GRAUZONE

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grau zone Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiĂ&#x;

Magazin der Wissenschaftsjournalisten an der Hochschule Darmstadt 2012



ed i t o r i a l

Grauzone

– das ist nicht einfach schwarz oder weiß, nicht gut oder böse. Das Gleiche gilt für die Wissenschaft: Neue Erfindungen und Technologien brauchen Rahmenbedingungen, damit sie nicht missbraucht werden. Doch wer schafft diese Rahmenbedingungen? Muss ein Wissenschaftler während seiner Forschungsarbeit schon über mögliche Folgen seiner Ergebnisse nachdenken? Trägt er überhaupt eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft oder ist seine Forschung unabhängig davon? Verantwortung in der Wissenschaft – das klingt erst einmal abstrakt, trocken und irgendwie anstrengend. Auf den zweiten Blick ergeben sich viele spannende Themenfelder, von der Militärforschung bis zu Tierversuchen. Diesen zweiten Blick haben die Studierenden des Wissenschaftsjournalismus der Hochschule Darmstadt ein Semester lang riskiert. Warum gibt es für bestimmte Krankheiten keine Medikamente? Was hat die Wissenschaft mit Zusatzstoffen im Tabak zu tun? Und wer trägt eigentlich die Verantwortung für die Forschungsergebnisse, die zum Bau der Atombombe führten? Wie bringen wir Wissenschaft ans Kind und wie funktionieren Medikamente für Kinder? Unsere Autoren recherchieren, hinterfragen und zeigen verschiedene Aspekte der Verantwortung in wissenschaftlichen Disziplinen auf. Projektpartner ist die »Vereinigung deutscher Wissenschaftler«, die nicht nur den Druck finanzierten, sondern sich auch unseren Fragen stellten: Im Gespräch mit Ulrich Bartosch und Reiner Braun geht es um Themen wie Nachhaltigkeit und den Sinn und Unsinn von Forschungsgeldern. Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre, Christina Ress, Tabea Osthues

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

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inh alt

6 Verkehrte Welt

ilderstrecke B Wir verschwenden hemmungslos, was Andere zum Überleben brauchen.

Verantwortungsentwicklung Wie wir lernen, zu unseren Handlungen zu stehen und ihre Folgen abzuschätzen.

12 Ein lebenslanger Prozess

© Iris Küppers-Krauß

16 Wissenschaft macht Spaß Kinder als Forscher Lernen Kinder durch Experimente Na- turwissenschaften kennen und verstehen?

20 Studieren geht über probieren Forschung an Kindern Passende Medikamente für Kinder sind rar. Klinische Studien können das ändern. Einige Bedenken bleiben dennoch.

24 »Sie lieben es, mich zu hassen« Interview: Zusatzstoffe in Zigaretten Martina Pötschke-Langer über ihren jah- relangen Kampf gegen die Tabakindustrie.

28 Eine Hand wäscht die andere? Politikberatung Wie Wissenschaftler politische Entschei- dungen beeinflussen. Oder auch nicht.

© Ina Hübener

32 Es lebe die Geldverschwendung Kommentar: Geld und Forschung Grundlagenforschung und wirtschaftliche Interessen lassen sich nicht vereinbaren.

34 Gewissen verbindet Interview: Lobbyarbeit Bei unserem Geldgeber nachgebohrt: Reiner Braun und Ulrich Bartosch von der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler im Gespräch.

38 Der radioaktive Elfenbeinturm Kernkraftforschung im Konflikt Fortschritt als Ziel, Zerstörung das Ergeb nis. Wie aus einer vielversprechenden Strahlung die Atombombe wurde.

© Michael Greiner

40 Kompromisse nach dem GAU Interview: Arbeit einer Ethikkommission Volker Hauff über teils chaotische Diskus- sionen beim Atommoratorium.


42 Forschung im Badezimmer Glosse: Pseudowissenschaft Faltenfreie Zukunft – von Märchen und Wundern der Kosmetikindustrie.

44 Neutral gibt es nicht

ierversuche T Wieso trotz aller Alternativen immer noch an Tieren geforscht wird.

46 Fabelwesen aus dem Labor

50 Heilung nicht von Interesse

Pharmaforschung Seltene Krankheiten betreffen wenige Menschen – zu wenige für die Pharmaindustrie.

© Adrian Wagner

Pro und Contra: Chimären Brauchen wir Mischwesen für die For- schung oder gehen wir damit zu weit?

54 Wer haftet für das Wetter? Launische Natur Regen, Hagel, Sturm: Wenn Festivals tödlich enden, ist es schwer, den Schuldigen zu finden.

60 Im Labor an der Front

64 Wissen aus dem Untergrund? Kurzinterviews: Wofür sie forschen Warum jede Wissenschaftsdisziplin verantwortlich für ihre Ergebnisse ist.

© fotolia: valdezrl

Militärforschung Darf an deutschen Hochschulen für den Krieg geforscht werden?

68 Hype ohne Zukunft Elektromobilität Strom statt Benzin. Was verlockend klingt, scheitert an einem wichtigen Roh- stoff: Lithium.

70 Wer fährt denn hier? Autonomes Fahren Wenn PKWs sich selbst lenken, ist unklar, wer bei einem Unfall haften muss.

73 Impressum 74 Letzte Seite

© Francesco Mocellin

63 Editorial


Verkehrte Welt

© fotolia: joda

Wir verfüttern Essen an Tiere und füllen Lebensmittel in unsere Tanks. Da läuft etwas falsch.

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Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiĂ&#x;

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© fotolia: Miredi © Harald Lange

37 Millionen Tonnen Getreide werden pro Jahr in Deutschland geerntet. Für die Produktion von Bioethanol wurden

2010 über 1,3 Millionen Tonnen Getreide verwendet – knapp 4 Prozent.

2,6 Kilogramm Getreide benötigt man, um 1 Liter Bioethanol herzustellen. An der Tankstelle kauft man dann E10: 8

10 Prozent Biotreibstoff, 90 Prozent Benzin. 10 Liter E10 enthalten 1 Liter Bioethanol.

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© flickr.com: Nathan Colquhoun

10 Liter Treibstoff reichen im Durchschnitt für 150 Kilometer. Das entspricht der Strecke von Magdeburg nach Berlin – oder dem, was eine kleine Familie täglich an Getreide benötigt, um zu überleben.

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© 4freephotos.com: alegri

900 Gramm Getreide reichen, um einen Menschen einen Tag lang zu ernähren. Mit dem Getreide, aus dem in Deutschland Bioethanol

hergestellt wird, könnten 4 Millionen Menschen ein Jahr lang leben.


© Iris Küppers-Krauß © Christopher Stumm

747 Millionen Tiere werden jährlich in Deutschland geschlachtet. Davon sind Hühner. Durchschnittlich 1094 Tiere isst jeder Deutsche in seinem Leben.

3,5 Millionen Rinder, 59 Millionen Schweine und 618 Millionen

Um ein Kilo Rindfleisch herzustellen, braucht man 15.000 Liter Wasser und 10 Kilogramm Getreide. Ein Burger mit Pommes und Salat benötigt eine Anbaufläche von 3,61 Quadratmetern, Nudeln mit Tomatensauce dagegen nur 0,46 Quadratmeter.

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© fotolia: Tobias Müller

Ländern. Ein Gebiet fast

so groß wie Brandenburg.

Die Viehwirtschaft ist für fast ein Fünftel der globalen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. 12 Kilogramm Rindfleisch essen wir pro Kopf und pro Jahr – das entspricht einem Kohlendioxidausstoß von rund 430 Kilogramm. Etwa so viel wie ein Flug von Berlin nach Mallorca.

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© Mareike Heups

Auf weltweit 2,6 Millionen Hektar Landflächen wird Soja als Futtermittel für den Import nach Deutschland angebaut, vor allem in armen


V ER antw o r tu n g s entw icklung

Verantwortung – ein lebenslanger Prozess Welche Entwicklungsstufen muss ein Kind nehmen, um später zu einem verantwortungsvollen Erwachsenen heranzureifen? Und welche Rolle spielen dabei die Eltern und die Kultur?

Ein elf Monate altes Baby teilt geübt eine Frucht mit einer Machete (rechts). Was © flickr: Sallyrae17

bei uns undenkbar wäre, ist bei dem Volk der Efe im Kongo völlig normal. Verantwortlicher Umgang mit Werkzeug entwickelt sich auf der Welt unterschiedlich schnell.

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© David Wilkie

»V

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orsicht, ein Auto!«, ruft der fünfjährige Tim aufgeregt und zieht seinen kleinen Bruder Lukas von der Straße weg. Tim hätte viel lieber weiter geschaukelt, anstatt seinem zweijährigen Geschwister hinterher zu rennen. Doch wo war nur seine Mutter? Ohne Erwachsenen in Sicht hatte sich Tim plötzlich für seinen kleinen Bruder verantwortlich gefühlt und musste eingreifen. Situationen wie diese beobachten wir immer wieder. Denn schon sehr kleine Kinder übernehmen spontan Verantwortung, wenn gerade kein Erwachsener in der Nähe ist, der sie ihnen abnimmt. Damit Kinder wie Tim aber zu verantwortungsbewussten Erwachsenen heranreifen, müssen sie zunächst viele Entwicklungsschritte meistern. »Die Verantwortungsentwicklung fängt damit an, dass die Kinder sich selbst als Ursprung ihrer Handlung erleben«, erklärt die Entwicklungspsychologin Hellgard Rauh von der Universität Potsdam. »Und dies beginnt in ersten Ansätzen schon in einem Alter um die vier bis fünf Monate.« Noch können die Babys allerdings nicht zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung unterscheiden. Eltern kennen dieses Phänomen. Wenn beim Kinderarzt ein Baby anfängt zu schreien, stimmen die anderen mit ein. Solche spontanen Reaktionen auf die Gefühlszustände anderer sind die frühsten Formen der Empathie, also der Fähigkeit, mit anderen mitzufühlen. Sie macht Verantwortung erst möglich. Mit acht bis zehn Monaten wird den Babys bewusst, dass sie selbst jemand anderes sind als ihr Gegenüber. Etwa ein Jahr später erkennen sich die Kleinen dann im Spiegel und bezeichnen sich kurz darauf mit »Ich«. Doch nicht nur das: Zunehmend

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© fotolia: Dron

können Kleinkinder auch die Wünsche, Absichten und Gefühle ihres Gegenübers erahnen. Durch diesen Perspektivwechsel gelingt es ihnen, die Bedürfnisse eines anderen Menschen immer besser zu erkennen. Sie erreichen eine höhere Stufe der Empathie und begreifen, welche Auswirkungen die eigenen Handlungen auf ihre Mitmenschen haben. Anfangs können das so einfache Beobachtungen sein wie: Wenn ich die Tasse meiner Schwester kaputt mache, ist sie traurig. In diesem Alter beginnen die Kleinen auch, andere aktiv zu trösten. Wenn sie ein weinendes oder trauriges Krabbelkind sehen, gehen sie zu ihm und versuchen es beispielsweise mit Keksen aufzuheitern. Mit zwei bis drei Jahren reift schließlich der Wunsch zu helfen. Dies hat sowohl mit der emotionalen als auch der kognitiven Entwicklung zu tun. Jetzt können Kleinkinder auch schon komplexere zwischenmenschliche Gefühle nachempfinden. Sie wissen dann, wie es sich anfühlt, enttäuscht oder betrogen zu werden. Beobachten sie eine Handlung, werden ihre Spiegelneuronen im Gehirn aktiv. Sie sind bei uns Menschen besonders ausgeprägt und befähigen uns dazu, Handlungen eines Gegenübers gedanklich fast wie eigene nachzuvollziehen und mitzuerleben. Zudem bilden die Kinder vorgreifende

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Vorstellungen von dem Handlungsziel des anderen. Unterläuft diesem ein Fehler, fühlen sie sich daher motiviert zu helfen und so gemeinsam zum Ziel zu gelangen. Entwicklungspsychologen nennen diesen Komplex aus Mitgefühl und Hilfsbereitschaft »prosoziales Verhalten«. Er entwickelt und verfeinert sich während der ganzen Vorschulzeit.

Alles eine Frage der Zeit Doch selbst wenn Kinder Empathie zeigen können und sich als Ursprung einer Handlung erkennen, fehlt ihnen noch ein entscheidender Schritt, um wirklich verantwortlich handeln zu können: Das Gefühl für die Zeit. Ohne Zeitgefühl ist es unmöglich, die langfristigen Folgen von Handlungen abzuschätzen. »Kinder gehen mit Zeitwörtern wie ,heute‘ und ,morgen‘ schon sehr früh um«, sagt Elfriede Billmann-Mahecha, Psychologin an der Universität Hannover. »Sie können auch kurze Zeiträume wie ‚noch zweimal schlafen’ überblicken, aber ein richtiger Zeitbegriff bildet sich erst im Grundschulalter aus.« Doch wie alt muss ein Kind sein, um alleine auf ein kleineres Kind aufpassen zu können? »Dafür muss es verstehen, was das jüngere Kind kann, was es gerade fühlt, welche Motivation es hat und wie es voraussichtlich gleich handeln wird«, fasst

Hellgard Rauh zusammen. Das sei so komplex, dass sich diese Kompetenz vermutlich erst in der späteren Grundschulzeit mit zehn bis zwölf Jahren herausbilde. Was universell klingt, gilt keineswegs für alle Kinder auf der Welt. Wie stark sich die Verantwortungsentwicklung bei Kindern kulturell unterscheidet, weiß Psychologin Barbara Rogoff von der University of California in Santa Cruz. Sie hat erforscht, wie sich Menschen in unterschiedlichen Kulturen entwickeln. »In einigen Gesellschaften, wie beispielsweise der Maya in Guatemala, sind Kinder schon zwischen drei und fünf Jahren in der Lage, unter Aufsicht auf ihre kleineren Geschwister aufzupassen. Die bevorzugten Aufpasser sind zwischen acht und zehn Jahre alt.« Diese Verantwortung beruhe vermutlich auf vielen kulturellen Merkmalen. Die Maya-Kinder haben unter anderem ständig kleinere Kinder um sich und sehen, wie andere auf sie aufpassen. Sie haben die Chance, sich um sie zu sorgen und haben Erwachsene in der Nähe, für den Fall, dass es Probleme gibt. Weiterhin werden sie bestärkt, reif und verantwortlich zu sein. Was können also Eltern hierzulande tun, um Kindern ein gesundes Verhältnis zur Verantwortung beizubringen? Die Entwicklungspsychologinnen Elfriede Billmann-Mahecha und Hellgard Rauh sind sich einig: Haustiere sind eine gute Möglichkeit zum üben. Nur sollten die Eltern nicht erwarten, dass das Kind die Verantwortung komplett übernehme, gibt Billmann-Mahecha zu bedenken. »Kleine Kinder sind noch sehr auf sich selbst bezogen, sie würden die Katze am liebsten füttern, wenn es ihnen gerade Spaß macht. Das längerfristige Denken ist in dem Alter eben noch schwierig.« Hier zeigt sich wie wichtig ein ausgebildetes Zeitgefühl ist: Erst am Ende der Grundschulzeit könne ein Kind überblicken, was es bedeutet, über Jahre hinweg für ein Tier zu sorgen. Neben Haustieren trainiere auch der Blumendienst in der Schule oder kleinere Aufgaben im Haushalt das Verantwor-

Trösten will gelernt sein. Mitgefühl ist elementar, um ein verantwortungsvoller Erwachsener zu werden.

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© Ina Hübener

tungsbewusstsein. Man müsse aber unbedingt am Ball bleiben, insbesondere wenn es dem Kind gerade keinen Spaß mache. Denn auch der Erziehungsstil beeinflusst das spätere Verantwortungsbewusstsein. »Es hat sich herausgestellt, dass für die Entwicklung, auch für die moralische, der autoritative Erziehungsstil der Beste ist«, sagt Psychologin Billmann-Mahecha. Dieser verlangt den Eltern besonders viel ab. Denn ‚autoritativ’ bedeutet, dass sie klare Grenzen setzen, diese begründen und sich gleichzeitig dem Kind emotional zuwenden, es achten und wertschätzen. »Längerfristige Studien aus den USA haben gezeigt, dass Kinder, die so erzogen wurden, im Jugendalter ein deutlich stärkeres Verantwortungsbewusstsein als andere Jugendliche haben, die autoritär oder im Laissez-faire-Stil erzogen wurden«, so Billmann-Mahecha. Müssen Kinder schon zu früh zu viel Verantwortung übernehmen, kann das schädlich sein. »Angenommen, ein Kind wird mit einem Bruder oder einer Schwester tagsüber kurz alleine gelassen. Wenn sich das Geschwisterkind verletzt, ist das furchtbar für dieses Kind, da es sich verantwortlich fühlt«, erklärt Hellgard Rauh. Noch tragischer ist es, wenn ein Elternteil schwer erkrankt oder sogar stirbt und ein Kind sich nun um seine kleineren Geschwister kümmern muss. »Diese Kinder verlieren mit der massiven Verantwortung ihre Kindheit und werden zu kleinen Erwachsenen«, sagt Rauh. Auch Kinder mit einer normalen Entwicklung brauchen Jahre, bis sie schließlich voll verantwortlich sind. »Ich denke, dass man im dritten Lebensjahrzehnt als voll verantwortlich gelten kann. Ohne zu sagen, dass sich das nicht weiter entwickeln kann«, sagt die Psychologin Billmann-Mahecha. So ist es auch kein Zufall, dass wir vor Gericht ab 21 Jahren für unsere Taten zur vollen Verantwortung gezogen werden können. Denn kognitiv sind wir erst in diesem Alter komplett ausgebildet. »Die Moral hingegen kann sich weit bis ins Erwachsenenalter noch höher entwickeln«, fügt Billmann-Mahecha hinzu. Verantwortung ist ein lebenslanger Prozess. << Ina Hübener

Verantwortungslos Manche Menschen sind schlicht nicht zur Verantwortung fähig. Geistig Behinderte können sich beispielsweise meist extrem gut in andere Menschen hineinversetzen, haben aber starke kognitive Defizite. Einige sind teilweise so sehr eingeschränkt, dass ihnen etwa das für Verantwortung so wichtige Zeitempfinden fehlt. Nur Kognition ohne Emotion reicht hingegen auch nicht, wie man am Beispiel von Psychopathen sehen kann. Obwohl sie in der Regel sehr intelligent sind, führt die schwere Persönlichkeitsstörung dazu, dass Betroffene keine Empathie oder Schuld empfinden können. Und dadurch auch kein schlechtes Gewissen verspüren, wenn sie verantwortungslos handeln. Selbst wenn sie kriminell werden, nehmen sie das oft mit einem Lächeln hin. Schuld daran sind Fehlfunktionen bestimmter Bereiche des Gehirns. Meist sind die vordere Inselregion, die Amygdala, der orbitofrontale Cortex oder der vordere cinguläre Cortex die Ursache. Sie alle haben ihre speziellen Aufgaben. Die vordere Inselregion spielt eine Rolle bei der Empathie. Ohne die Amygdala, auch Mandelkern genannt, werden wir furchtlos. Eine Schädigung des cingulären Cortex lässt uns emotional abstumpfen. Werden bei gesunden Menschen diese Regionen des Gehirns verletzt, kommt es zu dramatischen Persönlichkeitsveränderungen. Neurologen kennen dieses Phänomen spätestens seit dem klassischen Fall des amerikanischen Schienenarbeiters Phineas Gage. Bei einer Explosion im Jahr 1848 bohrte sich eine Eisenstange durch sein Gehirn und verletzte dabei den orbitofrontalen Cortex – einen Hirnteil, der mit der Regulation emotionaler Prozesse in Verbindung gebracht wird. Er überlebte. Doch ein Teil seiner Persönlichkeit starb bei dem Unfall. Aus dem verantwortungsbewussten Mitarbeiter wurde ein unzuverlässiger, kindischer und impulsiver Mensch.

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Wi ssen s c h a f t f ü r Kinder

Wissenschaft macht Spaß Viele Kindergärten und Schulen bieten naturwissenschaftliche Kurse fürs Kind an. Geht es dabei nur um den Spaß an der Sache oder um mehr?

Metin wird erklärt wie sich Luft verhält, wenn sie © Ina Hübener

sich erwärmt oder abkühlt. Im Kindergarten Sonnenschein experimentieren die 4- und 5-jährigen Kinder einmal in der Woche.

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© Ina Hübener

Ausprobieren erlaubt! Riccardo gießt Wasser über die zuvor zerkleinerten Lavendelblüten (links). Seine Teamkollegen aus der Forscherwerkstatt besprechen gemeinsam, wie der Versuch am besten durchzuführen ist (rechts).

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onzentriert und gespannt schauen vier Augenpaare dabei zu, wie Merle eine Trinkflasche mit einem über die Öffnung gezogenen Luftballon in eine Kanne mit eiskaltem Wasser drückt. Der Experimentierraum ist vom letzten Flohmarkt noch ein wenig zugestellt. Die vier Kinder im Alter von vier bis fünf Jahren sitzen zusammen an einem niedrigen Tisch. Staunend beobachten die Kinder, wie der weiße Luftballon sich zusammenzieht, als würde man die Luft rauslassen. »Was passiert mit unserer Luft, wenn sie kalt ist?«, fragt die Kindergärtnerin Marjan Mehdizadeh, die den Versuch leitet. »Die Luft ist schwer geworden und geht nach unten in die Flasche.« So wie in der Experimentiergruppe im Kindergarten »Sonnenschein« im hessischen Langen werden viele Kinder spielerisch an das Thema Naturwissenschaften herangeführt. In Kursen und Experimentierstunden rund um Physik und Chemie, soll das Interesse der Kinder schon früh angeregt werden. Dazu gehören Projekte in den Kernfächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik den so genannten MINT-Projekten.

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Zahlreiche Bücher und Experimentierkästen sollen die Lust am Lernen und Entdecken fördern. Aber kann man Kinder jeden Alters einfach an den Experimentiertisch setzen? »Das hängt sehr vom Alter ab. Das Kind soll die Deutung des Experiments verstehen. Dazu muss man denken können«, sagt Gisela Lück, Professorin für Didaktik der Chemie an der Universität Bielefeld. Ein Kind könne das etwa ab dem fünften Lebensjahr. Das Projekt im Kindergarten »Sonnenschein« lässt die Kinder staunen. Nachdem sie erfahren haben, wie sich kalte Luft verhält, lernen sie, was mit warmer Luft passiert. Marjan Mehdizadeh steckt die Flasche mit dem Luftballon in eine Kanne mit dampfendem Wasser. Die Kinder beobachten, was passiert: »Der Luftballon hat sich aufgeblasen!« Frau Medizahdeh erklärt, warum: »Die Luft wird heiß und leicht, und dadurch kommt sie nach oben. Deswegen dehnt sich der Luftballon aus.« Danach malen die Kinder den Versuch mit Buntstiften nach. Olivia hat aufmerksam beobachtet, was da gerade passiert ist. Sie erklärt ihrer Freundin, dass sie eine Kanne mit blauem, also kaltem Wasser

und eine mit rotem, heißem Wasser malen muss: »Du musst eins rot machen, nicht zweimal blau.« Marjan Mehdizadeh betreut die Experimentiergruppe schon seit anderthalb Jahren. Sie meint, dass die Kinder in den letzten Jahren wesentlich wacher geworden sind und man ihnen mehr zutrauen kann. »Kinder wollen gefördert werden, und das geht auch durch Experimente. Die Experimente sollen das Interesse wecken. Kinder sollen sich mit selbstverständlichen Sachen auseinandersetzen, deren Hintergründe sie nicht kennen.«

Interesse Wecken Aber was sollen Kinder aus naturwissenschaftlichen Projekten mitnehmen? Soll das Experimentieren nur Spaß machen, oder sollten sich Kinder auch schon mit der Verantwortung der Wissenschaft beschäftigen? Und wenn ja, mit welcher Art Verantwortung? Beim Experimentieren muss man beispielsweise sparsam und vorsichtig mit den Materialien und Stoffen umgehen. Man muss aufpassen, dass man sich und die anderen nicht verletzt, und dass alle Kinder gleich oft an die Reihe

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Mia (links) und Olivia (rechts) malen das eben beobachtete Experiment. Dadurch spielen sie

© Ina Hübener

den Versuch gedanklich nochmal durch.

kommen. Diese Arten der Verantwortung lernen die Kinder ganz nebenbei mit, sagt Gisela Lück. »Dies wird dem Kind auch schon früh zugetraut. Nur dem, dem ich etwas zutraue, kann ich auch Verantwortung übergeben. Das wird auch gemacht, nur eben ohne zu sagen: Du hast auch später mal eine Verantwortung.« Die Politik macht schon seit Jahren darauf aufmerksam, dass es in den nächsten Jahren zu einem Fachkräftemangel kommen wird. Dass nun vermehrt Experimentierkurse angeboten werden, hat auch damit zu tun. »Es wird auch gesellschaftlich mitgetragen«, sagt Petra Bonnet, Leiterin des Büros für Kommunikationsberatung in Stuttgart. »Das würde ich nicht unterschätzen, wie viel da aus der Bildungspolitik, Unternehmen und Berufsverbänden gefordert wird.« »Im Kindergarten steht Verantwortung in Physik und Chemie nicht im Vordergrund, sondern Freude am Experimentieren und ohne Angst an Physik und Chemie heran gehen«, sagt Lück. Allerdings darf man nicht erwarten, dass Kinder am Ende eines Kurses eine physikalische Formel aufzeichnen können. Das müssen sie auch gar nicht, meint Bonnet: »Wenn den Kindern der direkte Bezug dazu fehlt, bringt das gar nichts.« Es ist wichtiger zu sehen, was Wissenschaft alles kann, meint Piotr Kowina vom GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt. Er hat Erfahrung

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darin, seine Forschung auch für Kinder interessant darzustellen. Zum Beispiel im Rahmen der Kinderuni Darmstadt. Hier möchte nicht nur Kowina, sondern auch verschiedene Institute, Organisationen oder Unternehmen mit Vorträgen das kindliche Interesse an Wissenschaft fördern. »Kinder sollen Interesse an der Wissenschaft bekommen und lernen, was sie eigentlich bedeutet und womit sich Forscher beschäftigen«, meint Kowina. »Häufig wissen sie nicht wirklich, was Wissenschaftler eigentlich tun. Das kann problematisch werden, wenn sie sich während der Pubertät in der Schule plötzlich mit Naturwissenschaften konfrontiert sehen.« In dieser Lebensphase sei nämlich so ziemlich alles interessanter, als chemische Formeln zu ermitteln.

Verantwortung geben In der Pestalozzi-Grundschule in Lampertheim wird daher schon früh das Interesse der Kinder geweckt. Lavendelduft erfüllt die Forscherwerkstatt, in der elf Kinder aus der zweiten Klasse experimentieren. Das Klassenzimmer ist vollgestellt mit unzähligen Experimentierkästen, Reagenzgläsern, Mörsern, Pipetten und Mikroskopen. In der Experimente-AG können sich die Kinder selbstständig aus bis zu 50 Versuchen einen aussuchen und bearbeiten. Eine Gruppe von vier Jungen stellt heute Lavendelparfüm her. Die vier haben sich eine Kiste mit Materialien und Versuchserklärung aus

dem Regal geholt. Emilio liest vor, was jetzt noch besorgt werden muss: »Wir brauchen einen Kaffeefilter. Nee, nicht den, einen größeren!« Es wird laut in dem sonst eher ruhigen Raum. Die Jungen zerkleinern die getrockneten Lavendelblüten im Mörser. Wer nicht stampft, darf später das BlütenWasser-Konzentrat filtern und in Fläschchen abfüllen. Das alles klären sie eigenverantwortlich, ohne die Hilfe ihrer Lehrerin. Am Ende der Stunde erklärt Jan seinen Mitschülern, wie seine Gruppe das Parfüm hergestellt hat. »Erst hat es wie Cola ausgesehen und gar nicht gerochen. Es war schon schwer, weil wir so stampfen mussten, aber es hat Spaß gemacht.« Die Lehrerin ist sich sicher: »In den nächsten zwei Wochen ist der Versuch ausgebucht.« Verantwortung muss für Kinder noch keine Rolle spielen. »Man kann nicht über die großen Dinge reden, über das Ozonloch. Wir wollen ihnen ja nicht das Leid der Welt näher bringen«, sagt Gisela Lück. In der Forscherwerkstatt wird deutlich, dass Kinder beim Experimentieren eigenverantwortlich arbeiten können. »Die Projekte sind nicht darauf ausgelegt, dass die Kinder frühzeitiger lernen«, sagt Petra Bonnet. »Vielmehr gehe es darum, den Kindern zu verdeutlichen, dass Wissenschaft Teil ihres Alltages ist. Wenn Kinder Wissenschaft und Technik erst mal verstanden haben, dann gehen sie viel offener damit um.« << Caroline Hentschel

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BERLINER W ISSENSCHAFTS-VERLAG Stephan Albrecht, Hans-Joachim Bieber, Reiner Braun, Peter Croll, Henner Ehringhaus, Maria Finckh, Hartmut Graßl, Ernst Ulrich von Weizsäcker (Hrsg.)

Wissenschaft – Verantwortung – Frieden: 50 Jahre VDW

Stephan Albrecht, Hans-Joachim Bieber, Reiner Braun, Peter Croll, Henner Ehringhaus, Maria Finckh, Hartmut Graßl, Ernst Ulrich von Weizsäcker (Hrsg.)

Wissenschaft – Verantwortung – Frieden: 50 Jahre VDW Wie es sich für einen Rückblick gehört, beschreiben Zeitzeugen und die Archive auswertende und Zeitzeugen befragende Wissenschaftler, wie sich die VDW in fünf Jahrzehnten wandelte, welche Erfolge sie feiern konnte und wie viel versandete. Aber auch wie VDW’ler als Berater von Regierungen, Parlamenten und den Vereinten Nationen Einfluss nehmen konnten. Mitglieder der VDW sind sicherlich Beschleuniger für eine wachsende Weltinnenpolitik gewesen. Einige haben übergreifend für mehrere globale Probleme nicht nur wissenschaftliche Durchbrüche erzielt, sondern auch politische Teillösungen mit erarbeitet. BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG

2009, 615 S., 14 Abb., geb. m. SU, UVP 30,– €, 978-3-8305-1704-7 eBook PDF 69,– €, 978-3-8305-2509-7

Dieter Deiseroth, Annegret Falter (Hrsg.)

Whistleblowing im nuklear-industriellen Komplex Dieter Deiseroth, Annegret Falter (Hrsg.)

Whistleblower im nuklear-industriellen Komplex Preisverleihung 2011

Rainer Moormann

BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG

Preisverleihung 2011 – Dr. Rainer Moormann

Hochtemperatur-Reaktoren werden von interessierten Kreisen in der Fachwelt, in der Wirtschaft und in der Politik bis heute dafür gerühmt, dass sie „inhärent sicher“ seien: Bei ihnen bestehe nicht das Risiko einer Kernschmelze. Nukleare Katastrophen seien also nicht zu befürchten. Mit diesem Argument wird seit längerem der Export des Reaktortyps auch in Länder mit niedrigeren Sicherheitsstandards betrieben. Dr. Moormann ist in seinen Untersuchungen demgegenüber zu dem Schluss gelangt, dass mit der Kugelhaufen-HTR-Technologie andere, nicht minder bedrohliche Störfallmöglichkeiten und Risiken mit katastrophalen Folgen für Mensch und Umwelt verbunden sind. Seine Hinweise begründen zudem den Verdacht, dass wesentliche Umstände und Folgen eines Störfalls 1978 im Reaktor Jülich bisher verschleiert worden sind.

2011, 122 S., 11 Abb., kart., 12,80 €, 978-3-8305-3021-3 Kombipaket Print & E-Book-PDF: 19,– €, 978-3-8305-2731-2

Dieter Deiseroth, Annegret Falter (Hrsg.)

Whistleblower in der Steuerfahndung

Preisverleihung 2009 – Rudolf Schmenger, Frank Wehrheim Rudolf Schmenger ist nicht „paranoid-querulatorisch“. Er hat nur mehr Zivilcourage als andere. Er war als Steuerfahnder am Finanzplatz Frankfurt am Main mit Ermittlungsverfahren gegen Großbanken befasst. Er wurde 2006 gegen seinen Willen von seinem Dienstherrn in den Ruhestand versetzt. Die Zwangspensionierung erfolgte auf der Grundlage eines psychiatrischen Gutachtens. Schmenger setzte sich zur Wehr. Ein Berufsgericht verurteilte den Gutachter unlängst wegen vorsätzlicher, grober Verletzung fachlicher Standards. Auch das hessische Finanzministerium handelte rechtswidrig. Es versäumte die eigenständige Prüfung des Gutachtens. Wie Schmenger ging es noch drei Fahndern derselben Abteilung. Zehn weitere KollegInnen, darunter Frank Wehrheim, wurden versetzt oder zu Tätigkeiten abgeordnet, die nicht ihrer Qualifikation als Steuerfahnder entsprachen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie begründete Einwände gegen eine Verwaltungsanordnung vorgebracht hatten, die sie ihrer Ansicht nach in ihren Ermittlungen gegen Großanleger in Luxemburg und Liechtenstein behinderte. In der Folge sahen sie sich Mobbing, Schikanen und Disziplinierungsmaßnahmen ausgesetzt. – Es steht hier auch das Beamten- und Dienstrecht in der Kritik.

Dieter Deiseroth, Annegret Falter (Hrsg.)

Whistleblower in der Steuerfahndung Preisverleihung 2009

Rudolf Schmenger

Frank Wehrheim

BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG

2010, 149 S., 17 Abb., kart., 14,80 €, 978-3-8305-1756-6

Whistleblowerpreis 2003 – Den Whistleblower-Preis 2003 erhielt der Amerikaner Daniel Ellsberg – für sein Lebenswerk. 2004, 65 S., kart., 9,80 €, 978-3-8305-0973-8 Whistleblower in Gentechnik und Rüstungsforschung – Preisverleihung 2005: Theodore A. Postol / Arpad Pusztai 2006, 158 S., 12 Abb., kart., dt./engl., 17,90 €, 978-3-8305-1262-2 Whistleblower in Altenpflege und Infektionsforschung – Preisverleihung 2007: Brigitte Heinisch / Liv Bode eBook PDF 2007, 80 S., 17 Abb., kart., 9,80 €, 978-3-8305-1455-8

BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG Markgrafenstraße 12–14 • 10969 Berlin • Tel. 030 / 841770-0 • Fax 030 / 841770-21 E-Mail: bwv@bwv-verlag.de

www.bwv-verlag.de


K l i n i sc h e F o r s c h ung an Kindern

Studieren geht über probieren In Deutschland sind zu wenige Medikamente an Kindern getestet und für sie zugelassen. Bei der Behandlung tappen die Ärzte daher oft im Dunkeln. Um Medikamente optimal auf sie abzustimmen, sind klinische Studien an Kindern notwendig. Doch Forschung an Minderjährigen ist ein sensibles Thema. Sie können nicht selbst einwilligen und sind dennoch gewissen Risiken und Belastungen ausgesetzt. Außerdem ist da noch die Angst, Kinder könnten als Versuchskaninchen missbraucht werden.

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ie dreijährige Leonie ist krank. Sie kommt ins Krankenhaus und die Diagnose ist schnell klar. Wäre Leonie erwachsen, hätte der Arzt das passende Medikament für sie. Doch für Kinder ihres Alters hat er kein zugelassenes Arzneimittel. Also bekommt Leonie ein Medikament, das nur an Erwachsenen geprüft und für diese zugelassen wurde.

Das ist in Deutschland keine Seltenheit. Bis zu 70 Prozent der Medikamente, die Kinder in stationärer Behandlung erhalten, sind nicht für sie zugelassen. Auf Neugeborenenstationen sind es teilweise mehr als 90 Prozent. Ambulant ist etwa jeder sechste Wirkstoff nicht für diese Altersgruppe bestimmt. Die Zahlen schwanken je nach Art und Häufigkeit der Erkrankung.

»Off-label« und »unlicensed« Beim »off-label«-Gebrauch werden Medikamente außerhalb ihres Zulassungsbereichs angewendet. Kinder bekommen häufig Medikamente, die aufgrund ihres Alters »off-label« sind. Entweder ist das Arzneimittel für eine andere Altersgruppe (z.B. 18-50 Jahre) zugelassen oder Angaben zum Alter fehlen. Auch wenn der Arzt die Dosierung oder die Darreichungsform ändert, um die Behandlung dem Kind anzupassen, spricht man von »off-label«-Gebrauch. Im Krankenhaus-Alltag kommen auch »unlicensed«-Medikamente zum Einsatz. Sie wurden nicht klinisch getestet und besitzen daher keine Produktlizenz. Die nicht zugelassenen Medikamente werden beispielsweise importiert oder in der Klinikapotheke hergestellt.

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Obwohl es kein passendes Medikament gibt, ist Nichtbehandeln keine Option. Auch in Leonies Fall nicht. Der Arzt entscheidet sich für ein Medikament, mit dem er bei Erwachsenen gute Erfahrungen gemacht hat. Doch wie soll er es dosieren? Wäre Leonie erwachsen, wäre auch das kein Problem. Dann ließe sich die Menge, die sie braucht, anhand ihres Körpergewichts berechnen. Doch Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Ihr Stoffwechsel und Körperbau verändert sich im Laufe der Kindheit und Jugend erheblich. Die notwendige Dosis in den einzelnen Entwicklungsphasen schwankt dabei stark (s. Grafik). Ein Neugeborenes braucht beispielsweise eine viel geringere Dosis als man aufgrund des Körpergewichts annehmen würde. Säuglinge und Kleinkinder hingegen brauchen oftmals eine überraschend hohe Menge, damit das Medikament wirkt. Also muss der Arzt festlegen, welche Menge des Medikaments Leonie bekommt. Ob er diese Dosis errechnet, schätzt oder rät, macht keinen Unterschied. Denn wis-

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© Franziska Bernsdorf

sen kann er sie ohne eine klinische Studie nicht. Der deutsche Ethikrat fordert daher »angesichts der Risiken ungetesteter Medikamente« kontrollierte Arzneimittelforschung an Kindern. Solche Studien seien die Voraussetzung für eine wirksame und sichere Behandlung. In ihnen wird nicht nur die richtige Dosis ermittelt. Auch eventuell unentdeckte Nebenwirkungen bei Kindern werden in einer Studie erkennbar.

Ein unwägbares Restrisiko Doch weil Forschung an Minderjährigen oft heikel ist, gelten strenge Regeln. Jede geplante Studie muss im Voraus von einer Ethikkommission geprüft und genehmigt werden. Sie kontrolliert, ob die Forschung ethisch vertretbar und im Sinne der Kinder ist. Damit die Kommission grünes Licht gibt, müssen sowohl das Risiko, als auch die Belastung für das Kind minimal sein. Das Risiko lässt sich relativ gut abwägen, da fast alle Medikamente vorher an Erwachsenen getestet wurden. Allerdings kommt es vor, dass bei Kindern andere Ne-

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

benwirkungen auftreten. So bleibt in jeder Studie ein unwägbares Restrisiko. Im Kommentar des Arzneimittelgesetzes sind Fallbeispiele aus der Praxis beschrieben. Sie sollen verdeutlichen, wann die Belastung für das Kind minimal und somit ethisch vertretbar ist. Als Entscheidungshilfe für die Ethikkommissionen genügt das Dr. Claudia Wiesemann und anderen Kritikern allerdings nicht. »Selbst diese Beispiele enthalten einen Interpretationsspielraum«, sagt die Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universitätsmedizin Göttingen. »Auch wenn sich in den letzten Jahren vieles verbessert hat, wir haben noch immer zu wenig Vergleichsgrößen und Austausch der Ethikkommissionen untereinander.« Eine Grauzone, in der im Einzelfall entschieden wird, werde es immer geben. Doch laut Wiesemann fehlt eine klare Grenze zu dem, was »grundsätzlich indiskutabel« ist. Ist die Studie genehmigt, beginnt die Suche nach Teilnehmern. Normalerwei-

Arzneimittel in Hülle und Fülle. Ein kranker Erwachsener hat selten das Problem, dass es für ihn keine Medikamente gibt. Doch Kinder stehen häufig mit leeren Händen da.

se muss ein potentieller Proband vorher vom Arzt umfangreich über Ablauf, Risiken und Ziele der Studie informiert werden. Wenn er ohne äußeren Zwang einwilligt, steht seiner Teilnahme nichts mehr im Wege. Bei Kindern gestaltet sich das schwierig. Gerade für die Kleinen ist es fast unmöglich das Wesen und Ausmaß einer Studie zu verstehen. Jugendliche wiederum dürfen aus rechtlichen Gründen nicht einwilligen. Das können letztlich nur die Eltern. Doch auch das Kind hat ein Mitspracherecht. »Schulkinder und Jugendliche müssen zustimmen«, erklärt Dr. Wolfgang Rascher, Direktor der Kinderund Jugendklinik Erlangen. »Die Eltern willigen ein, doch wenn das Kind nicht teilnehmen möchte, nehmen wir es nicht in die Studie auf.« Über das Gespräch mit

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Kleine Körper – niedrige Medikamentendosis? So einfach ist es leider nicht. Beim Erwachsenwerden wächst zwar das Körpervolumen (schwarz). Doch die passende Dosis (blau) hängt vom Stoffwechsel ab und der variiert in den

© Franziska Bernsdorf

verschiedenen Entwicklungsphasen stark.

dem Arzt hinaus erhält es einen auf sein Alter und den Entwicklungsstand abgestimmten Informationsbogen. So werden auch die jungen Teilnehmer aufgeklärt. Wie sehr diese Informationen ins Detail gehen, hängt vom Alter und Entwicklungsstand des Kindes ab. Die dreijährige Leonie wird das Behandlungskonzept und

Gruppennützige Forschung Es gibt Studien, die keinen Eigennutzen für den Teilnehmer haben. Stattdessen nützen sie Patienten, die an der gleichen Krankheit leiden. Diese gruppennützige Forschung ist nur bei minimalem Risiko und minimaler Belastung des Probanden erlaubt. Bei Kindern ist sie umstritten. Häufig werden gruppennützige Studien durchgeführt, um Normalwerte bei gesunden Minderjährigen zu ermitteln. Die technischen Verfahren (z.B. zur Diagnostik) entwickeln sich ständig weiter. Ohne die Werte gesunder Kinder, kann der Arzt krankhafte Abweichungen mit neuen Methoden nicht erkennen.

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den Sinn der Studie auch bei noch so kindgerechter Erklärung nicht richtig erfassen. Wie geht der Arzt also mit sehr kleinen Kindern um? »Indem man sich lieb mit dem Kind beschäftigt«, sagt Dr. Andreas Kulozik. Der Direktor der Pädiatrischen Onkologie in Heidelberg möchte, dass auch die Kleinen merken: »Hier ist jemand, der will mir Gutes.« Mit diesem Vertrauensverhältnis nehme das Kind auch unangenehme Behandlungsschritte hin. Standardisierbar ist der Umgang mit den Kindern für Kulozik nicht. »Ich schaue mir immer die Situation und das konkrete Kind an und beziehe es, je nach dem persönlichen Entwicklungsstand, mit ein.«

studie statt Heilversuch In vielen Studien geht es auch um eine kindgerechte Darreichungsform des Arzneimittels. Was bei Erwachsenen völlig normal ist, kann Ärzte bei Kindern vor Probleme stellen. Kleinkinder können die zu großen Tabletten oftmals nicht herunterschlucken. Oder der Saft hat so einen bitteren Geschmack, dass Babys sich weigern ihn zu trinken. Bei der klinischen Prüfung hingegen können die Ärzte die optimale Form – Zäpfchen, Tablette, Spritze, Saft – für die Altersgruppe der Patienten herausfinden.

Ärzte, die Studien mit Kindern durchführen wollen, brauchen eine besondere Qualifikation. Im Arzneimittelgesetz ist festgelegt, dass sie sich mit dem kindlichen Krankheitsbild und dem Umgang mit minderjährigen Patienten auskennen müssen. Ein Mediziner, der nicht auf Kinder spezialisiert ist, kommt also nicht in Frage. Die jungen Studienteilnehmer sollen bestmöglich betreut werden. Zusammenfassend sieht Dr. Wolfgang Rascher zwei Möglichkeiten, Kindern Medikamente zu geben: »Eine ist, dass wir mit einigen Kindern eine gute Studie machen. Die Ethikkommission und das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte müssen zustimmen. Der Patient ist versichert und der Arzt muss alles protokollieren. Er muss jede eventuelle Nebenwirkung melden und sich ständig rechtfertigen. Das ist eine Studie.« Bei der anderen Möglichkeit, so Rascher, probiere jeder X-beliebige Doktor ein Medikament aus. In einem »Heilversuch« könne er die Dosis raten und brauche sich nicht dafür zu rechtfertigen. Wenn dem Kind dann etwas passiert, »haben die Eltern Pech gehabt«. Für Rascher ist klar: »Das macht das Kind zum Versuchskaninchen, nicht die Studie!« << Franziska Bernsdorf

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NEU: WELTINNENPOLITISCHE COLLOQUIEN

Ulrich Bartosch; Gerd Litfin; Reiner Braun; Götz Neuneck (Hrsg.) Verantwortung von Wissenschaft und Forschung in einer globalisierten Welt Forschen – Erkennen – Handeln Die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) und die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) diskutierten 2009 über Fragen von Sicherheit und Nachrüstung, Umwelt und Nachhaltigkeit, Wissenschaft und Verantwortung, Bildung und Wissenschaft. Der Band enthält die Beiträge von Stephan Albrecht, Gerhard Barkleit, Nina Buchmann, Christopher Coenen, Jayantha Dhanapala, Christian Forstner, Klaudius Gansczyk, Hartmut Grassl, Manfred Hampe, Hans R. Herren, Frank von Hippel, Martin Ka-linowski, Konrad Kleinknecht, Kevin Knobloch, Wolfgang Liebert, Klaus Mayer, Heidi Meyer, Wolfgang Neef, Götz Neuneck, Frank Schilling, Jürgen Schneider, Jack Steinberger, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Manuela Welzel-Breuer, Albert Zeyer.

400 S., 24,90 €, br., ISBN 978-3-643-11285-9

Ulrich Bartosch; Klaudius Gansczyk (Hrsg.) Weltinnenpolitik für das 21. Jahrhundert Carl-Friedrich von Weizsäcker verpflichtet Zu Ehren des am 28. April 2007 verstorbenen Physikers, Philosophen und Friedensforschers Carl Friedrich von Weizsäcker, der 1963 den Begriff „Weltinnenpolitik“ in die öffentliche Diskussion einbrachte und sich Jahrzehnte lang in Verantwortung für Frieden mit friedlichen Mitteln, globale Gerechtigkeit und Bewahrung der Natur engagiert hat, tragen zu diesem Themengeflecht im vorliegenden Buch namhafte Autoren ihre Sicht auf das 21. Jahrhundert vor: zu Weltwirtschaft, Weltpolitk, Weltethos und Interkultureller Philosophie in Anbetracht planetarischer Bedrohungen durch Klimawandel, Armut, Kriege u.a.m.

376 S., 29,90 €, br., ISBN 978-3-8258-0808-2 Ulrich Bartosch; Jochen Wagner (Hrsg..) Weltinnenpolitik Handeln auf Wegen in der Gefahr. Carl Friedrich Weizsäcker zum 85. Geburtstag. Neuauflage „Überfällige Weltinnenpolitik. Ein politisches und kompetentes Gegengewicht zur wirtschaftlichen Globalisierung fehlt bislang“, überschrieb die Süddeutsche Zeitung ihren Bericht zur internationalen Tagung 1997 anlässlich des 85. Geburtstages von Carl Friedrich von Weizsäcker in der Evangelischen Akademie Tutzing. Mit dem „Denker der Weltinnenpolitik“ (Die Zeit) trafen Experten aus Wissenschaft und Politik zusammen und diskutierten über Chancen und Gefahren im Zeitalter der Globalisierung. 11 Jahre nach der großen Tutzinger Tagung zur Weltinnenpolitik erfährt die Dokumentation der dortigen Vorträge eine Neuauflage. Am 28. April 2007 ist der große deutsche Physiker, Friedensforscher und Philosoph im 95. Lebensjahr gestorben. Mit dem vorliegenden Buch sind jene Texte wieder verfügbar, die das direkte Gespräch mit Weizsäcker dokumentieren und seine eigenen Beiträge lebendig werden lassen. Sie unterstreichen die bleibende Gültigkeit und sichtbare Fortentwicklung einer weltinnenpolitischen Sichtweise und Zielsetzung. Mit Beiträgen von Ulrich Bartosch, Chris Brown, Seyom Brown, Jost Delbrück, Hans Peter Dürr, Friedemann Greiner, Ingomar Hauchler, Peter Hennicke, Knut Ipsen, Hans Joas, Hans Küng, Dieter S. Lutz, Hermann von Loewenich, Klaus M. Meyer-Abich, Michael Müller, Franz Josef Radermacher, Eugeen Verhellen, Jochen Wagner, Carl Christian von Weizsäcker, Carl Friedrich von Weizsäcker und Ernst Ulrich von Weizsäcker.

Stephan Albrecht; Ulrich Bartosch; Reiner Braun (Hrsg.) Zur Verantwortung der Wissenschaft – Carl Friedrich von Weizsäcker zu Ehren Beiträge des 1. Hamburger Carl Friedrich von Weizsäcker-Forums Vom 21. bis 22. September 2007 fand an der Universität Hamburg das 1. Hamburger Carl Friedrich von Weizsäcker-Forum statt. Es wurde getragen von der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler gemeinsam mit der Universität Hamburg, dem Philosophischen Seminar, dem Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung und dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. In kritischer Würdigung der Lebensleistung, in dankbarer Erinnerung an seine Verdienste für die veranstaltenden Institutionen und mit dem Wunsch seine Denkansätze für die aktuellen Fragestellungen fruchtbar zu nutzen, wurde ein Diskussionsrahmen geschaffen, der künftig regelmäßig in Hamburg realisiert wird. Das Buch dokumentiert Beiträge des ersten Forums. Ergänzend wurde ein Vortrag und ein Streitgespräch aufgenommen, die zum 91. Geburtstag Carl Friedrich von Weizsäckers an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt entstanden sind. Ein bewegendes Zeitdokument beschliesst den Band. Die Predigt zur Trauerfeier in Starnberg im Rahmen der Beisetzung von Carl Friedrich von Weizsäcker eröffnet – voller Zuneigung – die persönliche, private Sicht des Schwiegersohnes Konrad Raiser auf das Leben und auf das Sterben des großen Gelehrten.

192 S., 19,90 €, br., ISBN 978-3-8258-1769-5

Beachten Sie den Fachkatalog Politikwissenschaft unter: http://www.lit-verlag.de/kataloge Beachten Sie den Fachkatalog Philosophie unter: http://www.lit-verlag.de/kataloge

288 S., 24,90 €, br., ISBN 978-3-8258-1475-5

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int er v i e w

© Michael Greiner

»Sie lieben es, mich zu hassen«

Frau Pötschke-Langer, Sie arbeiten seit etwa 15 Jahren in der Krebsprävention und haben sich mit den Gefahren von Zusatzstoffen beschäftigt. Warum haben Sie Ihre Karriere so eng mit dem Thema Tabak verbunden? Pötschke-Langer: Während meines Medizinstudiums habe ich auch in der Abteilung für Lungenkrebspatienten gearbeitet. Dort musste ich das unendliche Elend der Menschen erleben, die jämmerlich verstarben. Die Konfrontation mit der medizinischen Wirklichkeit war eine Sache. Die andere war meine Arbeit in der Gefäßambulanz. Meine damaligen Patienten waren zu fast 60 Prozent Raucher. Sie wären von Gefäßerkrankungen verschont geblieben,

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Die Übeltäter heißen Menthol, Zucker oder Vanille: Zusatzstoffe, die heute in fast jeder Zigaret­ te enthalten sind. Forscher ent­ wickelten die Zusätze, um die Attraktivität von Zigaretten zu erhöhen, sagt Martina Pötschke-Langer. Wir sprachen mit der Leiterin der Stabsstelle für Krebsprävention am Deutschen Krebs­forschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg über ihren jahrelangen Kampf mit der Tabakindustrie und die Verantwortung von Wissen­ schaftlern für die Nikotinsucht.

wenn sie nicht geraucht hätten. Der mühsame Prozess, den chronisch Kranken das Rauchen abzugewöhnen, hat mich dann dazu bewogen. Sie haben also aufgrund Ihres Verantwortungsgefühls gehandelt? Pötschke-Langer: Ich habe die Verantwortung gesehen, weil sich damals keine Institution in Deutschland ernsthaft darum bemüht hat: In vielen Ländern, wie etwa Skandinavien oder Großbritannien, gab es in den 1990ern Fortschritte in Bezug auf Tabakprävention und Rauchentwöhnung, nur nicht in Deutschland. Es war unglaublich! Wir haben deshalb entschieden, dass es so nicht weiter gehen kann. Wie ging es weiter?

Pötschke-Langer: Ich hatte damals am Deutschen Krebsforschungszentrum einen fantastischen Chef: Professor Harald zur Hausen, der 2008 den Medizin-Nobelpreis erhielt. Er gab mir 1997 die einmalige Gelegenheit, eine eigene Abteilung aufzubauen. Kommen wir zu den Zusatzstoffen. Erhöhen sie die Suchtgefahr von Zigaretten? Pötschke-Langer: Zusatzstoffe erhöhen die Sucht indirekt, indem sie die Attraktivität von Tabakprodukten massiv erhöhen und diese leichter rauchbar machen. 85 Prozent aller Raucher fangen vor dem 18. Lebensjahr an. Diesen Jugendlichen wird der Rauchbeginn durch Zusatzstoffe be-

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© Michael Greiner

sonders leicht gemacht. Das Fatale an den Zusätzen ist, dass sie bereits Kindern und Jugendlichen eine tiefe Inhalation ermöglichen, weil der bittere, unangenehme Tabakgeschmack verdeckt wird. Ein wichtiger Zusatzstoff ist Menthol. Warum? Pötschke-Langer: Menthol wird eigentlich therapeutisch eingesetzt, da es kühlend und schmerzlindernd wirkt. Es schließt aber auch die Atemwege auf, wodurch man sehr tief inhalieren kann. Bei Zigaretten führt es dazu, dass der Tabakrauch mit seinen krebserzeugenden Substanzen länger in der Lunge bleiben kann. Inzwischen ist Menthol in fast jeder Zigarette vorhanden, obwohl es dort nicht hin gehört.

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Oh, blauer Dunst! In der Glut einer Zigarette herrschen 600 bis 900°C. Bei diesen Temperaturen kann aus dem ansonsten harmlosen Zusatzstoff Zucker Acrylamid und Acrolein werden – zwei krebserregende Substanzen.

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Das Ende einer »Kippe« – zerdrückt im Aschenbecher. Voll gefüllt entfaltet der Ascher sogar eine gewisse Ästethik. Im Filter gut erkennbar: die braunen Rückstände. Gesundheitskosten durch das Rauchen in Europa: 1 Prozent des Bruttoin-

© Michael Greiner

landprodukts, schätzt die WHO.

Können Sie das näher erläutern? Pötschke-Langer: Wenn der Zusatz in den Zigaretten eine Mischung aus Menthol, Vanille und Zuckerarten ist, dann macht diese Mischung das Rauchen so leicht und angenehm wie nur möglich. Heute sind Zigaretten dazu geeignet, den Kinder- und Jugendmarkt zu erobern. Die Tabakindustrie setzt die Zusatzstoffe ganz bewusst ein, und diese werden von Forschern gezielt entwickelt? Pötschke-Langer: Das ist richtig. Wir haben Paradebeispiele aus den Tabakindustriedokumenten, die in den 1990er Jahren wegen der Haftungsprozesse in den USA [Anm. d. Red.: Schadensersatzprozesse mehrerer US-Staaten gegen die Tabakindustrie] ins Internet gestellt werden mussten. In diesen Prozessen wurde herausgearbeitet, dass die ganze Palette der Zusatzstoffe im Wesentlichen dazu dient, Neueinsteiger anzusprechen und zu gewinnen, sowie die bereits bestehenden Raucher in der Abhängigkeit zu halten. Können Sie ein Zitat nennen? Pötschke-Langer: Gerne. Zu Menthol schrieb die Tabakindustrie intern bereits in den 1970ern: »Unser Labor hat die komplexen Interaktionen zwischen Niko-

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tin- und Menthol-Freisetzung aufgedeckt. Diese Beobachtung wird der Produkt-Geschmacks-Entwicklung helfen, optimale Mentholprodukte zu konstruieren.« Die Beteiligten wissen über die Wirkung also ganz genau Bescheid. Heute gibt es Zigaretten, auf denen steht: »ohne Zusatzstoffe«. Was kann man davon halten? Pötschke-Langer: Gar nichts! Ganz provokant gesagt habe ich Zweifel, dass sie keine Zusatzstoffe enthalten: Die meisten sind leicht zu rauchen und unterscheiden sich kaum von den anderen Zigaretten. Es ist zu vermuten, dass die Zusatzstoffe nicht im Tabak, sondern im Filter oder in der Hülle untergebracht werden. Sind Ihnen Fälle von Wissenschaftlern bekannt, die direkt von der Tabakindustrie finanziert wurden? Pötschke-Langer: Das ist ein trauriges Kapitel in der Geschichte der Wissenschaft, das insbesondere die deutsche Wissenschaft betrifft. Wir haben dazu Beispiele, die wir auf die Website gestellt haben [Anm.d.Red.: www.dkfz.de/de/tabakkontrolle]. Und es wird bis heute noch geforscht. Können Sie einen konkreten Fall nennen?

Pötschke-Langer: Können ja. Aber ich möchte an dieser Stelle keinen Einzelfall herausgreifen. Wie sieht die Forschung zu Tabak in Deutschland aus? Pötschke-Langer: Es gibt keinen Risikofaktor, der so gut erforscht ist wie das Tabakrauchen. In den medizinischen Datenbanken finden Sie 40.000 bis 50.000 Publikationen zu gesundheitlichen Folgen des Rauchens und zur Sucht durch Tabakprodukte. Was die Gesundheitsgefährdung angeht, sind alle Daten auf dem Tisch. Jährlich sterben 650.000 Menschen in Europa an den Folgen des Rauchens. Warum gibt es bis heute kein Verbot von Zusatzstoffen in Deutschland? Pötschke-Langer: Das kann man ganz klar beantworten. Die Tabaklobby hat eine immense Stärke, insbesondere in Deutschland. Und sie hat es bisher durch geschicktes Lobbying geschafft, eine Produktregulation zu verhindern. Sie sitzen seit 1992 im Steuerungsgremium des »Aktionsbündnisses Nichtrauchen« und seit 2000 im Steuerungsgremium des »Wissenschaftlichen Aktionsbündnisses Tabakentwöhnung«. Was genau machen Sie dort?

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Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

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Die Wissenschaftler der Tabakindustrie werden exorbitant gut bezahlt. Es ist ihre Entscheidung, für wen sie arbeiten und von wem sie das Geld nehmen. Denn sie wissen ganz genau, was sie dort tun. Es ist die Frage: Ist Ethik für mich ein Stellenwert?

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Rauchen ist ein Spitzengeschäft – für die Tabakindustrie. In Deutschland setzt sie jährlich rund 12 Milliarden Euro um. Manche Marken werben

reiner

mit dem Versprechen: »ohne Zusätze«.

© Mic hael G

Pötschke-Langer: Wir stimmen uns mit anderen angesehenen Organisationen ab, wie etwa der Deutschen Krebshilfe oder der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie. Sehen Sie Interessenskonflikte zwischen Ihrem Engagement und Ihrer wissenschaftlichen Arbeit? Pötschke-Langer: Ich kann keine erkennen. Wenn es Interessenskonflikte gäbe, dann würde ich an einer solchen Initiative nicht mitwirken. Haben Sie Probleme mit der Tabakindustrie bekommen? Pötschke-Langer: Mit der Tabakindustrie nicht, aber natürlich mit ihren Lobbyisten. Sie lieben es, mich zu hassen und in den entsprechenden Blogs meine Arbeit anzugreifen. So bekomme ich HassMails und Beschimpfungen im Internet. Bisweilen ist das keineswegs spaßig. Welche Verantwortung haben Forscher, die für die Tabakindustrie arbeiten? Pötschke-Langer: Die Wissenschaftler der Tabakindustrie werden exorbitant gut bezahlt. Es ist ihre Entscheidung, für wen sie arbeiten und von wem sie das Geld nehmen. Denn sie wissen ganz genau, was sie dort tun. Es ist die Frage: Ist Ethik für mich ein Stellenwert oder kann ich mich darüber hinweg setzen? Wie viele Forscher arbeiten heute an neuen Zusatz- oder Inhaltsstoffen für die Tabakindustrie? Pötschke-Langer: Weltweit sind es Tausende von hervorragenden Forschern. Das kann sich die Tabakindustrie auch leisten, bei jährlich mehreren Milliarden Gewinn in Deutschland. Zum Schluss eine persönliche Frage. Haben Sie selbst jemals geraucht? Pötschke-Langer (lacht): Ja, am Ende meines Medizinstudiums habe ich mich in einer Lerngruppe auf die großen Examensprüfungen vorbereitet. Die Begleitmusik dazu waren schwarzer Tee – zwei, drei Kannen pro Tag – und Zigaretten. Aber kaum hatten wir das Examen in der Tasche, haben wir von diesen Lastern gelassen. Seit dem kann ich Zigaretten nicht mehr ertragen – genau so wie den schwarzen Tee von damals. << Michael Greiner

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P ol i t i k b e r atu n g

Eine Hand wäscht die andere? Der Staat fördert einen Teil der Forschung. Die Erkenntnisse der Wissenschaft können politische Entscheidungen stützen. Wie Experten die deutsche Regierung beraten und inwieweit sie Einfluss auf Entscheidungsprozesse haben.

Der Hessische Landtag in Wiesbaden: Hier treffen sich Politiker und Forscher. Gemeinsam suchen sie nach Lösungsansätzen für gesell-

© Reinhard Grieger

schaftliche Probleme.

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© Bundesregierung / Kugler

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er 11.11.2011 im CDU-Sitzungssaal des Hessischen Landtages. Hier wird nicht etwa die Fastnachtskampagne 2012 eröffnet, sondern die Sitzung der Enquete-Kommission »Migration und Integration in Hessen«. Pünktlichkeit scheint nicht oberste Priorität zu sein. Fünf Minuten verspätet begrüßt der Vorsitzende Jürgen Banzer (CDU) die Anwesenden und eine viertel Stunde später kommen auch die letzten Teilnehmer an. Gerade referiert Rauf Ceylan, Migrations- und Religionssoziologe an der Universität Osnabrück, über die Situation der Migranten in Deutschland und gibt den Politikern eine Handlungsempfehlung: »Es ist wichtig, den islamischen Religionsunterricht flächendeckend einzuführen.« Nach ihm tragen noch vier weitere Experten vor. Die Abgeordneten stellen eine Menge Fragen, unter anderem nach empirischen Befunden. Sie verlangen immer wieder nach Handlungsvorschlägen. Viereinhalb Stunden dauert der Dialog zwischen wissenschaftlichen Beratern und Abgeordneten. Zwar macht in diesem Fall die Haltung einiger Mitglieder – tief im Stuhl hängend, mit dem Handy spielend, sogar dösend –

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Stippvisite im Robert-Koch-Insitut in Berlin. Die Forschungseinrichtung ist Teil des Bundesministeriums für Gesundheit und berät die Politik vor allem in biologischen und medizinischen Fragen.

nicht den Eindruck, aber in einer EnqueteKommission haben die Wissenschaftler die Aufmerksamkeit der Politik. Somit können sie Einfluss auf den Schlussbericht nehmen. Bei der Enquete sind Sachverständige wie Unternehmer oder Wissenschaftler unter den ständigen Mitgliedern. Diese nehmen an jeder Sitzung teil und erarbeiten gemeinsam mit den Abgeordneten die Lösungsansätze.

Experten geben Empfehlungen Die Enquete-Kommission ist eine von vielen wissenschaftlichen Beratungsmöglichkeiten und wird vom Bundes- oder Landtag in Auftrag gegeben. Sie gewinnt mittels Expertenanhörungen, Arbeitsunterlagen und Forschungsaufträgen Informationen zu einem Thema und sucht nach Lösungsansätzen zu gesellschaftlichen Problemen. Die Kommission erarbeitet einen Schluss-

bericht und gibt ihn als Empfehlung an das Parlament. Ad-hoc-Kommissionen sind nicht wie die Enquete im Bundes- oder Landtag, sondern in der Bundes- oder Landesregierung angesiedelt. Der zuständige Minister oder die Bundeskanzlerin setzt sie ein, um sich externen Rat zu bestimmten Problemstellungen einzuholen. Der politische Auftraggeber wählt die Mitglieder frei aus. Diese Kommissionen sind für eine bestimmte Zeit eingesetzt und erarbeiten ebenfalls einen Schlussbericht, jedoch in der Regel mit Handlungsempfehlungen für die Regierung. Der Einfluss eines Schlussberichtes auf die Politik unterscheidet sich von Kommission zu Kommission. Denn letztlich entscheidet die Regierung, was sie damit macht. Und diese, meint Ulf Riebesell, nimmt Beratungen sowieso nur an, wenn sie es in ihrer Strategie gebrauchen kann. Riebesell ist Gutachter für den nächsten

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Bericht des Weltklimarats und forscht als Ozeanograph am Leibniz-Institut für Meereswissenschaften. Doch als Politikberater sehe er sich nicht: »Ein Wissenschaftler braucht nicht zu glauben, dass er die Politiker zum Handeln bringen kann«, sagt Riebesell. Für ihn seien die Bürger die treibende Kraft. Deshalb sehe er seine Verantwortung darin, der Gesellschaft korrekte Informationen zu vermitteln und zu ihrem Wohle zu handeln: »Das Entscheidende ist, was die Gesellschaft mit den Erkenntnissen macht. Die Politik wird erst auf die Äußerung der Gesellschaft reagieren. Siehe Fukushima.« Riebesell warnte als einer der Ersten vor der Ozeanversauerung als Folge des Klimawandels, doch »geschehen ist noch lange nichts«, sagt der Forscher.

merksam machen, mehrere Meinungen präsentieren, und ob sie deutlich machen, wenn Erkenntnisse vage sind«. Die Verwaltungswissenschaftlerin hat bereits gemeinsam mit Kollegen ein Gutachten für das europäische Parlament geschrieben: »Man fragt sich, wird das so verstanden, wie wir es meinen? Und was passiert mit den Sachen, die wir hier aufschreiben?« Kommunikationsschwierigkeiten sind laut Hustedt ein Problem der Politikberatung. Denn nicht immer werde das, was der Wissenschaftler für eindeutige Sprache halte, in der Politik auch so verstanden. Universitäten können die Politik durch Gutachten beraten. Ein Gutachten steht in der Regel in Verbindung mit einer Auftragsforschung. Dafür gibt es offizielle

Ausschreibungen. Die Forscher bewerben sich mit einem Vorschlag, wie sie an das Problem herangehen würden und was es kosten würde. Auch außeruniversitäre Einrichtungen, wie die Helmholtz-Gemeinschaft, beraten mittels Publikationen und Auftragsforschung die Politik. »Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein Gutachten komplett von einem Minister gelesen wird. Dafür sind Mitarbeiter da, die dann kanalisieren und mitteilen was darin steht«, sagt Hustedt. Inwiefern das Gutachten in einzelne Fragestellungen eingehe, könne davon abhängen, wie das zuständige Referat es aufnehme und weiterkommuniziere. Auch Ressortforschungseinrichtungen (RFE) forschen im Auftrag der Regierung.

Politik braucht Wissenschaft Trotz alldem ist gerade die Klimapolitik abhängig von der Expertise der Forscher. »Zum Klimawandel gab es in den 1980ern zwei Enqueten. Vor allem die Erste galt als sehr einflussreich für die weitere diskursive Struktur des Politikfeldes«, sagt Thurid Hustedt, Verwaltungswissenschaftlerin der Potsdamer Universität. Sie bestätigt, dass der Einfluss eines Abschlussberichts immer schwer nachzuvollziehen ist. Er werde zwar in jedem Fall in Ausschüssen und Plenen diskutiert. Das heiße aber nicht, dass er in einen Entscheidungsprozess mit eingehe. Dennoch weiß sie: »Die Grundtendenz ist, dass Politik wissenschaftsabhängiger wird. Die gute politische Entscheidung soll sowohl auf einer Wertentscheidung, wie auch nach bestem Wissen getroffen sein.« Da laut Hustedt der Beratene viel weniger als der Berater weiß, müsse Letzterer sich entsprechend verhalten und den Sachverhalt angemessen und sorgfältig vorbringen. Die Verantwortung habe er gegenüber den Gremien, seiner eigenen Disziplin und dem Beratenen. Laut Hustedt geben Wissenschaftler ihre Fakten nicht nur wieder, sondern interpretieren sie auch in ihrem sozialen Zusammenhang. Deshalb hängt ihrer Meinung nach verantwortliches Handeln der Berater davon ab, »wie sie ihre Ergebnisse kommunizieren, auf Streitigkeiten auf-

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Die 39 Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft der RFE sind Behörden im Geschäftsbereich der einzelnen Fachministerien, also den Ressorts. Das Bundesministerium für Gesundheit hat allein fünf verschiedene RFEs, darunter auch das Robert-Koch-Institut in Berlin. Sie erarbeiten wissenschaftliche Grundlagen, die als Entscheidungshilfe für das Ministerium dienen. Dieses kann direkt auf das Wissen zugreifen und eine kurzfristige Stellungnahme verlangen. Um dem gerecht zu werden, arbeiten die Einrichtungen an Vorlaufsforschungen. Dabei forschen sie im Auftrag des Ministeriums auf Gebieten, die aktuell keiner Beratung bedürfen, aber in der Zukunft schnell einen Handlungsvorschlag verlangen könnten.

Das Robert-Koch-Institut forscht beispielsweise zur Abwehr bioterroristischer Waffen. Für den Fall einer Epidemie hält es Wissen zu Human- und Tierseuchen bereit. »In einer Krisensituation wird eine Ressortforschungseinrichtung von einem auf den anderen Tag aktiviert«, sagt Hustedt. Kontinuierliches Bearbeiten und Beobachten langfristiger Fragestellungen gehören ebenfalls zu den Aufgaben einer RFE.

Freiheit der Forscher Aber wie unabhängig sind Forschungseinrichtungen, wenn sie an das Ministerium angebunden sind? Die Arbeitsgemeinschaft der RFE erklärt dazu in ihrem Positionspapier: Die Ressortforschung sei

Ob Biologie, Kernenergie, Medizin oder Sozialwissenschaften – Experten aus allen wissenschaftlichen Bereichen haben die

© Kurt Michel / © Ne–tgestalter.de / © Dr. Stephan Barth / © Sven Jähnichen / © T.Demand

Möglichkeit, Politiker zu beraten.

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thematisch vorbestimmt, aber die Wissenschaftler könnten ihre Methoden frei wählen und ihre Ergebnisse unabhängig interpretieren. Auch auf die Veröffentlichungen habe das Ministerium keinen Einfluss. Dauerhaft eingerichtete Beratungsgremien, wie der Ethikrat und der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, beraten die Politik fortwährend. Letzterer, auch die fünf Wirtschaftsweisen genannt, gibt jährlich einen Bericht an die Regierung. Es gibt rund 300 Beiräte und Sachverständigenräte dieser Art, wie die Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte in ihrer 19. Ausgabe berichtet. Ihnen gehören ausgewiesene Fachleute an, die entweder einem Bundesministerium, einer Bundesbehörde oder einer Einrichtung der Bundesverwaltung zugeordnet werden. Thurid Hustedt bestätigt, dass die Politikberatung ein kompliziertes System mit vielen Beteiligten ist. Im Prinzip könne jeder Experte sowie jede wissenschaftliche Einrichtung in entsprechenden Umständen zur Politikberatung beitragen. Doch die Einflussmöglichkeit eines Wissenschaftlers hänge vom Arbeitsfeld, der Art der Beratung und den Interessen der Politik ab: »Nach Auffassung vieler Wissenschaftler verlangen Politiker immer konkrete Empfehlungen, die sie dann nicht umsetzen«, sagt Hustedt. Aber wie gelangen Wissenschaftler auf den Radarschirm der Politikberatung? Für Gutachten können sie sich bewerben. Aber zu Kommissionen werden sie eingeladen. Dazu muss der Wissenschaftler laut Gisela Färber eine bestimmte Reputation haben und bereits als Experte bekannt sein, etwa über Publikationen oder Präsenz in den Medien. Färber ist Professorin für wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer und saß selbst schon in Kommissionen. Färber meint, auch weitere Wissenschaftler hätten die Chance sich bekannt zu machen. »Die Ministerialverwaltung besucht Tagungen. Da habe ich schon sehr oft erlebt, dass jemand, der gut ist, neue Ideen und innovative Fragestellungen unterbringen kann.« << Michèle Lauer

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K omme n ta r

Ein Hoch auf die Geldverschwendung

Ausgaben für Forschung und Entwicklung in Deutschland Das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) beträgt etwa 2,4 Billionen Euro.* Die Ausgaben für Bildung, Wissenschaft und Forschung belaufen sich auf insgesamt 204,1 Milliarden Euro. Das entspricht 8,4 Prozent des BIP. Mehr als zwei Drittel dieser Summe – rund 155 Milliarden Euro – fließen in die Lehre an Schulen und Hochschulen. Für Forschung und Entwicklung bleiben rund 61,5 Milliarden, die sich aus staatlichen und privatwirtschaftlichen Investitionen zusammensetzen. Die Wirtschaft trägt mit 43 Milliarden Euro etwa zwei Drittel der Gesamtsumme bei, Tendenz steigend. Der Staat, also Bund und Länder, finanziert den Rest von etwa 18,5 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Der Verteidigungsetat Deutschlands lag 2008 bei 25,7 Milliarden Euro, die staatliche Kulturförderung betrug rund 9 Milliarden Euro.

*Falls nicht anders angegeben, beziehen sich alle Zahlen auf 2007 .

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I

n turnhallengroßen Maschinen Protonen auf Anti-Protonen schießen, Frösche zählen im bolivianischen Urwald, oder die Frage, warum Wortspiele nicht für alle Menschen gleich lustig sind – das alles ist Grundlagenforschung. Der amerikanische Physiker und Wissenschaftstheoretiker Alvin M. Weinberg beschrieb die Grundlagenforschung einmal als Forschung, »die durch keinerlei Begründung gerechtfertigt werden kann, mit Ausnahme der Tatsache, dass sie die menschliche Neugier befriedigt«. Diese Begründung erscheint auf den ersten Blick recht dürftig. In Zeiten, in denen die großen Probleme der Menschheit – Armut, Hunger, Ungerechtigkeit – und selbst die alltäglicheren Probleme der Industriegesellschaften nicht annähernd gelöst sind, muss es fast zynisch erscheinen, für solche Forschung Geld auszugeben. Sollte man das Geld nicht besser nutzen, um anwendungsorientiert zu forschen? Wer die Entwicklung der Forschungsförderung in Deutschland betrachtet, kann zu dem Schluss kommen, dass die Regierung und ihre Berater aus Wirtschaft und Forschung genau dieses Ziel verfolgen. So rief die Bundesregierung schon 2006 eine »High-Tech Strategie« aus, um »die wichtigsten Akteure des Innovationsgeschehens hinter einer gemeinsamen

Idee« zu versammeln. Die Stärkung des »Wissenschaftsstandorts« Deutschland liegt der Bundesregierung am Herzen: Steuergelder fließen in eine »Exzellenzinitiative«, und der »Pakt für Forschung und Innovation« soll »Qualität, Effizienz und Leistungsfähigkeit in Forschung und Lehre« verbessern. Auch die Universitäten verändern sich. Die Bologna-Reform verkürzt das Studium und schafft Vergleichbarkeit zwischen den europäischen Universitätsabschlüssen. Alle diese Maßnahmen sollen Wissenschaft dynamischer, zielorientierter und produktiver machen. Eigentlich klingt das ja sehr vielversprechend. Und doch hört man immer wieder Kritik an dieser Entwicklung.

Kein praktischer Nutzen? »Allenthalben – ob in Kultur, Politik, Wissenschaft und Forschung, im Gesundheitswesen und selbst im gesamten Bereich der Bildung – scheinen offenbar vergleichbare Anforderungen zu bestehen wie für Unternehmen der Wirtschaft«, fasst etwa Eberhard von Kuenheim, lange Jahre Vorstandsvorsitzender der BMW AG, die Entwicklung zusammen. Die Art, wie Wissenschaft betrieben wird, verändert sich, und die Probleme, die daraus entstehen, werden immer offensichtlicher.

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© EFDA JET

Milliardengrab oder Hoffnung der Menschheit: Je nach Forschungsprojekt und Befragtem gehen die Meinungen zur Grundlagenforschung weit auseinander. Doch wer von ihr kurzfristig verwertbare Ergebnisse verlangt, gefährdet den Fortschritt.


Der »Joint European Torus« ist die weltweit größte Fusionsforschungsanlage. Der Nachfolgereaktor »ITER« ist aufgrund der hohen Bau- und Unterhaltskosten umstritten.

Glaubt man dem Nobelpreisträger Herbert Kroemer, ist die Ausrichtung der Forschung an der Wirtschaft langfristig schädlich für unsere Gesellschaft. »Der Druck, die Forschung auf vorhersagbare Anwendungen zu konzentrieren, verzögert den Fortschritt, statt ihn zu beschleunigen«, so Kroemer in einer Rede vor der Uni Jena. Kroemer erhielt den Nobelpreis für Physik für seine Forschungsarbeit zu Halbleiterlasern in den späten 1950er Jahren. Seinem Forschungsfeld rechnete man ursprünglich keinerlei praktischen Nutzen zu. Heute, rund 60 Jahre später, sind Halbleiterlaser aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. CDs und DVDs, optische Datenübertragung in Glasfaserkabeln und leuchtende LEDs: Das alles sind Entwicklungen, die ohne Kroemers Grundlagenforschung nicht möglich wären. Solche späten Erfolge kann man in der Geschichte der Forschung häufiger finden. Die wirtschaftliche Verwertbarkeit von Forschungsergebnissen zum einzigen

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Maßstab »guter Forschung« zu machen, setzt nicht nur ganze Wissenschaftszweige, wie zum Beispiel die meisten Geisteswissenschaften, einem gefährlichen Zwang zur Rechtfertigung ihrer Forschungsziele aus. Er führt auch dazu, dass langfristige Forschungsprojekte fast unmöglich werden. Ein gutes Beispiel ist hier die Kernfusion. Sie wird seit rund 40 Jahren erforscht, lange Zeit »ohne belastbare Aussicht auf Erfolg«, so die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (s.a. S. 36). In den letzten Jahren werden die Stimmen, die einen Ausstieg aus der Erforschung der Kernfusion fordern, wieder lauter. Doch allein das Potential dieser Technologie, die die gesamte Menschheit nachhaltig mit sauberer Energie versorgen könnte, rechtfertigt in meinen Augen auch weitere 40 Jahre Forschung. Selbst wenn sie ergebnislos bleiben sollten. Wenn wir wirklich verantwortlich mit unseren begrenzten Ressourcen umgehen

wollen, müssen wir uns von der Fixierung auf die finanziellen Kosten und den unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzen von Forschung lösen. Die Grundlagenforschung – die keinem anderen Zweck dient als unsere Neugier zu befriedigen – hat in der Vergangenheit bewiesen, dass sie das Verständnis von uns selbst und dem Universum, in dem wir leben, radikal verändern kann. Die anwendungsnahe Forschung hat sicher auch ihren Wert für die Gesellschaft und bereichert unseren Alltag. Doch: »Die entscheidenden Anwendungen jeder hinreichend neuen und innovativen Technologie waren immer Anwendungen, die von der Technologie selbst erst erschaffen wurden«, um nochmals Herbert Kroemer zu zitieren. Wirklich bahnbrechende Entwicklungen brauchen Zeit und viel Spielraum für Kreativität. Wenn wir also im Sinne unserer Nachkommen verantwortlich handeln wollen, müssen wir mehr »sinnlose« Forschung wagen – was auch immer es kosten mag. << Thorsten Schwetje

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i nt er v i e w

Gewissen verbindet

© Ann-Kathrin Braun

Die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler macht Lobbyarbeit für die Verantwortung

»Über eines muss man sich im Klaren sein: Eine gewissenhafte Entscheidung kann für den eigenen Erfolg oder Nicht-Erfolg, für die Anstellung oder NichtAnstellung ausschlaggebend sein.« Ulrich Bartosch

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I

m August 1945 gingen zwei Atombomben auf Japan nieder. Das angerichtete Leid und die Verwüstung zeigten, was technische Entwicklungen – die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen – anrichten können. Als sich im Kalten Krieg eine weitere nukleare Katastrophe anbahnte, zogen Carl Friedrich von Weizsäcker und 17 weitere Atomwissenschaftler Konsequenzen. 1957 schlossen sie sich zur Göttinger 18 zusammen und stellten sich öffentlich gegen die atomare Bewaffnung. Aus dieser Gruppe entwickelte sich die »Vereinigung deutscher Wissenschaftler« (VDW), die sich bis heute für mehr Verantwortung in der Wissenschaft engagiert. Aber was heißt das eigentlich genau? Und hat diese Art der Lobbyarbeit Zukunft? Wir haben uns mit dem Vorstandsvorsitzenden Ulrich Bartosch (der das Gespräch wegen eines Folgetermins leider etwas früher verlassen musste) und dem Geschäftsführer Reiner Braun getroffen.

»Wir sind nicht nur für das verantwortlich was wir tun, sondern auch für das, was wir widerspruchslos hinnehmen.« Worte von Linus Pauling, einem berühmten US-amerikanischen Wissenschaftler, dem 1963 der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Wo sehen Sie zurzeit Handlungsbedarf? Wo nehmen Wissenschaftler und Gesellschaft Missstände hin? Braun: Es muss eine gründlichere Technikfolgenabschätzung her. Ein Beispiel ist die Nanotechnologie. Hier brauchen wir einen stärkeren gesellschaftlichen Diskurs, das gleiche gilt für die Gentechnik. Muss das Kind erst in den Brunnen fallen, bevor wir merken, dass wir einen falschen Weg gegangen sind? Auch die Rüstungsforschung ist nach wie vor ein großes Thema. Rüstungsforschung ist meiner Ansicht nach Forschung zum Töten. Das heißt, die VDW besteht aus überzeugten Pazifisten? Braun: Die Gegnerschaft zur Rüstungsforschung muss nicht unbedingt Pazifismus

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Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

gibt es keine Wissenschaftsdisziplin, die sich nicht mit gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Verantwortung beschäftigen muss. Bartosch: Und heute ist es unsere Aufgabe als Vereinigung, ein allgemeiner Pool zu sein. Aus allen Fachrichtungen treffen sich Wissenschaftler und arbeiten an Themen, für die sie an anderer Stelle nicht so leicht Unterstützung bekommen. Die vielfältige wissenschaftliche Arbeit der VDW ist möglich, da sie aus rund 400 Mitgliedern besteht, wovon zwei Drittel Wissenschaftler sind. Sogar sein müssen, das schreibt die VDW vor. Was ist mit dem restlichen Drittel? Bartosch: Das sind wissenschaftlich gebildete und interessierte Persönlichkeiten. Wir brauchen auch Mitglieder aus der öffentlichen Verwaltung oder aus Unternehmen, damit wir besser mit Politik und Gesellschaft zusammen arbeiten können. Und wie werden die Mitglieder der VDW ausgewählt? Bartosch: Man kann einen Mitgliedsantrag stellen, braucht dann aber Bürgen, die bereits in der VDW sind. Oder ein Mitglied der VDW schlägt jemanden vor. Die Anfragen werden dann vom Vorstand geprüft. Es gibt also keine anonymen Anträge. Warum ist das so? Bartosch: Das kontrollierte Aufnahmeverfahren gewährleistet die Unabhängigkeit der VDW von Parteilichkeiten und Ideologien. In unserem Verein sollen sich die Mitglieder dem Thema Verantwortung unabhängig widmen können. Zurzeit bearbeiten Sie neue Mitgliedsanträge. Bei Ihrem Gespräch vorhin haben wir aufgeschnappt: »Kapitalisten nehmen wir nicht auf.« Statement? Braun: Nein, da ging es um einen ganz anderen Punkt. Es ging um die ethische Debatte über Rüstungskonzerne. In der

© Ann-Kathrin Braun

sein. Allerdings setzen wir uns dafür ein, dass der Krieg durch Konventionen abgeschafft wird, ebenso wie das schon für Folter und Sklaverei geschah. Gibt es ein Schlüsselerlebnis, das Sie dazu gebracht hat, sich mit dem Thema Verantwortung in der Wissenschaft zu beschäftigen? Braun: Ja, das war 1983. Damals habe ich den Kongress »Naturwissenschaftler warnen vor neuen Atomwaffen« vorbereitet. Der gerade von Ihnen zitierte Linus Pauling war einer der Sprecher. In einer Pause saßen wir zusammen und hielten einen Mittagsplausch, nebenher aß er seine Vitamintabletten. Dazu muss man wissen: Linus Pauling war ein überzeugter Vertreter der These, dass Vitamine als Nahrungsergänzungsmittel der Schlüssel zu einem längeren und gesünderen Leben sind. Heute ist das sehr umstritten. Braun: Genau. Jedenfalls erzählte er mir, wie unverantwortlich er es fände, dass die Rüstungsforschung an amerikanischen Universitäten eine so große Rolle spiele. Daraus hat sich eine Diskussion über Verantwortung entwickelt, die mich sehr geprägt hat. Herr Bartosch, um welche Verantwortung geht es der VDW genau? Bartosch: Es geht um Verantwortung in zweierlei Hinsicht. Zum einen hat der Wissenschaftler selbst die Verantwortung, über die Folgen seines Tuns nachzudenken. Zum anderen hat die Wissenschaftsgemeinde die Aufgabe, sich für mehr Verantwortung in der Wissenschaft einzusetzen. Hat sich diese Verantwortung in den letzten Jahrzehnten verändert? Braun: Sie hat sich ausgeweitet. Früher war die VDW absolut physiklastig. Heute steht die Wissenschaftsverantwortung in einem viel breiteren Spektrum. Zugespitzt gesagt

»Man sollte unsere Position nicht überschätzen. Die Politik macht nicht einfach das, was wir möchten, nimmt aber Anregungen der VDW auf. Diese Ratgeberrolle wollen wir weiter spielen.« Reiner Braun

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© Ann-Kathrin Braun

»In der Rüstungsindustrie gibt es viele Wissenschaftler und Ingenieure. Es würde uns vor einige Probleme stellen, wenn von ihnen jemand beantragen würde, Mitglied der VDW zu werden. Rüstungsforschung ist meiner Ansicht nach Forschung zum Töten.« Reiner Braun 36

Rüstungsindustrie gibt es viele Wissenschaftler und Ingenieure. Es würde die VDW vor einige Probleme stellen, wenn davon jemand beantragen würde, Mitglied der VDW zu werden. Bartosch: Die Bemerkung zum Kapitalismus war ein Spaß. Aber im Ernst: Ich sehe das nicht so dramatisch. Es wäre für mich kein Problem jemanden in unseren Reihen zu haben, der an dieser Stelle eine andere Position vertritt. Überhaupt nicht. Wissenschaft lebt doch von der Kontroverse und vom Streit, oder? Ohne Frage. Gibt es denn in manchen Wissenschaftsdisziplinen eine größere Verantwortung als in anderen? Braun: Ganz provokativ: nein! Nehmen wir das Beispiel der Fusionsforschung. Wenn zwei Atomkerne verschmelzen, entsteht enorm viel Energie. Die könnte man nutzen, gäbe es dafür eine entsprechende Technik. Nun schreiben Sie in Ihrem Positionspapier »Für eine verantwortbare und zukunftsorientierte Forschungspolitik in Deutschland« (2010), dass Fusionsforschung zu stark gefördert wird und dafür zu wenige Ergebnisse liefert. (s.auch S.33) Daraus schließen wir, dass Ihrer Meinung nach diese Forschung weniger wichtig ist. Braun: Ich würde das anders diskutieren. Wenn wir für Forschung nur begrenzte Mittel haben, dann müssen wir überlegen, wohin die Gelder fließen. Angesichts der Herausforderungen, vor denen die Welt steht, müssen Forschungsschwerpunkte gesetzt werden. Vergessen wir nicht, wir leben mit und in der Zivilisationskrise. Also keine Entscheidung zwischen wichtig und unwichtig, sondern zwischen nachhaltig und nicht nachhaltig? Bartosch: Genau. Die Frage ist, welche Forschung eine Generation in 60 Jahren unterstützen würde, wenn sie heute entscheiden könnte. Von den Exportgewinnen der nächsten zehn Jahre werden sie nicht profitieren, aber die Klimafolgen werden sie tragen müssen. Es geht nicht darum, ob die Theologie weniger wichtig ist als die Kernphysik, oder die Pädagogik weniger folgenreich als die Elektrotechnik. Es geht darum, absehbare Folgen zu erkennen und mit Mitteln der Wissenschaft etwas dagegen zu tun.

Kann der Forscher denn selbst die Folgen, die seine Forschung möglicherweise hat, beeinflussen? Bartosch: Der Wissenschaftler kann sich die Frage stellen: »Welche Forschungsergebnisse publiziere ich und welche nicht?« Und er kann sagen: »Ich will an einer bestimmten Forschung nicht mitwirken, also mache ich es auch nicht.« Ist das nicht ein Verlust an Wissen, wenn man sagt, man wirkt bei einer bestimmten Forschung nicht mit? Bartosch: Es ist auf jeden Fall eine Einschränkung. Außerdem muss man sich darüber im Klaren sein, dass so eine Entscheidungen auch den eigenen Erfolg oder Nicht-Erfolg, die eigene Anstellung oder Nicht-Anstellung beeinflusst. Die VDW unterstützt solche Entscheidungen mit dem »Whistleblower-Preis«. Whistleblower, das sind Leute, die mit Missständen innerhalb ihrer Unternehmen oder Institutionen an die Öffentlichkeit gehen – ungeachtet der Konsequenzen. Glauben Sie, dass diese Auszeichnung Andere ermutigt, das Selbe zu tun? Braun: Dieser Preis hat Symbolcharakter, bewirkt allein jedoch nicht viel. Damit Whistle-Blowing allgemein anerkannt wird, muss es ein Gesetz wie in den USA geben. Dieses fordert die Menschen dazu auf, gewissenhaft zu arbeiten und zu handeln, ohne bestraft zu werden. Dafür setzen wir uns ein. Seit sechs Jahren kämpfen Sie schon für dieses Gesetz. Wie groß ist die Chance, dass es umgesetzt wird? Braun: Bei der letzten Anhörung im Bundestag waren sich alle Parteien einig, dass es so ein Gesetz geben muss. Ich bin mir nicht sicher, ob es diese Regierung noch beschließen wird, die nächste ganz bestimmt. Die VDW in der Politik: Wie schätzen Sie Ihren Stellenwert ein? Braun: Die Politik macht nicht einfach das, was wir möchten, nimmt aber Anregungen der VDW auf. Diese Ratgeberrolle wollen wir weiter spielen. Man soll seine eigene Position nicht überschätzen. Im Leitbild der VDW steht, dass sie überparteilich ist. Können Sie das so unterschreiben, oder sehen Sie Tendenzen zu der einen oder anderen Partei?

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Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

wird niemals Interesse wecken können. Die VDW fordert und fordert… Braun: Ich würde sagen, wir fordern nicht, wir machen Vorschläge. Liest man Ihr Leitbild, sind Ihre Forderungen aber nicht zu übersehen. Wo handelt die VDW konkret? Braun: Handeln können Wissenschaftler in ihrem Umfeld, in Universitäten und Forschungsinstituten. Die 400 Mitglieder der VDW sind natürlich nicht der Machtfaktor, der die Gesellschaft verändert. Da sind wir realistisch. Aber Veränderungen vollziehen sich. Kernkraft ist eines unserer zentralen Themen. Hätte man mir vor einem Jahr gesagt, dass Deutschland 2011 den Ausstieg aus der Atomenergie beschließt, ich hätte ihn einen Spinner genannt! Nun haben Sie immer wieder Projekte zu bestimmten Themengebieten, zum Beispiel die Fachtagung »Zukunft der Ernährung« (2011). Dafür braucht man Geld. Wie finanziert sich die VDW? Braun: Die VDW hat drei Finanzgrundlagen. Mitgliedsbeiträge, Spenden von Mitgliedern und Gelder von Stiftungen. Von der »Deutschen Bundesstiftung Umwelt« haben wir für das Projekt »Zukunft der Ernährung« 125 000 Euro bekommen, ein sehr hoher Betrag für unsere Verhältnisse. Sie nehmen also auch Geld von externen Quellen an. Würden Sie jede Spende annehmen? Braun: Wir nehmen Spenden an, solange sie nicht anrüchig sind. Was wäre eine anrüchige Spende? Braun: Wenn ein Rüstungsunternehmen uns Geld anbieten würde. Das widerspräche völlig den ethischen Grundlagen der VDW. Aber ein Rüstungsunternehmen würde auf diese Idee wohl auch nicht kommen. Eine letzte Frage, Herr Braun: Wie setzen Sie persönlich die Verantwortung in Ihrer Arbeit um? Braun: Ich werbe dafür, dass der Frage nach Verantwortung mehr Bedeutung beigemessen wird – überall. Ich gehe keinem Streit darüber aus dem Weg. Und ich bemühe mich, dass auch dort, wo es nicht offensichtlich ist, die Frage nach Verantwortung der Wissenschaft gestellt wird. << Das Gespräch führten Katrin Collmar und Ann-Kathrin Braun.

© Ann-Kathrin Braun

Braun: Überparteilich heißt in diesem Falle, dass wir mit allen im Diskurs sind. Die NPD nehme ich aus, das ist für mich keine Partei, sondern eine verfassungswidrige Organisation. Natürlich gibt es Parteien, die die Mitglieder eher wählen als andere. Hat die Tendenz, dass Mitglieder bestimmten Parteien zuneigen, Einfluss auf die Schwerpunktsetzung der VDW? Braun: Das würde ich nun absolut anders herum sehen. Wir beeinflussen eher die Themenstellungen der Parteien! Der Klimaberater der Bundesregierung, Hans Joachim Schellnhuber, ist beispielsweise Mitglied der VDW und berät Frau Merkel. Sie machen also Lobbyarbeit für eine nachhaltige Wissenschaft. Braun: So kann man es zusammenfassen. Sie fordern eine demokratische Wissenschaftspolitik. Warum ist das wichtig? Braun: Ein Beispiel ist der Umgang mit der Klimaveränderung. Wie man dagegen vorgeht, kann nicht über die Köpfe der Bürger hinweg entschieden werden. Da hilft kein Elfenbeinturm Wissenschaft. Das heißt, es muss eine enge Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Normalbürgern her. Wie könnte so eine enge Zusammenarbeit aussehen? Braun: Wissenschaftler können zum Beispiel den Bürgerinitiativen helfen. Das geht nur, wenn die Anregungen aus diesen Initiativen auch ernst genommen werden. Der Streit um das Atommülllager in Gorleben ist ein Beispiel. Die Bevölkerung vor Ort weiß gut Bescheid. Wenn diese Menschen mit der Wissenschaft zusammenkommen, was teilweise geschieht, dann können daraus Oppositionen gegen gefährliche Projekte entstehen. Aber wie könnte man die wissenschaftlichen Informationen verständlich an den Mann bringen? Braun: Ich würde dafür kein Patentrezept entwickeln. Es würde mich freuen, wenn das Bildungsniveau in diesem Land so hoch wäre, dass alle ein kleines Interesse an Wissenschaftsthemen hätten. Aber das ist nicht so? Braun: Zurzeit nicht, nein. Dazu brauchen wir ein Bildungssystem, das diese Neugierde schürt. Eines, das Schülern und Studenten die Wissenschaft nur vorknallt,

»Es geht nicht darum, ob die Theologie weniger wichtig ist als die Kernphysik. Es geht darum, absehbare Folgen zu erkennen und mit Mitteln der Wissenschaft etwas dagegen zu tun. Die Frage ist: Welche Forschung würde eine Generation in 60 Jahren unterstützen?« Ulrich Bartosch

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G esch i c h te d e r Radioaktivität

Der radioaktive Elfenbeinturm Atomphysiker zwischen Fortschritt und Rechtfertigung

Hiroshima und Nagasaki – hunderttausend Menschen starben, als Amerika im Zweiten Weltkrieg Atombomben über Japan abwarf. Diese Tragödie erschütterte nicht nur das politische Weltklima, sondern auch die Wissenschaft. Forscher versuchten, möglichst ungestört vom politischen Tagesgeschehen ihrer Arbeit nachzugehen. Doch der Elfenbeinturm der radioaktiven Wissenschaft zerbrach für viele von ihnen. So schockiert die Wissenschaftsgemeinde auch war, einige von ihnen hatten auch geahnt, wohin ihre Forschungen führen könnten – und dennoch weiter experimentiert. Die folgenden Beispiele zeigen, in welchem Konflikt Atomphysiker während und nach ihrer Forschung standen.

Pierre Curie

Albert Einstein

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»Mehr Gutes als Böses«

»Mitmörder an der Menschheit«

Marie und Pierre Curie forschten zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach bisher unbekannten radioaktiven Elementen und konnten schließlich zwei neue entdecken: Radium und Polonium. Sie erlebten die schädigende Wirkung der Radioaktivität an der eigenen Haut: Durch ständigen Kontakt mit den Proben erlitt Marie Curie Strahlenverbrennungen an den Händen. Für ihre Entdeckungen wird ihnen 1903 zusammen mit Henri Becquerel, Maries Doktorvater, der Nobelpreis verliehen. In seiner Rede zur Nobelpreisverleihung äußerte Pierre Curie jedoch nicht nur Dankesworte, sondern auch erste Bedenken: »Es ist nicht auszuschließen, dass Radium in den Händen von Verbrechern zu einer großen Gefahr werden kann, und so darf man wohl die Frage aufwerfen, ob es für den Menschen vorteilhaft ist, Nutzen daraus zu ziehen, oder ob er mit diesen Erkenntnissen Schaden anrichtet … Dennoch gehöre ich zu jenen, die mit Nobel glauben, dass neue Entdeckungen der Menschheit mehr Gutes als Böses bringen.«

Albert Einstein war überzeugter Pazifist. Doch als er zur Zeit des Zweiten Weltkriegs erfuhr, dass Deutschland angeblich an einer Atombombe forschte, schrieb er einen Brief an den damaligen amerikanischen Präsidenten Roosevelt, in dem er auf diese Gefahr aus Deutschland hinwies. Zudem schlug er vor, »…dass ein ständiger Kontakt zwischen der Regierung und der Gruppe von Physikern in Amerika hergestellt wird, die an dem Zustandekommen der Kettenreaktion arbeiten…«, die für den Bau einer Atombombe notwendig war. Einstein hoffte, dass Amerika mit einer eigenen Atombombe den Krieg schnell genug beenden könnte, bevor Deutschland eigene Atomwaffen entwickelte. Als später die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki fielen, bereute er diesen Schritt schwer. Auch ohne Einsteins Brief hätte Amerika die Forschung an den Atombomben aufgenommen. Doch für den Einsatz der Waffen in Hiroshima und Nagasaki gab er sich die Schuld und nannte sich selbst »Mitmörder an der Menschheit«.

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Nobel Foundation, Ferdinand Schmutzer, wikimedia commons

Marie Curie


»Sie dürfen nicht uns Wissenschaftler verantwortlich machen« Lise Meitner, eine jüdische Kernphysikerin, forschte zusammen mit Otto Hahn an dem Zerfall radioaktiver Stoffe, bis die Schreckensherrschaft der Nazis sie zur Ausreise zwang. Später führten ihre und Hahns Erkenntnisse zum Bau der Atombombe durch die Amerikaner. Als Lise Meitner damit konfrontiert wurde, wies sie alle Schuld von sich: »Ich muss betonen, dass ich selbst nichts mit den Arbeiten zu tun habe, die todbringende Waffen in die Welt gesetzt haben. Sie dürfen nicht uns Wissenschaftler verantwortlich machen, was Kriegstechniker damit getan haben«.

»Dann bring ich mich um!« Otto Hahn arbeitete zur Zeit des Zweiten Weltkriegs am Uranprojekt des Heereswaffenamtes mit. Ziel des Projekt war es, die Kernspaltung technisch nutzbar zu machen, beispielsweise für Kernreaktoren. Aber Hahn weigerte sich, diesen technischen Fortschritt zu unterstützen. Laut Carl Friedrich von Weizsäcker soll Hahn gesagt haben: »Wenn aus meiner Entdeckung eine Atombombe für Hitler hervorgeht, bring ich mich um«. Als die Atombomben in Japan niedergingen, fühlte er sich dafür verantwortlich. Ein Teil von ihm war aber auch erleichtert. In sein Tagesbuch schrieb er im Oktober 1945: »Mein erster Gedanke: Ein Glück, dass wir [Anm. d. Red.: die Deutschen] damit nicht angefangen haben«.

»Durch Sorgfalt Gefahren vermeiden« Werner Heisenberg war einer der führenden Atomphysiker in Deutschland.

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte er sich vor allem für die Stromversorgung durch Kernreaktoren ein. Heisenberg war sich offenbar der Gefahren bewusst, die ein solcher Reaktor mit sich bringt. Für ihn war das jedoch ein sicherheitstechnisches Problem, das lösbar war: »Die Gefahren durch radioaktive Stoffe sind also zweifellos vorhanden, aber sie gehören zu den am leichtesten messbaren und daher auch durch Sorgfalt vermeidbaren Gefahren«.

Lise Meitner

»Deutschland braucht sie« Klaus Traube leitete in den 1970er Jahren den Bau eines Atomreaktors in Kalkar. Als das Bundesamt für Verfassungsschutz zu Unrecht vermutete, dass Traube Kontakt zu Terroristen suchte, verwanzten sie seine Wohnung und wandten sich auch an seinen Arbeitgeber. Traube wurde daraufhin gekündigt, woraufhin er sich zu einem der härtesten Atomkritiker Deutschlands wandelte. Doch erste Zweifel waren ihm bereits während seiner Arbeitszeit gekommen. Immer wieder erlebte er, wie unvorsichtig Arbeiter in Atomkraftwerken arbeiten. Dabei sieht Traube noch heute nicht nur die Gefahren menschlichen Versagens: »Ein katastrophaler Atomunfall [kann] nicht nur, wie in Tschernobyl, unbeabsichtigt ausgelöst werden, sondern eher noch durch terroristische oder kriegerische Angriffe auf ein Atomkraftwerk. Vor allem aber schafft die Nutzung von Atomkraftwerken eine Infrastruktur, die als Grundlage für die Atombombe dienen kann.« Dennoch ist er Atomkraftwerken nicht vollends abgeneigt. Im März 2011 äußert er gegenüber der FAZ: »Ich bin nicht gegen die Technik, ein dicht bevölkertes Land wie Deutschland braucht sie.« << Julia Reuther

Werner Heisenberg

Otto Hahn

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INT ER V I E W

Kompromisse für Kompromisslose Katastrophen wie der atomare GAU von Fukushima lassen den Ruf nach mehr politischer Verantwortung laut werden. Handeln ist angesagt. Im Frühjahr 2011 richtete die Bundes­ regierung deshalb ihre Energiepolitik neu aus und bildete dazu Ethikkommission »Sichere Energieversorgung«. Volker Hauff war eines der Mitglieder und erklärt, wie man für ein hochideologisches Thema Kompro­misse findet.

Wann haben Sie erfahren, dass Sie in dem von Bundeskanzlerin Angela Merkel einberufenen Gremium mitwirken sollen? Hauff: Das war sehr kurzfristig. Unmittelbar nach dem Unfall von Fukushima hat die Bundesregierung beschlossen, die Kommission einzurichten. Mich hat der Chef des Bundeskanzleramtes angerufen und gefragt, ob ich bereit wäre bei der Kommission mitzuarbeiten. Von 17 Mitgliedern gab es drei Vertreter der Kirche. Inwiefern waren diese für die Leistung der Gruppe relevant? Hauff: Sie waren sehr relevant. Vor allem Herr Glück [Anm.d.Red.: Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken] war eine große Bereicherung für die Diskussion in der Kommission. Er hat sich auf den Prozess des Nachdenkens eingelassen und nicht gleich gesagt, so und so muss es sein. Nun kamen Sie als Gruppe erstmals zusammen und sollten innerhalb von zwei Monaten eine Empfehlung abgeben. War zumindest organisatorisch schon klar, wie man die nächsten Wochen vorgehen wollte? Hauff: Nein, überhaupt nichts war klar: Welchen Rhythmus die Sitzungen haben

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oder ob man Arbeitsgruppen bildet – nichts war klar. Wir haben zunächst in einer chaotischen Situation zusammen diskutieren müssen, was wir eigentlich tatsächlich machen. Das war am Anfang verwirrend für alle. So etwas muss man aber ertragen und aushalten können, wenn man in solch eine Kommission geht. Wie war der weitere Ablauf? Hauff: Wir sind am Ende der zwei Monate insgesamt dreimal in Klausur gegangen. In der Regel haben wir uns am Freitag Nachmittag oder Abend getroffen und dann bis Sonntag getagt. Das heißt: drei Tage lang zurückgezogen, an einem Ort, an dem wir ungestört arbeiten konnten. Wo der Einzelne nicht abends noch schnell verschwinden oder etwas anderes machen kann. In der Zeit haben wir sehr konzentriert und teilweise bis in die Nacht hinein diskutiert. Dazwischen haben wir regelmäßige Sitzungen abgehalten. Wie viele Standpunkte kamen im Gremium zusammen? Oder war man grundsätzlich einer Meinung und hat geprüft, was möglich ist? Hauff: Es gab eine Reihe von Leuten, die Kernenergie kategorisch ablehnten. Auf der anderen Seite gab es die, die gesagt

haben: »Das ist richtig, das ist gefährlich, aber es gibt bei jeder Technologie Gefährdungen und Risiken. Bei der Kernenergie ist das nicht prinzipiell anders.« Nach langer Diskussion gelang uns die Aussage: Diesen Widerspruch können wir in der Kommission nicht auflösen. Die Frage ist, wie wir damit umgehen. Das war einer der wichtigsten Punkte in unseren Beratungen. Wir konnten uns, trotz unterschiedlicher Grundpositionen, auf der Ebene, was jetzt zu tun ist, wieder finden. Wie kann ich mir den Diskurs im Gremium vorstellen? Hauff: In wachsendem Maße war es eine Diskussion entlang von Texten. Manchmal war es auch eine freie Diskussion: Wenn die Einzelnen gesagt haben, warum sie in der Kommission mitarbeiten und welche Grundposition sie zu den einzelnen Themen haben. Da hatte man zunächst den Eindruck: »Um Gottes willen, wie soll daraus ein vernünftiger Bericht entstehen?«. Aber langsam bekam der eine Struktur. Wie konnte man sich auf eine einstimmige Empfehlung einigen? Hauff: Jeweils nach den Sitzungen der Ethikkommission wurde ein Text dazu verschickt, auf den die Mitglieder dann

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© Jeannine Schadel

reagierten. Anschließend wurde der Text noch einmal überarbeitet. Das war der Ausgangspunkt für neue Beratungen. Wenn über etwas besonders intensiv nachgedacht wurde, haben wir in der Zwischenzeit zusammen telefoniert. Wir hatten kein formalisiertes Verfahren. Wenn der Bedarf da ist, muss man da sein und Zeit haben. Hinter Entscheidungen stehen immer Interessen verschiedener Personen. Wurden einige Interessen weniger berücksichtigt als andere? Hauff: Wenn man gemeinsam berichtet, muss jeder Abstriche machen. Und jeder hat Abstriche gemacht. Es ist kein Geheimnis, dass es Herrn Hambrecht von der BASF sehr schwer gefallen ist, den Bericht zu akzeptieren. Andere fanden eher, dass der Bericht ganz gut war, dass man nur redaktionelle Änderungen vornehmen müsste. Dazu würde ich mich zum Beispiel selbst zählen. Ich war mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Wenn Sie diese Zeit mit drei Worten beschreiben müssten, welche wären es? Hauff: Lehrreich, inhaltsschwer und erfolgreich. << Jeannine Schadel

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Der deutsche Politiker Dr. Volker Hauff war viele Jahre Mitglied des Deutschen Bundestages (1969-1989). Er ist gelernter Volkswirt, SPD-Mann und war in verschiedenen Bereichen tätig. Unter anderen war er parlamentarischer Staatssekretär (1972-1978), Bundesminister für Bildung und Forschung (19781980) und Oberbürgermeister von Frankfurt am Main (1989-1991). Das Thema Nachhaltigkeit hat ihn am längsten beschäftigt. Neun Jahre amtierte er als Vorsitzender des Rates für Nachhaltige Entwicklung und wurde 2010 mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis ausgezeichnet. Die von ihm entwickelten Handlungsstrategien zur nachhaltigen Entwicklung fanden in der Ethikkommission »Sichere Energieversorgung« Anwendung. Vom 4. April bis 28. Mai 2011 erarbeiteten die Mitglieder eine Empfehlung für die zukünftige Energiepolitik Deutschlands. Der Abschlussbericht schlägt vor, aus der Kernenergie innerhalb eines Jahrzehntes auszusteigen. Dazu entwickelte die Kommission politische Leitlinien. Eine sieht vor, einen unabhängigen Parlamentarischen Beauftragten im Deutschen Bundestag einzusetzen, der die Energiewende organisiert und kontrolliert. Bisher wurde dieser Vorschlag von der Bundesregierung jedoch noch nicht berücksichtigt.

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Wir sind in Klausur gegangen und haben tagelang bis in die Nacht hinein diskutiert.

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g l o sse

Neueste Forschung: Jetzt in Ihrem Badezimmer! Wie uns die Kosmetikindustrie eine faltenfreie Welt vorgaukelt und warum wir gerne zuhören.

DRAMATISCHE Ergebnisse, sofort! Zwanzig Jahre jünger aussehen in nur wenigen Tagen! So kreischt die Creme aus dem Regal der Apotheke, der Parfümerie oder dem Drogeriemarkt. Die Parfümerie meines Vertrauens verlasse ich nie ohne ein Pröbchen. Dieses Mal säuselt die Verkäuferin etwas von »wunderbar strahlende Haut durch neueste Erkenntnisse aus der Stammzellenforschung« in mein Ohr. Wissenschaft in der Parfümerie: Hier jagt eine Innovation die nächste. Das Unmögliche scheint möglich. Mich beschleicht der Verdacht: So viel »Neues« und »Bahnbrechendes« kann es doch gar nicht geben. Aber zum Glück sind die »neuesten Erkenntnisse« wissenschaftlich bestätigt, geprüft, kontrolliert – sicher. Mit Wissenschaftlichkeit werben, das wirkt seriös und vertrauenswürdig. Bei Clinique ist der Name Programm: Gegründet von einem Hautarzt, tragen die Angestellten im Verkauf weiße Kittel und führen Hautanalysen durch. »Götter in Weiß« gibt es also nicht nur in der Klinik. Was steckt hinter der Werbung? Seriöse Forschung oder eine geschickte Marketingkampagne? Ein Wissenschaftler, der begeistert von seiner neuen Entdeckung gegen Falten schwärmt, ist mir noch nicht begegnet. Auch keiner, der davon erzählt, wie eine Creme die Stammzellen der Haut anregt – das klingt beeindruckend. Vielleicht kann man damit auch unsterblich werden? Studien? Wirksamkeitstests? Ich bin neugierig: Einseitige Zusammenfassungen, deren Inhalt sich auf »Kauf mich!« beschränkt, habe ich genug. Ich suche eine vollständige »Wirksamkeitsstudie«, will wissen: Wer hat getestet? Wer bezahlt die Tests? Und wie genau laufen sie ab? Meine Recherche macht einsam: Gesprächig wird bei diesen Fragen keiner. Auch Verbraucher bekommen zum Beispiel bei

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Estée Lauder lediglich etwas wie »die Studien sind Firmeneigentum« zu hören. Von der Auswahl der Probanden bis hin zum Anlegen einer Kontrollgruppe – das ganze Studiendesign bleibt meist unveröffentlicht. Studien werden oft in firmeneigenen Instituten durchgeführt. Das ist zum Beispiel bei Beiersdorf der Fall: Im »Hautforschungszentrum« führt der Konzern laut eigener Internetseite jährlich rund 1.500 Studien durch. Eine weitere Möglichkeit ist es, die Studie in fremde Hände zu geben: Man beauftragt ein »unabhängiges Forschungsinstitut«. Unabhängig – selbstverständlich, und auf die Bedürfnisse des Kunden zugeschnitten. Auf den Webseiten vieler solcher Institute wirbt man mit »Dienstleistungen vom Studiendesign bis hin zur statistischen Auswertung«. Dieses Zitat findet sich auf der Webseite des Auftragsforschungsinstituts Proderm. Referenzen verrät Proderm, die sich unter anderem auf Kosmetik spezialisiert haben, leider nicht. Langsam dämmert es mir: Das Studiendesign ist der Schlüssel zum Erfolg. Es gibt unzählige Wege, eine Studie zu manipulieren. Was nicht passt, wird passend gemacht – das funktioniert tatsächlich. Auch Experten wie Prof. Martina Kerscher, Dermatologin und Kosmetik-Forscherin, schreibt in ihrem Buch »Dermatokosmetik« vom »Mangel unabhängiger, vergleichender, doppelblinder Studien«. Um mit einer besonderen Wirkung werben zu dürfen, muss diese mit Datenmaterial belegt werden. Der Bundesgerichtshof stellte dazu 2010 fest, dass eine »einzige durchgeführte Studie zur Absicherung von Werbeaussagen reichen kann«. Anders als zum Beispiel bei Arzneimittelherstellern muss keine wissen-

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© Christina Ress

2010 wurden in Deutschland circa 12,8 Milliarden Euro für Körperpflegemittel ausgegeben. Von schönen Tiegeln und Tübchen lassen sich Verbraucher gerne blenden. Aber hält der Inhalt auch, was die schöne Verpackung verspricht?

schaftliche Diskussion unabhängiger Experten die Studienergebnisse absichern. Aber was kann eine Creme überhaupt bewirken? Sie besteht aus Wasser, Fett und einem Stoff, der die beiden zusammenhält. Aber keine Sorge: Man kann diesem Gemisch »Wirkstoffe« zusetzen – Kollagen zum Beispiel. Kollagenproteine können allerdings nicht in die Haut eindringen und deren »Kollagenvorrat« auffüllen. Sie bilden einen dünnen Film auf der Hautoberfläche aus. Dieser, schreibt Martina Kerscher, ziehe sich beim Trocknen leicht zusammen und straffe so vorübergehend feine Fältchen. Der Effekt hält solange, bis man sich die Creme aus dem Gesicht wäscht. Keine Creme lässt tiefe Falten verschwinden. Durch die Feuchtigkeitsanreicherung werden kleine Falten vorübergehend geglättet. Das bestätigt auch Stiftung Warentest: Beim Test verschiedener Anti-Aging-Produkte (3/2007) ist die Feuchtig-

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

keitsanreicherung bei allen Produkten mindestens »gut«, die Faltenreduzierung bei der Mehrheit der Produkte befriedigend bis ausreichend. Selbst die beste Creme brachte nur minimale Erfolge – so könne man eine Falte von 0,15 Millimeter auf 0,12 Millimeter Tiefe reduzieren. Das entspricht 20 Prozent – klingt super, ist für das bloße Auge aber kaum sichtbar. Glaubt der Verbraucher, was er liest? Wahrscheinlich nicht. Aber die Mischung aus Hoffnung und Zweifel beim Blick auf die Falten im Gesicht, gepaart mit einem Quäntchen Wissenschaftlichkeit lässt uns auch dem nächsten Wunder-Tiegelchen noch eine Chance geben. Vielleicht funktioniert es dieses Mal. Die säuselnde Stimme meiner Parfümerieverkäuferin möchte ich jedenfalls nicht missen. Und wenn das nächste Töpfchen seinen Platz in meinem Badezimmer gefunden hat, glaube ich gerne wieder an das Wissenschaftswunderland. << Christina Ress

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Ti erve r s u c h e

Neutral gibt es nicht

© fotolia: jagodka

Kaum ein wissenschaftliches Thema ist so umstritten wie Versuche an Tieren. Der gesellschaftliche Druck ist hoch. Forscher stehen dabei in der öffentlichen Kritik. Doch in welcher Verantwortung sehen sie sich selbst?

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© Oleg Kozlov

remen, Universitätsgelände. Dutzende von Tierschützern halten Plakate hoch. Abgedruckt ist ein blutender Makak. Der Kopf des Affen ist mit mehreren Schrauben fixiert. Die Plakataufschrift lautet: »Tierversuche abschaffen.« Im Mittelpunkt des Protests steht der Initiator der abgebildeten Tierversuche, Professor Andreas Kreiter, Neurologe an der Universität Bremen. Neben Kreiter gibt es viele Forscher in Deutschland, die sich immer wieder für ihre Versuche an Tieren rechtfertigen müssen, obwohl laut einer Befragung des Instituts für Tierschutz und Tierverhalten in Berlin im Jahr 2008 »Tierversuche in

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vielen Bereichen der Medizin und Wissenschaft von der Bevölkerungsmehrheit als unverzichtbar, aber ethisch nicht unproblematisch eingeschätzt« werden. In Kreiters Fall geht es um die Forschung an Affen. Die Kontroverse um ihn gibt es seit mehreren Jahren. Spätestens nach seinem Beginn in Bremen im Jahr 1997 blieb Kreiter im Gespräch. Im Jahr 2010 hatte die Bremer Gesundheitsbehörde, die Kreiters Versuche zum Schutz der Tiere prüft, seinen letzten Antrag auf Verlängerung aus ethischen Gründen abgelehnt. Als Begründung nannte die Behörde unter anderem einen Wertewandel in der Gesellschaft. Doch Kreiter klagte und bekam im November 2011 teilweise recht. Neue Versuche darf er nicht anmelden. Doch seine laufenden Tests, die sich mit den Gehirnfunktionen von Affen beschäftigen, darf er fortführen. Tierschützer gingen auf die Barrikaden. Kreiter wurde öffentlich als »Affenfolterer« dargestellt. Auch als seine persönlichen Daten wie Telefonnummer und Adresse in der Bremer

Innenstadt aushingen, ließ sich der Forscher nicht beirren. Kreiter glaubt an den Nutzen seiner Forschung. Dieses Problem kennt auch Cornelia Exner, Tierschutzbeauftragte der PhilipsUniversität in Marburg. »Eine Meinung zu Tierversuchen hat jeder. Entweder man ist dafür oder dagegen, ob man von dem Thema Ahnung hat, ist dabei egal. Neutral gibt es nicht.« Die gelernte Tierärztin hält Tierversuche für notwendig. Bei ihrer Arbeit prüft sie Anträge für geplante Experimente von Forschenden der Universität Marburg. Dabei steht Exner der jeweiligen Forschergruppe beratend zur Seite. »Es gibt unterschiedliche Komponenten, die ich bei der Prüfung berücksichtigen muss. Ist das richtige Tier ausgewählt und ist der Versuch optimal organisiert, um die Belastung so gering wie möglich zu halten? Außerdem muss vor der Antragstellung geklärt werden, ob es eine geeignete Alternative gibt.« Viele Versuche konnten schon durch Methoden ersetzt werden, die ohne Tiere auskommen. Ihre persönliche Verantwortung sieht Exner deswegen in der Beratung von Experimentierenden und in der Öffentlichkeitsarbeit. »Gerade wegen der heftigen Kritik ist es sehr wichtig, transparent zu bleiben und aufzuklären.« Umge-

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Stress, angst und schmerzen »Ich arbeite bei meinen Versuchen mit Tieren«, sagt Stephanie Knapp ganz offen. Sie macht ihren Master in Neurologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. »Wenn man sich als Wissenschaftler entschließt, keine Tierversuche durchzuführen, wird man schon komisch angeguckt. Aber diese Entscheidung muss jeder für sich selbst treffen«, sagt die 22-Jährige. Jeder Forscher, der Tierversuche durchführe, brauche eine klare Haltung dazu. Erste Erfahrungen machte Knapp in ihrem Auslandssemester in einem chinesischen Labor. »Dort sollte ich einer Ratte das Genick brechen, um anschließend ihre Organe zu untersuchen. An diesem Punkt

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muss man sich im Klaren darüber sein, was man tut: Ich töte ein Tier.« In Deutschland dürfen Wirbeltiere, wie Ratten, nur betäubt getötet werden oder »unter der Vermeidung von Schmerzen«. Der Genickbruch ist dabei auch hierzulande gängige Praxis. Aktuell arbeitet Knapp an der Verhaltensweise von Bienen, die laut Knapp kein Schmerzempfinden haben. Sie merken bloß, dass etwas nicht stimmt. »Was für ein Interesse sollte ich auch daran haben, ein Tier zu quälen? Mal ganz davon abgesehen, dass es meine Ergebnisse verfälschen würde.« Durch Angst, Stress und Schmerzen verhalten sich Tiere nicht mehr normal, die Resultate würden unbrauchbar. »Natürlich­­­ können inzwischen auch viele Untersuchungen an Zellkulturen gemacht werden. Die Zellen werden aber speziell verändert.« Sie wachsen immer weiter und sterben nicht, wie menschliche Zellen ab. Die Daten aus diesen Versuchen seien somit ein gutes Indiz, wie ein Medikament auf den menschlichen Körper wirken könnte. »Diese Ergebnisse sind zu unsicher und können den Tierversuch deswegen nicht ersetzen.« Corina Gericke von »Ärzte gegen Terversuche« vertritt eine entgegengesetzte Meinung: »Tierversuche verursachen Schmerzen, sind qualvoll und vollkommen unnütze.« Die Tierschutzbewegung sagt, dass die Daten aus so genannten Tiermodellen nicht auf den Menschen übertragbar seien. Ein Tiermodell beschreibt bei Versuchen den Organismus von Tieren als Ganzes, mit all seinen komplexen Stoffwechselvorgängen. »Studien an Männern sind unbrauchbar, wenn es um die Wirkung eines Medikaments bei Frauen oder Kindern geht. Wie soll ich dann bitte mit einer Maus vergleichbar sein?«

Cornelia Exner ist sich dieses Vorwurfes bewusst. Ein Modell könne nur versuchen, die Realität so gut wie möglich abzubilden. »Ein Stoff kann in der Leber zwar eine gewünschte Wirkung besitzen, aber von den Leberzellen gleichzeitig so verändert werden, dass die entstandene Verbindung schädigend auf das zentrale Nervensystem wirkt.« Dieses komplexe Zusammenspiel kann in einem Reagenzglas noch nicht nachgestellt werden, um, wie in diesem Beispiel die Gesundheitsrisiken für den Menschen abzuschätzen. Die Experimente von Andreas Kreiter laufen in Bremen inzwischen seit 14 Jahren. Die lange Dauer der Versuchsreihe ist für die meisten Kritiker das Hauptargument, dass seine Forschung keine brauchbaren Ergebnisse liefert. Dagegen erwidert Exner: »Für einen Ingenieur sind zehn Jahre lang. In unserem Bereich ist das nichts. Vor 60 Jahren begann die Arbeit an Diabetes mit einem Zufallsfund. Erst jetzt kommen wir langsam dahin, Therapien für Betroffene weiter zu entwickeln.« << Carolin Albrand

Im Jahr 2010 wurden allein in Deutschland 442.448 Ratten in Tierversuchen „verbraucht“. Der Nutzen dieser Versuche ist besonders Tierschützern nicht ersichtlich.

© Emilia Stasiak

setzt hat sie das nicht nur in ihrem Beruf als Tierschutzbeauftragte, sondern auch in der Senatskommission für tierexperimentelle Forschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Diese Kommission beschäftigt sich mit der Überarbeitung der EU-Richtlinie für Tierrechte. Zudem wird in diesem ständigen Forum mit Experten aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen über aktuelle Probleme der tierexperimentellen Forschung und des Tierschutzes diskutiert. »Eine wirkliche Veränderung bringt das auch nicht«, sagt Corina Gericke, Tierärztin und zweite Vorsitzende von »Ärzte gegen Tierversuche«, zu der Senatskommission der DFG. Sie vertritt den Standpunkt, dass nur die Abschaffung von Tierversuchen die geeignete Maßnahme sei. Diskussionen für eine bessere Arbeit mit Tieren stellten nur einen Aufschub dar. Gericke begründet diese Forderung damit, dass es genügend Alternativen gebe, die nicht zur Anwendung kommen. »Bei Tierversuchen kann man nicht von Verantwortung sprechen. Es ist einfach unverantwortlich, einer Ratte ein Stück Draht in den Kopf zu schieben, um einen Schlaganfall zu simulieren. Das läuft bei Menschen alles viel komplexer ab. Dafür ist immer mehr als nur ein auslösender Faktor verantwortlich.« Solche Bilder zu rechtfertigen und verständlich zu machen, fällt Wissenschaftlern oft schwer.

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P ro & C o n tr a

© Marie-Lan Nguyen

Fabelwesen aus dem Labor

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Schon im antiken Griechenland waren MenschTier-Mischwesen in Sagen und Mythen bekannt. Jetzt nehmen Chimären wirklich Gestalt an, zumindest im Reagenzglas. Zu Forschungszwecken werden in tierische Eizellen fremde Zellkerne eingepflanzt oder ausgewachsenen Versuchstieren menschliche Zellen implantiert. Wissenschaftler wollen damit Volkskrankheiten wie Alzheimer oder Demenz erforschen. Kritiker befürchten, dass die Artengrenze zwischen Mensch und Tier verschwimmt. Auch der deutsche Ethikrat brachte eine Stellungnahme zum Thema MenschTier-Mischwesen heraus und versuchte eine Empfehlung zu dieser Problematik abzu­geben. Er kam in einigen Punkten zu keinem einstimmigen Urteil. Das Thema ist heiß umkämpft und auch unsere Autoren sind sich nicht einig. Bevor Sie in die Debatte ein­steigen, hier erst einmal ein paar Grundbegriffe.

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Hirnchimären Chimäre

© Adrian Wagner

Ein Lebewesen, das in seinem Organismus über Zellen verfügt, die einen fremden Satz Gene, kurz Genom, enthalten. Nimmt man es mit dieser Definition genau, ist jeder Mensch, der eine Organ- oder Knochenmarkspende bekommen hat, eine Chimäre. Neben seinen eigenen Genen verfügt er nämlich jetzt auch noch über ein zweites Genom aus dem Transplantat.

Transgene Tiere

Tiere, denen man Erbmaterial einer anderen Tierart einpflanzt. Dazu wird fremde DNA in eine ungeteilte, befruchtete Eizelle gegeben. Das neue Genmaterial wird in diesem Stadium noch in die DNA eingebaut. Bei jeder weiteren Zellteilung werden die eingebauten Gene an die Tochterzelle weitergegeben.

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Artfremde Zellen werden in das Gehirn von Versuchstieren eingepflanzt. Die eingesetzten Zellen sollen sich dann in dem fremden Gehirn eines zum Beispiel an Parkinson Erkrankten integrieren und mitarbeiten. Parkinson stört die Hormonproduktion von Gehirnzellen. Die Stammzellen sollen die Produktion wieder anregen. Außerdem können Hirnchimären dabei helfen, die einzelnen Stadien von Gehirnerkrankungen zu erforschen.

Hybride

Ein Nachkomme von zwei Tieren oder auch Pflanzen unterschiedlicher Art, der in allen Zellen die gleichen Erbanlagen hat. Das bekannteste ist das Maultier, das durch Paarung von Esel und Pferd entsteht und Gene von beiden Tierarten besitzt. Hybride können keine Nachkommen zeugen, weil sie eine ungerade Anzahl von Chromosomen haben. Im Labor erzeugte Hybride sind zum Beispiel die Produkte klassischer Kreuzungen wie etwa Triticale, ein Hybrid aus Roggen und Weizen.

Zybride

Kurzform für »zytoplastischer Hybrid«. Man bringt einen fremden Zellkern in eine Eizelle ein, deren Zellkern vorher entnommen wurde. Anschließend wird die Zelle durch einen elektrischen Impuls dazu angeregt, sich zu teilen. Daraus wächst ein Embryo, dem Stammzellen für die Forschung entnommen werden können. Er dient nur der Forschung und wird nach wenigen Tagen, genauer 32 Zellteilungen, wieder zerstört.

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PRO Ängste hintenanstellen

Bei der Forschung mit Chimären geht es nicht um das Erschaffen von Monstern. Speziell in der Humangenetik versucht man vielmehr Menschen zu helfen und Krankheiten zu heilen. Kritiker befürchten jedoch, dass bei der Erzeugung von Chimären Wesen entstehen, die nicht mehr klar als Mensch oder Tier zu identifizieren sind. Insbesondere in Deutschland gibt es Bedenken, dass diese veränderten Wesen menschliche Züge entwickeln könnten. Die Angst vor einem solchen Horrorszenario ist allerdings kein Argument, solange keine Belege vorliegen. Laut Dr. Michael Bader vom Berliner Max-Delbrück-Center für Molekularmedizin ist beispielsweise die Transplantation von menschlichen Nervenzellen in erwachsene Organismen völlig unbedenklich. Eine »Umprogrammierung« des tierischen Gehirns sei nach Abschluss der Entwicklung eines Fötus ausgeschlossen. Eine weitere Tatsache: Nach Zahlen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft sind etwa 1,2 Millionen Menschen in Deutschland an Demenz bereits erkrankt und 2050 dürften es sogar 2,6 Millionen sein. Angesichts dieser dramatischen Entwicklung steht die Wissenschaft in der Verantwortung, neue Therapie-Wege zu finden. Im Moment bietet die medikamentöse Behandlung nur eine Bekämpfung der Symptome von Alzheimer. Da dieser Umstand auch damit zusammenhängt, dass man degenerative Gehirnerkrankungen noch nicht umfassend in ihrer Entstehung erforschen kann, ist die Forschung mit Hirnchimären umso wichtiger. Erst durch eine ausreichende Grundlagenforschung kann ein neuer Forschungsansatz sein ganzes Potenzial offenbaren. Deswegen wäre es unvernünftig und kurzsichtig, Stammzellen- und Chimärenforschung von vornherein zu verteufeln. Allein die theoretische Aussicht darauf, eine Volkskrankheit wie Alzheimer in einigen Jahren heilen zu können, sollte Grund genug dafür sein, die Ängste davor hintenanzustellen. An erster Stelle sollte und muss das Wohl des Menschen stehen. Dies ist die wichtigste ethische Prämisse, die die Forschung zu achten hat. << Adrian Wagner

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CONTRA

© Adrian Wagner

Ernüchternde Ergebnisse

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Die Artengrenze zwischen Mensch und Tier ist bedroht. Um eine moralische Richtlinie vorzugeben, veröffentlichte der Ethikrat im September 2011 eine Stellungnahme zum Umgang mit Mensch-Tier-Mischwesen in der Forschung. Darin spricht er sich für eine Modernisierung und eine Erweiterung des Embryonenschutzgesetzes aus. Laut Kritikern wird nicht beachtet, dass die Versuche nur einer nicht zielführenden Grundlagenforschung dienen: »Die Ergebnisse sind nicht brauchbar und sind für die Tiere oft mit vielen Folgekrankheiten verbunden, wie Krebs und anderen körperlichen Belastungen«, so Thomas Schröder, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Tierschutzbundes. Welche Rechte hat eine Chimäre? Und wohin führt uns insbesondere die Forschung an Hirnchimären? Vor allem im letzten Punkt steht man vor zwei Problemen: Erstens ist bis heute unklar, ob sich die in Tierversuchen (siehe Artikel S. 44) gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen übertragen lassen. Nur weil ein Medikament im Gehirn eines Affen positive Effekte erzielt, heißt das noch nicht, dass es auch Menschen helfen wird – auch wenn der Affe als naher Verwandter des Menschen gilt. Zweitens ist es schwierig abzuschätzen, welche menschlichen Wesenszüge ein Affe bekommen könnte, wenn ihm menschliches Hirngewebe implantiert wird. Bereits 2008 wurden gesunde Stammzellen in Gehirne von Parkinsonkranken eingesetzt, damit sie die Arbeit der erkrankten Zellen übernehmen. Das Ergebnis war ernüchternd: Die gesunden Zellen wurden auch infiziert. Der Ethikrat hält die Erzeugung von Hirnchimären für »ethisch statthaft«, zumindest solange der medizinische Nutzen für den Menschen »hochrangig« ist. Unterm Strich muss man jedoch fest halten: Der Nutzen von Tierversuchen in der Chimärenforschung ist bis heute nicht zu erkennen. Sicher ist nur, dass sich die Gesellschaft in den nächsten Jahren weiter mit diesem Thema auseinandersetzen muss. Bleibt nur zu hoffen, dass wir uns nicht irgendwann erneut die Frage stellen müssen: Was ist ein Menschenaffe? << Florian Henge

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Heilung nicht von Interesse Seltene Krankheiten betreffen wenige Menschen– zu wenige für die Pharmaindustrie. Dement­sprechend hält sich ihr Forschungsinteresse in Grenzen. Doch haben diese Unternehmen nicht auch eine Verantwortung für eine kleine Gruppe von Betroffenen?

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Investitionen müssen sich für Pharmaunternehmen lohnen. Deshalb wird mehr Geld in die Erforschung der Volkskrankheiten gesteckt als in

© Karin Jähne

seltene Erkrankungen.

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s ist neun Uhr abends in BerlinSpandau. Heute hat es wieder länger gedauert. Diesmal waren zwei Gutenachtgeschichten nötig. Die Eltern der fünfjährigen Anna beobachten aufmerksam, wie sich ihr kleiner Brustkorb regelmäßig auf und ab bewegt. Sie wirkt zufrieden. Die Eltern angespannt. Der Atem ihrer Tochter ist zwar deutlich zu hören, doch die Eltern haben nur einen Gedanken: »Hoffentlich nicht diese Nacht«. Denn Atemaussetzer sind bei Anna keine Ausnahme. Sie leidet an der seltene Speicherkrankheit Mukopolysaccharidose, kurz MPS-Typ-II. Seltene Erkrankungen sind gar nicht so selten. Anna ist eine von rund vier Millionen Betroffenen in Deutschland, die an einer »orphan disease« leidet. Offiziell gilt man als Opfer dieser »Waisenkrankheiten«, wenn weniger als fünf von 10.000 Menschen das gleiche Krankheitsbild aufweisen. Von den weltweit über 30.000 bekannten Krankheiten gehören laut Schätzungen der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen mehr als 6.000 zu den Waisenkrankheiten. Sie heißen so, weil sie als vernachlässigte Krankheiten gelten. In der Regel sind sie durch Fehler im Erbgut verursacht. Allerdings können sie in den unterschiedlichsten Krankheitsbildern zum Vorschein kommen. Kein Arzt der Welt kann jede dieser Krankheiten überblicken und erkennen. Genau darin liegt das Problem. Rania von der Ropp von Achse e. V., einem Dachverband für seltene Erkrankungen erklärt: »Bis die Betroffenen wissen an welcher Krankheit sie leiden, können Jahre vergehen. Manche erfahren es sogar niemals.« Anna hatte Glück im Unglück. Nach endlos vielen Arztbesuchen und Überweisungen zu Spezialisten erkannte ein Arzt, was bei ihr nicht stimmte: Annas Körper speichert so genannte Mukopolysaccharide fehlerhaft ein. Das sind lange Ketten aus Zuckermolekülen, die das Bindegewebe bilden. Normalerweise werden diese regelmäßig abgebaut und erneuert. Um sie zu spalten, braucht der Körper ein bestimmtes Enzym. Genau dieses entscheidende Enzym fehlt bei MPS-Typ-II-Betroffenen. Dadurch können sich immer mehr »alte« Mukopolysaccharide ablagern und

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dauerhaft im Körper ansammeln. Je mehr Zuckermoleküle gespeichert werden, desto häufiger kommt es zu gefährlichen Symptomen: vergrößerte Organe, Atemaussetzer, Flüssigkeitsstau im Gehirn. Doch selbst wenn eine zutreffende Diagnose erfolgt, hält das Hoffnungsgefühl meistens nicht lange an. Denn eine Therapie für Waisenkrankheiten gibt es nur selten. Laut Angaben des Verbandes forschender Pharmaunternehmen (VFA) sind momentan gerade einmal 59 Medikamente als »Orphan Drugs« in der EU zugelassen. Für Annas Eltern ist der Gedanke unvorstellbar, dass sie in der Apotheke keine passende Medizin für ihr Mädchen kaufen

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wesen (IQWiG). Zudem weist er darauf hin, dass Pharmaunternehmen in Aktiengesellschaften organisiert seien. Diese würden nur mit schwarzen Zahlen funktionieren. Ein weiteres Hindernis ist die Erforschung von Medikamenten für Waisenkrankheiten. Durch die kleinen Probanden-Gruppen müssen die Studien anders geplant und durchgeführt werden als für gewöhnliche Medikamente. Dabei existieren einige gesetzliche und finanzielle Vorteile für die Forschung an Orphan Drugs. So gibt es seit 1990 eine »EU-Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden«. Hierbei bekommen forschende Unternehmen zehnjährige Exklusivrechte ab der Marktzulassung des Medikamentes sowie

Pharmaunternehmen sind keine karitativen Einrichtungen. Ihre Motivation ist Gewinn. Wenn ein Pharmachef mehr an seltenen Erkrankungen forschen würde, wäre er schnell seinen Job los, da die Gewinne ausblieben.

können. Doch warum gibt es diese Medikamente nicht? Pharmaunternehmen sind marktorientiert. Fehlt die Kaufkraft, dann lohnt sich das Geschäft einfach nicht. Ein Beispiel: In der EU gibt es nur zirka 1.000 MPS-TypII-Erkrankte. Hinderlich sind ebenfalls die hohen Entwicklungskosten für OrphanArzneimittel. Diese liegen nach Angaben von Jan Hempker, dem Pressesprecher des Pharmakonzerns Sanofi Aventis, im oberen dreistelligen Millionenbereich. »Pharmaunternehmen sind keine karitativen Einrichtungen. Ihre Motivation ist Gewinn. Wenn ein Pharmachef mehr an seltenen Erkrankungen forschen würde, wäre er schnell seinen Job los, da die Gewinne ausblieben«, sagt Peter Sawicki, ehemaliger Leiter des Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheits-

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eine beschleunigte Bearbeitung des Zulassungsantrages zugesprochen. Zusätzlich können sie die Hälfte der Zulassungskosten sparen. Ebenfalls berät die Zulassungsstelle der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) kostenlos bei der Vorbereitung und Planung der Studien.

Forschung für das Image Einen weiteren Anreiz schaffte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Jahr 2003. Seitdem fördert es den Aufbau von krankheitsspezifischen Netzwerken für seltene Erkrankungen. Daraus sind 16 Verbünde entstanden. Seit 2009 werden sie jährlich mit acht Millionen Euro gefördert. Auffällig an den 16 Verbünden ist, dass zwar zahlreiche Universitätskliniken beteiligt sind, allerdings kein einziges Pharmaunternehmen. Oft

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überlassen diese lieber den Universitäten und kleinen Biotechnologiebetrieben die Forschung und auch das Risiko, mit dem Wirkstoff zu scheitern. François Houÿez, der bei der Europäischen Organisation für seltene Krankheiten arbeitet, kritisierte in einem Spiegel-Artikel: »Die großen Pharmaunternehmen treten meist erst bei der Marktzulassung in Erscheinung.« Sie erwerben erst die Lizenzen der Medikamente, wenn diese den Orphan-Drug-Status bekommen haben und für den Markt zugelassen sind. Dabei muss das Rad nicht immer neu erfunden werden. In manchen Fällen reicht es auch aus, einen Wirkstoff zu nehmen, der ursprünglich einmal für ein häufiges Leiden entwickelt wurde.

Beispielsweise wird der Wirkstoff Sildenafil aus der Viagra-Tablette von dem Pharmaunternehmen Pfizer für die seltene Krankheit Lungenhochdruck eingesetzt. Es bleibt nur noch eine Frage offen: Haben die geschaffenen Anreize auch den erhofften Nutzen erbracht? Betrachten wir doch einmal die gesamte Angebotspalette der großen Pharmaunternehmen. Etwa das Sortiment der Bayer Schering Pharma AG. Dieses besteht aus zirka 140 Medikamenten. Davon sind gerade einmal zwei Mittel Arzneien mit dem Orphan-DrugStatus: Das Krebsmedikament Nexavar und Ventavis, das gegen Lungenhochdruck eingesetzt wird. Ähnlich ist das auch bei Sanofi Aventis, dem drittgrößten Pharmaunternehmen weltweit. Es hat die beiden Orphan Drugs: Fasturtec und Rilutek im Sortiment. Erste-

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res wird gegen das bei Chemotherapien auftretende Tumorlysesyndrom eingesetzt. Bei diesem zerfallen große Tumore in ihre Einzelteile. Dieser Zustand ist lebensbedrohlich. Als wir fragten, warum Fasturtec in der EU nicht als Orphan Drug zugelassen ist, wies Pressesprecher Jan Hempker daraufhin, dass es in den USA einen Orphan-Drug-Status besäße. Außerdem sei die betreffende Indikation auch in Europa nicht häufig. Im Klartext bedeutet das: In den USA ist ein Markt für dieses Arzneimittel vorhanden. Dazu Peter Sawicki: »Wenn ein Pharmakonzern an Arzneimitteln für seltene Leiden forscht, dann entweder nur wegen seines Images, oder weil es sich in einem anderen Land vielleicht lohnt.« Es gibt jedoch auch Betroffene des Tumorlysesyndroms in der EU. Diese müssen Fasturtec teilweise selbst bezahlen, da es keinen Europäischen Orphan-Drug-Status besitzt und es eine Alternative zu Fasturtec gibt: den Wirkstoff Allopurinol. Da es eine Behandlungsalternative gibt, können die Krankenkassen eine Kostenerstattung in Frage stellen. Doch damit scheint sich der Konzern offensichtlich nicht weiter zu beschäftigen. Obwohl die Kosten von Fasturtec beträchtlich sind. Eine belgische Analyse kam vor einiger Zeit zu dem Ergebnis, dass die Behandlung mit Rasburicase, dem Wirkstoff von Fasturtec, bei Erwachsenen durchschnittlich 32.000 bis 41.000 Euro pro gewonnenem Lebensjahr kostet. Des Weiteren ließ der Pharmakonzern verlauten: »Sanofi Aventis ist mittlerweile auf dem Gebiet der Orphan Drugs außerordentlich stark vertreten. Denn seit 2011 gehört das US-Unternehmen „Genzyme“ zu uns.« Dieses Biotechnologieunternehmen ist momentan führend in dem Bereich der seltenen Erkrankungen. Den Konzern hat Sanofi Aventis allerdings nicht aus Großherzigkeit gekauft. Wie bei vielen anderen Pharma-Riesen auch, laufen 2013 von einigen Kassenschlagern des Konzerns die Patente aus. Nach Berichten des Handelsblattes stehen die Unternehmen unter dem Druck, dass andere Hersteller dann günstigere Nachahmer-Produkte auf den Markt bringen. Die Anteilseigner der Pharmaindustrie

haben dennoch keinen allzu großen Grund zur Sorge. Zumindest nicht mehr seit November 2010, als das Arzneimittelneuordnungsgesetz (AMNOG) beschlossen wurde. Es besagt, dass Hersteller künftig einen Zusatznutzen für alle neuen Arzneimittel nachweisen müssen. Die Orphan Drugs werden aus der Regelung ausgeklammert. Denn ihr Nutzen soll durch die Zulassung schon ausreichend belegt sein. Es sei denn, der Umsatz des Wirkstoffes läge über 50 Millionen Euro jährlich.

Gratwanderung Kritiker sehen in dieser Ausnahmeregelung jedoch einige Schlupflöcher für die Pharmaindustrie. So können die Pharmahersteller die Orphan Drugs als Umweg nutzen, um ihre Mittel schneller auf den Markt zu bringen. Dabei zerlegen sie eine Krankheit in möglichst viele kleine Untergruppen. Anschließend beantragen sie einzeln den Orphan-Drug-Status. Im Klartext heißt das: Menschen mit einer Waisenkrankheit wird die Nutzenbewertung ihrer Arzneien vorenthalten. Beispielsweise gibt es für ein und dieselbe Waisenkrankheit sechs verschiedene Medikamente. Drei davon haben den Orphan-Drug-Status, drei nicht. Es bleibt unklar, welches Arzneimittel den Patienten am besten hilft. Pharmaunternehmen halten sich an die Gesetze. Rechtlich gesehen machen sie nichts falsch. Doch wer sonst soll die Medikamente produzieren, wenn nicht die Pharmaindustrie? Wieso haben Patienten mit seltenen Erkrankungen nicht die gleiche Möglichkeit für eine Therapie wie Patienten, die an einer Volkskrankheit leiden? Für Annas Waisenkrankheit gibt es mittlerweile eine Enzymersatztherapie. Das Medikament Elaprase kann lindern, aber nicht heilen. Verhindert wird lediglich, dass sich die Organe des Mädchens weiter vergrößern. Das Mittel kommt jedoch nicht über die Blut-Hirn-Schranke in ihr Gehirn. Die Ablagerungen im Nervengewebe finden daher weiter statt. Das bedeutet, dass der geistige Abbau weiter zunimmt. Kürzlich haben Forscher an der Universität Bonn einen Weg gefunden, die Schranke zu überwinden. Vielleicht ist es doch die Hochschul-Forschung, die Anna das Leben retten kann. <<

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N at ur k ata s tr o p h e n

Regen, Sturm und Gewitter können viel Zerstörung anrichten. Allein in Deutschland kam es im Jahr 2010 zu 1,5 Milliarden Euro Sachschaden, den die deutschen Hausrat- und Wohngebäudeversicherer begleichen mussten.

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Wer haftet für das Wetter?

© valdezrl

Werden wir nass, weil es entgegen der Wettervorhersage regnet und der Regenschirm daheim liegt, ist das ärgerlich. Aber niemand würde die Meteorologen dafür zur Verantwortung ziehen. Ganz anders sieht das aus, wenn – wie 2011 in Belgien geschehen – ein Unwetter über einem Festival wütet und dabei Menschen ums Leben kommen.

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V

on den Bäumen stürzen Äste herab, es regnet in Strömen und mitten durch das Unwetter rennen Men-

schen auf der Suche nach Schutz. Das Getöse des Sturms übertönt ihre Hilferufe. Andere sind im sicheren Zelt angekommen. Sicher? Plötzlich kracht ein Baum durch das Dach, Panik bricht aus, Chaos entsteht.

Was klingt wie Szenen eines Blockbusters sind Ausschnitte aus Amateurvideos. Gedreht beim Pukkelpop-Festival bei Hasselt in Belgien, das im Sommer 2011 traurige Berühmtheit erlangt. Am 18. August, dem ersten Festivaltag, kommt es zu einem Unwetter über dem Festivalgelände. Zelte, Videowände und Metallkonstruktionen stürzen ein, fünf Menschen kommen dabei ums Leben, Dutzende werden verletzt. Nach dem ersten Schock geht es um die Frage, wer verantwortlich für das Unglück ist. War das Unwetter überhaupt vorherzusehen? Hat der Veranstalter leichtsinnig gehandelt und Menschenleben aufs Spiel gesetzt?

Kommunikation ist alles

© Anja Wagenblast

Auch in Deutschland kommt es 2002 zu einem ähnlichen Zwist. Im Juli wütet in Berlin ein schweres Unwetter, bei dem zwei Kinder in einem Jugendzeltlager tödlich verletzt werden. Sofort geht es um die Frage: Wer ist verantwortlich? Es kommt zu Schuldzuweisungen. »Der Wetterdienst konnte jedoch beweisen, dass rechtzeitig gewarnt wurde«, sagt DiplomMeteorologe Gerhard Lux, Pressesprecher

des Deutschen Wetterdienstes (DWD). Leider würden Warnungen ab und zu nicht ernst genug genommen – oder aber die Entscheidungen der Katastrophenschutzdienste benötige zu viel Zeit. Denn die Verständigung und Zusammenarbeit von Behörden wie Feuerwehr, Polizei und Technisches Hilfswerk (THW) kann der DWD nicht beeinflussen. Dass die Wetterdaten bis zu ihnen gelangen, allerdings schon. Dafür gibt es ein breit gefächertes Informationssystem. Die Zentrale in Offenbach am Main arbeitet nach einem Drei-Säulen-Modell. »Dabei werden zeitgleich alle Daten an drei Gruppen weitergeleitet: Medien, Privatpersonen und örtliche Behörden«, erklärt Lux. Elementare Medien seien vor allem Radiostationen, TV-Sender und Online-Nachrichtenagenturen. »Überall dort sind im Bedarfsfall unsere aktuellen Lageberichte wichtig, um die darin enthaltenen Wetterwarnungen schnell verbreiten zu können.« Veranstalter können zusätzlich ein Abonnement über einen bestimmten Zeitraum abschließen, um weitere, für sie relevante Daten zu erhalten. Jasper Barendregt, Leiter der Festivalabteilung bei FKP Scorpio, einem der führenden Konzertveranstalter Deutschlands, weiß: »Veranstalter verlassen sich auf den DWD, da nur dessen Warnungen rechtlich verbindlich sind.« Auch die örtlichen Behörden, mit denen zusammengearbeitet wird, würden nur den offiziellen Angaben vertrauen. Doch die reine Informationsbeschaffung

Der Deutsche Wetterdienst (DWD) hat Standard-Kommnikationspartner (weiße Pfeile). Bei Festivals vernetzt er sich zudem mit dem Feuerwehr-Informationssystem (FeWIS), Veranstalter und Behörden.

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ist nur der Anfang. Die nachgehende Kommunikation zwischen den verschiedenen Ämtern muss funktionieren. Es ist durchaus möglich, dass jede Stelle für sich exzellente Arbeit leistet, Ergebnisse dann aber nicht richtig weitergeleitet werden. Oft seien auch die Landräte dafür verantwortlich, den Notstand auszurufen, sagt Lux. »Sind diese dann am Wochenende einmal nicht erreichbar, wenn die Unwetterwarnung kommt, gerät das System schon zu Beginn ins Stocken.« Der DWD könne niemanden zwingen, Meldungen durchzugeben, sagt Lux. »Genauso wenig können wir den Veranstalter zwingen, das Festivalgelände zu räumen«, erklärt er weiter. Denn der Wetterdienst ist eine Anstalt des öffentlichen Rechts, zu dessen Aufgaben es gehört, das Wetter zu beobachten und vor Unwettern zu warnen. An die Warnungen halten muss man sich allerdings nicht. Laut Lux endet die Verantwortung des DWD in dem Moment, in dem die Info übergeben wird.

die Abläufe sind erprobt Nachfragen können Veranstalter natürlich jederzeit. Das weiß auch Barendregt: »Wenn gewünscht, steht beim DWD rund um die Uhr ein Ansprechpartner für uns bereit.« Zusätzlich würden sie sich durch eigene Windmessgeräte auf den Bühnen des Festivals absichern. »Kommt es dann tatsächlich zu einer brenzligen Situation, sprechen wir uns mit dem Krisenmanagementteam ab. Das besteht aus Verantwortlichen des Festivals sowie den örtlichen Behörden.« Dabei werde das weitere Vorgehen nach festgelegten Protokollen geplant, sagt er. Das war im August 2011, am letzten Festivaltag des Area4 in Nordrhein-Westfalen der Fall: Eine Sturmwarnung kommt auf. Das Krisenmanagementteam wird zusammengetrommelt. Es besteht aus Verantwortlichen des Festivals sowie den örtlichen Behörden und steht in ständiger Alarmbereitschaft. In aller Schnelle wägen sie das Für und Wider eines Festivalabbruches ab und entscheiden sich für eine Unterbrechung. »Wir haben eine Sturmwarnung. Bitte geht alle zurück in eure Zelte und Autos«, ist als vorgefertigte Botschaft auf den riesigen Videoleinwänden zu lesen. Ohne Panik ziehen sich die Besucher zurück, um

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Wir kÜnnen Wissenschaft nicht einfacher machen – aber transparenter. EU: Jetzt N de rum.

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Ort veranstalten«, sagt er. Die Zusammenarbeit werde von Mal zu Mal besser, man stelle sich aufeinander ein. Außerdem sei die Deutung der Werte einfach. »Eine Angabe in Prozent zum Unwetterrisiko ist leicht zu verstehen«, ist Barendregt überzeugt. Schwieriger sei die anschließende Entscheidung, das Festival zu räumen oder auch abzusagen.

© Jan van der Aa

Die Frage nach der Schuld

Zelte, Videoleinwände und Metalltürme wurden durch das Unwetter zerstört. Der tatsächlich entstandene Schaden konnte bis heute nicht beziffert werden. Doch trotz der dramatischen Ereignisse ist eine Fortsetzung des belgischen Festivals Pukkelpop für 2012 geplant.

zwei Stunden später über das Festivalradio die Entwarnung zu hören: Das Unwetter ist vorbei, der Headliner tritt auf. Tatsächlich kommen 12.000 der ursprünglich 15.000 Gäste wieder – das Area4 findet einen gelungenen Abschluss. »Das war unglaublich. Wir haben meiner Meinung nach die richtigen Entscheidungen getroffen und konnten das Gelände räumen, ohne Panik zu verbreiten. Und wir haben das Festival nach dem Unwetter sogar wieder gestartet. Besser hätte es nicht laufen können«, schwärmt Barendregt. Wäre es zu keiner Einigung im Krisenmanagementteam gekommen, hätte der Chef des Teams eine Entscheidung gefällt, so sei die Regel. Diese Rolle übernimmt immer jemand Erfahrenes von den örtlichen Behörden. »Sturmwarnungen gibt es im Laufe des Festivalsommers viele«, erzählt Barendregt. »Tatsächlich unternehmen muss man jedoch nur selten etwas.« Pro Jahr organisiert FKP Scorpio nach eigenen Angaben um die 125 Festivals, die jeweils mehr als 5.000 Besucher zählen. 2011 musste nur eines davon – das Area4 – unterbrochen werden. Eine andere Veranstaltung an der Ostsee wurde wegen Hochwassers abgesagt. Die Zusammenarbeit mit den

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Behörden vor Ort sei laut Barendregt bisher immer gut gelaufen. »Die Feuerwehr kann sich zusätzlich über das Feuerwehrinformationssystem (FeWIS) informieren, wo genau das potentielle Unwetter auftreten wird.« Das Portal wird vom DWD extra für die Leitstellen der einzelnen Landkreise bereitgestellt. Die Veranstalter haben die Möglichkeit, sich gegen Gebühr über Wahrscheinlichkeiten beraten zu lassen. Sie können dann selbst entscheiden, ob sie das Risiko eingehen und trotz hoher Sturmwahrscheinlichkeit ihre Zelte aufbauen. »Da das Wetter ein physikalisch chaotisches System ist, kann man sich eben nie zu 100 Prozent sicher sein, dass ein Ereignis wie Regen oder Sturm wirklich eintritt«, erklärt Lux die Arbeit mit Prozentzahlen. Doch Vorhersagen mit Wahrscheinlichkeiten können wie ein Buch mit sieben Siegeln sein. Kann man denn davon ausgehen, dass Veranstalter mit solchen Informationen umgehen können? Barendregt verweist auf die Behörden vor Ort, die nach oftmals vielen Jahren der Zusammenarbeit darin geübt seien. »Das ist sicherlich auch ein Grund dafür, dass wir unsere Festivals Jahr für Jahr am selben

Sollte sich das Wetter verschlechtern, müssen sich Veranstalter an gewisse Vorschriften halten. Der Leiter der Festivalabteilung kennt die Richtlinien: »Bei Windstärke sechs müssen Videoleinwände abmontiert, bei Windstärke acht die Zelte geräumt werden«, erzählt Barendregt. Geht trotz all dieser Regeln und Vorkehrungen etwas schief, ist man versichert. Allerdings musste die Veranstalterhaftpflichtversicherung von FKP Scorpio nach Barendregts Wissen noch keine großen Schäden kitten. Auch der DWD ist rechtlich bis zu einem gewissen Grad abgesichert: »Handelt ein Mitarbeiter grob fahrlässig – zieht also etwa den Feierabend einer gewissenhaften Unwettermeldung vor – oder informiert absichtlich falsch, haftet der Staat«, erklärt Lux. Die Schuldzuweisung hält Barendregt im Falle eines Unglücks für ein heikles Thema. »Wenn der Blitz in ein Zelt einschlägt, in das sich ein Festivalbesucher zurückgezogen hat, weil der Veranstalter das Gelände räumen ließ – wer ist dann verantwortlich?«, fragt er. Die Vorkehrungen, die getroffen werden, schützen nicht immer. Beim Pukkelpop in Hasselt waren die Voraussetzungen ähnlich wie in Deutschland. Auch in Belgien warnt hauptsächlich der staatliche Wetterdienst, das Königliche Meteorologische Institut (KMI). Und auch in Belgien können die Veranstalter jederzeit einen Mitarbeiter anrufen, wenn Fragen auftauchen. Trotzdem kam es zu einem Unglück. Ein Unglück, für das laut Gericht letztendlich niemand verantwortlich gemacht werden kann. Denn die Justiz in Belgien hat entschieden, dass den Veranstalter keine Schuld trifft. »Man konnte nicht damit rechnen, dass ein Unwetter aufziehen wird«, wurde das Urteil begründet. << Anja Wagenblast

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Militärforschung

Im Labor an der Front

©Caroline Hentschel

Verhalten Wissenschaftler sich unverantwortlich, wenn sie an Universitäten Militärforschung betreiben? »Ja«, finden Militarisierungsgegner und fordern, solche Forschungsarbeiten künftig einzustellen. Dabei lässt sich schon über die Frage, was der Begriff Militärforschung eigentlich beinhaltet, ganz wunderbar streiten.

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n vielen deutschen Hochschulen herrscht augenblicklich Krieg. Über 60 Bremer Wissenschaftler und Professoren setzten sich zu Beginn letzten Jahres in einem öffentlichen Apell gegen Militärforschung an ihrer Hochschule ein. Deutschlandweit demonstrieren Studenten, fordern die Einführung von Zivilklauseln. Das Prinzip dahinter ist einfach: durch Einführung einer Zivilklausel soll verhindert werden, dass an den Bildungseinrichtungen für den Krieg geforscht wird. Befürworter fürchten, dass Studenten andernfalls unwissentlich an der Entwicklung von Waffen oder rüstungsrelevanten Erzeugnisse beteiligt sein könnten. In Deutschland herrscht seit 66 Jahren Frieden. Untätig ist die Bundeswehr aber trotzdem nicht. Aktuell befinden sich circa 7900 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Auslandseinsätzen, für die spezielle Ausrüstung und innovative Technologien notwendig sind. Dass dafür auch an deutschen Universitäten geforscht wird, ist nicht neu. Wie eine kleine Anfrage der Fraktion »DIE LINKE« an den Bundestag im Oktober 2010 ergab, hat das Bundesministerium für Verteidigung (BMVg) zwischen 1991 und 2005 Forschungsaufträge in Höhe von 105,6 Millionen Euro an deutsche Hochschulen vergeben.

zivilklauseln – Ein Lösungsansatz?

Kein Krieg ohne Innovation. Was heute in deutschen Laboren erforscht wird, kann in den nächsten Jahren kriegsentscheidend sein.

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Auch Zivilklauseln sind keine neuartige Entwicklung. Die erste Zivilklausel wurde bereits 1986 an der Universität Bremen eingeführt. Sie besagt, dass jede Beteiligung von Wissenschaft und Forschung mit militärischer Nutzung oder Zielsetzung an der Bremer Bildungseinrichtung abgelehnt wird. An anderen deutschen Universitäten blieb das Engagement in diesem Bereich dagegen bislang unreglementiert. Wie die Bundesregierung vor einigen Monaten mitteilte, hat das BMVg zwischen 2000 und 2010 etwa 46 Millionen Euro in Auftragsforschung an 48 deutschen Hochschulen investiert. Das finanzielle Engagement des Verteidigungsministeriums stößt bei Militarisierungsgegnern zunehmend auf Widerstand. An zahlreichen Universitäten werden Wis-

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raum an die Bildungseinrichtung – 3,56 Millionen davon alleine in den letzten fünf Jahren. Aus den Jahresberichten zur wehrwissenschaftlichen Forschung geht hervor, dass man sich in Köln mit möglichen Einflüssen auf die Leistungsfähigkeit von Soldaten im Einsatz beschäftigte. Der technische Fortschritt hat auch das Arbeitsumfeld von Soldaten verändert und dazu geführt, dass sie sich neu-

Nadine Querling, Studentin Wirtschaftpädagogik in Mainz

»Wenn es um Verteidigung oder Medizin geht, ist das in Ord­ nung. Angriffswaffen sollten an Hochschulen aber nicht ent­ wickelt werden« en Herausforderungen stellen müssen. Längst geht es nicht mehr nur darum, mit Proviant und Munition bepackt durch ein Kriegsgebiet zu robben. Soldaten müssen Maschinen bedienen, große Fahrzeuge bewegen und hinter Monitoren sitzend Informationen korrekt verarbeiten. Wie lange sie im Einsatz dazu fähig sind, wurde in Köln mithilfe einer Untersuchungskabine erforscht, die dem Führerhaus eines Fahrzeugs nachempfundenen war. Anhand der Simulation konnte getestet werden, wie sich die Wahrnehmungs- und Reaktionsleistungen der Probanden im Laufe eines Einsatzes entwickeln. So sollte ermittelt werden, nach welchem Zeitraum ein Soldat im Einsatz ermüdet und welche Auswirkungen das auf seine Leistungsfähigkeit hat. Die Forscher überwachten beispielsweise die Lidschlagrate der Probanden um zu ermitteln, nach welchem Zeitraum mit ersten Ermüdungserscheinungen zu rechnen ist. Mit ansteigender Müdigkeit schließen Menschen ihre Augen häufiger und länger, das heißt ihre KonzentrationsNina Geise, Studentin Buch-/Politikwissenschaften in Mainz,

»Es wird genug geforscht. Die Bundeswehr könnte diese Ergebnisse auch einfach benut­ zen.«

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fähigkeit lässt nach. Anhand eines Blicküberwachungssystems kann festgestellt werden, wie häufig und für wie lange ein Proband seine Augen schließt. Je öfter das passiert, desto erschöpfter ist die Person. Dieses Prinzip hat sich die Automobilindustrie bereits zunutze gemacht. Es wird dort eingesetzt, um Fahrer bei nachlassender Aufmerksamkeit frühzeitig zu warnen.

Dass solche Forschungsarbeiten für die Bundeswehr relevant sind, steht außer Frage. Immerhin sollen die gewonnenen Erkenntnisse dazu beitragen, das Arbeitsumfeld von Soldaten in Zukunft besser beurteilen und optimieren zu können. Betreiben die beteiligten Wissenschaftler also Militärforschung, wenn sie solche Studien für das Verteidigungsministerium durchführen? Schließlich entwickeln sie keine Waffen, um Menschen zu töten. Missachten sie trotzdem ihre gesellschaftliche Verantwortung, wenn sie sich daran beteiligen oder werden sie ihr dadurch sogar vielleicht erst gerecht? »Es geht bei uns um ganz einfache physiologische Zusammenhänge«, erläutert Dieter Eßfeld, Mitarbeiter des Institutes für Physiologie und Anatomie der Sporthochschule Köln, der das Projekt betreute. »Wir schauen uns an, wie fit die Soldaten sind. Sind sie dick oder dünn? Wie viel können sie tragen und wie lange?«, erklärt er zu seinen Projekten. Es gehe also um Anforderungen am Arbeitsplatz, so Eßfeld, über die sich jeder Arbeitgeber Gedanken machen müsse – auch die Bundeswehr. »Diese moralische Frage stellt sich für uns daher nicht«, findet er. »Wir schauen uns an, welche mit Drittmitteln geförderten Projekte in unser Institut passen und die machen wir dann.« Tatsächlich ist Forschungsfinanzierung ein wichtiger Aspekt, wenn es um Koope-

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© Yasmin Emily Penack

senschaftler und Studenten aktiv und fordern, die Forschung für die Bundeswehr einzuschränken oder ganz zu unterlassen. Dabei ist Auftragsforschung an Hochschulen durchaus üblich und rechtlich legitim. Auch ihre Auftraggeber dürfen sich die Universitäten weitgehend selbst aussuchen. Eine rechtliche Grundlage für die Ablehnung militärrelevanter Forschungsarbeiten besteht bislang also nicht. Das möchten Militarisierungsgegner ändern. Deshalb setzten sie sich dafür ein, dass an zahlreichen deutschen Hochschulen Zivilklauseln eingeführt werden. Durch die Aufnahme einer Zivilklausel in ihre Grundordnungen würden sich die wissenschaftlichen Einrichtungen – ähnlich wie in Bremen – verpflichten, ausschließlich für friedliche, also nichtmilitärische Zwecke zu forschen. Allerdings gestalten die Hochschulen ihre Grundordnungen selbstständig. Diese Selbstverpflichtung bliebe also freiwillig, sie hätte keinen Gesetzescharakter. Ein Kernaspekt in dieser Diskussion – nämlich die Frage, was Militärforschung eigentlich beinhaltet – ist dabei nicht eindeutig zu beantworten. Tatsächlich mündet Auftragsforschung für das Verteidigungsministerium nicht unweigerlich in die Entwicklung neuer Waffen. Der Großteil der rüstungsrelevanten Forschung wird in Deutschland außeruniversitär – beispielsweise an Fraunhofer-Instituten – bewerkstelligt. Für welchen Teil der militärischen Forschung werden die Universitäten dann eigentlich bezahlt? Spitzenreiter der zwischen 2000 und 2010 mit projektgebundenen Fördergeldern – so genannten Drittmitteln – des BMVg unterstützten Hochschulen war laut Angaben der Bundesregierung die Deutsche Sporthochschule Köln. Insgesamt 4,4 Millionen Euro flossen in diesem Zeit-


rationen und Auftragsforschung geht. Immerhin wird für gutes wissenschaftliches Arbeiten Geld benötigt. Neben ihrer eigenen Arbeitskraft müssen Wissenschaftler Gelder für Arbeitsmaterialien, Geräte und Personal aufbringen, die von den Universitäten nur selten zur Verfügung gestellt werden können. Deswegen sind Forscher oft darauf angewiesen, weitere finanzielle Mittel für ihre Projekte zu akquirieren. Zusätzliche staatliche Fördergelder – so genannte Drittmittel – können auf Antrag und nur projektgebunden ausgezahlt werden. So auch bei Auftragsforschungsarbeiten für das Verteidigungsministerium. »Ich halte die schlechte Forschungsfinanzierung in Deutschland für einen wichtigen Grund dafür, dass die Militarisierung an Hochschulen so stark voranschreitet«, meint Christoph Marischka, Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen. Der gemeinnützige Verein befasst sich seit 1996 mit friedenspolitischen Themen und setzt sich in letzter Zeit verstärkt für die Einführung von Zivilklauseln an deutschen Universitäten ein. Gegenwind erfährt das IMI dabei mitunter auch von Studenten. So lehnt der Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) in Bremen einen Beschluss des Landesparteitags, eine Zivilklausel in

Mark Turpin, Student Lehramt in Mainz

»Ich bin nicht grundsätzlich gegen Forschung für die Bundes­ wehr. Für mich hängt das vom Forschungsprojekt ab. Pauscha­ lisieren lässt sich das nicht.« versität in Darmstadt. Obwohl sie glaubt, dass an ihrer Hochschule keine dezidierte Rüstungsforschung betrieben wird, hat sie im November 2011 ein Entmilitarisierungsreferat gegründet. Immerhin engagiere sich ihre Universität im Bereich der zivilen Sicherheitsforschung, so Eisenhardt. »Ich empfinde Sicherheitsforschung als besonders kritisch, da hier in meinen Augen der `Dual Use´- Gedanke zum Tragen kommt«, erklärt sie und ergänzt: »`Dual Use´ bedeutet, dass die Forschung für zivile Sicherheit, aber auch für militärische Zwecke genutzt werden kann.« Tatsächlich ist dieser Effekt denkbar. »Das in der militärischen Forschung erworbene Know-how muss auch im Bereich der zivilen Sicherheitsforschung verfügbar sein und umgekehrt«, heißt es im Positionspapier des wissenschaftlichen Programmausschusses des Bundesministeriums für Bildung und Forschung

Nina Eisenhardt, Studentin an der TU Darmstadt. Vor einigen Wochen hat sie dort das Entmilitarisierungsreferat gegründet.

»Ich möchte an meiner Hoch­ schule den Diskurs zu Militärund Sicherheitsforschung fördern.« das Bremer Hochschulgesetz einzufügen, entschieden ab. In einer Pressemitteilung schreiben die Studenten: »Die im Grundgesetz garantierte Freiheit der Wissenschaft würde dadurch erheblich eingeschränkt und Forscher unter Generalverdacht gestellt werden«. Gleichzeitig halten die Studenten des RCDS die Umsetzung einer gesetzlichen Zivilklausel in der Praxis für schwierig, da die Grenzen zwischen ziviler und militärischer Nutzung oftmals fließend seien. Diese Ansicht teilt auch Nina Eisenhardt, Studentin der Technischen Uni-

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

(BMBF). Mit bislang 235 Millionen Euro hat die Bundesregierung im Rahmen des Programms zur Sicherheitsforschung Projekte unterstützt, die laut Zielsetzung die Sicherheit der zivilen Bevölkerung erhöhen sollen, also einem zivilen Zweck dienen. Dennoch könnten Ergebnisse aus diesem Forschungsbereich später auch militärisch genutzt werden. Mit drei Millionen Euro aus diesem Etat wurde zwischen 2007 und 2011 beispielsweise das Projekt »Airborne Remote Sensing for Hazard Inspection by Lightweight Drones« (AirShield) unterstützt. Ziel dieses

Forschungsprojektes war die Entwicklung miteinander vernetzter Drohnen-Schwärme, die im Notfall von Einsatzkräften in die Luft entsandt werden können. Dort sollen sie Daten über die Gefahrenlage sammeln und daraus Prognosen für die Rettungskräfte am Boden entwickeln. Man könnte die Flugroboter-Schwärme bei Großbränden einsetzen, um den Austritt von schädlichen Dämpfen zu messen und zu beobachten, wie der Koordinator des Projektes, Christian Wietfeld von der Technischen Universität Dortmund erläuterte. Der Nutzen dieser Technologie für Rettungs- und Sicherheitskräfte steht außer Frage. Gleichzeitig werden Drohnen aber auch von der Bundeswehr in Auslandseinsätzen genutzt, um die Soldaten bei der Überwachung von Kriegsgebieten und der Zielortung zu unterstützen. An der Entwicklung von AirShield war auch die Microdrones GmbH, ein Drohnenhersteller aus Kreuztal beteiligt. Laut eigenen Angaben beliefert das Unternehmen auch das Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung in Ettlingen. Dessen größtes Geschäftsfeld ist wiederum der Verteidigungssektor, zu den Auftraggebern zählen das BMVg und die Bundeswehr. Das an Universitäten gewonnene Know-How für Feuerwehrdrohnen könnte auf diesem Umweg also auch in den militärischen Einsatz gelangen. Das würde sich auch durch die Einführung von Zivilklauseln nicht ändern. Fraglich ist also, inwiefern sich dieser Wissenstransfer überhaupt verhindern lässt. Tatsächlich ist die Einstufung der militärischen Nutzbarkeit vieler Forschungsarbeiten ebenso umstritten wie die Notwendigkeit von Zivilklauseln. Ein spannender Diskurs, dem sich viele Universitäten, deren Studenten und die Politik in nächster Zeit widmen müssen. << Yasmin Emily Penack

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i nt er v i e w

Wissen aus dem Untergrund? Ob Radioaktivität oder Schweinegrippe – wer über brisante Themen forscht, muss sich mit seiner Verantwortung für die Gesellschaft auseinandersetzen. Aber gilt das denn nicht für alle Wisenschaftler? Tragen die Nebendarsteller der Forschungslandschaft vielleicht weniger Verantwortung oder liefern sie sogar das Fundament für die gefeierten Erfolge? Drei Forscher geben Antworten.

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© Stephanie Hill

»Langfristig gesehen, hat Kommunikations­ wissenschaft eine genauso große Verantwortung wie Oliver Quiring die Medizin.«

Oliver Quiring ist Kommunikationswissenschaftler und geschäftsführender Leiter am Institut für Publizistik der Universität Mainz.

Herr Quiring, was treibt Sie jeden Tag an? Quiring: Es ist die Neugierde. Ich finde es toll, dass man mich dafür bezahlt, neugierig zu sein. Ergibt sich daraus eine gewisse Verantwortung für Sie oder erforschen Sie einfach, worauf Sie gerade neugierig sind? Quiring: Natürlich suche ich mir Themen, die auch gesellschaftlich relevant sind. Die Ergebnisse, die ich publiziere, zeigen, wie Medien funktionieren und was sie gesellschaftlich verändern. Im Moment untersuchen wir beispielsweise die Berichterstattung während der Wirtschaftskrise. Die Berichterstattung kann die Realität nicht objektiv abbilden, denn Journalisten haben Einstellungen zum Thema. Zudem gibt es Produktionsroutinen, Zwänge der Kommerzialisierung und so weiter. Insofern haben wir die Verantwortung, immer wieder zu untersuchen, ob Medien ihre Funktion erfüllen. Zudem habe ich auch die Verantwortung, empirisch sauber zu arbeiten, also nicht nur meine Meinung zu

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äußern, sondern an Hand empirischer Forschung zu untermauern. Sie haben gerade von der Funktion der Medien gesprochen. Setzen Medien ihre Funktion richtig um? Quiring: Das ist eine schwierige Frage. Ich definiere zunächst einmal, was ihre Verantwortung ist. Gerne. Quiring: Die Presse hat die öffentliche Aufgabe, den Bürger zu informieren, damit er sich vernünftig eine Meinung bilden kann. Medien sollen ein Forum zur Artikulation verschiedener Ideen liefern und Mächtige, aus Politik und Wirtschaft beispielsweise, kritisieren. Aber auch Unterhaltung ist ihre Funktion. Bei der Frage, ob die Medien diese Aufgaben erfüllen, tendiere ich zum Ja. Ich sehe unsere Medienentwicklung nicht so pessimistisch. Es läuft nicht alles glatt, aber ich sehe zumindest den Versuch, diese Aufgaben weiterhin zu erfüllen und ebenso den Medien Verantwortung zu übertragen, die wahrgenommen wird. Wie lassen sich Ihre Erkenntnisse auf die Praxis übertragen?

Quiring: Das Wichtigste ist, dass die Ergebnisse an die Öffentlichkeit gelangen. Wir führen auch Gespräche mit Zuständigen, in denen wir auf Missstände hinweisen und Optionen darstellen. Das sind die einzigen Möglichkeiten, die ich sehe. Wie stark sehen Sie Ihre Wissenschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, etwa im Vergleich zu der medizinischen Forschung? Quiring: Ich habe große Ehrfurcht vor Disziplinen wie der Medizin. Medizin hat ebenso wie viele Naturwissenschaften eine ganz klar sichtbare Funktion: Sie rettet Menschenleben. Wir Kommunikationswissenschaftler beschäftigen uns ja eher damit, wie Gesellschaften funktionieren und wie sie kommunizieren. Das ist nicht ganz so greifbar. Aber wenn es etwa hilft, Diktaturen zu vermeiden, ist das wichtig. Das haben wir in unserer deutschen Geschichte gelernt. Ich würde also eher sagen, Kommunikationswissenschaftler haben langfristig eine genauso wichtige Funktion wie Forscher in der Medizin.

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»Kunstwissenschaft sorgt dafür, dass visuelle Phänomene beschrieben werden können«

Alexandra Karentzos

Die Kunsthistorikerin Alexandra Karentzos ist Wella-Stiftungsprofessorin an der TU Darmstadt. Sie forscht über die Auswirkungen der Globalisierung auf Mode und Ästhetik. Sie © Stephanie Hill

findet, dass Wissenschaft Mode in gesell-

Frau Karentzos, wie wirkt sich die Globalisierung auf die Mode aus? Karentzos: Zum Beispiel durch den so genannten Serail-Look, der seit 2009 auch international gefragt ist und die Haremshosen auf den Laufsteg schickt. Das sind diese Hosen mit dem tiefen Schritt. In Europa gab es schon mehrere Revivals dieser Hose. Im 18. Jahrhundert war das ein Zeichen des exotischen Anderen, aber auch ein Zeichen von Freiheit und Emanzipation. Frauen, die so etwas getragen haben, hatten im wahrsten Sinne des Wortes die Hosen an. Daran sieht man einen Bedeutungswandel. Heute würde man das vielleicht eher, als erotische Imagination sehen: der Harem als Lustort. Welche Bedeutung hat Mode für die Gesellschaft? Karentzos: Mode hat das Potenzial, sich kritisch mit der Gesellschaft auseinander zu setzen. Etwa als politisches Statement, wie das die Punkbewegung gemacht hat.

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schaftliche Kontexte einordnen sollte – um kritische Distanz zu Alltagsphänomenen zu ermöglichen.

Sprechen wir einmal über die Wissenschaft hinter der Kunst. Welche Funktion hat sie? Karentzos: Die Rolle der Wissenschaft ist es, die Kunst zu beobachten, zu analysieren und in einen Kontext zu setzen. Kunstwissenschaft sorgt dafür, dass visuelle Phänomene beschrieben werden können. Damit schafft sie Verständnis für gesellschaftliche Kontexte und Entwicklungen. Haben Sie dafür ein Beispiel? Karentzos: Lady Gaga arbeitet sehr performativ und verwendet Kunstmittel, um Aufmerksamkeit zu erzielen. Sie hat mit ihrem Fleischkleid und einem Kotelett als Hut viel Aufsehen erregt. Mir als Kunstwissenschaftlerin geht es dabei darum, zu untersuchen wie sich diese Person inszeniert, welche Mittel sie aufgreift und in welcher Verbindung das steht.

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Herr Krag, wie sieht Ihr Alltag beim European Space Operation Centre aus? Krag:Das ESOC betreibt die Satelliten der ESA. Dazu gehört die regelmäßige Kontaktaufnahme mittels eines Netzwerks von Antennen, das Verfolgen ihres Status und die Berechnung ihrer Bahnen. Meine Arbeit wird dann entscheidend, sobald wir dabei auf eine Kollisionswarnung stoßen. Erst heute ist eine reingekommen, die einen unserer Satelliten betrifft. Dann sprechen wir uns mit unserem Kontrollteam ab, das den Satelliten die Kommandos gibt. Danach fliegen wir das Ausweichmanöver. Wenn ein teurer Satellit bei einer Kollision getroffen wird, ist das sehr ärgerlich. Wie kommt es zu Kollisionen? Krag: Es gab bis heute rund 5000 Raketenstarts. Jeder Start bringt mindestens einen Satelliten ins All. Leider sind schon mehr als 200 Mal Raketenoberstufen, manchmal sogar Satelliten, explodiert. Man hat sich nie Gedanken gemacht, was nach 20 bis 30 Jahren mit diesen Objekten passiert. Es hat sich herausgestellt, dass sich der restliche Treibstoff selbst entzünden kann. Dadurch explodiert der Satellit. Das Objekt zerlegt sich in Trümmer, diese sind wieder Kandidaten für neue Kollisionen. Das wäre dann eine Kettenreaktion. Wir haben Angst davor, irgendwann nur noch zusehen zu können, wie die Objekte miteinander kollidieren

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und ihre Zahl immer weiter ansteigt. Und ehrlich gesagt haben wir das Gefühl, dass wir kurz davor stehen. War das nicht verantwortungslos von der ESA, sich keine Gedanken zu machen, was nach der Mission mit den Raketen passiert? Krag: Man muss sich in die Pioniertage der 50er Jahre zurück versetzen. Es war ein Riesenerfolg für die Menschheit, überhaupt ein Objekt ins All zu bringen. Insofern habe ich Verständnis für die frühen Tage der Raumfahrt. Aber man hätte von Anfang an eine Art Verkehrsplanung machen müssen, damit sich die Objekte mit ihrer Umlaufbahn nicht überschneiden. Auf der anderen Seite habe ich erlebt, wie Regeln zustande kommen. Da diskutieren 60 bis 70 Nationen. Keiner will sich den Flug in den Weltraum verbieten lassen. Ich bin heute selbst in solche Diskussionen involviert und versuche zu erklären, welche Konsequenzen Missionen haben und welche Maßnahmen getroffen werden müssen. Das ist in einem solchen Umfeld sehr schwer. Ist das so ähnlich wie in der Klimadebatte? Krag: Ja, Weltraumschrott ist ein globales Problem. Was einer anrichtet, bekommen alle zu spüren. Und die Effekte von dem, was man zur Vermeidung versucht, sind erst ganz spät spürbar. Die Interviews führte Stephanie Hill.

© Stephanie Hill

»Weltraumschrott ist ein globales Problem, es reicht nicht, wenn nur Holger Krag ein Land etwas dagegen macht.«

Holger Krag hat Maschinenbau mit Schwerpunkt Luft- und Raumfahrt an der TU Braunschweig studiert. Er arbeitet beim European Space Operation Centre (ESOC) in Darmstadt und beschäftigt sich mit Weltraummüll.

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E l e kt r o m o b i li tä t

Hype ohne Zukunft Lithium-Ionen-Batterien boomen – aber wie zukunftsfähig sind sie wirklich?

J

eder hat eine. Denn sie sind überall. In Handys, in Laptops, sogar in Akkuschraubern, neuerdings auch in Autos. Die Rede ist von Lithium-Ionen-Batterien, von Experten abgekürzt Li-Ion, die in den letzten Jahren schwer in Mode gekommen sind. Es gibt kaum ein elektrisches Gerät, das nicht mit einem solchen Akku ausgestattet ist. Kein Wunder: Li-Ions haben eine sehr hohe Energiedichte, sie können eine große Menge Energie in einer vergleichsweise kleinen Menge Lithium speichern. Frühere Akkumodelle hatten einen »Memory Effekt«. Das heißt: Mit zunehmendem Alter konnten sie immer weniger Energie speichern. Bei Li-Ions entfällt dieses Problem. Diese Vorteile machen Lithium zu einem gefragten Rohstoff. Es ist das Schicksal von Rohstoffen, dass sie nur in begrenztem Maße auf unserem Planeten vorhanden sind. Ist die Zukunft der Li-Ions also schon vorbei, bevor sie begonnen hat? Lithium ist das leichteste Metall der Welt. Doch kaum jemand weiß, wie dieses Element aussieht. Im Gegensatz zu Gold, Silber oder Uran kann es nicht einfach in einer Mine abgebaut werden. Einer der wichtigsten Rohstoffe für die Elektronikund Automobilindustrie versteckt sich gut. Lithium kommt nahezu überall vor, in Gesteinen, in unserem Mineralwasser und auch in unserem Körper. Aber nur an wenigen Stellen auf der Erde ist das Element in so hohen Konzentrationen vorhanden,

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dass sich ein Abbau lohnt. Eine dieser Stellen ist das »Lithiumdreieck« – drei Salzseen in Argentinien, Bolivien und Chile, wo stolze 70 Prozent der weltweiten Lithiumvorräte lagern. Salar de Atacama, Salar de Uyuni, Salar de Hombre Muerto – vielleicht werden die Namen dieser Seen bald in aller Munde sein. Denn seit die Automobilindustrie auf Elektroautos mit Li-Ions setzt, steigt der Bedarf rasant an. Es ist ja auch eine verlockende Vorstellung, dass in 20 oder 30 Jahren nur noch Elektroautos leise durch die Straßen schnurren. Nie wieder tanken, nie wieder Smog. Dafür müssten allein in Deutschland 57 Millionen Autos ersetzt werden. Wie realistisch ist das? Wie viel Lithium gibt es überhaupt auf der Erde?

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Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir zurück nach Südamerika, zu den Salzseen. Laut eines Berichts aus dem Jahr 2008 des Meridian International Research (MIR), einem Technologie-Beratungsunternehmen, stecken in ihrer Salzkruste insgesamt über zehn Millionen Tonnen Lithium. Nimmt man einige kleinere Vorkommen in China, Brasilien und den USA dazu, kommt man auf 15 Millionen Tonnen weltweit. Das klingt nach genug Lithium für alle, genug von diesem Rohstoff für alle Autos, für alle Handys und Laptops. Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Vielleicht wäre es deshalb klug, noch einmal einen genaueren Blick in den Bericht des MIR zu riskieren. Die Experten schätzen, dass aus dem Salar de Atacama

Es ist eine verlockende Vorstellung, dass in 20 oder 30 Jahren nur noch Elektroautos leise durch die Straßen schnurren. Nie wieder tanken, nie wieder Smog. Wie realistisch ist das? Und wie viel Lithium gibt es überhaupt auf der Erde?

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© Francesco Mocellin

Eine dicke Salzkruste überzieht den Salar de Atacama. Der drittgrößte Salzsee der Erde liegt in den chilenischen Anden. Hier lagert ein begehrter Rohstoff für die Automobilindustrie: Lithium. Wird das gefragte Metall jedoch weiter so exzessiv abgebaut, zerstört der Mensch diese einmalige Landschaft für immer.

seit 1984 bereits 100.000 Tonnen Lithium abgebaut wurden. Optimistische Schätzungen gehen davon aus, dass knapp sieben Millionen Tonnen noch dort lagern. Maximal können davon aber nur eine Million Tonnen gefördert werden, weil das restliche Lithium in zu großer Tiefe lagert oder die Konzentration so gering ist, dass der Abbau mehr Geld kosten würde, als er einbringt. Ähnlich sieht es im Salar de Uyuni aus, wo aufgrund schlechterer klimatischer Bedingungen nur 300.000 bis 600.000 Tonnen zu gewinnen sind. Immerhin besser als nichts, könnte man sagen. Die Konsequenz aber wäre die komplette Zerstörung dieser einzigartigen, bizarr schönen Naturwunder. Der Salar de Atacama liefert ungefähr die Hälfte der jährlichen Weltproduktion an Lithium, 2007 rund 10.000 Tonnen. Für das Jahr 2015 schätzt das MIR einen Bedarf

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von rund 45.000 Tonnen Lithium. Den Löwenanteil verbrauchen die Elektronikbranche sowie Glas- und Keramikherstellung. Nur rund 13 Prozent stehen tatsächlich der Automobilindustrie zur Verfügung. Damit könnte man gerade einmal schlappe 2,7 Millionen moderne Li-Ions herstellen. Zum Vergleich: Die jährliche Autoproduktion liegt bei 60 Millionen Autos – nur knapp 5 Prozent davon könnten also durch Elektroautos ersetzt werden. Bis die verheißungsvolle Zukunft der Elektromobilität komplett umgesetzt werden kann, muss die Fördermenge an Lithium drastisch erhöht werden. Im Umkehrschluss heißt das aber auch: je mehr abgebaut wird, desto geringer wird die Konzentration des Elements in den Salzseen Südamerikas und in den anderen Lagerstätten. Verringert sich aber die Konzentration in der Salzlauge, wird der Abbau des Lithiums noch schwie-

riger, zeitaufwendiger und zerstörerischer für die Umwelt. Es ist ein Teufelskreis, der an ein ähnlich gelagertes Problem unserer Zeit erinnert. Es gibt noch einen begrenzt vorkommenden Rohstoff, der essentiell für unsere Mobilität ist – Öl. Die Vorräte an fossilen Brennstoffen gehen zur Neige, da wir sie intensiv nutzen. Ein Alarmsignal, das uns zwingt nach neuen Lösungen für die Zukunft zu suchen. Aber ist es ein Ausweg, einen knappen Rohstoff durch etwas zu ersetzen, das ebenfalls nur in begrenztem Maße vorhanden ist? Li-Ions mögen eine Möglichkeit sein, die Mobilität der nahen Zukunft zu gewährleisten. Trotzdem muss die Suche nach Alternativen weitergehen, damit wir die Verantwortung für unsere Zukunft nicht einfach auf die nächste Generation abschieben. << Ann-Kathrin Braun

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A ut on o m e s Fa h r en

Der Einparkassistent hilft dem Fahrer nicht nur die passende Parklücke zu finden, sondern berechnet auch den optimalen Einparkvorgang. Die Lenkung wird dabei von dem Auto komplett allein übernommen. Nur noch Gas und Bremse

© Tabea Osthues

muss der Fahrer betätigen.

Wer fährt denn hier? Schon jetzt rollen testweise die ersten Autos selbst­ständig auf den Straßen. Ob der Fahrer dabei zum Beifahrer wird und wo die Entwickler ihre Verantwortung gegenüber dem Menschen sehen, ist noch strittig.

»A

mpel rot«, meldet Leonie mit lieblicher Stimme. Wenig später bremst sie langsam ab, bis sie an der Haltelinie auf dem Stadtring in Braunschweig zum Stehen kommt. Sobald die Ampel auf Grün schaltet, gibt sie Gas. Da schert ein Auto vor ihr ein. Ein kleiner Ruck geht durch Leonie. Erst bremst sie ab, dann gibt sie ein bisschen Gas, bis sie den Sicherheitsabstand wieder hergestellt hat. Erneut kommt eine rote Ampel. Hier schert Leonie auf die Abbiegespur ein und setzt den Blinker. Dann ertönt ein schril-

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ler Piepston, der signalisiert, dass Bernd Lichte jetzt Steuer und Pedale übernimmt. Lichte ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Regelungstechnik der Technischen Universität Braunschweig und der Sicherheitsfahrer von Leonie. Sie ist ein grauer VW Passat der Universität, an dem das sogenannte autonome Fahren im Stadtverkehr getestet wird. Fahrzeuge wie Leonie können die Geschwindigkeit autonom regeln, alleine lenken und erkennen, wenn ein Gegenstand zu nahe kommt. Dann bremst sie bis zum Stillstand ab.

Auf Flughäfen oder an Containerterminals fahren bereits autonome Fahrzeuge. So transportieren 86 fahrerlose Transportfahrzeuge im Containerterminal Altenwerda in Hamburg Container von den Schiffen zum Lager. Die Steuerung der Fahrzeuge läuft über kleine Sensoren im Asphalt, mit deren Hilfe die fahrerlosen Transportfahrzeuge sich den kürzesten Weg zum Ziel suchen. Da sie außerhalb ihres Einsatzgebietes nicht selbstständig fahren können, ist diese Technik für den öffentlichen Straßenverkehr nicht geeignet und kann noch nicht in Serie eingesetzt werden.

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»Das wird erst in sehr weiter Zukunft der Fall sein«, sagt Udo Rügheimer, Pressesprecher für Technik von Bosch in Stuttgart. Denn bei einem Unfall könne dem System noch nicht die Verantwortung gegeben werden. Rügheimer weist damit auf das Wiener Übereinkommen zum Straßenverkehr hin: »Hier ist festgelegt, dass der Fahrer die Verantwortung für sein Fahrzeug hat.« Das Übereinkommen stammt aus dem Jahr 1968 und soll den internationalen Straßenverkehr erleichtern. »Wissenschaftler entwickeln autonome Fahrzeuge, weil sie sich in der Verantwortung sehen, die Fahrsicherheit zu erhöhen«, erklärt Rügheimer. Fahrer sollen in ermüdenden oder kritischen Situationen – die zu einem Unfall führen können – entlastet werden. Das kann beispielsweise durch einen Spurhalteassistent, oder ein elektronisches Stabilitäts-Programm, kurz ESP, geschehen. Auch Ioannis Iossifidis, Professor für Theoretische Informatik – Kognitive Systemtechnik an der Hochschule Ruhr West in Bottrop, befürwortet die Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen: »Wenn die Systeme im Auto kein zusätzliches Risiko bergen und damit zu einem Verkehrstoten weniger beitragen, dann ist die Entwicklung des Autonomen Fahrens für mich gerechtfertigt«, sagt er. Im Jahr 2010 starben laut dem Statistischen Bundesamt 3.648 Menschen im Straßenverkehr. Allerdings räumt Iossifidis ein, dass das autonome Fahren auch einen ökologischen Aspekt habe. »Die Straßen können dann effizienter genutzt werden.« Das autonome Fahren sorge dafür, dass die Straßen besser ausgelastet würden. Das verringert die Staubildung, vor allem auf stark befahrenen Straßen. Selbst bei geringen Geschwindigkeiten wäre so fließender Verkehr möglich. Iossifidis fühlt sich aus einem weiteren Grund verantwortlich, das autonome Fahren mit zu entwickeln: »Ich habe das Gefühl, dass diese Forschung eine gesellschaftliche Relevanz besitzt.« So frage er sich als Wissenschaftler, für wen die Entwicklung nützlich ist. »Dabei denke ich vor allem an Menschen mit einer Beeinträchtigung.« Denn je größer das Ausmaß der

Autonomie sei, desto geringer wäre die Hürde für Leute mit Beeinträchtigung. Dennoch besteht auch hier das Problem der Verantwortung bei einem Unfall. Für Iossifidis stellt sich dabei die Frage, warum Unfälle passieren. »Ihnen liegen meist erkenntnismäßige Fehlleistungen zu Grunde«, sagt der Wissenschaftler. Der Fahrer habe etwa nicht in den Rückspiegel geschaut oder nicht rechtzeitig gebremst. Ob jemand wegen eines kognitiven Fehlers zur Verantwortung gezogen werden kann, bleibt für Iossifidis fraglich. In einem Punkt ist er sich sehr sicher: »Ein Computersystem macht Fehler, die ein Mensch nicht machen würde und umgekehrt.«

Verbesserte Reaktion Das ist auch bei Leonie so: Während der Fahrt auf dem Testgelände fährt sie auf ein stehendes Fahrzeug zu. Sie erkennt es mit Hilfe ihrer Lasersensoren und kommt dahinter zum Stehen. Doch im nächsten Moment hat sie das Signal verloren und gibt Gas. Mit einer Vollbremsung verhindert der Sicherheitsfahrer Bernd Lichte gerade noch einen Unfall. Doch nicht nur ein verlorenes Signal kann ein Problem sein: »Wenn ein Sensor geblendet wird, kann es zu einer Reaktion des Systems kommen, obwohl eigentlich keine Gefahrensituation vorliegt«, erklärt Felix Lotz vom Institut Maschinenbau, Fachgebiet Fahrzeugtechnik. Er gehört

zum Team von »Proreta«, einem Projekt der Technischen Universität Darmstadt in Kooperation mit der Continental AG. Hier entwickelt Lotz gemeinsam mit Kollegen unter anderem ein teilautonomes Fahrkonzept. »Der Fahrer soll dabei auf Manöverebene mit dem Fahrzeug kommunizieren.« Gibt der Fahrer dem Auto beispielsweise zu verstehen, dass er an der nächsten Kreuzung rechts abbiegen möchte, soll das Auto den Befehl durchführen. Das Projekt befindet sich noch in seinen Anfängen. Wie genau die Kommunikation ablaufen wird, muss noch geklärt werden. Bei dem Projekt ist dem Team wichtig, dass die Verantwortung beim Fahrer bleibt. »Es muss sichergestellt werden, dass Fahrer und Fahrzeug ein Team sind«, so Matthias Pfromm vom Team »Proreta«. Er und seine Kollegen sind sich einig, dass ihre Entwicklung den Fahrer entlasten und nicht entmündigen soll. Ähnlich sieht das auch Udo Rügheimer, Pressesprecher von Bosch: »Die Systeme dienen dazu, dem Fahrer mehr Information zur Verfügung zu stellen und die Reaktion früher und zielgenauer einzuleiten, passend auf die aktuelle Fahrsituation.« So erkenne das ESP, wenn beim Bremsen eine Instabilität oder ein Ausbrechen des Wagens drohe. Das System bremst daraufhin die einzelnen Räder unterschiedlich stark ab. »Dementsprechend trifft das Fahrzeug schon heute Entscheidungen.«

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100. Geburtstag von Carl Friedrich von Weizsäcker 1912-­‐2007 Diskussionsveranstaltung:

Wie soll und wird die Rolle der wissenschaftlichen Bildung im nächsten Jahrzehnt aussehen? Tagung:

WOHIN GEHEN WIR – heute? 28. Juni 2012 Humboldt-­‐Viadrina School of Governance, Berlin 29. Juni -­‐1. Juli 2012 Europäische Akademie Berlin Vereinigung Deutscher Wissenschaftler e.V. Informationen und Voranmeldung unter info@vdw-­‐ev.de 030/21 23 40 56

Foto: GMurr97

U.a. mit Johan Galtung Martin Heisenberg Reiner Langhans K.M. Meyer-­‐Abich Konrad Raiser Gesine Schwan Klaus Töpfer Hans J. Vogel E.U.v. Weizsäcker

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© TU Braunschweig, Projekt Stadtpilot

Das Auto Leonie ist mit verschiedenen Radar- und Lasersystemen ausgestattet. Damit ist es in der Lage, autonom ein kleines Stück auf dem Stadtring in Braunschweig zu fahren.

Auch »bei unangenehmen Tätigkeiten«, zum Beispiel bei zähfließendem Verkehr oder beim Einparken seien die Assistenzsysteme eine feine Sache. »Letztlich sind das Situationen, in denen man das Recht auf eigenständige Entscheidungen gar nicht wahrnehmen will«, findet der Pressesprecher. So sieht er die Verantwortung der Wissenschaftler gegenüber dem Fahrer.

Verantwortung bleibt beim Fahrer Anderer Meinung ist Alexandra Schulz, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Fachbereichs Kraftfahrzeuge der Technischen Universität Berlin. Sie empfinde aus forschender Sicht keine Verantwortung gegenüber dem Fahrer. »Es geht darum, dem Fahrer einen Gefallen zu tun und ihm nicht zu schaden«, erklärt sie. Den Wissenschaftler sehe sie nicht in der Verantwortung, sich darüber Gedanken zu machen, ob das autonome

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Fahren eine Entmündigung des Fahrers ist. »Der Fahrer sollte immer noch ‚in the loop‘ bleiben.« Das heißt, er soll eine handelnde Komponente bleiben. »Ein System kann keine Verantwortung übernehmen«, meint sie. Daher werde die kontrollierende Funktion des Fahrers noch sehr lange erhalten bleiben. Das ist auch nötig. Denn während Leonie einen Teil des Stadtrings in Braunschweig entlang fährt, ertönt erneut ein Piepston. Als nächstes macht Leonie deutlich: »Fehler erkannt. Mögliche Ursache durch Eingriff«. Doch Bernd Lichte hat nicht in den autonomen Fahrmodus eingegriffen. Stattdessen hat Leonie einen Fehler im System ausfindig gemacht. Es fährt automatisch herunter und Lichte übernimmt das Steuer. Währenddessen suchen seine Doktoranden, die ebenfalls im Auto sitzen, nach dem Fehler im System. »Der Fahrer muss Herr über sein Fahrzeug sein«, erklärt Alexandra Schulz von der Technischen Universität Berlin. Das

sei die momentane Regelung. Daher betonen die Hersteller immer wieder, dass der Fahrer verantwortlich ist. »Bis die Technik das autonome Fahren zuverlässig kann, wird es noch dauern«, meint sie. Die bisherigen Systeme hätten nicht die nötige Reichweite, um vorausschauend zu fahren. »Daher ist eine Car to Car-Communication nötig«, sagt die Wissenschaftlerin. Dabei kommunizieren die Fahrzeuge untereinander per Funksignal. »Die Fahrzeuge tauschen aus, welches das vorderste Fahrzeug sieht«, erklärt sie. Doch bis es soweit ist, müsse erst noch das Vertrauen der Bevölkerung in das System des autonomen Fahrens geschaffen werden, weiß Matthias Schreier vom Team Proreta. »Das kann dauern. Der Bevölkerung muss erst gezeigt werden, welche Vorteile das System bringt.« In Braunschweig fängt Leonie schon damit an: Für wenige Kilometer fährt sie auf dem Stadtring im Verkehr mit. << Tabea Osthues

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Lavendelweg 15, 64653 Lorsch, mac_kram@yahoo.de Herstellung: Hochschule Darmstadt, Haardtring 100, 64295 Darmstadt Leitung: Prof. Dr. Annette Leßmöllmann (verantwortlich), Hochschule Darmstadt, Fachbereich Media, Studiengang Wissenschaftsjournalismus Mediencampus Dieburg, Max-PlanckStraße 2, 64807 Dieburg, journalismus@h-da.de, www.wj.h-da.de

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Auch nur Menschen Wie stellen Sie sich eigentlich einen Wissenschaftler vor? Vielleicht etwa so wie Amy. In der siebten Klasse nahm sie am »Beauty and Charm«-Programm des amerikanischen Forschungszentrums für Teilchenphysik »Fermilab« teil. Am Anfang des Projekts malte sie ein Bild von einem Wissenschaftler und beschrieb ihre Vorstellungen von seinem Alltag: »Ich denke, ein Wissenschaftler liebt seine Arbeit sehr. Er ist ein wenig verrückt und spricht immer schnell. Er bekommt ständig neue Ideen. Er fragt immerzu und kann sehr nervig sein. Er hört sich die Ideen von anderen Leuten an und hinterfragt sie.«

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Anschließend lernte sie gemeinsam mit ihren Klassenkameraden die »Fermilab«-Wissenschaftler kennen. Das veränderte ihre Ansichten über die Forscher: »Ich weiß jetzt, Wissenschaftler sind ganz normale Leute mit einem nicht ganz so normalen Job … Wissenschaftler führen ein ganz gewöhnliches Leben neben ihrem Wissenschaftler-Dasein. Sie interessieren sich für Tanzen, Töpfern, Joggen und sogar für Squash. Ein Wissenschaftler zu sein ist eigentlich nur ein Job, der viel aufregender sein kann als andere Berufe.« Vielleicht haben sich Ihre Ansichten jetzt auch verändert. Denken Sie immer daran: Wissenschaftler sind auch nur Menschen.

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Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiĂ&#x;

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Wissenschaftsjournalismus Bachelor of Arts

Rechtsanwaltskanzlei

Dr. Klaus Schmid

R e g e n s b u r g www.rechtsanwalt-dr-klaus-schmid.de

www. journalismus-darmstadt.de

82 hautnah


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