ruanda_2014

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RUANDA



RUANDA DUMMY



Nach dem Zusammenbruch des Staats der Massenmรถrder fluchten dessen Regierung, Armee und Milizen aus dem Land und treiben Hunderttausende von Hutu als Faustpfand nach Zaire (Demokratische Republik Kongo) und Tansania.

Foto: Auf der Flucht nach Goma, Gisenyi, Ruanda, 1994

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Eine überlebende Tutsi-Frau aus Nyamata

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Eine überlebende Tutsi-Frau aus Nyamata berichtet von Jean Hatzfeld

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An dem Tag, als das Flugzeug abstürzte, durften die Tutsi, die im Stadtzentrum wohnten, nicht mehr hinaus. Viele hatten hinter den festen Mauern unseres Hauses Schutz gesucht. Léonard, mein Mann, hatte in seiner Jugend schon mehrere Massaker erlebt. Ihm war klar, dass die Lage sehr ernst war, und er riet den Jüngeren zu flüchten. Er selbst wollte nicht mehr fliehen. Er sagte, seine Beine hätten das schon zu oft getan. Am Morgen des 11. April, dem ersten Tag der Massaker, erschienen die Interahamwe mit grossem Lärm vor unserem Tor. Léonard nahm den Schlüssel, um ihnen rasch aufzumachen, weil er glaubte, wenigstens die Kinder und die Frauen retten zu können. Ein Soldat schoss ihn nieder, bevor er auch nur ein Wort sagen konnte. Die Interahamwe strömten massenhaft in den Hof, packten alle Kinder, deren sie habhaft werden konnten, stellten sie in Reihen auf, warfen sie auf den Boden und begannen, sie in Stücke zu hacken. Sie

töteten sogar einen Hutu-Jungen, den Sohn eines Oberst, der sich dort mit seinen Freunden herumtrieb. Ich konnte mit meiner Schwiegermutter hinter das Haus laufen, und wir versteckten uns hinter einem Stapel Autoreifen. Die Killer hörten vorzeitig mit dem Morden auf, weil sie es eilig hatten, sich ans Plündern zu machen. Wir hörten, wie sie in die Autos und Kleinlaster stiegen, Kästen Bier einluden, sich um Möbel oder anderes stritten und unter den Matratzen nach Geld suchten. Am Abend verliess meine Schwiegermutter ihr Versteck und setzte sich vor den Reifenstapel. Junge Leute kamen und fragten sie: «Was tust du hier, Mutter?» Sie sagte: «Ich tue gar nichts mehr, weil ich jetzt allein bin.» Da schnitten sie ihr die Kehle durch. Dann nahmen sie alles mit, was noch in den Zimmern war. Schliesslich legten sie Feuer, darum haben sie mich vergessen.

In 100 Tagen werden 800 000 Menschen hingeschlachtet – Tausende von ihnen in Schulen oder Kirchen, wo sie sich in Sicherheit zu bringen suchen. Der Geruch des Todes durchzieht das ganze Land.


Im Hof war noch ein Kind, das nicht getötet worden war. Ich stellte eine Leiter an die Mauer, stieg mit dem Kind hinauf und sprang in den Hof meines Nachbarn Florient hinunter. Der Hof war leer. Ich versteckte das Kind im Brennholzstapel und verkroch mich in der Hundehütte. Am dritten Morgen hörte ich Schritte. Es war mein Nachbar, und ich kroch hervor. Mein Nachbar rief: «Marie-Lousie, sie haben alle in der Stadt umgebracht, dein Haus ist niedergebrannt, und du bist hier? Was kann ich für dich tun?» Ich sagte ihm: «Florient, tu mir den Gefallen und töte mich. Aber liefere mich nicht den Interahamwe aus, die werden mich ausziehen und mich in Stücke hacken.» Dieser Herr Florient war ein Hutu. Er war Chef des militärischen Geheimdienstes in der Region Bugesera, aber er hatte sein Haus auf unserem Land gebaut, und vor dem Krieg hatte man sich freundlich miteinander unterhalten, die guten Augenblicke miteinander geteilt, und unsere Kinder hatten miteinander gespielt, ohne einen Unterschied zu machen. Er schloss nun das Kind und mich in seinem Haus ein, gab uns etwas zu Essen und ging weg. Am nächsten Tag sagte er zu mir: «Marie-Louise, in der Stadt identifizieren sie die Leichen, dein Gesicht haben sie nicht gefunden, sie suchen nach dir. Du musst hier weg, denn wenn sie dich hier finden, werden sie mich hinrichten.»

In der Nacht brachte er uns zu einer Hutu-Bekannten, die mehrere Tutsi aus ihrem Bekanntenkreis bei sich versteckte. Eines Tages klopften die Interahamwa an die Tür, um das Haus zu durchsuchen. Die Dame redete mit ihnen, kam zurück und sagte: «Hat jemand etwas Geld bei sich?» Ich gab ihr ein Bündel Scheine, das ich bei mir trug. Sie nahm eine kleine Summe, ging zu den Interahamwe zurück, und sie machten sich davon. Jeden Tag begannen die Verhandlungen von neuem, und die Frau wurde sehr nervös. Eines Tages sagte Herr Florient zu mir: «Marie-Louise, die jungen Leute suchen in der ganzen Stadt nach dir, du musst hier weg.» Ich sagte ihm: «Florient, du hast die Mittel dazu, töte mich, ich will in einem Haus sterben. Liefere mich nicht den Interahamwe aus.» Er sagte: «Ich werde doch nicht die Freundin meiner Frau umbringen. Wenn ich ein Fahrzeug finde, hättest du Geld, um es zu bezahlen?» Ich gab ihm die Rolle Geldscheine, er zählte nach und sagte: «Das sollte genügen.» Er kam zurück und sagte mir: «Sie werden dich in einem Sack verstecken und in den Wald fahren, dann kannst du fliehen.» Und dann fragte er mich: «Die Interahamwe haben dein Haus geplündert, die Soldaten bekommen Geld, aber ich rette dich und gehe leer aus. Ist das normal?» Darauf sagte ich ihm: «Florient, ich habe zwei Häuser in Kigali. Nimm sie! Auch den Laden überlasse ich dir. Ich gebe dir schriftlich, dass ich dir alles überschreibe. Aber ich möchte, dass du mich nach Burundi begleitest.»

Claudine lebt noch. Eine Gruppe von Hutu war uber sie und ihre Familie hergefallen, hatte die Eltern und funf Geschwister ermordet und sie als tot zuruckgelassen. Der Machetenhieb, der ihr den Kopf abtrennen sollte, traf ihr Gesicht. Das vierjährige Tutsi-Kind, das zum Opfer eines gegen ihr Volk gerichteten Ausrottungskrieges werden sollte, wurde gerettet. .

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Wir fuhren los. Ich lag in dem Militärlastwagen zwischen dem Fahrer und Florient. Zunächst blieb ich eine Weile in seinem Haus in der Kaserne von Gako. Ich war in einem Zimmer eingeschlossen. Wenn alle schliefen, kam jemand und brachte mir etwa zu Essen. Ich besass nur noch ein Hüfttuch. Das ging mehrere Wochen so, ich weiss nicht mehr wie lange. Eines Nachts kam ein Freund von Florient. Er sagte: «Die Inkotanyi [die Rebellen der Patriotischen Front] sind auf dem Vormarsch, wir müssen die Kaserne evakuieren. Es ist zu gefährlich, dich hier zu lassen, ich muss dich mitnehmen.» Er liess mich in einen Lastwagen steigen, der Säcke an die Front brachte. Wir fuhren los, alle Schlagbäume hoben sich, wenn wir näher kamen, und wir fuhren in einen dunklen Wald hinein. Unter den Bäumen hielt der Fahrer an. Ich zitterte und sagte zu ihm: «Gut, ich habe nichts mehr. Jetzt bin ich an der Reihe zu sterben. Wenn es nicht zu lange dauert, geht es.» Er erwiderte: »Marie-Louise, ich werde dich nicht umbringen, denn ich arbeite für Florient. Geh immer geradeaus und halte nicht an! Wenn der Wald zu Ende ist, bist du an der Grenze nach Burundi und in Freiheit.» Ich lief, ich fiel hin, ich kroch auf allen Vieren. Als ich an die Grenze kam, hörte ich im Dunkeln Stimmen, und ich schlief ein. Später holte ein burundischer Geschäftspartner meines Mannes mich mit einem Wagen in einem Flüchtlingslager ab. Als er mich sah, erkannte er mich nicht wieder. Er wollte gar nicht glauben, dass ich Léonards Frau war. Ich hatte zwanzig Kilo verloren, trug

nur ein Hüfttuch aus Sackleinen, meine Füsse waren geschwollen, der Kopf war voller Läuse. Heute wartet Herr Florient im Gefängnis von Rilima auf seinen Prozess. Er war Offizier. Er ging morgens weg und kam abends zurück mit all den Geschichten vom Morden in der Stadt. Im Flur seines Hauses hatte ich Berge neuer Hacken und Macheten gesehen. Er hat mein Geld ausgegeben und meine Lager geplündert. Trotzdem werde ich vor Gericht nicht gegen ihn aussagen, denn als alle nur ans Morden dachten, hat er ein Leben gerettet. Nach dem Völkermord kehrte ich im Juli nach Nyamata zurück. Keiner von meiner Familie in Mugesera hat überlebt, keiner von meiner Familie in Nyamata hat überlebt, die Nachbarn sind tot, die Lager geplündert, die Autos gestohlen. Ich hatte alles verloren, das Leben war mir gleichgültig. In Nyamata sah es traurig aus, alle Dächer, Fenster und Türen waren weggeschafft worden. Aber vor allem schien die Zeit in der Stadt zerbrochen zu sein. Es war, als wäre sie für immer stehen geblieben oder als wäre sie im Gegenteil während unserer Abwesenheit zu schnell verflossen. Damit meine ich, man wusste nicht mehr, wann das alles begonnen hatte, wie viele Nächte und Tage es gedauert hatte, in welcher Jahreszeit wir waren. Und am Ende war es einem wirklich vollkommen egal. Die Kinder fingen im Busch ein paar Hühner ein; wir hatten wieder


etwas Fleisch zu Essen, machten uns ans Reparieren und versuchten, wenigstens ein paar Gewohnheiten wiederzufinden. Wir waren nun ganz mit dem Heute beschäftigt und verbrachten den Tag mit der Suche nach einem Freund, mit dem man die Nacht verbringen konnte, damit man nicht Gefahr lief, sich in einem Alptraum zu verlieren und darin zu sterben.

schlägt niemand Kinder reihenweise in einem Hof mit Macheten tot. Ich glaube nicht an diese Geschichte von Schönheit und Minderwertigkeitsgefühlen. Auf dem Land waren Hutu- und TutsiFrauen gleichermassen verschmutzt und verunstaltet von der Feldarbeit; in der Stadt waren die Hutu-Kinder ebenso schön wie die der Tutsi, und auch ihr Lächeln war dasselbe.

Eines Tages brachten Freunde Geld und sagten: «Marie-Louise, nimm das! Du kennst dich mit Geschäften aus, wir nicht. Du musst dein Geschäft wieder aufbauen.» Ich liess im Laden eine Tür einsetzen, das Geschäft begann wieder zu laufen, aber die Hoffnung war nicht mehr da. Früher hatte der Wohlstand mich beflügelt. Léonard und ich machten einen Plan nach dem anderen, es ging uns gut, wir waren beliebt und geachtet. Heute erscheint mir das Leben wie ein einziges Unheil, ich sehe überall kleine und grosse Gefahren. Der Mann, der mich geliebt hat, ist tot, und ich finde niemanden, an den ich mich anlehnen kann.

Die Hutu hatten die Möglichkeit, alle staatlichen Vergünstigungen und alle guten Stellen im Staatsdienst für sich zu monopolisieren, sie fuhren reiche Ernten ein, weil sie sehr gute Bauern waren, sie eröffneten rentable Geschäfte, zumindest im Einzelhandel. Man schloss in gutem Einvernehmen Geschäfte mit ihnen ab, man lieh ihnen Geld. Und sie beschlossen, uns zu töten.

Im Laden erzählen mir die Kunden, wie sie überlebt haben. Abends höre ich Bekannten zu, wenn sie über die Massaker diskutieren. Aber ich verstehe immer noch nichts. Wir haben das Leben mit den Hutu geteilt, man hat sich gegenseitig geholfen, es gab Ehen zwischen Tutsi und Hutu, und plötzlich jagen sie uns wie wilde Tiere. Ich glaube nicht an die Erklärung, dass es Neid war, denn aus Neid

Sie wollten uns so vollständig auslöschen, dass sie in ihrem Wahn bei ihren Plünderungen selbst noch unsere Fotoalben verbrannten, damit es so war, als hätten die Toten nie gelebt. Zur Sicherheit wollten sie die Menschen und ihre Erinnerungsstücke töten oder wenigstens die Erinnerungsstücke, falls sie die Menschen nicht fangen konnten. Sie arbeiteten an unserem Verschwinden und am Verschwinden der Spuren ihrer Arbeit, wenn ich so sagen darf. Heute besitzen viele Überlebende nicht einmal mehr ein Foto ihrer Mutter oder ihrer Kinder, von ihrer Taufe oder ihrer Hochzeit, mit dem sie den Schmerz ihrer Trauer ein wenig lindern könnten.

In manchen Gegenden sind neun von zehn Tutsi umgebracht worden. Ein Hutu von fünf ist zu den Tätern zu zählen. Auch aus deren Gedächtnis lassen sich die Abwesenden nicht wegschaffen.

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Für mich ist klar, dass der Hass des Völkermords allein in der ethnischen Zugehörigkeit begründet liegt und in nichts anderem, weder in Angst noch in Frustration oder dergleichen. Doch der Ursprung dieses Hasses ist mir immer noch ein Rätsel. Aber man sollte nicht die Überlebenden nach den Gründen für den Hass und den Völkermord fragen. Für sie ist es zu schwer, darauf zu antworten. Und die Frage wäre auch rücksichtslos. Es genügt, wenn sie untereinander darüber sprechen. Man sollte vielmehr die Hutu fragen. Manchmal kommen Hutu-Frauen zu mir und suchen Arbeit auf dem Feld. Ich spreche mit ihnen und versuche sie zu fragen, warum sie

uns töten wollten, obwohl sie sich vorher nie beklagt hatten. Aber sie wollen nicht zuhören. Sie sagen immer wieder, dass sie nichts getan und nichts gesehen haben, dass ihre Männer nicht bei den Interahamwe waren, dass der Staat schuld gewesen sei an dem, was geschehen ist. Sie sagen, die Nachbarn seien von den Interahamwe gezwungen worden, und wenn sie sich geweigert hätten, wären sie selbst getötet worden. Und damit begnügen sie sich. Ich sage mir: «Diese Hutu haben ohne zu zögern gemordet, und jetzt wollen sie nicht über die Wahrheit reden, das ist nicht richtig.» Und darum bin ich mir nicht sicher, dass es nicht eines Tages von Neuem beginnt.

Als Mordwerkzeug dienten zum allergrößten Teil Macheten. Emanuell Murangira überlebte trotz einer Kugel im Kopf,er bewacht die Toten, darunter auch seine Familie Exhuminierte Tote, Technikerschule-Murambi bei Gikongoro, Ruanda.




Kinder hinter Gittern, auch sie verdächtigt. – Jugendliche, Erwachsene und Greise – Hunderttausende haben gemordet. In Gefängnissen, die fur zehntausend Insassen konzipiert sind, drängen sich 120 000 Gefangene, die auf ihr Verfahren warten. Bei 15 Urteilen pro Tag wurde die strafrechtliche Bewältigung des Völkermords etwas uber 200 Jahre dauern.

Foto: Des Völkermordes beschuldigter Junge-Häftling im überfüllten Gefängnis von Kigali, 1995

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Autoren: Peter Baumgartner Georg Brunold Jean-Pierre Chrétien AlisonDesForges BettinaGaus Philip Gourevitch Jean Hatzfeld Andrea König Samantha Power Guenay Ulutuncok Herausgeber: Georg Brunold Andrea König Guenay Ulutuncok

ISBN 978-3-9811827-0-5

Nicht nur dem kleinen Land der tausend Hügel haben der Bürgerkrieg und der Genozid von 1994 Tod und Erstarrung gebracht. Die ruandische Katastrophe hat eine ganze Region in den Krieg – man spricht von gestürzt, der im Kongo mehrere Millionen Menschenleben gefordert hat. Dieser grenzübergreifende Konfliktherd – man sprach von „Afrikas erstem Weltkrieg“ – waren es, die so vielen Beobachtern, Diplomaten und Journalisten den Blick dafür getrübt haben, was Ruandas neü Herren nebst ihrer kompromisslosen Suche nach Gerechtigkeit für das Land getan und erreicht haben. Mit ehrgeizigen Visionen einer Zukunft jenseits von ethnischer und ständischer Zerrissenheit und bei äusserst begrenzten Ressourcen lenken sie zwar unübersehbar autoritär, aber auch diszipliniert eine schwer traumatisierte Gesellschaft aus der Starre und haben einen komplexen Auf- und Umbau des Landes in Angriff genommen. Ruanda heute ist ein Projekt, das die Bereitschaft, Flexibilität und Kreativität aller Mitwirkenden erfordert, ein Lernprozess, der seinesgleichen sucht und dessen Chancen nicht mit besserwisserischem Unverständnis vermindert werden sollten.

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