliche Ansätze, Traumaforschung, Somatic Experiencing und Entwicklungspsychologie) zu einer Landkarte zusammenzufügen, die eine wertvolle Navigationshilfe für das Verständnis und die Arbeit mit frühen Traumatisierungen darstellt. Die teilweise sehr komplexen Zusammenhänge sind sorgfältig und anschaulich erklärt und werden mit Praxisbeispielen konkretisiert. Unbedingt lesen! Das Buch wird Ihre Sichtweise auf schwierige Verhaltensweisen grundlegend verändern – egal, ob Sie mit Erwachsenen, mit Kindern mit Entwicklungs- und Verhaltensproblemen oder mit Eltern-Kind-Beziehungen arbeiten. Steffi Reinders-Schmidt, www.reinders-schmidt.de

Junfermann, Paderborn 2020, 248 S., 34 Euro

Maria Beckermann

Wechseljahre – was muss ich wissen, was passt zu mir?

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iele Frauen erleben die Wechseljahre als Zeit des Übergangs und des Wandels. Die körperlichen Veränderungen sind spürbar, hinzu kommen oft emotionale Veränderungen, die Kinder ziehen aus, viele Frauen fühlen das „Empty-Nest-Syndrom“ oder den „Mütterblues“. Oft ist es auch die Lebensphase, in der Tranquilizer, Schlafmittel und Antidepressiva verordnet werden – schnelle Lösungsmittel für die Lösung von der bisherigen Lebensphase. Eine Pharmafirma „dichtete“ einst: „Keine Scheinlösung für Probleme, sondern Lösung für Scheinprobleme.“ Es gab schon immer diskriminierende Begleitkommentare gegenüber Frauen. Frauen holen sich an vielen Stellen Rat und Unterstützung, wenn es um die FraDr. med. Mabuse 247 · September / Oktober 2020

ge geht, welche Möglichkeiten sinnvoll sind, um mit bestimmten Symptomen der Wechseljahre umzugehen – mit Hitzewallungen, depressiven Verstimmungen oder Schlafstörungen, Problemen mit der Sexualität oder anderen gesundheitlichen Beschwerden. Die Frauenärztin Maria Beckermann aus Köln kennt all dies aus ihrer langjährigen Praxis und hat daher ein Buch zu diesem Thema geschrieben. Auf 231 Seiten werden alle Themen angesprochen, die aus ihrer Erfahrung von besonderer Wichtigkeit sind und bei denen es leider auch viele dubiose Angebote gibt, die weit ab von jeder Begründbarkeit, sprich Evidenz, sind. Aber auch bei infrage kommenden Mitteln ist Vorsicht geboten: Nicht alles, was in den Praxen von GynäkologInnen verordnet wird, basiert auf guten Daten und aussagekräftigen Studien, die einen Nutzen für Frauen in den Wechseljahren zeigen. Da schafft Beckermann nun die notwendige Transparenz – sie hat selbst an entsprechenden Leitlinien mitgearbeitet und kennt die Studien und die allgemeine Literatur zu diesem Thema. Es kann daher auch nicht erstaunen, dass die Hormontherapie in den Wechseljahren nach dem umfangreichen Kapitel mit der Überschrift „Gut zu wissen, was ich selbst tun kann“ unter der Überschrift „Gut zu wissen, wie die Medizin helfen kann“ einen breiten Raum im Buch einnimmt. Dabei geht es um Nutzen und Risiken einer Hormontherapie, um die Frage, welche Hormone für die jeweilige Frau die richtigen sind, was Hormone mit Anti-Aging zu tun haben. Die Autorin räumt auch mit dem Mythos auf, dass pflanzliche Hormone aus der Yams-Wurzel als „naturidentisches Östradiol oder Progesteron“ die bessere Alternative zu den synthetisch hergestellten Wirkstoffen seien. Und es wird erläutert, wie die publizierten Zahlen und Daten zu den Risiken einer Hormontherapie verstanden werden sollten und welche unerwünschten Nebenwirkungen vor allem zu beachten sind. Neben den typischen Hormonen werden auch andere Medikamente besprochen, so Tibolon, Clonidin und Psychopharmaka. Das Buch zeigt, dass Frauen nicht weniger Informationen benötigen, sondern andere und verständliche. Insofern bietet es eine Verbraucherinnenfreundliche „Übersetzung“ entsprechender wissenschaftlicher Leitlinien an, die immer wieder von Fragen und Antwor-

Neu im Mabuse-Verlag

Annett Büttner, Pierre Pfütsch (Hrsg.)

Geschichte chirurgischer Assistenzberufe von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart 284 S., 39,95 Euro, 2020 ISBN 978-3-86321-527-9

Sylvia Wagner

Arzneimittelversuche an Heimkindern zwischen 1949 und 1975 243 S., 34,95 Euro, 2020 ISBN 978-3-86321-532-3

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ten in einem gelungenen SprechblasenLayout unterbrochen wird. Beckermann hat eindrucksvoll die Fragen zusammengetragen, die für Frauen in den Wechseljahren relevant sind. Die Antworten können Frauen helfen, sich für oder gegen bestimmte Therapien oder Aktivitäten zu entscheiden. Es ist damit eine Art „Kursbuch“ für eine Lebensphase von Frauen, die auch durch ökonomische Interessen von Herstellern von Arzneiund Nahrungsergänzungsmitteln gekennzeichnet ist. Das Buch sei allen empfohlen, die mit dem Thema „Wechseljahre“ zu tun haben: den Frauen selbst, die sich unabhängigen und neutralen Rat wünschen, den Beratungsstellen, aber auch den ÄrztInnen und ApothekerInnen, die mit dem Buch ein evidenzbasiertes Kompendium über die in Frage kommenden therapeutischen Maßnahmen erhalten. Gerd Glaeske, Bremen

hogrefe, Bern 2020, 232 S., 19,95 Euro

Christina Meyer

Alkoholgenuss im Alter Konsummotive und Risikobewusstsein

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hristina Meyer hat ein interessantes Buch vorgelegt, in welchem sie ein gesellschaftliches Massenphänomen untersucht, das bisher in der Forschung vorrangig aus pathologischer Perspektive betrachtet wurde. Es soll hier aber nicht darum gehen, welche schädlichen Auswirkungen der Konsum von Alkohol – gerade auch im höheren Lebensalter – hat, sondern um die grundsätzliche Bedeutung des Alkoholgenusses aus der Perspektive älterer Menschen. Alkohol ist zwar ein Suchtmittel für den Menschen, ist jedoch auch ein Elixier, das bei vielen kulturellen Entwicklungen eine entscheidende Rolle gespielt hat. Denn wer in der Gruppe trinkt, tut dies aus Gründen der Sicherheit, das sagen uns kulturwissenschaftliche Erkenntnisse. Wir spüren diese Bedeutung bis heute, vielleicht schwingt sie auch nur fernab des Bewusstseins mit, wenn wir wichtige Er-

eignisse mit Sekt, Wein oder Schnaps begießen. Je wichtiger der Anlass, desto exklusiver das alkoholische Getränk, mit dem wir das Belohnungszentrum im Gehirn stimulieren. Seit jeher bringt Alkohol Menschen zusammen. Gemeinsames Trinken schafft Vertrauen – es signalisiert Sicherheit. Was man anbietet und selber mittrinkt, kann nicht vergiftet sein. Um sich dem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven zu nähern, hat sich Christina Meyer für ein qualitatives Forschungsdesign entschieden, das in einem mehrstufigen Vorgehen angelegt ist. Sie orientiert sich dabei vorrangig an Elementen der Grounded Theory, was einen offenen, flexiblen und unvoreingenommenen Zugang zum Forschungsfeld ermöglicht. Als erster Schritt fanden episodische Interviews mit 16 Personen statt, anhand derer eine umfangreiche Ergebnisfülle erzielt werden konnte, die in vier Hauptund zugehörigen Subkategorien präsentiert wird – gelungen ist hier vor allem auch das geschickte Anbringen von erklärenden Ankerbeispielen. Als eines der zentralen Ergebnisse ging aus den Interviews hervor, dass das Trinken von Alkohol oftmals mit einem sozialen Genuss verknüpft wird. Deswegen lag es nahe, als folgenden Forschungsschritt diesen sozialen Aspekt näher zu beleuchten. Das war in Form einer Beobachtungsstudie in Gasthäusern geplant. Dieser Schritt musste aber abgebrochen werden, da aus ethischen Gründen eine offene Beobachtung angestrebt wurde und keine Einwilligung potenzieller TeilnehmerInnen zu erhalten war. Deshalb schien es zielführend, eine Gruppendiskussion durchzuführen; befragt wurden vier Gruppen älterer Menschen, die sich regelmäßig treffen. Die Diskussionen wurden anhand der dokumentarischen Methode ausgewertet, was für die LeserInnen in der Aufbereitung und der Nachvollziehbarkeit etwas gewöhnungsbedürftig ist. Es resultieren aber neun klare Kategorien aus dieser Auswertung, die übersichtlich dargestellt werden. Um die breit angelegten Forschungsergebnisse dieser beiden Schritte zu validieren, wurde zuletzt ein ExpertInnen-Interview gewählt, in welchem vier ExpertInnen die Ergebnisse der vorangegangenen Schritte kommentierten. So ergibt sich ein umfassendes und facettenreiches Bild des Alkoholgenusses im Alter, abseits von allen schädlichen und negativen Auswirkungen. Eine Reihe

persönlicher, sozialer und gesellschaftlicher Faktoren sind mit dem Alkoholkonsum älterer Menschen verbunden. Mit der Pensionierung erhält der Alkoholkonsum eine neue Bedeutung. In Gruppen beeinflusst die soziale Einbindung – gemeint Gruppenkonformität – den individuellen Alkoholkonsum. Ältere Menschen zeigen hinsichtlich ihres Alkoholkonsums eine Ambivalenz zwischen Alkoholgenuss und Risikobewusstsein. Besonders zu würdigen ist das hohe Engagement beim Finden des Zugangs zum Forschungsfeld. Gerade bei Themen, die mit persönlicher Scham besetzt sind, ist es oftmals schwierig, eine ausreichende Anzahl an bereitwilligen Personen zu finden; dies ist hier vorbildlich gelungen. Auch die ausgesprochen kreative und umsichtige Herangehensweise an dieses Thema bereitet beim Lesen Spaß. Und natürlich sind vor allem die Ergebnisse selbst interessant und relevant, da ein soziologisch-gerontologisches Vorgehen hier einen neuen Blickwinkel öffnet, der das Phänomen des Alkoholgenusses im Alter verständlich werden lässt. Martin Pallauf, Tiroler Privatuniversität UMIT

Mabuse, Frankfurt am Main 2020, 224 S., 34,95 Euro

Antje Schrupp

Schwangerwerdenkönnen Essay über Körper, Geschlecht und Politik

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enschen unterscheiden sich darin, ob sie schwanger werden können oder nicht – und diese Unterteilung ist nicht deckungsgleich mit der Geschlechtszuordnung. Denn es gibt Frauen, die noch nicht, nicht mehr oder gar nicht schwanger werden können. Und es gibt zum Beispiel trans* Männer, denen dies möglich ist. Seit 2011 müssen sie sich in Deutschland nicht mehr sterilisieren lassen, um offiziell als männlich anerkannt zu werden. Welchen Erkenntnisgewinn bietet nun dieser Blick aufs Schwangerwerdenkönnen? Die feministisch-christliche Autorin und Bloggerin Antje Schrupp zeigt: Die Dr. med. Mabuse 247 · September / Oktober 2020


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280 Seiten, 22,00 € (D), ISBN 978-3-95803-250-7

vermeintlich banale biologische Tatsache, dass nicht alle Menschen schwanger werden können, bedeutet eine fundamentale „reproduktive Ungleichheit“. Diese Differenz wird jedoch kaum thematisiert, sondern vom Gleichheitsdiskurs verdeckt. Schwangersein lässt sich aber weder gerecht aufteilen wie die Haus- und Erziehungsarbeit noch ist es sozial verhandelbar. Die Zeugung ist noch ein egalitärer Akt – eine Person steuert Sperma bei, eine die Eizelle. Mit dem Beginn der Schwangerschaft ist es damit vorbei. Für die schwangere Person ist die Schwangerschaft eine biologische Tatsache, die sich nicht mit einer anderen Person teilen lässt, die mit körperlichen Veränderungen und gesundheitlichen Risiken einhergeht. „Was in jeder anderen Beziehung möglich ist – ‚to walk away‘, wegzugehen –, ist hier nicht möglich.“ (S. 40) Erst nach der Geburt kann die Person sich wiederum entscheiden, die Elternrolle anzunehmen oder nicht. Mutterschaft zu leben, ist eine sozial geformte Tätigkeit und nicht biologisch bestimmt. Schrupp spricht explizit da von „Frauen“ und nicht von „schwangeren Personen“, wo es um deren gesellschaftliche Wahrnehmung und Benennung als Frauen geht. Ihre Begriffe richten sich also nach dem jeweiligen Kontext und sie erhofft sich, damit freiheitlichere Narrative zu entwickeln. Denn: „Zu sagen, dass ‚Frauen schwanger werden können‘ ist genauso falsch, wie zu sagen, dass ‚Frausein und Schwangerwerdenkönnen nichts miteinander zu tun hat.‘“ (S. 26) Sie befasst sich auch mit dem Schwangerschaftsabbruch. In Deutschland ist es immer noch prinzipiell strafbar, wenn eine schwangere Person nicht gebären, sondern die Schwangerschaft beenden will.

Schwangere „werden nicht als autonome Individuen gesehen, sondern im Schwangersein fließen nach dieser Logik Weiblichkeit und Opferbereitschaft prinzipiell ineinander.“ (S. 38 f.) Die schwangere Person hat ihre Interessen gegen das „Lebensrecht“ des Embryos zurückzustellen. Eine schwangere Person und das in ihr entstehende Wesen sind jedoch „nicht eins, nicht zwei“ – ein werdender Mensch ist gleichzeitig ein Teil des Körpers der schwangeren Person. Ein Embryo ist frühestens nach 22 Schwangerschaftswochen ohne die schwangere Person lebensfähig (und auch dies nur mit hoch technisierter medizinischer Unterstützung). Wieso kann also die schwangere Person nicht selbst über dieses mit ihr verbundene Wesen entscheiden? Die bildliche Darstellung des Embryos ohne diese enge Verbundenheit mit der schwangeren Person ist auch eins der zentralen Motive von Abtreibungsgegnern. Eine solche Darstellung löscht die schwangere Person aus und tut so, als ob sie völlig irrelevant sei. Schrupp befasst sich in weiteren Kapiteln mit der heterosexuellen Matrix, die unsere Gesellschaft bestimmt, mit der (Un-)Möglichkeit sowie den biologischen Bedingungen des Schwangerwerdenkönnens. Sie schreibt über das Patriarchat als Folge der narzisstischen Kränkung des Nicht-Gebären-Könnens, die körperliche Selbstbestimmung schwangerer Menschen, Leihmutterschaft und Reproduktionsmedizin sowie schwangere Männer. Auch wenn vieles nur angerissen wird, ist ihre schwungvolle und gut verständliche Darstellung unbedingt lesenswert. In der Betonung der Biologie der Schwangerschaft geht Schrupp allerdings zu weit, wenn sie sagt, dass in einer Schwangerschaft Körperliches und So-

ziales ineinanderfalle, und etwa schreibt: „Die Beziehung der Schwangeren zu dem Wesen in ihrem Körper ist im Kern eine biologisch-materielle. Kulturtechniken, die für sozial vermittelte Beziehungen gültig sind, sind hier nicht anwendbar.“ (S. 40) Auch diese Beziehung ist aber kulturell geformt – die Medizinhistorikerin Barbara Duden hat etwa dargelegt, wie die Einführung des Ultraschalls sie fundamental verändert hat. Aktuell entstehen (zum Beispiel in Internetforen) immer neue Konventionen der Beschreibung der Beziehung zum ungeborenen Wesen, die unter anderem von der Reproduktionsmedizin geformt werden. Auch die pränatale Bindungsforschung beeinflusst diese Praktiken. Hier hätte ich mir eine differenziertere Analyse gewünscht – die Schrupp an anderer Stelle auch vornimmt, etwa wenn sie mit der Philosophin und Gender-Theoretikerin Judith Butler schreibt, dass alle unsere Zugänge zu biologischen Tatsachen bereits selbst sozial konstruiert sind. Davon unberührt fügt Antje Schrupp der Debatte über den Zusammenhang von Biologie und Geschlecht sowie über Geschlechterrollen mit ihrem Buch eine wichtige Facette hinzu. Denn dass ein Teil der Menschen schwanger werden kann und ein anderer nicht, ist eine biologische Tatsache – was wir als Gesellschaft daraus machen, liegt in unseren Händen. Es besser zu machen als bisher, dafür liefert dieses Buch wichtige Werkzeuge. Sonja Siegert, freie Journalistin, Köln

Ulrike Helmer Verlag, Roßdorf 2019, 192 S., 17 Euro

Der kleine, aber relevante Unterschied Die Geschlechter re agieren auf Krankheiten und Medikamente oft of t verschieden. Lange wurde dieser Fakt ignorier t. Zeit, dass sich das änder t. Die beiden renommierten Ärztinnen Prof of.. Vera Regitz-Zagrosek und Dr. Stefanie Schmid-Altringer erklären anschaulich, warum eine geschlechtersensible Medizin vor allem für Frauen lebenswichtig sein kann. Selbst bei gleicher Krankheit sind Risikofaktoren, Symptome und das Ansprechen auf Medikamente nicht immer identisch. Warum ist das so? Welche medizinischen Unterschiede lassen sich eindeutig belegen? Damit Patientinnen das Wissen der Gendermedizin aktiv einfordern und nutzen können, erhalten sie in diesem Buch praktische Tipps und Informationen an die Hand. www. scorpio-verlag.de

Dr. med. Mabuse 247 · September / Oktober 2020

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LEBEN. LIEBEN. ARBEITEN: SYSTEMISCH BERATEN BERATEN Birgit Seemann, Edgar Bönisch

Das Gumpertz’sche Siechenhaus – ein „Jewish Place“ in Frankfurt am Main Geschichte und Geschichten einer jüdischen Wohlfahrtseinrichtung

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ie beiden wissenschaftlichen MitarbeiterInnen des Projekts „Jüdische Pflegegeschichte“ an der Frankfurt University of Applied Sciences Birgit Seemann und Edgar Bönisch haben mit ihrem Buch ein weiteres Stück vermeintlich verloren gegangener jüdischer Regional- und Pflegegeschichte aufgedeckt. In sieben Kapiteln zeichnen sie anhand von Ortsbeschreibungen und Biografien das Bild eines Ortes vibrierenden jüdischen Lebens, obwohl das Gumpertz’sche Siechenhaus bis 1942 ein Pflegeheim für mittellose jüdische Pflegebedürftige war. Ortskundig und mit offenkundiger Liebe zum Sujet beschreibt Bönisch die Entwicklung der ehemaligen Weinbaugegend zum jüdisch geprägten Viertel um den Röderbergweg. In den folgenden Kapiteln stellt Seemann sowohl die Stifterinnen des Siechenhauses als auch etliche seiner BewohnerInnen vor. Damit setzt sie unter anderem Betty Gumpert (1823–1909) das bis heute ausstehende Denkmal. Das Buch erinnert zudem namentlich an zahlreiche BewohnerInnen des Gumpertz’schen Siechenhaus und die dort beschäftigten Krankenschwestern, die während der Shoah ermordet oder vertrieben wurden oder in ihrer Ausweglosigkeit den Freitod wählten. Der jüngste Bewohner des Siechenhauses, der dem Massenmord zum Opfer fiel, war Aron Geld (1920 –1944). Seine Familie durfte ihn wegen einer Gehbehinderung nicht mit nach Palästina nehmen. Das Siechenhaus bot ihm Zuflucht und die Ausbildung zum Chasan (Kantor und Vorbeter). Er starb in Theresienstadt. Die letzten beiden Kapitel widmen sich der Nachkriegsgeschichte des ehemaligen „Jewish Place“ am Röderbergweg sowie Erinnerungsorten, die heute in Frankfurt am Main auf dieses Stück seiner Stadtgeschichte hinweisen. Zahlreiche Abbildungen und Fotografien visualisieren das Geschriebene. Der methodische Zugang ist in der historischen Pflegeforschung neu und besonders im Hinblick auf weitere verloren Dr. med. Mabuse 248 · November / Dezember 2020

gegangene Geschichte möglicherweise wegweisend: Zunächst steht das (mittlerweile abgerissene und überbaute) Haus im Mittelpunkt. Ausgehend davon entwickelt sich die Geschichte seiner Funktion und daraus die seiner BewohnerInnen. Das Buch wirkt wie eine verschriftlichte Kameraaufnahme aus der Totalen hinein bis in die Zimmer der einzelnen Menschen im Haus. Aus einem Gebäude wird ein „Jewish Place“ und vor allem ein „Jewish Space“. Nach den ersten Seiten hätte ich mir eine Straffung gewünscht; es setzte der Wunsch ein, endlich zum eigentlichen Thema des Buches zu kommen. Sobald man sich jedoch auf den deduktiven Charakter des Buches einlässt, entwickelt es eine geradezu cineastische Wirkung, der man sich auch ohne eigene Verwurzelung in Frankfurt am Main schwer entziehen kann. Das Buch ist ein würdiges Denkmal für das ehemalige Gumpertz’sche Siechenhaus in Frankfurt am Main und ein Gewinn für die historische Pflegeforschung. Dr. Anja Katharina Peters, Evangelische Hochschule Dresden

Je Band € 12,00 D E-Book € 9,99 D

Brandes & Apsel, Frankfurt am Main, 2019, 260 S., 29,90 Euro

Anja Huber

Wert(er)schöpfung: Die Krise des Pflegeberufs

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eit Beginn der Corona-Pandemie wissen wir: Weltweit gehören Pflegekräfte zu den sogenannten systemrelevanten Berufen. Der Applaus für die Pflegenden kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die wichtigste Botschaft aus der Corona-Krise lauten muss, die Misere der Pflege politisch in den Blick zu nehmen und die Situation des Pflegeberufes nachhaltig – nicht nur symbolisch – zu verbessern. Anja Huber ist promovierte Arbeits- und Organisationspsychologin und arbeitet an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. Obwohl ihr Buch vor der aktuellen Pandemie erarbei-

Die Reihe »Leben.Lieben.Arbeiten« bündelt auf jeweils ca. 90 Seiten wertvolles Erfahrungswissen zur systemischen Beratung in verschiedensten Lebens-, Liebes- und Arbeitskontexten – für Beratende wie für Beratungssuchende gleichermaßen. Mehr zur Reihe: vdn.hk/lla


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Buchbesprechungen

tet wurde, ist die Sicht der Autorin brandaktuell, wenn sie einleitend schreibt, dass die Krise des Pflegeberufes nicht nur Auswirkungen auf die eigene Berufsgruppe hat, sondern zu einer Krise für uns alle werden kann. Ein wichtiger Faktor ist die Ökonomisierung der Pflege mit Privatisierung von Kliniken, Personalabbau, systembedingter Überlastung der Pflegenden und mit kürzerer Verweildauer der PatientInnen. Gleichzeitig steigen die komplexen Patientensituationen und die Pflegeintensität. Kosten werden durch Einsparungen bei den pflegerischen Dienstleistungen und beim Personal reduziert. Zudem verlassen viele Pflegende den Beruf und wechseln in andere Berufsfelder. Kurzum: Es besteht ein Personalmangel bei gleichzeitiger Arbeitsverdichtung und sinkender Arbeitszufriedenheit der Pflegenden. Deshalb lautet die zentrale Frage des Buches: Was bedeutet es, wenn Pflegende das Gefühl haben, keine gute Pflege leisten zu können? Die Autorin, die ihre Dissertation in diesem Buch in fünf Schritten praxisorientiert zusammenfasst, beginnt mit der historischen Entwicklung des Pflegeberufes von den frühen Hochkulturen bis heute. Auf diesen 50 Seiten soll ein tieferes Verständnis für die gegenwärtige Situation und die Schwierigkeiten der Pflege verdeutlicht werden. Interessant für die aktuelle Situation der Pandemie sind das späte Mittelalter und die Herausforderungen an die damaligen Gesundheitssysteme durch die großen Epidemien. Die Pest und die zu ihrer Eindämmung geschaffenen Pestverordnungen erinnern stark an heutige Umstände und Beschränkungen. Im zweiten Schritt werden die Ökonomisierung des Gesundheitswesens und die damit verbundenen Auswirkungen auf den Pflegeberuf thematisiert. Hier arbeitet Huber genauer heraus, dass die Arbeitsbelastung und der Personalmangel den Druck bei der Erledigung von Aufgaben erhöhen und es den Pflegenden so nicht möglich ist, gute Pflege zu leisten. Gleichzeitig professionalisiert sich das Berufsfeld und es entstehen weitere Spannungsfelder, wenn es durch eine erhöhte Arbeitsbelastung und steigenden administrativen Aufwand erschwert wird, den Ansprüchen an eine gute Arbeitsqualität gerecht zu werden. In Schritt drei wird mithilfe der Theorie des Soziologen Niklas Luhmann der Zu-

sammenhang zwischen den unter Druck geratenen beruflichen Werten der Pflege und der fortschreitenden Ökonomisierung verdeutlicht. Hier werden Parallelen zwischen den Veränderungen der Gesellschaft und den Veränderungen des Pflegeberufes gezogen. Die Autorin zeigt, dass die Entscheidung, einen helfenden Beruf in unserer ökonomisierten Welt zu ergreifen, nicht mehr vordergründig eine Sache des Herzens, sondern eher eine Frage der Ausbildung und Qualifikation ist. Die Auswirkungen der Krise auf den Pflegeberuf sind das Thema des vierten Schrittes. Für Pflegende spielen u. a. Fürsorge, gegenseitiger Respekt, Patientenorientierung, Interesse am Menschen und Fachkompetenz eine wichtige Rolle. Gerät dieses Berufsethos unter Druck, erschwert dies die Identifikation mit der Arbeit. Unzufriedenheit, emotionale Erschöpfung und Kündigungen sind die Folgen. Monetäre Anreize allein reichen also nicht aus, um Pflegekräfte zum Bleiben zu bewegen, sondern auch ein emotionales und von Wertschätzung geprägtes Umfeld ist notwendig. Wie das gelingen kann, erörtert die Autorin im fünften und letzten Kapitel. Darin werden mögliche Lösungsansätze und Strategien benannt, um dem Notstand der Pflege zu begegnen. Vor allem die Handlungsfelder Personal- und Organisationsentwicklung stehen im Vordergrund. Der vorherige detaillierte Einblick ermöglicht ein tieferes Verständnis dafür, was Pflegende auch mit einem Hochschulabschluss und unter Berücksichtigung von Generationsunterschieden in ihrem Arbeitsalltag benötigen, um nicht schon nach wenigen Berufsjahren zu kündigen. Folgendes Fazit wird in dem Buch gezogen: „Der Wert der Pflege ist bedingt dadurch, wie viel menschliche Zeit dafür verwendet wird. Weil heute die Arbeit, die durch Menschen erbracht wird, wertvoller wird…“ Ein glänzender Abschluss einer intensiven Auseinandersetzung mit der Krise des Pflegeberufes. Es ist wärmstens zu empfehlen, daraus Überlegungen für weitere Arbeiten abzuleiten und Strategien für eine verbesserte Arbeitskultur zu schaffen, um in der Pflege entsprechend ihres Berufsethos ohne Zeitdruck arbeiten zu können. Die Zielsetzung sollte sein, dass sich Personalausstattung, Qualifikation und Entlohnung an der tatsächlichen Komplexität und Verantwortung des Pflegeberufes orientieren.

Das Buch trägt einen hohen Anspruch und kann mit pflegewissenschaftlichem Hintergrund und ausreichend Zeit einen nachhaltigen Denkprozess auslösen. Sabine Kalkhoff, Hamburg

Nomos Verlag, Baden-Baden 2019, 284 S., 54 Euro

Sylvia Wagner

Arzneimittelversuche an Heimkindern von 1949 bis 1975

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ährend des Nationalsozialismus oder in totalitären Regimen wurden Arzneimittel eingesetzt, um politisch und ideologisch definiertes unwertes Leben zu vernichten – und einige ÄrztInnen haben sich an diesen Versuchen beteiligt, weil ihnen die Möglichkeit zur Profilierung geboten wurde. Der Jahrhunderte alte Grundkonsens der Medizin des Nichtschadens wurde in den vergangenen Jahrzehnten vielfach außer Kraft gesetzt. Ein besonders perfides Beispiel dieser Art von Medizin hat Sylvia Wagner in ihrer Dissertationsschrift aufgedeckt. Dabei geht es um Arzneimittelversuche in einer Reihe von Heimen während der 1950er- bis 1970er-Jahre, in denen ‚„übergroße Gruppen von schwierigen, verhaltensauffälligen oder behinderten Kindern (…) von fachlich zumeist gar nicht oder unzureichend qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betreut“ wurden. Der Alltag der „Insassen“ war neben psychischer und physischer Gewalt auch durch medikamentöse Sedierungen geprägt. Dem als auffällig bezeichneten Verhalten der Kinder und Jugendlichen lag nur in seltensten Fällen eine organische Ursache zugrunde, weshalb es auch keine ärztlichen Verordnungen sedierender Medikamente gab. Es ging vielmehr um medikamentöse Disziplinierungsmaßnahmen bei den sogenannten dissozialen Jugendlichen. Betroffen waren „schwererziehbare und verwahrloste“ Kinder und Dr. med. Mabuse 248 · November / Dezember 2020


Jugendliche, wobei sich die Verwahrlosung durch Unordnung, Ungehorsam, Schule schwänzen, Frechheit, Jähzorn, Herumtreiben oder sonstiges Abweichen von der Norm zeigte. Als sexuelle Verwahrlosung galt es bereits, wenn junge Mädchen kurze Röcke trugen. All diese Aspekte konnten Gründe für die Einweisung in ein Heim sein. Die Kinder und Jugendlichen in solchen Heimen waren dann nicht nur dem Betreuungspersonal, sondern vor allem den Ärzten (Ärztinnen waren wohl weniger beteiligt) ausgeliefert, die sie u.a. durch Arzneimitteltherapien kurieren sollten. Und wie Frau Wagner zeigen konnte, haben einige dieser Ärzte die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen für weder ethisch vertretbare noch medizinisch begründbare Arzneimittelversuche ausgenutzt, ohne Aufklärung oder Einwilligung der erziehungsberechtigten Personen: Eingesetzt wurden neben Barbitursäurepräparaten vor allem Neuroleptika, zu Beginn vor allem das Chlorpromazin. Später kamen auch Periciacin, Haloperidol oder auch Pipamperon hinzu. Die Mittel wurden zum Teil in grenzwertig hohen Dosierungen eingesetzt, weit entfernt von den empfohlenen Erwachsenendosierungen, sodass dann sogar die betreffenden pharmazeutischen Hersteller der jeweiligen Psychopharmaka solche „übertriebenen“ Therapieversuche mancher Ärzte kritisierten – interveniert wurde jedoch nicht. Solche Arzneimittelprüfungen fanden vor allem zwischen 1949 und 1975 statt, viele Kinder und Jugendliche erhielten die Mittel über Jahre. Dabei waren extrapyramidalmotorische Störungen als Folgen schon seit den 1950er-Jahren bekannt – das Nichtschaden hatten wohl viele der Ärzte längst aus ihrer Ethik verdrängt. Frau Wagners Buch stellt einen wichtigen Beitrag zu einem Thema dar, zu dem leider bisher viel zu wenig bekannt war. Die Auswertung von vielen Archivunterlagen und einschlägigen Publikationen zeigt, wie wenig und unzureichend Arzneimittelversuche an Kindern und Jugendlichen in Heimen bis zum Jahr 1975 kontrolliert und geregelt waren – einige Ärzte haben offenbar aus niederen Disziplinierungsstrategien die ihnen anvertrauten, angeblich verwahrlosten Kinder und Jugendlichen vor allem mit Neuroleptika über zum Teil lange Zeit ruhiggestellt, sodass sich bei den heute noch leDr. med. Mabuse 248 · November / Dezember 2020

benden Männern und Frauen Spätfolgen zeigen, wie dies einige Fallberichte in der Dissertation von Frau Wagner belegen. Es ist im Übrigen ein untauglicher Versuch, nun statt der Ärzte die mangelnde Aufsicht und Verantwortung der Heime bzw. die seinerzeit politischen Rahmenbedingungen für die Einweisung der Kinder und Jugendlichen als Ursache für die durchgeführten Menschenversuche heranzuziehen – schließlich haben letztlich immer die Ärzte über die Auswahl, Dosierung und Dauer der Arzneimitteltherapie entschieden. Das Buch von Frau Wagner hinterlässt nach dem Lesen Bestürzung und Wut. Es ist schwer nachvollziehbar, wieso unmittelbar nach einer Zeit der menschenunwürdigen Medizin während des Faschismus und nach der Errichtung der demokratischen Bundesrepublik auf der Basis eines Grundgesetzes, das allen BürgerInnen in Artikel 2 die körperliche Unversehrtheit garantiert, individuelle Arzneimittelversuche durchgeführt wurden, die weder ethische Aspekte noch den Schutz der Menschen beachteten. Es ist Frau Wagner zu verdanken, dass diese Vergangenheit aufgedeckt wurde und damit auch den geschädigten Menschen die Möglichkeit geboten wird, ihr erlittenes psychisches und physisches Leid öffentlich zu machen. Wir müssen die Vergangenheit aufarbeiten, um solche Vorkommnisse in der Gegenwart und in der Zukunft frühzeitig zu erkennen und zu verhindern. Das Buch von Frau Wagner bietet hierfür eine gute Möglichkeit, es sei daher allen dringend zum Lesen empfohlen, die mit Medizin und Arzneimitteltherapie zu tun haben. Gerd Glaeske, Bremen

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Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2020, 243 S., 34,95 Euro

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Buchbesprechungen

Steven Taylor

Die Pandemie als psychologische Herausforderung Ansätze für ein psychosoziales Krisenmanagement

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ie Zeitwahl des Verlages war Zufall, hätte aber besser nicht sein können. Gerade hatte COVID-19 begonnen, die Welt in Atem zu halten, da erschien das Buch von Steven Taylors über Pandemien auf Deutsch. Während alle wie gebannt auf Infektionszahlen starrten und sich mit Intensivstationen, Beatmungsgeräten und den unsicheren Aussichten auf eine Impfung beschäftigten, konzentriert sich der kanadische Psychologieprofessor schon länger auf einen Aspekt von Pandemien, der bei uns keineswegs sofort ins Blickfeld kam: die menschliche Psyche. Wie wir die Pandemie überstehen, entscheidet sich an mehr als – heute – dem Coronavirus oder gesundheitspolitischen Fragen. Es entscheidet sich auch daran, wie Menschen psychisch damit zurechtkommen, dass sie zwei widersprüchlichen Gefahren ausgesetzt sind – der nicht greifbaren durch ein Virus und der sehr greifbaren ökonomisch-sozialen – und außerdem der Tatsache, dass sie es weniger als sonst in der Hand haben, wie sich ihr Leben verändert. Pandemien gab es immer wieder, am wahrscheinlichsten werden sie, wie Taylor schreibt, durch veränderte Grippeviren verursacht, gegen die noch niemand immun ist. Verheerendstes Beispiel: die Spanische Grippe 1918 mit 50 Millionen Toten weltweit. Jetzt haben wir mit COVID19 den selteneren Fall: Das auslösende Coronavirus stammt von Wildtieren wie auch bei Ebola oder HIV. Eine neue Seuche wird zur Pandemie, wenn sie sich schnell weltweit verbreitet, weil die Viren durch Atem oder Aerosole von Mensch zu Mensch überspringen, wenn es keine geeigneten Medikamente gibt und höchstens auf längere Sicht eine Impfung. Pandemie-Maßnahmen sind immer gleich: Hände waschen, Abstand halten, Masken tragen, Menschengruppen verkleinern, Schulen und Betriebe, Kultur und Sport und vieles andere mehr oder weniger einschränken. Damit greift die Politik erheblich mehr in das Leben ein, als man das normalerweise in einer De-

mokratie akzeptiert. Gleichzeitig ist die Basis für ihre Entscheidungen sehr allgemein und ziemlich unsicher. So etwas mögen die allermeisten Menschen generell nicht. Ihre Reaktionen sind dennoch unterschiedlich, und das ist Psychologie. Die einen bekommen Angst – vor Ansteckung, Verarmung oder Spritzen. Andere bagatellisieren, rechnen falsch oder sehen sich vor die brutale Wahl zwischen Essen und Ansteckung gestellt. Wieder andere halten die Pandemie für eine Erfindung, die normale Menschen knechten, ausrotten oder ausbeuten soll und von bösen Mächt(ig)en in die Welt gesetzt wurde, wahlweise wirklich oder als Fake. Sehr viele aber sind einfach nur überfordert, fühlen sich vergessen, allein gelassen oder der Armut anheimgegeben; sie verlieren Zuversicht und Lebensfreude, einige werden darüber psychisch krank. Über all das wird schon lange geforscht, und darüber berichtet Taylor in diesem Buch in zwölf Kapiteln, samt Beispielen aus früheren Seuchen: über Ängste und Stress, Verschwörungstheorien und Stigmatisierung, Hygiene und Social Distancing, Impfen und Gruppendruck, darüber, wer mehr wozu neigt, und darüber, was das psychische Leid der Leute verringert. Zu Beginn gibt es nur eins, was das Virus begrenzen und das Gesundheitssystem vor Überlastung schützen kann: Verhaltensänderungen. Doch das funktioniert nur, wenn möglichst viele mitmachen, und zwar aus Einsicht. Dafür braucht man eine hochprofessionelle Krisenkommunikation, die offen und transparent ist, Unwissen und Unsicherheiten zugibt, jede Aktion begründet und Perspektiven aufzeigt. Die Politik hätte früher Taylor lesen sollen. Dr. Barbara Knab, Wissenschaftsautorin und Psychologische Psychotherapeutin in München, https://barbara-knab.de

Manfred Schulz

Notfälle Begegnungen eines Arztes im Einsatz

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in junges Mädchen stürzt in den Tod, weil es so glücklich ist. Ein Mann, der seine Frau ins Krankenhaus schicken will, wird von der Polizei festgenommen. Faszinierend, tragisch und berührend sind die Begegnungen, die der Arzt und Autor Manfred Schulz in seinem Buch „Notfälle“ schildert. Er berichtet in kurzen Erzählungen von seiner Arbeit im ärztlichen Bereitschaftsdienst. Wer jetzt allerdings Beschreibungen von medizinisch spektakulären Einsätzen erwartet, wird wahrscheinlich enttäuscht sein. Der Autor liebt die leisen Töne. Es gelingt ihm, die Atmosphäre eines Krankenbesuchs mit Worten einzufangen, dass man das Gefühl bekommt, dabei gewesen zu sein: Wenn sich die alte Dame mühsam aus dem Bett quält, den Arzt bei der Hand fasst und mit ihm gemeinsam ins Wohnzimmer geht, um dort ein Geständnis abzulegen, dann ist das nicht weniger aufregend als ein Rettungsdiensteinsatz mit Reanimation. Oft geht es in seinen Geschichten auch um Leben und Tod – und doch sind es ganz andere Geschichten. Nicht das Medizinische steht im Vordergrund. Er erzählt vor allen Dingen von den Unwägbarkeiten des Lebens. Heute ist in der Presse ständig von Vielfalt die Rede. In seinem Buch nimmt uns der Autor mit zu den Menschen und ihren Lebenssituationen, die vielfältiger nicht sein könnten. Hans Wagner, Weilrod

Charles Verlag, Hamburg 2020, 148 S., 14 Euro

Psychosozial, Gießen 2020, 185 S., 19,90 Euro

Dr. med. Mabuse 248 · November / Dezember 2020


Buchbesprechungen

Sonja Eismann, Amelie Persson

Wie siehst du denn aus? Warum es normal nicht gibt

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esonders oder normal – was ist besser? So beginnt das Bilderbuch von Sonja Eismann, der Mitbegründerin und -herausgeberin des Missy Magazines. Das ist schon mal eine Frage, die sich gar nicht leicht beantworten lässt. Einerseits wollen wir – natürlich positiv – aus der Masse herausstechen. Andererseits wollen wir nicht von der Norm abweichen und auffallen. Aber was ist das denn überhaupt, „normal“? Alles eine Frage der Sichtweise: Beispielsweise hat jede Frau Achselhaare, dennoch gilt es (zumindest derzeit) als komisch, wenn buschige Haare unter den Armen hervorgucken. Ein weiteres Beispiel: Es gibt gar nicht mal so viele blonde, blauäugige Menschen auf der Welt und dennoch wird dieser Phänotyp häufig als normal angesehen. Auf dieses Missverhältnis und seinen Ursprung stößt das Buch durch einfache Fragen und Fakten. Denn wir denken viel über Körper nach, den eigenen, fremde, deren Vergleich. Wir werden bombadiert mit Bildern von Körpern, egal ob es um Werbung für Dessous oder PC-Technik geht, um Zeitschriften, Spielfilme oder Netflix-Serien. Doch diese

Körper sind perfekt oder zumindest nahe am Idealbild, sie sind häufig mit viel Aufwand in Form gebracht, aufwendig gephotoshopt, schönheitsoperiert oder gleich gezeichnet. Sie festigen unsere Erwartung an unseren eigenen Körper und den anderer. Es gibt trotz der großen Fülle an Eindrücken im Endeffekt wenig Varianz und Abwechslung, wenig Ungebändigtes, Asymmetrisches, Fleckiges, Hängendes ... Eigentlich sind unsere Körper jedoch ganz unterschiedlich – aber wir sehen sie selten, so ganz ohne Filter. Darum macht das Buch sich zur Aufgabe, Körper und Körperteile in all ihrer Vielfalt sichtbar zu machen. Jedes „Kapitel“ beschäigt sich auf zwei Doppelseiten mit einem Körperteil, das in vielfacher Ausführung in warmen Aquarellillustrationen von Amelie Persson dargestellt wird. Nebenbei gibt es lesenswerte Informationen rund ums jeweilige Thema. Von spannenden Fakten aus Biologie, Medizin oder auch Geschichte bis hin zu Reflexionsanregungen über Kultur und Gesellscha wird es nie langweilig, wenn man durchs Buch blättert. Wussten Sie etwa, dass man zwar 200 bis 300 obere Wimpern, aber nur etwa 100 untere besitzt? Dass die Form der Nase den Klang der Stimme bestimmt? Dass ein israelischer Arzt 36 verschiedene Ohrenformen nach-

gewiesen hat? Oder dass in einem Crossover-Projekt aus Kunst und Wissenscha Käse aus Bauchnabelbakterien hergestellt wurde? Dieses bunte Buch, das trotz der kindlichen Aufmachung mindestens genauso für Erwachsene geeignet ist, macht gute Laune und rückt die Perspektive zurecht. Stereotypen und Diskriminierungen wird in Bild und Text entgegengewirkt, Fakten und Fragen werden leicht verständlich formuliert und regen zum Weiterdenken an. Auch der immerwährende Wunsch, etwas anderes zu haben als man hat – „Warum sind meine Haare bloß nicht lockig?“ – bekommt Platz in diesem Buch. Am Ende darf man „überrascht, belustigt, schockiert oder auch erleichtert“ sein. Eine Kaufempfehlung für kleine und große Neugierige und für alle, die eingefahrene Rollenverständnisse und anderen Mist in dieser Gesellschaft aufbrechen wollen! Franziska Brugger, Psychologin und Lektorin, Göttingen

Beltz, Weinheim/Basel 2020, 90 S., 14,95 Euro

Leseprobe aus Eismann und Persson: Wie siehst du denn aus? ISBN 978-3-407-75564-3, © Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel

Dr. med. Mabuse 248 · November / Dezember 2020

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