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Vor 30 Jahren: Liechtensteins Weg in den EWR beginnt
Auf der Grundlage von zwei Volksabstimmungen trat Liechtenstein am 1. Mai 1995 dem EWR bei. Am 12. Dezember 1992 votierten 55,8 Prozent der Stimmberechtigten für einen Beitritt. Am 4. April 1995 wurden die EWR-Beitrittsbedingungen mit einer Mehrheit von 55,9 Prozent vom Volk gebilligt. Seither ist Liechtenstein fest in die Europäische Einigung integriert und profitiert von ihr, geniesst aber auch einige Vorteile, die andere europäische Staaten nicht haben.
Die Geschichte des Liechtensteiner EWR-Beitritts könnte Bücher füllen, lässt sich aber auch relativ kurz nacherzählen. Am 6. Dezember 1992 lehnte der liechtensteinische Zollvertragspartner Schweiz eine EWR-Mitgliedschaft in einer Volksabstimmung mit 50,3 Prozent Nein-Stimmen und der Mehrheit der Kantone ab, während Liechtenstein eine Woche später am 13. Dezember 1992 mit 55,8 Prozent zustimmte. Politische Unstimmigkeiten über die Abstimmung hatten für Verstimmungen zwischen Fürst und Regierung gesorgt. Ein Kompromiss löste dieses Problem jedoch.
Da ein Beitritt Liechtensteins zu internationalen Verträgen oder Organisationen, denen die Schweiz nicht angehört, laut Zollanschlussvertrag einer bilateralen Vereinbarung bedarf, trat Liechtenstein erst nach einer Anpassung der Verträge mit der Schweiz und einer zweiten Volksabstimmung über ebendiese vom 9. April 1995 mit einem Ja-Stimmenanteil von 55,9 Prozent am 1. Mai 1995 dem EWR-Abkommen bei. Kernstück der gleichzeitigen Teilnahme Liechtensteins am schweizerischen und europäischen Wirtschaftsraum ist die «parallele Verkehrsfähigkeit» von europäischen und schweizerischen Waren. Für den freien Personenverkehr hat Liechtenstein im EWR eine Sonderlösung erhalten, welche es ermöglicht, die Zuwanderung weiterhin quantitativ zu kontrollieren. «Der EWR ist besonders für Liechtensteins Exportindustrie von grosser Bedeutung und sichert Liechtensteins künftige Teilnahme an der europäischen Integration», heisst es im Historischen Lexikon für das Fürstentum Liechtenstein.
«Der EWR ist ein Erfolgsmodell»
Während der Europäische Wirtschaftsraum Anfang und Mitte der 1990er-Jahre in Liechtenstein noch für emotionale Abstimmungskämpfe sorgte, stösst er heute auf eine breite Akzeptanz. Das kann die Leiterin der Stabsstelle EWR, Andrea Entner-Koch, bestätigen. Der EWR und sein Recht bestimmen ihren Berufsalltag. Gleichzeitig lernt sie dank ihrer Tätigkeit aber auch sehr viel über Fische und Wikinger, wie sie mit einem Augenzwinkern sagt.
Interview: Heribert Beck
Die ersten Verhandlungen um den Liechtensteiner EWRBeitritt liegen 30 Jahre zurück, der Beitritt selbst rund 26 Jahre. Wie profitieren Liechtenstein, seine Bevölkerung und seine Wirtschaft aus heutiger Sicht von der Mitgliedschaft? Andrea Entner-Koch: Ganz kurz gesagt hat Liechtenstein dank seiner EWR-Mitgliedschaft Zugang zu einem fast 500 Millionen Einwohner umfassenden Markt. Die knapp 40’000 Einwohner Liechtensteins haben die gleichen Rechte in Bezug auf die vier Grundfreiheiten des freien Warenverkehrs, freien Personenverkehrs, freien Dienstleistungsverkehrs und freien Kapitalverkehrs. Ausserdem gilt auch für Liechtensteiner Unternehmen das Diskriminierungsverbot. Sie sind also gleichberechtigt mit ihren Mitbewerbern in Europa. Hinzu kommt, dass die Liechtensteiner Bevölkerung von einer Reihe von EU-Programmen im Bildungsbereich profitiert. Das gilt nicht nur für Studenten, wie oft angenommen wird, sondern ebenfalls für junge Leute, die eine Berufsausbildung abgeschlossen haben. Schliesslich ist auch die Teilnahme Liechtensteins an zwei Wirtschaftsräumen inklusive des Schweizer Freihandelsnetzes ein grosser Vorteil für die heimischen Unternehmen. Sie finden eine ideale Ausgangslage vor, und die Situation ist in Europa einmalig. Die Unternehmen wissen diesen Vorteil glücklicherweise auch zu nutzen, und Liechtensteins Wirtschaft ist mit dem Beitritt noch diversifizierter geworden. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Die Versicherungsbranche ist im Land erst nach 1995 wirklich aufgekommen, und Liechtensteiner Wertpapiere können seither in ganz Europa gehandelt werden. So ist Liechtenstein für eine Reihe von Schweizer Banken quasi der «Hub to Europe» geworden. Zur florierenden Wirtschaft trägt ausserdem bei, dass sie dank der Personenfreizügigkeit aus einem grossen Reservoir hochqualifizierter Arbeitskräfte schöpfen kann. Davon wiederum profitiert die gesamte Region.
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Welche Pflichten sind umgekehrt mit der Mitgliedschaft verbunden? Liechtenstein ist zum Beispiel verpflichtet, 12’000 EU-Rechtsakte in nationales Recht zu übertragen und anzuwenden. Zur Zeit von Liechtensteins Beitritt waren es lediglich 1500. Das ist ein nicht zu unterschätzender Aufwand für alle Beteiligten, bietet für ein kleines Land aber auch grosse Vorteile. Dank des EWR brauchen wir keine EU-Äquivalenzentscheide, welche uns Gleichbehandlung im ganzen EU-Binnenmarkt garantieren, mit der Europäischen Union auszuhandeln. Denn Liechtenstein kann keine Marktmacht in die Waagschale werfen, um einen gleichberechtigten Zugang zum EU-Binnenmmarkt zu erhalten. Ich möchte aber auch festhalten, dass Liechtenstein seine Aufgabe gut erledigt. Die ESA kontrolliert die Umsetzung und Anwendung des EWRRechts akribisch, und Liechtenstein ist relativ selten mit Vertragsverletzungsverfahren konfrontiert.
Andrea Entner-Koch, Leiterin der Stabsstelle EWR
Kann es nicht auch ein Nachteil bzw. ein Souveränitätsverlust sein, EU-Recht übernehmen zu müssen? Natürlich kann man das so sehen. Gerade weil die EU im Ruf steht, bei den Regulierungen manchmal über das Ziel hinauszuschiessen. Andererseits bin ich der Ansicht, dass eine Regelung, die für 500 Millionen Europäer in Ordnung ist, auch für Liechtenstein akzeptabel sein sollte. Wenn dies einmal nicht der Fall ist, haben wir aber immer noch die Möglichkeit, Sonder- und Übergangslösungen auszuhandeln. Das beste und bekannteste Beispiel ist der freie Personenverkehr, den Liechtenstein nicht komplett übernehmen musste. Stattdessen konnte bekanntlich die Quotenregelung ausgehandelt werden. Die diesbezügliche Leistung von S.D. Prinz Nikolaus, der das für Liechtenstein äusserst positive Verhandlungsergebnis ermöglicht hat, kann nicht hoch genug geschätzt werden. Auch diese EU-Rechtsmaterie entwickelt sich aber weiter. Der Familiennachzug von Lebenspartnern zum Beispiel musste daher in den vergangenen Jahren erleichtert werden, die Bedingungen dazu sind nun weniger streng. In einer globalisierten Welt kann meines Erachtens ohnehin kein Land, und sicher kein Kleinstaat, alles für sich allein bestimmen. Liechtenstein gibt sich unter diesen Vorzeichen – im nötigen Masse – flexibel und erreicht das Bestmögliche für seine Bevölkerung.
Schätzen Sie, dass sich in absehbarer Zeit fundamentale Veränderungen in Bezug auf den EWR und die Pflichten Liechtensteins einstellen werden? Derzeit ist der EWR ein Dreierclub. Liechtenstein, Island und Norwegen sprechen mit einer Stimme, wobei Liechtenstein das gleiche Gewicht hat wie Norwegen mit seinen rund acht Millionen Einwohnern. Sollte einer unserer Partner in die EU wechseln, würde das den EWR selbstverständlich infrage stellen. Ein neues EWR-Mitglied wäre ebenfalls eine grosse Herausforderung. Derzeit sieht es aber weder so aus, dass ein neues Land dem Abkommen beitritt, noch dass einer von uns dreien den EWR verlässt. Im Zuge von Brexit gab es Spekulationen über die Absichten des Vereinigten Königreichs. Für ein Land, das nicht mehr mit EURecht konfrontiert sein will, ist der EWR aber eventuell nicht die ideale Lösung. Es hat sich in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten jedenfalls gezeigt, dass der EWR kein Wartesaal für den EU-Beitritt ist, wie das teilweise in der EWR-Verhandlungsphase dargestellt wurde. Totgesagte leben bekanntlich länger. (schmunzelt)
Wie erleben Sie die Zusammenarbeit im «Dreierclub» EWR? Alle drei Mitglieder sind sehr diszipliniert und halten ihre Verpflichtungen ein. Auch die Kompromissbereitschaft ist gross. Drei Staaten sind in der Lage, sich zu einigen, Konsense zu finden. Wobei die Kombination Liechtensteins mit den beiden skandinavischen Ländern durchaus interessant ist. Ich erlebe bei den gemeinsamen Sitzungen, dass für einmal wir Liechtensteiner die quirligen, temperamentvollen Südländer sind. Die Isländer und Norweger gehen fast alles mit nordischer Gelassenheit an. Eine Ausnahme sind allerdings Fischereifragen. Seit ich Leiterin der Stabsstelle EWR bin, habe ich unglaublich viel über Fische gelernt. Und über Wikinger. (lacht)
Andrea Entner-Koch, Leiterin Stabsstelle EWR
Bei den beiden Abstimmungen 1992 und 1995 waren jeweils fast 56 Prozent der Stimmberechtigten für den Beitritt zum EWR, aber auch über 44 Prozent dagegen. Wie erleben Sie die Akzeptanz heute? Das Liechtenstein-Institut hat im Jahr 2020 zur 25-jährigen Mitgliedschaft eine Umfrage in der Bevölkerung durchgeführt. Das Ergebnis lautete, dass 84 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner das EWR-Abkommen als gut bewerten. Das ist eine extrem hohe Akzeptanz in der Bevölkerung – und sie freut mich sehr. Es ist aber nicht nur das Volk, das hinter dem EWR steht. Seit 1992 haben alle Regierungen und Landtage den Wirtschaftsraum und die Europapolitik unterstützt.
Wie wird Liechtenstein als Partner wahrgenommen bzw. welche Rückmeldungen erhalten Sie aus Brüssel? Liechtenstein wird sehr dafür gelobt, wie es sich als kleines Land mit einer im Vergleich kleinen Verwaltung als EWR-Mitglied schlägt. Wir werden als verlässlicher Partner akzeptiert und sind auf der politischen Landkarte sichtbar. Liechtenstein wird sogar als Vorbild für andere Kleinstaaten und ihre Anlehnung an Europa herangezogen.
Wie lautet Ihr Fazit? Ist die Mitgliedschaft eine Erfolgsgeschichte? Definitiv! Die hohe Akzeptanz in der Bevölkerung habe ich bereits erwähnt. Der EWR hat für Liechtenstein eine Stärkung der aussenpolitischen Eigenständigkeit gebracht und das Land konnte daher seit 1995 noch mehr an Profil gewinnen. Das Stimmvolk hatte 1992 und 1995 den richtigen «Riecher». Es war aber auch eine äusserst mutige Entscheidung, nach dem Schweizer Nein zu sagen: «Wir trauen uns das zu.» Natürlich müssen wir der Schweiz auch dankbar sein, dass sie es mitträgt, dass Liechtenstein gleichzeitig im EWR und mit ihr im Zollanschlussvertrag verbunden ist. Kurz zusammengefasst ist Liechtenstein ein zufriedenes EWR-Mitglied, das seine Rechte zu nutzen weiss und seine Pflichten gut erfüllt. Die EU wiederum bezeichnet den EWR als Erfolgsmodell und ist zufrieden mit Liechtenstein sowie seinen beiden Partnern Island und Norwegen. Gleichzeitig hoffe ich, dass die Schweiz in der Zusammenarbeit mit der EU nach der Absage an die bilateralen Verträge einen guten Weg findet. Denn eine fruchtbare Koexistenz unserer beiden Partner, der EU und der Schweiz, ist auch in unserem Sinn und Interesse.