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Inhalt LebensEcht

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Die reife Frau Der perfekte Schlaf Den Kriminologen auf der Spur Mein Praktikum in Spanien NightWash (Interview) Studi-Jobs

FernSicht

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Tears of Palestine Auslandsstudium? 2 Interviews zum Auslandsstudium Drei Wochen Tokio Hochzeit auf senegalesisch

ErkenntnisReich

36 38 40

Die Spritztour ist vorbei Rudi Dutschke - Ein Attentat Das Bärtierchen - einfach bärenstark

ZeitGeist

46 48 51 51

Radio on! Graffiti ohne Schmutz Sonderschule der Ästhetik: Labersack Widerstand wogegen?

StaatsKunst

55

Faszination Dalai Lama

KörperKultur

58 60

American Football in Köln Capoeira - Kampftanz der die Sinne anspricht

FeinSinn

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Inhaltliches

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Es ist irgendwas nach halb vier Uhr morgens, es regnet in Strömen und mir tut der Kiefer weh. Mag daran liegen, dass ich gerade aufs Maul bekommen habe. Dass der Typ mich nicht schlimmer verdroschen hat, hab ich seinem Kumpel zu verdanken, der ihn zurückgehalten und an seine Bewährung erinnert hat. Noch mal Glück gehabt, an Gegenwehr wäre ohnehin nicht zu denken gewesen. Kann ja kaum geradeaus laufen. Am UFA-Palast lehne ich mich an die Hauswand und kotze herzhaft in den Eingangsbereich. Das verbessert meine Laune aber nur unerheblich. Es ist erbärmlich kalt, ich bin klatschnass, und ich fürchte, ich war gerade im Roxy. Was für ein Scheiß-Abend. Ich bin sturzbetrunken und hatte überhaupt keinen Spaß. Bin restlos bedient, will nur noch ins Bett. Das Problem ist nur, wie ich dahin komme. Die letzte Bahn ist mir vor der Nase weggefahren und ich habe wenig Lust eine Stunde im Regen zu stehen. Außerdem dreht sich der Bürgersteig, wenn ich anhalte. Also lieber weiterlaufen, suche ich mir eben irgendwo eine andere Bahn.

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LebensEcht


Die reife Frau Ein Erlebnisbericht

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Neulich traf ich mich, bei einem Besuch in der Heimat, mit meinem alten Freund Sebastian. Wir kennen uns noch aus Schultagen und haben gemeinsam das eine oder andere „Gebiet“ erforscht. Bei unserem gemütlichen Plausch, der wie so oft bis tief in die Abendstunden ging, erzählten wir uns all die Details, die wir vom anderen verpasst hatten. Und ich merkte bald, dass ich von Sebastian so einiges verpasst hatte! Neben seinen bekannten Hobbys erzählte er mir von einer ganz neuen Vorliebe. Mein lieber Sebastian, der Traum aller Schwiegermütter (da höflich, unterhaltsam, nicht aufdringlich etc.) hat ein ausgeprägtes Faible für ältere Frauen! Na gut, nicht die aus dem Altenheim, aber immerhin geht der Gute, selbst gerade mal 24, mit Frauen aus, die Mitte 40 sind. Er nennt sie reif und gerät regelrecht ins Schwärmen, als er mir von seinem jüngsten Abenteuer erzählt. Er war Tango Tanzen mit der Mutter eines Kommilitonen. Und die hat ihn im Anschluss nach allen Regeln der Kunst vernascht. Jetzt treffen sich die beiden häufiger, wenn sie gerade mal ne Stunde Zeit hat, zwischen der Arbeit und dem Weg zur Schule, von der sie ihre Jüngste abholt. Aber ich will natürlich alles wissen. Wann er das erste Mal etwas mit einer „Mutti“ hatte, wie er sie auch liebevoll nennt. Die erste „reifere“ Frau war die Mutter einer seiner Nachhilfeschülerinnen (er war 21 und sie 40). Man kann jedoch nicht sagen, die Initiative sei von ihm ausgegangen, um genau zu sein, war sie es, die ihn verführte. Sie war geschieden, also waren beide Singles und dem Ganzen stand somit nichts im Wege. Sie hatte ihn an einem Nachmittag zur Nachhilfe kommen lassen, doch kaum war die zu Ende, hatte die Schwester von Mutti 1.0 (Sebastian gab ihnen Nummern um mir die Orientierung zu erleichtern) die Kleine abgeholt und die beiden waren gänzlich allein. Die Affäre ging dann über 1 Jahr, bevor das ganze ein etwas unschönes Ende nahm, als die Kleine ihre Mutti vor ihm knieend erwischte… Darauf folgten weitere Bekanntschaften mit älteren Frauen. Sebastian wurde schnell klar, dass diese Geschichten keine Ausrutscher waren; es entwickelte sich zu einer Vorliebe. Beziehungen zu einer gleichaltrigen Frau hatte er seit dem nicht mehr. Nicht ohne guten Grund, wie Sebastian findet. Denn die Vorzüge von reifen Frauen liegen auf der Hand, wie ich dann auch einsehen musste. Sie haben mehr Erfahrung, sie sind unabhängig, stehen mit beiden Beinen im Leben und sind wahrhaft „starke“ Frauen. Was mein lieber Sebastian besonders herausstellt, sind

die interessanten Gespräche die man mit ihnen führen kann. Nicht zu vergessen der wesentlich bessere Sex. Sebastian nennt mir ein weiteres, wirklich gutes Argument, dass darauf hoffen lässt, dass den Machos dieser Welt womöglich doch so etwas wie ein Herz in der Brust pocht: „Ein weiterer entscheidender Punkt ist, dass ich meine große Liebe verloren habe. Seitdem vergleiche ich jede Frau, die ich kennen lerne, mit ihr und wenn ich schon mein Herz nicht verschenken kann und will, warum dann nicht wenigstens guten Sex haben.“ Und den hat man, laut Sebastian, eben mit reifen Frauen. „Ich weiß nicht wie weit meine Erfahrungswerte zu verallgemeinern sind, aber Frauen in meinem Alter sind wohl eher ein bisschen verklemmt, haben nicht den Mut, oder, oder, oder. Auf jeden Fall hat mich eine Frau in meinem Alter noch nie an den Eiern gepackt und gesagt: „Jetzt zeig ich dir mal wo es lang geht!“ Kriterien für eine sexuell anziehende Frau sind für Sebastian nicht 90/60/90 und Wasserstoff blond, sondern eben auch die inneren Werte. Eine Frau, mit der er kein Gespräch führen kann, kommt ihm nicht unter die Decke. Also eine Einstellung, die gegen das gängige Klischee vom Aufreisser-Macho geht. Keine schnelle Nummer, mit einem möglichsten naiven Dummchen, sondern echt geforderter Anspruch. Aber es geht und das sagt mir Sebastian ganz deutlich, schlicht und ergreifend um Sex. Nur Eben nicht nach der platten Art und nicht bloße Triebbefriedigung. Ich hoffe, dass die Welt mehr solche Männer in sich birgt, die zeigen, dass der Mann zwar Schwanz gesteuert ist, das aber trotzdem mit Niveau verbinden kann. Und so wie es aussieht, scheint dieses Prinzip Neider im Macho Kreis zu haben. Denn Sebastian berichtet mir von seinen „Jungs“ (die ich selbst noch all zu gut kenne und bezeugen kann, wie viel sich die werten Herren auf ihre Quoten von flachgelegten Frauen einbilden) denen der Neid aus den Augen tritt, wenn er von seinem Sex Leben erzählt. Obwohl man diesen Herren wohl nicht zu erklären braucht, dass ein gutes Gespräch vor dem Sex wunderbar entspannend wirkt und einem den Gegenüber vertrauter macht, so dass frau viel leichter alle Hemmungen fallen lässt und Ihn auch irgendwann mal mit einem Hauch von Nichts bekleidet empfängt, sich ohne Worte auf die Knie sinken lässt und gerne tut, was Mann so gerne hat. Ilka Büllner

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Diese Fragen hört jeder hin und wieder und möchte dem Fragenden in einer entsprechenden Lautstärke entgegnen: „WENN DU ES SCHON MERKST, DANN FRAG MICH DOCH NICHT AUCH NOCH DANACH!!!“ Gleichwohl könnte man sich in dieser Situation die Amboss-Szene aus den Road Runner und Coyote Cartoons ins Gedächtnis rufen, um an die Stelle des Coyoten dann den Hobby-Psychologen zu setzen: Ein zumindest relativ friedlicher Weg seiner Wut über diese Pseudo-Freuds Luft zu verschaffen. Doch trotz dieser nicht wirklich charmanten Art auf den Schlafmangel der letzten Nacht aufmerksam gemacht zu werden, ist gerade dieser dann doch nicht von der Hand zu weisen. Ein unerholsamer Schlaf macht sich in vielerlei Hinsicht bemerkbar, äußert sich zum Beispiel durch schlechte Laune, einem fahlen Teint, dunklen Augenringen und Kopf-, Nackenoder Rückenschmerzen. Diese Beschwerden werden gerne auf falsche Gewohnheiten wie zu schweres Essen vor dem Schlafen, zu hohe Temperaturen im Schlafzimmer oder einfach ein falsches Kopfkissen geschoben. Das all diese Faktoren zu der Qualität des Schlafes beitragen steht außer Frage, ihre Behebung ist aber auch verhältnismäßig simpel:

Der perfekte Schlaf „Mein Gott, was ist denn mit dir los? Hast du schlecht geschlafen? Du bist

wieder unausstehlich!“ Oder, auch sehr schön: „Du siehst schrecklich aus!“.

Wer nun jubelt (um evolutionstheoretischer Stereotypie gerecht zu werden bin ich an dieser Stelle sicher, dass einige Männer dabei sind) und glaubt das Geheimrezept für einen erholsamen Schlaf endlich für sich entdeckt zu haben, liegt leider nur zum Teil richtig, diese Tricks gelten nämlich nur für Frauen, die allein schlafen. Die Schlaf-Studie „Geschlechtsunterschiede der inneren Uhr auf Umgebungsreize“, der Universität Wien unter Leitung des Verhaltensbiologen John Dittami hat neue Erkenntnisse in Sachen Schlafverhalten von Paaren zu Tage gebracht. Es hat sich gezeigt, dass Frauen besser schlafen, wenn ihr Partner nicht neben ihnen liegt. Männer hingegen können sich besser ausruhen, wenn ihre Partnerin mit ihnen das Bett teilt. Ursachen hierfür liegen in der evolutionären Entwicklung vom Urmensch bis zum modernen Menschen; Männer sind immer noch an das Schlafen in der Gruppe gewöhnt, sie fühlen sich somit in der Nähe ihrer Partnerin wohl und geschützt. Frauen hingegen reagieren während ihrer Nachtruhe viel empfindlicher auf Umgebungsreize, dies wird auf die Mutter-Kind-Beziehung und somit auf den Beschützer-Instinkt der Frau zurückgeführt. Der weibliche Schlaf ist so in der Gegenwart anderer Personen leichter und damit nicht so erholsam, da Frauen in dieser Situation auf Gefahren der Umwelt achten. Zum Schluss noch ein kleines Zitat um unsere männlichen Leser aus der Stereotypie heraus zu holen und sie wieder in einem Atemzug mit den sich nicht minder über die vier genannten Schlaftricks freuenden Leserinnen zu nennen:„Sex wirkt sich sowohl bei Frauen als auch bei Männern positiv auf den Schlaf aus“, so der leitende Forscher John Dittami.

Foto: Maiko Henning

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1. Kühle Raumtemperatur 2. Kein zu spätes Abendessen 3. Besser ein kleines, den Wirbeln angepasstes Kopfkissen 4. Leichte körperliche Bewegung vor dem Schlafen gehen

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Den Kriminologen auf der Spur... Wenn es um Terrorismus und kriminelle Börsengeschäfte, Drogenmissbrauch und Stalking geht, werden Kriminologen hellhörig- denn solchen Verbrechen wollen sie vorbeugen. Die angehenden Kriminologen der Uni Köln befassen sich mit den Erscheinungen, den Ursachen, der Bekämpfung und vor allem der Prävention des Verbrechens. Doch wie kann man sich das vorstellen? Prof. Dr. Michael Walter, die Studentin Candice und Frederik, ein Hiwi bringen uns diesen Studiengang mal etwas näher.

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Meins: Wenn Sie Ihr Studium vergleichen mit der heutigen Situation, was hat sich da verändert? Prof. Dr. Michael Walter: Verändert haben sich nach meinem Eindruck weniger die Studentinnen und Studenten. Sie stehen aber vor einer deutlich anderen Situation. Uns ging es damals – ich studierte von 1963 bis 1967 - vergleichsweise besser. Heute wird vielfach Druck gemacht, schnell und effizient zu studieren. Außerdem sind die Berufsaussichten nicht mehr so rosig, wie sie damals waren. Meins: In welchen Maße sollten Studenten den Stoff, den Sie in Ihren Seminaren vermitteln vor- bzw. nacharbeiten? Und was sind eigentlich wichtige Voraussetzungen für ein Kriminologiestudium? Prof. Dr. Michael Walter: Viele finden Kriminologie „spannend“, sie wissen aber oft nicht so genau, worum es dabei eigentlich geht. Die Kriminologie kann als eine empirische, erfahrungswissenschaftlich ausgerichtete Wissenschaft vom Strafrecht betrachtet werden. Sie fragt nicht danach, wie etwas sein soll, sondern wie sich die Dinge faktisch darstellen, was das Strafrecht in der Realität bewirkt – oder eben nicht bewirkt. Insofern geht es auch um die Wahrnehmung von Brüchen und Illusionen, nicht stets um eine heile Welt. Vorausgesetzt werden neben den intellektuellen Fähigkeiten die weiteren, sich auf Konflikte einzulassen und kritische Distanz zu halten. Kriminologen arbeiten regelmäßig mit Vertretern anderer Disziplinen zusammen, müssen von daher auch „zuhören“ können und offen sein. Um den Einstieg in das Feld zu erleichtern, haben wir am Institut gerade eine kleine Schrift erarbeitet, die auch eine Auswahl geeigneter Literatur benennt. Meins: Wie sehen die Berufsaussichten für Kriminologen aus? Prof. Dr. Michael Walter: Die Berufsaussichten sind besser, als die meisten glauben. Das Spektrum reicht von der Tätigkeit bei Medien bis hin zu Planungsabteilungen bei der Polizei oder in Ministerien. Kriminologen werden ferner für Evaluationen von spezifischen Programmen (z.B. zur Behandlung von Sexual-

delinquenten) benötigt. Für weitere Spezialisierungen besteht die Möglichkeit, nach abgeschlossenem Studium kriminologische Postgraduierten- und Masterstudiengänge an verschiedenen Universitäten in und außerhalb Europas zu besuchen. Meins: Hatten Sie schon vor Beginn Ihres Studiums vor, eine akademische Laufbahn einzuschlagen, oder hat sich diese berufliche Perspektive erst während Ihres Studiums gezeigt? Prof. Dr. Michael Walter: Die Idee, eine „akademische Laufbahn“ einzuschlagen, kam mir erst, nachdem mir eine Assistentenstelle angeboten worden war. Ich wählte den kriminologischen Bereich, weil er mich zugleich mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen in Kontakt brachte und das Geistesleben bunter werden ließ. Meins: Welchen Ratschlag würden Sie Studenten mit auf den Weg geben, um ihr Studium zu absolvieren? Prof. Dr. Michael Walter: Als ich anfing zu studieren, freute ich mich über die gewonnene Freiheit und auf ein lebendiges Studentenleben. Doch von allen Seiten gab man mir gut gemeinte Ratschläge mit auf den Weg. Zum Teil widersprachen die sich noch, wodurch zusätzliche Verwirrung geschaffen wurde. Ich glaube, die jungen Leute sollten ihren eigenen Weg suchen, selbst wenn sich manches aus der Sicht ex post als Umweg erweisen wird. Ein Ratschlag von mir wäre am ehesten noch der, darauf zu achten, welche Tätigkeiten Erfüllung und Freude versprechen – um just hier mit neuem Schwung fortzufahren. Am besten sind wir ja doch dann, wenn uns die Arbeit froh stimmen kann!

Meins: Warum gerade dieser Studiengang? Was zeichnet ihn aus? Candice Farzan: Ich habe Kriminologie als Studiengang gewählt, weil ich es am interessantesten finde. Dabei geht es darum mitzudenken und nicht alles so zu nehmen, wie es angeblich ist. Durch richtige Erkenntnisse der Ursachen wird ebenfalls eine passende

Prävention ermittelt, um ein Gebiet von der Wurzel an zu behandeln. Dieser Studiengang verbindet Politik, Pädagogik, Psychologie, Soziologie, Recht und vieles mehr. Schließlich haben wir alle im Alltag ständig mit dieser Thematik zu tun. Meins: Ist es so, wie du es dir vorgestellt hast? Candice Farzan: Ich habe keine Sekunde bereut, mich für Kriminologie entschieden zu haben, außer dass ich jetzt für meine Examensprüfung weniger Interesse an anderen Bereichen in mir sehe. Ich hatte es mir trockener vorgestellt, aber dank Prof. Dr. Walter, der sein Fach nicht nur unterrichtet, sondern mehr die Studenten mitwirken lässt und die Leidenschaft zum Fach in Ihnen erweckt, wirkt es absolut nicht trocken und vor allem verspüre ich in diesem Fachbereich keinen Lernzwang, sondern mehr Spaß. So habe ich mich auch während der Schwerpunktarbeit sehr gerne in die Arbeit gestürzt und mich dadurch leider weniger eingegrenzt. Ich könnte noch wochenlang forschen und schreiben. Meins: Wie muss man sich eine Woche im Leben eines Kriminologiestudenten vorstellen? Candice Farzan: Die Woche eines Kriminologiestudenten ist, denke ich, weniger vom Studienfach abhängig. Also wie jede Studentin habe auch ich Zeit zu arbeiten, um mein Studium zu finanzieren und lerne. Wobei ich leider persönlich nicht immer an Vorlesungen teilnehmen kann, was ich gerne tun würde, weil die Vorlesungen wirklich interessant sind. Aber es ist nicht einfach, ohne Unterstützung zu studieren. Ich denke bzw. habe auch zum Teil die Erfahrung gemacht, dass die Vorlesungen ein stressiges Lernen erübrigen. Vieles wird einem so angeeignet, dass die Logik allein viele Antworten vorgibt. Die richtige Denkweise ist meiner Meinung nach wichtiger als allein auswendig gelernte Fakten. Als Kriminologiestudentin achtest du aber natürlich auch im Alltag sehr auf Geschehnisse, die du auf dein Fach beziehen kannst. Also eine Woche mit Arbeit, Büchern und ab und zu auch Freunde und Familie,


Mein Praktikum in Spanien wenn dafür noch Zeit bleibt, wobei man auch dann ungewollt ständig alles aus einer anderen Sicht betrachtet als die anderen es tun. Es gibt oft Diskussionen mit Fachfremden. Meins: Findest du diesen Studiengang intellektuell oder emotional anstrengend? Candice Farzan: Ich finde Kriminologie intellektuell insofern anstrengend, dass sehr genau gearbeitet werden muss. Viele Statistiken zeigen, wie falsch „normale“ Menschen über Tatsachen denken. Es geht darum, sich nicht beeinflussen zu lassen und bei Fakten zu bleiben, wobei dies mehr durch Emotionen verhindert wird. Es werden die Ursachen vermutet, gesehen oder festgestellt und es ist wie in der Philosophie sehr schwierig eine passende genaue Prävention zu finden bzw. sicher zu sein, dass die ermittelten Ursachen tatsächlich richtig sind. Die eigenen Erfahrungen versuchen oft mit einzufließen und einen zu manipulieren. Also finde ich es anstrengender sich von den Emotionen zu differenzieren. Meins: Was kann man als Kriminologe eigentlich alles machen? Candice Farzan: Vor allem kritisieren!!! (lacht) Als Kriminologe geht es an erster Stelle darum, Ursachen und hierauf gezielte Lösungswege zu finden, um die Kriminalität zu verringern. Es geht hier um eine objektive Position zwischen Kriminalität und Bestrafung. Da Kriminalität fast in allen Lebensbereichen vorzufinden ist, kann der Kriminologe also überall eingesetzt werden. Meins: Hast du eine Vorstellung, welche Richtung du einschlagen wirst und wie dein Beruf im Alltag aussehen wird? Candice Farzan: Ich würde gerne politisch aktiv werden, was schon immer mein Ziel war.

Meins: Warum wolltest Du Kriminologie studieren? Frederik: Nun ja, nach dem Jura-Grundstudium beginnt bei uns im Regelfall sofort die Examensvorbereitung, daneben verlangt die Prüfungsordnung die Ableistung eines soge-

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nannten Schwerpunktbereichs. Darin werden 3 Klausuren und eine Seminararbeit geschrieben. Der Schwerpunktbereich 14 Kriminologie, Jugendkriminalrecht und Strafvollzug ist dabei einer von insgesamt 15 angebotenen Schwerpunktbereichen. Die Kriminologie ist somit zumindest an der Uni Köln kein eigenständiger Studiengang. Daneben gibt es noch Aufbau- oder Masterstudiengänge im Bereich Kriminologie. Nach dem Abschluss meines Grundstudiums stand ich wie jeder andere natürlich auch vor der Frage, welcher Bereich wohl der beste und interessanteste sei. Dass das Fach Kriminologie spannend ist, kann sich wohl jeder vorstellen. Daneben muss ich zugeben, dass ich mir auch vorstellen konnte, mal 2 Semester etwas zu studieren, was nicht ausschließlich mit Jura zu tun hat. Und da die Kriminologie eine Bezugswissenschaft zu den Bereichen Soziologie, Psychologie und Kriminalpolitik darstellt, hatte ich meine Wahl relativ schnell getroffen. Meins: Was zeichnet Deinen Studiengang aus? Frederik: Teilweise gilt natürlich das, was ich oben schon gesagt habe. Im Bereich Kriminologie spielt die Rechtswissenschaft natürlich eine große, aber nicht die einzige entscheidende Rolle. Grundsätzlich lernt man in der Rechtswissenschaft ein Rechtsgebiet von Innen kennen. Der zentrale Ansatzpunkt dieser Wissenschaft ist aber die Untersuchung der Wirksamkeit kriminalrechtlicher Eingriffe, wie zum Beispiel die Schaffung eines neuen „Stalking-Straftatbestandes“. Dabei ist natürlich erforderlich, dass man nicht nur die Binnensystematik eines Rechtsgebietes erforscht, sondern vielmehr wird das Rechtsgebiet als Ganzes auf sein Funktionieren untersucht und gegebenenfalls Ansatzpunkte entwickelt, um unerwünschten Entwicklungen entgegenzuwirken. Meins: Wie bist Du zu Deinem Job als studentische Hilfskraft gekommen? Frederik: Ich habe mich einfach beworben und dann hat es geklappt. Mittlerweile arbeite ich schon 2 Jahre am Institut. Eine sol-

che Erfahrung kann ich eigentlich nur jedem empfehlen. Da man den universitären Alltag wirklich auch mal von der anderen Seite kennenlernt. Meins: Strebst du als Hiwi denn selbst eine akademische Laufbahn an? Frederik: Das kann ich heute noch nicht sagen. Bei uns hängen die Berufschancen in erster Linie von unserer Examensnote ab. Da ich mich zurzeit auf mein Examen vorbereite, mache ich mir über solche Fragen noch keine Gedanken. Allerdings könnte ich mir eine Promotion auf diesem Gebiet sehr gut vorstellen. Insgesamt kann man aber sagen, dass die Jobangebote für Kriminologen beispielsweise im Verhältnis zu Arbeitsrechtlern ziemlich rar sind. Meins: Du sitzt als studentische Hilfskraft ja quasi zwischen den Stühlen und kennst beide Seiten. Findest du, dass die Dozenten zu viel Druck auf die Studierenden ausüben? Oder würdest du Studenten gar als faul bezeichnen? Frederik: Ich glaube, so etwas kann man nicht verallgemeinern. Professoren sind auch nur Menschen und da hat der eine halt höhere Anforderungen als der andere. Das Spektrum ist nach meinen Erfahrungen hier manchmal etwas zu breit. Allerdings würde ich auch Studenten nicht generell als faul bezeichnen. Der eine motiviert sich eben besser als der andere und dass man bei gutem Wetter lieber in der Sonne sitzt als im Hörsaal, ist wohl bei jedem so. Abschließend würde ich sagen, dass deutsche Hochschulabschlüsse international noch ein sehr gutes Ansehen genießen. Damit das auch so bleibt, müssen natürlich gewisse Standards, was den Prüfungsstoff angeht, eingehalten werden.

Veronika Czerniewicz

Ich studiere nun im 6. Fachsemester Romanistik Spanisch. Man sollte meinen, dass ich meine Zweitsprache perfekt beherrsche. Doch leider weit gefehlt. „Man lernt seine Zweitsprache immer nur zu 90% so gut wie seine Muttersprache“, hört man oft. Na ja, auch diesen Qualitätsstandard habe ich in meinem Studium bislang noch nicht erreichen können. Zu einem gewissen Grad liegt es sicherlich auch daran, dass in den Hauptseminaren der Romanistik spanische Literatur in deutscher Sprache analysiert und interpretiert wird – das jedoch nur nebenbei. Kommt der Berg also nicht zum Propheten, muss der Prophet wohl selber los. Daher habe ich mich dazu entschlossen im kommenden Sommer ein Praktikum in Spanien zu absolvieren. Um in diesem durch so viele Urlaube eigentlich bekannten und doch so fremden Land nicht völlig allein dazustehen, habe ich mich an eine Vermittlungsagentur gewandt, die mir vor Ort eine ständige Betreuung gewährleistet. Gegen eine faire Organisationsgebühr hat mir eine sehr nette Vermittlerin

zu meinem Traumpraktikum verholfen, wobei sie meine Wünsche bezüglich Zeit und Ort so weit wie möglich berücksichtigte. Nun fliege ich bald für 9 Wochen nach Alicante um zunächst mein Spanisch in einer Sprachschule zu intensivieren und um dann mein Praktikum in einer kleinen spanischen Zeitung namens Modalacant anzufangen. Sicher für viele ein Traum...ja, für mich eigentlich auch. Einen Sommer in Spanien verbindet man direkt mit der Sonnenseite des Lebens – Meer, Strand, Unbefangenheit, viele feierwillige Menschen. Doch hinter der Vorfreude auf die neuen Menschen, die mir begegnen werden, auf die vielseitigen Erlebnisse, die sich sicherlich für immer in mein Gedächtnis einprägen werden und auf die weitere Zeile in meinem Lebenslauf, verbirgt sich eine gewisse Nervosität und Angst vor dieser Zeit. Was ist, wenn ich mich mit meiner Zimmerbewohnerin, meiner Chefin und meinen Arbeitskollegen überhaupt

nicht arrangieren kann? Wenn die sprachliche Barriere doch größer ist als gedacht und ich mich überhaupt nicht verständigen und mitteilen kann, weil die Spanier doch eh viel zu schnell reden? Wenn ich meine Sprachkenntnisse überhaupt nicht vertiefen kann, weil doch nur deutsche oder englische Touristen auf mich warten? Wenn ich entdecke, dass dieses Praktikum mich überhaupt nicht weiterbringt, meine Aufgaben dem Kopieren und Kaffeekochen gewidmet sind und sich die allgemein bekannte Auffassung, das Praktikanten doch nur ausgenutzt werden, bewahrheitet? Wenn das Heimweh immer größer und das Antreffen einer Bezugsperson immer unwahrscheinlicher wird? Bislang sind all diese Fragen noch unbeantwortet. Daher könnt ihr voller Spannung die nächste Ausgabe des Meins-Magazins erwarten, in der ich euch berichten werde, in wie weit meine Ängste (un)begründet waren. Agathe Miskiewicz

Falls ihr an einer Vermittlung eines Praktikums oder einer Sprachschule interessiert sein, kann ich euch die Seite www.praktikumsvermittlung.de nur ans Herz legen. Dort findet ihr sogar einen Preis-Kalkulator, mit dem ihr vorab die Kosten um das Praktikum berechnen könnt.

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NightWash Interview mit "Knacki", dem Erfinder der Show.

Was die wenigsten wissen: Klaus-Jürgen Deuser steht schon seit mehr als 25 Jahren, seit dem Ende seiner Schulzeit, auf der Bühne. Mit seinem „viel visuelleren, viel dramatischeren und viel absurderen“ Ensemble „Die Niegelungen“ tourte Deuser zehn Jahre durch die Republik, meist sogar ausverkauft. Doch 1994, mit dem Beginn der Comedy im Fernsehen, nahte das Ende der Niegelungen. Den Aufbau eines Thesenpapiers durch sein BWL-Studium noch im Kopf, entwirft Deuser ein Konzept für mögliche Innovationen in der deutschen Comedy-Szene. Die Förderung junger Talente und das Herantreten an ein jüngeres Publikum ist Deusers Lösungsvorschlag. Bei einem Spaziergang durch Chelseas Straßen stößt er auf den passenden Lösungsweg: in einem Waschsalon steht ein alter Mann, der den wenigen auf ihn gerichteten Augenpaaren seine eigenen Gedichte vorliest: NightWash ist geboren. Geplant waren anfangs nur zwei Auftritte. Doch nun hatten die Zuschauer Blut geleckt, so dass sich seit den ersten Auftritten im Juni 2000 an dem Konzept „der Mutter aller Shows“ auch nichts geändert hat. Routiniert wie immer führt Deuser als roter Faden durch die Show, sorgt als Gastgeber für die Grundatmosphäre und stellt uns kostenlos fünf bis

sieben der neuesten Comedians vor. Diese unterhalten den proppevollen, eher von Studenten besetzten Waschsalon von der Fensterbank aus. Deuser bezieht gerne das Publikum mit ein und die Witze, die auf Kosten der Studenten fallen, heizen die eh schon ausgelassene Stimmung noch mehr an. Bei der Auswahl der Comedians kommt es nicht nur darauf an, Witze erzählen zu können. Deuser ist die professionelle Einstellung besonders wichtig: „Wenn man diese Entscheidung, ob man Comedian oder doch eher Bankkaufmann werden soll, noch nicht getroffen hat, ist man bei mir falsch. Man muss sagen können, man, das ist mein Lebenstraum. Es geht nicht darum, dass die Bühne eine Selbsttherapie ist, sondern ein Job, der darin besteht, die Leute zum Lachen zu bringen.“ Bis heute soll der Waschsalon den neuen Künstlern als Experimentierbühne dienen. Deuser mag dabei vor allem kleine, kurze Witze, die an eine gewisse Grenze gehen und trotzdem eine bestimmte Hintergründigkeit beinhalten, dem Zuschauer eine neue Sichtweise liefern und zum Weiterdenken anregen. Es gibt jedoch auch Grenzen, die Deuser nicht übertreten würde, vor allem wenn es sich dabei um Themen mit rassistischem Hintergrund handelt. Auch bei der

„Geschlechtersache“ ist Deuser empfindlich: „Wir müssen aufpassen, dass wir das, was wir uns in Deutschland an Freiheit erkämpft haben, nicht ständig kaputt machen.“ Und woher weiß ich nun, ob ein Witz gut ist? Das Geheimnis des Comedians liegt im Lesen des Publikums, „denn es gibt kaum eine Kunstform, die so abhängig ist vom Publikum.“ Ein Theaterstück, ein Lied, ein Film – die Generalprobe oder das Können der Künstler entscheidet über den Erfolg. „Doch ein Gag ist erst gut, wenn die Leute lachen.“ Das Geheimnis wird also erst durch „spielen, spielen, spielen“ gelüftet! Mit seinem innovativen Konzept für die deutsche Comedy-Szene investierte Deuser auch in seine Zukunft. Heute leitet er seine eigene Firma und möchte das NightWashClubsystem in 20 weiteren Städten aufbauen. Außerdem geht er mit vier ausgewählten Comedians aus dem Waschsalon auf Deutschland-Tour, die seine, wie er sagt, „größte Baustelle“ darstellt. Und die weiteren Ziele für NightWash? „Ich will einfach 10 Jahre im Fernsehen durchhalten, ein Top-Programm in ausverkauften Hallen und Theatern liefern und jedes Jahr 1-2 Künstlern die Chance geben groß raus zukommen.“ Agathe Miskiewicz

Zusammen mit dem Fernsehsender Comedy Central entdeckte die Stand-Up-Comedy-Show

Die Daten für die NightWash-Tour findet ihr unter www.nightwash.de. Auch Deusers eigene Homepage

"NightWash" das Licht der Welt. Dachte ich zumindest. Doch erst mit meinem Interview mit dem

ist einen Besuch wert: www.kj-deuser.de. Die Termine für die kostenlosen Waschsalon-Shows sind streng

Moderator und Erfinder der Show Klaus-Jürgen „Knacki“ Deuser kam die Erkenntnis eines Irrtums

geheim. Entweder greift ihr auf den NightWash-Newsletter zurück oder ihr haltet in den Kölner Straßen

meinerseits und die Anerkennung für die harte Arbeit, die sich hinter dem Namen NightWash

die Ohren auf. Grund: „der Waschsalon bricht sonst aus allen Nähten!“

verbirgt.

Foto: Alexander Graeff LebensEcht


Studi-Jobs: Mal was anderes als das übliche Tablett-Tragen Um während des Studiums nicht all sein Geld für Bücher, Reader und Kopierkarten herzugeben und um noch einen Anteil am sozialen Miteinander zu haben, üben die meisten Studenten mehr oder weniger aufregende Nebenjobs aus. Hier denkt man zunächst an die gängigen Schüler-/Studentenjobs wie Kassierer, Verkäufer oder Kellner. Ob diese Aushilfsstellen auf 12h-Basis die Erfüllung schlechthin sind, liegt im Auge des Betrachters, doch es geht auch anders. Im Folgenden haben vier Studenten sich und ihre Nebenjobs, die jeweiligen Vor- und Nachteile, sowie die Gründe, warum sie sich für diesen Job entschieden haben, vorgestellt.

Christoph, 26 Jahre, Sprachwissenschaftler, Versandkraft in Großbäckerei: „Ich arbeite seit zwei Jahren in der Versandabteilung einer Großbäckerei in Köln, dort arbeite ich meist in der Nachtschicht von 23:30h bis 9:00h. Mir macht dieser Job sehr viel Spaß, da er ein guter Ausgleich zu dem Uni-Stress und meiner Stelle als Hiwi ist. Da ich diese Stelle über einen Freund, der gleichzeitig der Sohn vom Chef ist, bekommen habe, war mein Start bei den Kollegen nicht optimal. Aber nach einer Zeit haben sie dann gemerkt, dass sich der Studi doch Mühe gibt und, trotz der mit Blasen übersäten Hände, immer noch pünktlich zur Schicht kommt. Die Bezahlung ist auch sehr gut; 10 Euro/h und ein Nachtzuschlag (00h-5:00 12,50Euro/h). Der Nachteil ist allerdings, dass der eigene Rhythmus völlig durcheinander gerät, wenn man mehrere Tage am Stück die Nachtschichten macht.“

Alesia, 27 Jahre, Literaturwissenschaftlerin, Komparsendarstellerin:

Joachim, 28 Jahre, Rechtsreferendar, Aushilfe in Kaffeerösterei: „Während meines Studium habe ich drei Jahre lang in einer Kaffeerösterei in Aachen gearbeitet. Dort war ich drei Mal die Woche von 8:00h bis 12:30h und habe 7,50Euro/h verdient. Mit den Kollegen habe ich mich super verstanden, der einzige Nachteil war das Arbeiten im Sommer. Die Röstmaschinen erhitzen auf 130°C und ich musste jeden Vormittag 600kg Rohkaffee verarbeiten. Als ich dann aufgehört habe, habe ich meine Stelle an einen Freund weitergegeben, so hab ich sie auch bekommen. Der Job als Kaffeeröster war mein Lieblings-Studi-Job, es war immer interessant, da wir mit vielen verschiedenen Kaffeesorten aus der ganzen Welt gearbeitet haben und jeden Monat große Lieferungen bekommen haben, gleichzeitig war es aber auch entspannend, jedoch nie langweilig. Meine anderen Nebenjobs wie z.B. Partyservice, Promotion oder auch Bauarbeit waren mir mit der Zeit zu anstrengend und zu nervig.“ Ein Nebenjob kann also nach verschieden Kriterien ausgewählt werden; angenehme Arbeitszeit, gute Bezahlung, angenehmes Umfeld oder Vorbereitung auf das spätere berufliche Leben. Allen gemein ist dennoch, dass es so gut wie überall gute und schlechte Seiten gibt und man in dieser Einschätzung realistisch bleiben soll…sonst würde es ja auch nicht Arbeit heißen.

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„Vor 2 Jahren habe ich eine Komparsenrolle in der Sat1-Serie „Freunde für immer - das Leben ist rund“ unter der Regie von Sönke Wortmann gespielt. Ich habe die Annonce in der Zeitung gelesen und wollte es einfach mal ausprobieren, obwohl es nicht mein Traum ist Schauspielerin zu werden. Nachdem ich dann bei dem Casting war, bekam ich einen Anruf und wurde direkt ans Set eingeladen um einen von mehreren Kinogästen zu spielen. Bevor es dann aber richtig los ging, hat sich der Regisseur dafür entschieden mir eine andere Rolle als Pflegerin in einer separaten Szene zu geben, das war dann eine „größere Rolle“. Der Tag am Set hat Spaß gemacht, trotzdem würde ich nicht noch mal eine Rolle ohne Text übernehmen, da man für eine Tagespauschale von 50 Euro fast den ganzen Tag mit Warten verbringen muss.“

Julia, 22 Jahre, Medienwissenschaftlerin, Studentische Aushilfe in TV-Redaktion: „Ich fange im Mai als Studentische Aushilfe bei einer TV-Redaktion in Köln an, im Moment arbeite ich dort zur Probe. Ich könnte mir keinen besseren Nebenjob vorstellen, da Redakteurin mein Traumberuf ist und es keinen besseren Einstieg gibt. Ab Mai werde ich dann 16h/Woche arbeiten und 9Euro/h verdienen. Meine Aufgabe ist die Unterstützung der verschiedenen Arbeitsgruppen innerhalb der Redaktion, so helfe ich z.B. dem Recherche-Team. Da ich vor einigen Monaten ein Praktikum in derselben Redaktion gemacht habe, wurde ich von den Kollegen super aufgenommen, eigentlich gibt es wirklich nichts, was mir nicht gefällt!“

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Public Transport Highlife vs. Großwild-Festilität

„Ming Jung macht Krebs-Jungen glücklich!“ So titelte vor einiger Zeit ein vor allem im Kölner Raum ansässiges Boulevard-Blatt. Ming Jung, das sei dem geneigten, sich nach Aufklärung verzehrenden Leser als kleines Hintergrundinformatiönchen galant in den Schoß gelegt, war ein kurz zuvor im Kölner Zoo geborener indischer Elefant, dem eine findige Bürgerin dieser Stadt zu diesem, seine asiatischen Wurzeln betonenden und gleichsam heimeliges Lokalkolorit versprühenden, Namen verhalf. Sollte es nun einen oder gar mehrere geneigte Leser geben, die mich verdächtigen, der Beglückung kleiner Jungen negativ gegenüber zu stehen oder meine Bewertung derselben vom Gesundheitszustand (oder dem Sternzeichen) ebendieser Jünglinge abhängig zu machen? Möge das Schicksal Ihnen diese infamen Unterstellungen mit Salz anstelle von Zucker vergelten, auf dass Sie das damit versetzte Heißgetränk voller Ekel auf eben diese von mir dargelegten Zeilen speien mögen! Und dennoch, ich vermute mich mit an Gewissheit grenzender Zuversicht in zahlreicher Gesellschaft, wenn ich kund tue, dass solcherlei Formulierungen mein Gemüt auf die unbehaglichste Weise in Aufruhr versetzen. Sie erzeugen ein vom Nacken herabziehendes Frösteln in mir, vergleichbar mit jenem Gefühl, welches den Benutzer einer Duschkabine ereilt, wenn er die Erkenntnis über deren mangelnde Sauberkeit und die von seinem Vorgänger zurückgelassenen Schaumreste erst in dem Augenblick gewinnt, da er den unbeschuhten Fuß in besagte Kabine setzt. Die Instrumentalisierung gerade erst in diese Welt hinein geborener Individuen zur Aufstachelung sensationslüsterner Großstadtbürger, handele es sich nun (ganz gleich, ob bei den Individuen oder den Großstadtbürgern) um schwerkranke Menschenkinder oder fernöstliche Pachyderme, hat meiner unmaßgeblichen Meinung nach vollständig zu unterbleiben! Doch gerade als ich mich einer weiteren Schilderung der Ungemache, in die man als arglos umher flanierender Stadtbürger durch das Spiel des Zufalls zu geraten, geradezu

zu schlittern gefährdet ist, widmen will, ereilt mich eine andere unheilsschwangere Eingebung: Trifft man, insbesondere scheinbar als Einwohner Kölns, auf jemanden aus Hamburg oder gar Berlin, so wird man seine Geduld keiner großen Anstrengung unterziehen müssen, ehe einem ebendieser jemand mit erheblichem Engagement versichert, Köln sei so großstädtisch eben nicht, vielmehr solle man mal die jeweilige Heimatstadt seines Gegenübers besuchen, dort sei nämlich „wirklich was los“. Von einem Münchner vernahm ich solche Reden im Verlaufe meines irdischen Daseins bislang nicht, doch ich will auch dieses arme Völkchen meinen ungerecht pauschalen Vorurteilen unterwerfen und einfach mal behaupten, dass sie ganz ähnlich verfahren. Ist man an diesem scheinbar obligatorischen Punkt des Gesprächs angekommen, müsste eigentlich die späte Stunde der oben angesprochenen Geduld schlagen, aber „Moment mal“ sagt die Geduld, „so geht’s nich, erst brauch einen keiner und dann plötzlich, nee, also so geht’s nich!“ Und so kommt es dann, dass man eben keine versöhnlichen, beschwichtigenden Worte findet, die zu einer Erwiderung sich eigneten, sondern dem heimatliche Verbundenheit empfindenden Seelenteil zu gehorchen und eine hitzige Diskussion zu führen verdammt ist, was aber so schlimm auch wieder nicht ist, da die meisten Menschen es geradezu übel nehmen, zumindest aber Verständnislosigkeit oder Unzufriedenheit zeigen, wenn ein Gespräch nicht den gewohnten Gang nimmt. So sagt man sich. Später aber, und mit dieser zugegebenermaßen sehr späten Wendung hin zur conclusio aus den obigen Vorbemerkungen, sei hoffentlich das Wohlwollen des geneigten, aber ungeduldig mit den Füßen scharrenden Lesers zurückgewonnen, da ereilen einen dann doch Zweifel, ob man denn überhaupt berufen sei, ausgerechnet über Urbanität etwas zu Papier zu bringen, hört man im Geiste doch schon das schallende Gelächter all der Hamburger, Berliner und ganz bestimmt auch Münchner, die höhnisch brüllend einem Provinzialität, Kleinbürgertum und Mangel an Esprit und

savoir vivre vorwerfen. Für sich betrachtet mag das nichts sein, wodurch sich der Aschenbecher mit Nervositätszigaretten oder die Augenpartie mit Schlaflosigkeitsringen füllen. Wird man dann jedoch von einem Hannoveraner damit konfrontiert, dass, wie einem selbst wohlbekannt, die Nutzung des öffentlichen Verkehrsnetzes in Köln zu gewissen Uhrzeiten infolge des Betriebsschlusses nicht möglich sei, dass aber, und damit sei die deprimierende Neuigkeit aus dem metaphorischen Sack gelassen, man in Hannover durchaus nächtelang mit Bus und Bahn durch die Gegend fahren könne, verschlechtert sich der Gemütszustand zusehends. Dies sind die Stunden, in denen das Kolumnistenherz auch mal einen kleinen Elefanten nötig hätte...

Gefühlte 160 Zeichen Die SMS ist größter Ertragsbringer für die Netzbetreiber, obwohl sie nur ein Tausendstel an Dateninhalt einer Gesprächsminute beinhält. Der finanzielle Aufwand ist also unverhältnismäßig in Anbetracht der Menge an Daten, die wir per SMS übermitteln können. Warum neigen wir, obwohl wir Zugriff auf direktere Kommunikationsmöglichkeiten haben also zu einem schriftlichen Medium? Ist es die Kürze, die uns besticht? (Bsp: OK/ :-) ) Die Unverfänglichkeit, da wir uns bei dem Versenden schlechter (Kurz-) Nachrichten nicht direkt mit den Gefühlen des Adressaten konfrontiert sehen? (Bsp: Lass uns Freunde bleiben./ Ich kann heute leider doch nicht, da mein Wellensittich Geburtstag hat.../ Wir haben uns leider für jemand Anders entschieden. Viel Glück noch bei der WG-Suche!) Oder weil man seinen Gefühlen einfach freien Lauf lassen kann? (Bsp: Ich befürchte, dass ich mich in dich verliebe./ Aber du weißt doch, dass ich mit deiner besten Freundin zusammen bin./ Wenn du das nochmal machst, kannst du dir ‘ne andere besten Freundin suchen!!!!) Eins ist sicher: bei all zu überschwänglichen Gefühlsausbrüchen hält sich bei einem Umfang von 160 Zeichen sowohl der finanzielle Verlust als auch das Ausmaß an seelischen Konsequenzen eher in Grenzen als bei einem Gespräch in Echtzeit (Bsp: Also dann noch viel Spaß in Japan!)! Und auch T9 (a.k.a. Text on 9 keys) kann Schlimmeres verhindern (Bsp: Du bist so eine blöde Landsmmdran!). In diesem Sinne: Weiterhin gefühlvolles tippen!

Aber was nützt alles Hadern und alle Seelenpein, irgendwann will das muntere Geschreibsel ja auch mal zu einem Schluss geführt sein, und was müsste man für ein Scheusal von Schreiber sein, würde man den Leser mit solch trostlosen, desperaten Worten verabschieden! Nein, zu solcherlei Subjekten will man sich nicht gezählt wissen oder gezählt vermuten, und deshalb muss noch irgendein freundlicher, hoffnungsvoller Gedanke gefunden sein, eh man den Griffel niederlegt. Letztendlich ist ja auch das öffentliche Personennahverkehrssystem einer Stadt kein allzu exakter Gradmesser für Urbanität, ein gewagtes Statement, zugegeben, aber der geneigte Leser möge in Betracht ziehen, dass einerseits Saarbrücken durchaus über eine Straßenbahn verfügt, Paris andererseits wesentlich rigidere Regelungen bezüglich der Betriebszeiten seines U-Bahnnetzes trifft als Köln. Ich habe zwar noch nie davon gehört, dass irgendjemand Urbanität anhand der Zahl von Elefantengeburten gemessen hätte, aber wenn dereinst spätere Generationen ein feineres Gespür für derlei sozio-ökonomische Zusammenhänge entwickelt haben werden, werden sie sich endlich der oben skizzierten lokalpatriotisch eingefärbter Dispute enthalten können. Iris Sygulla Holger Reinemann


FernSicht Foto: Niels Walker

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Tears of Palestine

oder vielleicht einfach ins gelobtere Land? Aus dem Nichts taucht sie auf: die Mauer. Ein acht Meter hohes Konstrukt, um das vermeintlich Gute und Böse voneinander zu trennen. Hier wird der urbane Charakter dieses Sicherheitswalls besonders ersichtlich. Abgeschnittene Straßen, Häuser umzingelt von Mauern, spielende Kinder auf dem bisschen Grün das bleibt und viele Wachtürme, die den Feind schon von Weitem erspähen. Wir schauen uns um. Ich mache wie immer Fotos, als ein alter Mann uns anlächelt. Ich lächele zurück, er kommt auf uns zu. Er hat kalte blaue Augen. Nicht lange hält er inne, bevor er erzählt, dass sie ihm seinen ganzen Grund und Boden gestohlen haben. Dort sei es, direkt auf der anderen Seite der Mauer und jetzt ließen sie ihn nicht mal die Grenze passieren. Die blauen Augen rasen, meine Kehle schnürt sich zu und ich merke, wie mich der Kummer überkommt. „Not very nice“, höre ich mich sagen und weiß, dass dies wohl abermals das Dämlichste ist, was man sagen kann. „Not very nice“, wiederholt der blauäugige Herr böse und fährt mich an: „Einfach so genommen und keiner hat mir geholfen, keiner.“ Er dreht sich um und geht. Ich bleibe zutiefst erschüttert zurück. Meine Freundin setzt sich hin und weint. Ich geselle mich zu ihr und nun kann auch ich meine Trauer nicht mehr halten. Es sind nicht viele Tränen. Dennoch, diese Eindrücke werfen meine sonst so dominante Rationalität über den Haufen. Ich verfluche die Israelis mit ihrer Sicherheits- und Siedlungspolitik. „Mensch, haben die nichts aus ihrer eigenen Geschichte gelernt?“, denke ich und schäme mich sogleich ob meiner Gedanken.

Meine Freundin und ich sind früh aufgestanden, um uns den Tag mal wieder so voll wie möglich zu packen. Zugegeben, wir machen das auf Reisen gerne. Die Busstation von Ramallah, der Hauptstadt des Westjordanlandes, liegt direkt neben dem Markt. Einige bärtige und nichtbärtige Männer schreien sich schon morgens die Seele aus dem Halse. Schulkinder sind unterwegs. Sie stieren meiner Freundin hinterher, als ob es die erste blonde Frau in ihrem Leben ist. Es ist Ramadan und ich kann sie hier nicht wie in Israel schützend in den Arm nehmen. Schließlich versucht man an Ramadan etwas Respekt zu zeigen. Nicht einmal Rauchen auf der Straße... Der Bus schlängelt sich durch steiles Gelände und passiert viele kleine Dörfer, denen die Erschöpfung der letzten 50 Jahre gewaltsamer Auseinandersetzungen anzusehen ist. Früher waren es 30 Minuten von Ramallah bis nach Bethlehem, mittlerweile dauert die Reise anderthalb Stunden. Gerade in diesem Abschnitt gibt es besonders viele israelische Siedlungen, die ein zügiges Vorankommen unmöglich machen. Die Siedlungen, die wir passieren, liegen abgeschnitten durch Mauer oder Zaun, strategisch günstig auf den höchsten Bergen. „Sicherheitsgründe“, lassen wir uns sagen. Wir kommen an und die latente, von den Kurven ausgelöste Übelkeit nimmt langsam ab. Bethlehem ist schön. Die Geburtskirche Jesu und die Altstadt sind ein optisches Fest. Touristenkarawanen wuseln umher

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und kaufen Andenken. Es ist lieblich hier, ganz reizend - eine schöne Welt. Ich frage Maren, warum Bethlehem eigentlich im Besitz der palästinensischen Autonomieverwaltung ist. „Das sind christliche Heiligtümer“, antwortet sie mir trocken. Etwas stört die heilige Atmosphäre. Die Wände der mittelalterlich anmutenden Gemäuer sind geziert von Plakaten, auf denen junge Männer mit großen, sehr großen Pistolen posieren. Wir fragen uns, was das denn wohl zu bedeuten hat. Später sollen wir mehr wissen. Bethlehem ist eine dieser Städte, die mittlerweile zu 60% von Betonmauer umgeben ist. Die anderen 40% sind noch im Bau. MultiLevel-Approach nennt sich das. Neben der Umzäunung der 1949 vereinbarten Grünen Linie entlang des kompletten Westjordanlandes, ragen die Mauern mittlerweile weit nach „Palästina“ hinein, um die israelischen Siedlungen vor Attentaten zu schützen und vermeintliche Selbstmordattentäter schon im Vorfeld dingfest zu machen. Multi-LevelApproach - ein Kampf an vielen Fronten also. Ein kleines Restaurant ist Anlaufpunkt unseres Mittagessens. Der Besitzer ist, wie fast alle Palästinenser bis dato, sehr freundlich. Mitte zwanzig und ohne typischen Arafatschal. Vielmehr erinnert er meine abendländisch geprägten Augen an einen

Foto: Nicolas Martin

Auszug eines Reiseberichts aus Israel

Nach längerem Durchatmen machen wir uns auf zum Checkpoint. Wir sagen nichts, doch ich merke, auch meiner Freundin fällt es schwer zurück nach Israel zu gehen. Es ist ein weiter, von Metallgittern abgeschirmter Weg, den wir zurücklegen müssen, bis wir die Sicherheitskontrolle erreichen. Wir kommen an und stehen vor dem Sicherheitspersonal. Das sonst schon so verinnerlichte „Shalom“ bleibt in meinem Halse stecken. Stattdessen entgleitet mir nur noch ein stummes „Hello“. Von: Nicolas Martin und Maren Linden Foto: Nicolas Martin

deutschen Obstverkäufer. Wir kommen ins Gespräch und ich zeige ihm die Fotos der starken Jungs mit ihren Pistolen auf meiner Digitalkamera. „Ach, das sind Märtyrer, hier, der ist von der Hamas und der dort gehörte der Fatah an, und der hier ist bei einem Angriff der israelischen Armee umgekommen.“ Er winkt mir zu, ich folge ihm, etwas erschrocken von seiner Antwort. Er zeigt mir ein großes umrahmtes Foto von einem kleinen Jungen. Dies sei sein Bruder, erklärt er.

Auslandsstudium?

Beim Spielen vor der Kirche hätten ihn Spezialeinheiten der israelischen Armee erschossen, aus Zufall, er war eben zur falschen Zeit am falschen Ort.

Erasmus ist Teil des Bildungsprogramms Sokrates, das 1987 von der Europäischen Union (EU) ins Leben gerufen wurde, um im Zuge der europäischen Integration die Mobilität und den Austausch von Studierenden und DozentInnen zu erleichtern. Beteiligt an dem Programm sind alle 27 EUMitgliedsländer sowie Island, Liechtenstein, Norwegen und die Türkei.

Ungeübt im Umgang mit solchen emotionalen Momenten schaue ich ihm nur tief in die Augen und sage: „That’s not very nice.“ Meine Frage nach seiner Einstellung zu den posierenden Märtyrern hat sich damit wohl erledigt. Wir verabschieden uns nochmals herzlich, zahlen und gehen. Wir gehen zu Fuß in Richtung des Checkpoints nach Israel. Zurück ins gelobte Land,

ERASMUS, eine europäische Perspektive

Den Studierenden wird hierbei ein grenzüberschreitender Austausch durch einen monatlichen Mobilitätszuschuss, dem Erlass von Studiengebühren sowie dem Ausbau von Netzwerkstrukturen zwischen den Universitäten erleichtert. Die Netzwerke vereinfachen die Anerkennung der im

Ausland erbrachten Studienleistungen und fördern die europäische Kooperation. Unter anderem wurde deshalb auch das European Credit Point System eingeführt, das die Vergleichbarkeit der Studienleistungen der Studierenden der verschiedenen Länder ermöglichen soll. Die Universität zu Köln kooperiert derzeit fächerübergreifend mit ca. 250 verschiedenen Partneruniversitäten. Eine Übersicht über die Kölner Partneruniversitäten findet ihr unter: http://verwaltung. uni-koeln.de/international/content/e99/ e1287/e2072/AufstellungKoord.Internet_ger. pdf Seit 2007 werden nun auch innerhalb des Erasmusprogramms, auf Grundlage des EU-

Bildungsprogramms Lebenslanges Lernen, Auslandspraktika gefördert. Informationen der Kölner Uni und der FH Köln über die verschiedenen Möglichkeiten mit Erasmus im Ausland zu studieren oder Praktika zu absolvieren, findet ihr unter: http://verwaltung.uni-koeln.de/international/content/auslandsstudium/erasmus/ index_ger.html http://www.international-office.fh-koeln.de/ outgoings/erasmus/index.php Die Lokale Erasmusinitiative Köln findet ihr unter: http://www.aegee-koeln.de/

Janina Heuser

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Rebekka

Juan

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war von Februar 2007 bis August 2007 mit Erasmus in Granada, Spanien.

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kommt aus Madrid, Spanien und ist seit September 2007 mit Erasmus in Köln, um zu studieren und ein neues Land kennen zu lernen.

Foto: Janina Heuser

Foto: Nicolas Martin

Juan und Rebekka wollten in die Fremde, berichten über ihre Eindrücke und geben Tipps für ihre NachfolgerInnen.

Meins: Warum hast du dir gerade Granada als Studienort ausgesucht? R: Köln ist schon eine Großstadt, ich wollte gerne in einer kleineren Stadt studieren. Granada hat viel zu bieten, die Landschaft, die Berge, das Meer... M: Was macht Granada für dich aus? R: Die Vielfalt der Landschaft und das maurische Erbe, das leider zu stark touristisch erschlossen ist. Man spürt die Vermischung der Kulturen auf eine sehr angenehme Art und Weise. Man merkt, dass man am Rand Europas lebt, an der Grenze zu Afrika. M: Was ist typisch für die Menschen dort? R: Granada ist eine Studentenstadt, in der 1/3 der Bevölkerung beruflich mit der Uni verbunden sind. Die Studierenden kommen

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aus ganz Spanien. Außerdem ist Granada Erasmusmetropole, das spürt man eindeutig. Außerdem gibt es eine große Alternative Szene. M: Wie und wo hast du Kontakt zu den Einheimischen aufgebaut? R: Ich habe mit einem Spanier zusammengewohnt. In der Uni hatte ich hauptsächlich Kontakt mit meiner Erasmusclique, da die Studenten dort sehr jung sind. M: Welche bürokratischen Schwierigkeiten hattest du und welche Tipps kannst du an deine NachfolgerInnen weitergeben? R: Die Uni erscheint wie ein einziges, von einem Computer gesteuertes System, auf das selbst die Lehrkräfte keinen Einfluss haben. Wenn ein Kurs voll ist, kann keiner mehr rein, selbst wenn der Dozent das be-

fürworten würde. Ich kann nur raten, gegen jede Regel zu verstoßen und im Nachhinein versuchen, sie legitimieren lassen. M: Was hast du am meisten vermisst? Was sollte man unbedingt hierhin mitbringen? R: Am meisten meine Federbettdecke. Außerdem gibt es in Granada keine vernünftigen Buchhandlungen. M: Was hast du von deinem Auslandsaufenthalt mit nach Hause genommen? R: Granada war für mich ganz viel Flamenco. Mein Mitbewohner war Flamencogitarrist, da habe ich ein Ohr für diese wunderschöne Musik entwickelt. Außerdem eröffnet mir natürlich die Sprache die Tür zu einem weiten Kulturkreis.

Meins: Warum hast du dir gerade Köln als Studienort ausgesucht? Juan: Ich wollte nach Deutschland kommen, um eine neue Sprache zu lernen und ein neues Land kennen zu lernen. England kenne ich schon. Ich habe in Spanien die Leute gefragt, welche Stadt in Deutschland sie mir empfehlen, sie haben mir Köln ans Herz gelegt. M: Was macht Köln für dich aus? Was ist für dich typisch für Köln? J: Die Offenheit der Menschen hier. Als ich in Berlin war, ist mir das insbesondere aufgefallen. M: Wie und wo hast du Kontakt zu den Menschen aufgebaut?

J: Die Uni hat eine Einführungswoche mit vielen Partys organisiert, die Erasmuspartys, da habe ich die meisten meiner Freunde kennengelernt. Außerdem habe ich einmal die Woche Deutschunterricht, da treffe ich viele Leute. Es ist schwieriger, Deutsche kennen zu lernen. Sie haben meistens schon einen festen Freundeskreis. M: Welche bürokratischen Schwierigkeiten hattest du und welche Tipps kannst du deinen Nachfolger/innen geben? J: Bürokratische Probleme hatte ich hauptsächlich in Spanien, als ich mich beworben habe. Hier musste ich dann alles von Null an organisieren, ein Bankkonto eröffnen, Wohnung suchen...Ich empfehle unbedingt mit Deutschen zusammenzuwohnen, außerdem sollte man sich in Deutschland an

die Regeln halten. Nicht so wie in Spanien. Sonst funktioniert gar nichts. M: Was hast du am meisten vermisst? Was sollte man unbedingt einpacken? J: Das Wetter in Spanien. In Deutschland ist es nicht so gut. Jetzt ist es schon besser, aber vorher.... Und Essen! Chorizo und Schinken. M: Was wirst du von deinem Auslandsaufenthalt mit nach Hause nehmen? J: Viele gute internationale Freunde und die Reiseerfahrungen, die ich hier gesammelt habe!

Janina Heuser

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Drei Wochen

Tokio,

ein Kuriositätenbericht an die Heimat

Hallo zusammen! Ich wohne in Yoyogi und erkunde Tokio mit der U-Bahn. Was U-Bahn fahren hier bedeutet, lerne ich sofort am Montagmorgen: Die U-Bahn ist erst dann voll, wenn sie zu 180% ausgelastet ist. Das ist in etwa so, als wenn man seine Hand zum Niesen nicht mehr hochheben kann, weil sie zwischen meinem eigenen Körper und deren der anderen Fahrgäste festklemmt. „Wie widerlich!“ wird sich manch einer von euch denken, das ist aber kein Problem, da Japaner ihre Nase ständig unter Kontrolle haben, nicht niesen und sich auch nicht schnäuzen müssen. Überhaupt schnäuzt man sich hier nicht, man zieht hoch. Und

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wenn es sein muss, dann eben dauerhaft. Das klingt in etwa so, als wäre man in einem Raum und überall pfeift leise etwas Luft durch die Ritzen. Wenn es denn dann gar nicht mehr geht, kommt der Mundschutz – nicht weil man dann schneller gesund wird, sondern damit sich die anderen um einen herum (180% Zugauslastung!) nicht anstecken. Löblich. Aber auch die letzte Möglichkeit, wie mir scheint. Als Europäer genießt man jedoch in der U-Bahn einen Sonderstatus, der allein durch Wuchs bedingt, ist. Zwar sind die U-Bahntüren teilweise sehr niedrig, dafür habe ich in der U-Bahn aber den totalen Überblick und steche als Lockenkopf aus einem wogenden Meer japanischer Köpfe heraus. Nach den ersten zwei Tagen hier habe ich mein Cappy abgelegt, da ich doch gegen zu viele Türen und Decken gerannt bin. Japaner sind eben kleiner. Die Stadt ist – na klar- hektisch, aber auf erstaunlich ruhige Weise. Es ist zwar überall

brechend voll, aber die Menschen sind geradezu stoisch und derartig gelassen, dass es mir schon fast Angst bereitet. In der U-Bahn wird grundsätzlich nicht telefoniert und alles erscheint ruhig und gesittet – wäre da nicht die allgegenwärtige Werbung, die sich von allen Seiten her aufdrängt. An jeder Straßenecke bekommt man Taschentücher und Fächer (es herrschen 80% Luftfeuchtigkeit) mit irgendwelchen Werbebotschaften und einem Lächeln geschenkt. Auch vor unheimlich vielen Läden stehen Marktschreier mit Mikro und locken die Kunden ins knallbunte Geschäft und dazu natürlich überall Plakate und Leuchtreklamen. Sogar auf den Haltegriffen im Bus ist Werbung. Komme ich in ein Geschäft, begegnet mir die bekannteste aller japanischen Sitten, die Verbeugung. Die billigsten und meisten Verbeugung gibt es bei McDonalds: Zu Beginn begrüßt mich die Bedienung am Tresen furchtbar nett, wobei sie sich verbeugt (1).

Dann fragt sie mich was ich möchte, doch ich verstehe kein Wort. Sie entschuldigt sich, und verbeugt sich abermals (2). Dann versuche ich ihr zu erklären, dass ich einen Teriyakiburger möchte. Sie fragt mich etwas, interpretiert meinen Gesichtsausdruck sofort richtig und wendet das vor mir liegende Blatt mit den Speisen einfach und siehe da, auf der Rückseite ist das Menü auf English! Ich strahle über beide Ohren, sie freut und verbeugt sich (3). Dann sage ich zu ihr auf English was ich möchte, nur versteht sie leider kein Wort. Sie entschuldigt und verbeugt sich (4)… …Es bedarf noch einiger Gestikulation und weiteren drei Runden Entschuldigen und Verbeugen, bis ich schließlich meinen Teriyakiburger und eine Cola in Händen halte. Ich bin einerseits froh, den Test, mich in einem fremden Land ernähren zu können, bestanden zu haben, schäme mich aber doch sehr dafür, den Kulturschock nicht sofort überwinden zu können. Später bekomme ich wieder Hunger und meine Zimmernachbarn aus der Herberge empfehlen mir einen Italiener. Auf dem Weg dahin begegnen mir possierliche Tierchen. Eines ist ein Pinguin, das Maskottchen der wiederaufladbaren Fahrkarte für den staatlichen Nahverkehr. Aber auch die Polizei winkt mir freundlich zu, ein kleiner Teddybär mit Mütze und Pistolenhalter (aber sonst eher unbekleidet) fordert mich auf, die guten Manieren (!) im Straßenverkehr zu beachten: „Lasst uns nicht mehr hupen, damit andere sich nicht erschrecken!“. Kondomautomaten tragen den selbstironischen Namen „Happy Family“ und Ernie und Bert aus der

Fotos: Niels Walker

Sesamstraße geben auf Postern der Metro Nachhilfe in „Metro-Manieren“. Ich erreiche den Italiener und verstehe sofort, warum er mir empfohlen wurde: Kulturschock, abermals. Ich dachte, ich könnte mich für die Dauer eines Abendessens zurück nach Europa versetzen, aber nein, hier merke ich am deutlichsten, dass ich in Japan bin. Tomatensauce ist standardmäßig nicht auf der Pizza, überhaupt ist der Begriff für das angebotene Essen nicht zutreffend. Es gibt Shrimps, Knoblauch, deutsche Würstchen, keine Tomaten, dafür aber Mayo. Die Sehnsucht nach Europa erfüllt sich mir auf einem Holzteller und ich verstehe auf einmal, warum Japan nicht so ist wie der Sushiladen in Köln: Weil der Italiener alles ist, aber kein Italiener. Er ist die japanische Vorstellung von Europa, zugeschnitten auf den japanischen Geschmack genauso wie asiatische Restaurants in Deutschland nur die Sehnsucht nach Japan, China oder Thailand ausdrücken. Das Ambiente tut sein restliches, die Wände sind mit Appetitfördernden Sprüchen bemalt wie "Have a good feed up" und "Chat over a drink. They drank the night away." Ich lasse mich am nächsten Tag gehen und versuche meine europäische Prägung über Bord zu werfen. Ich beschließe dies mit Entspannung zu beginnen und gehe in den Yoyogi-Park (Der kostet 200¥ Eintritt, ist dafür aber auch unverschämt gut gepflegt). Dummerweise schließt dieser wunderschöne Park wieder um 16:30 (!), worauf mich eine Durchsage um 16Uhr und 16:10Uhr hinweißt „Please hurry, the gates are closing now!" Ich mache mich auf zu einem “matsuri”,

einem Volksfest. Es gibt Tanzdarbietungen und alle umliegenden Tempel feiern das Jahr des Hahnes. Auffällig ist, dass es kurioser Weise an keinem Kiosk Bier gibt, sondern nur bei den recht teuren fliegenden Händlern. Die Musik zum Fest kommt über eine blockweite Surround-Anlage die sich an jedem Laternenpfahl durch Lautsprecher repräsentiert und überraschend klaren Klang verbreitet. Als dann aber eine Durchsage mit der höflichen Bitte um gutes Benehmen kommt, fühle ich mich ein wenig wie in George Orwell’s 1984 und verstecke mein Bier verschämt. Also doch wieder Kulturschock. Ich streune davon, rauche ein Zigarette im abendlichen Dunst der Stadt und drücke sie in meinem tragbaren Aschenbecher aus (ich habe in der ganzen Stadt noch keinen öffentlichen Mülleimer oder Aschenbecher gefunden, dennoch ist es sauber zum vonder-Straße-essen) und hole mir in einem kleinen Supermarkt ein Essen für unterwegs, ein sogenanntes Bento (Brot gibt es kaum und frisches Obst ist unglaublich teuer. Pfirsiche kosten 4€, dann doch lieber köstliches japanisches Bento). Am Abend wische ich mir den Smog von der Nasenspitze (schwefelfrei, Dieselkraftstoff gilt als „unrein“ um sich damit fortzubewegen) und plane meine Reise für den nächsten Tag. Es soll mit dem Shinkansen, dem japanischen Hochgeschwindigkeitszug, nach Kyôto gehen. Aber das ist eine andere Stadt und somit eine andere Geschichte. Niels Walker

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Hochzeit auf Senegalesisch „Es wird nur ein kleines Fest mit ein paar Freunden und Bekannten“, hatte Fatou ihrem Zukünftigen, Thomas, bestätigt. Dessen Wunsch war es nämlich gewesen, nicht so viel Tamtam zu machen, wenn er als Deutscher eine Senegalesin heiratet. Das würde viel zu teuer. Im Nachhinein frage ich mich allerdings: wenn das ein kleines Fest war, wie sieht denn dann ein großes aus? „Von dem Geld hätte ich mir einen Kleinwagen kaufen können“, meint Thomas in einer ruhigen Minute zu mir. Tja, hier im Senegal heißt es, wenn Frauen etwas wollen, bekommen sie es auch… Seit ich vor drei Monaten in den Senegal gekommen war, hatte ich schon einiges erlebt. Nachdem ich den ersten Kulturschock überwunden hatte, war ich viel unterwegs gewesen. Nun wohnte ich seit drei Wochen in Dakar bei einer afrikanischen Familie, hatte Freunde gefunden, und auch das Praktikum am Goethe-Institut machte großen Spaß. Ich wollte das ‚richtige’ senegalesische Leben kennenlernen, mit all seinen Festen, seinen Traditionen und Bräuchen. Und so war ich auch überaus erfreut, als Cheikh, ein junger Deutschlehrer, mich einlud, ihn auf die Hochzeit seiner früheren Schülerin Fatou zu begleiten. Gegen ein Uhr mittags treffen Cheikh und ich im Hause der Brauteltern ein, wo die Feier stattfindet. Vor dem Haus sind einige Männer gerade dabei ein großes längliches Zelt aufzubauen, ein paar Jungen schlagen dazu rhythmisch auf ihren Djembés. Man hat für die Festlichkeiten sogar die Straße gesperrt. Wir betreten den Innenhof des Hauses, in dem schon zahlreiche Gäste sitzen – allerdings nur Frauen. Sie sind paradiesvogelartig gekleidet, eine bunter und üppiger als die andere. Da blitzt der falsche Goldschmuck nur so von Ohren, Fingern und Hälsen. Das Festtagsoutfit der Senegalesinnen ist unglaublich kitschig. Die meisten Frauen tragen kunstvoll bestickte Kostüme, die aus einem glockenförmigen Rock und einem bestickten Oberteil bestehen. Auch die Ärmel sind glockenförmig und mit glitzernder Borte verziert und die Gesichter werden dick geschminkt. Je hochhackiger, spitzer und glänzender die Schuhe, desto besser. Mindestens genauso wichtig ist die farbliche Abstimmung zu dem kleinen Handtäschchen, das jede Madame ständig mit sich herumträgt, um alle halbe Stunde ein Puderdöschen daraus hervorzuziehen. Als Kopfbedeckung werden steife Tücher aus Bazin, einem dünnen schimmernden Baumwollstoff, getragen und so zusammengeknotet, dass sie den Kopf der Dame zieren, wie ein üppiger Blumenstrauß eine runde Vase. So manches ‚Bouquet’ ist dabei so aufwendig und kunstvoll gelegt, dass es sogar mit Stecknadeln befestigt werden muss. Jedenfalls scheinen sich alle bestens zu amüsieren, denn es herrscht lautes Geschnatter und Gekicher in dem Hof. Aus einem abgedunkelten Zimmer, in dem ebenfalls Gäste sitzen, kommt Fatou, die Braut, strahlend auf uns zu und begrüßt erst Cheikh, ihren früheren Lehrer, und dann mich. Das rotgoldene Seidenkleid, das sie trägt, betont ihre große schlanke Figur. „Schön, dass ihr gekommen seid!“ Dann ruft sie ihren Bräutigam. Thomas hat einen hellgrauen Boubou an, den traditionellen Festanzug der senegalesischen Männer, bestehend aus einer Hose und einem knielangen weiten Hemd mit Stickerei um den Halsausschnitt. Gerade erst vor einer Woche ist er aus Deutschland gekommen, was auch die Blässe seiner Haut erklärt. Ich glaube, er ist sehr erfreut jemanden zu treffen, mit dem er Deutsch sprechen kann und wir beginnen eine nette Unterhaltung. Gesprächsstoff gibt es genug. Wie sich herausstellt, hat Thomas nämlich keinen blassen Schimmer, wie so eine senegalesische Hochzeit abläuft. Er verlasse sich da auf die Familie, meint er. „Die werden mir schon sagen, wann ich was zu tun habe“. Ansonsten widmet er sich seiner kleinen Digitalkamera.

Mir kommt es vor, als wäre er selbst ein Besucher auf seinem eigenen Fest.

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Und irgendwie ist er das auch, denn die meisten Gäste kümmern sich nur um Fatou, die unentwegt Hände schüttelt und Geschenke in Empfang nimmt. Ihre Mutter hat extra für diesen Tag einen großen Korb flechten lassen, den sie ständig mit irgendwelchen Geschenken, meist Stoffen, füllt, um sie an die Frauen im Hof zu verteilen. Cheikh erklärt uns, dass der Hochzeitstag der Tochter die einzige Möglichkeit für die Mutter ist, den Verwandten etwas zu schenken und somit den Wohlstand der Familie zu demonstrieren. Thomas beobachtet das ganze Spektakel in Ruhe, macht ein zufriedenes Gesicht und zündet sich eine Zigarette an. Dass die Geschenke, das ganze Fest, das Essen, die neuen Kleider von seinem Geld bezahlt wurden, stört ihn überhaupt nicht. Nach und nach kommen immer mehr Gäste, nun auch senegalesische Herren in eleganten Boubous und mauretanischen Gebetsgewändern, und begrüßen uns. Dabei geben sie nur den Männern die Hand, vor mir machen sie eine leichte Verbeugung. Ich bin zuerst etwas erstaunt, bis mir Cheikh erklärt, dass der Islam im Senegal es streng genommen verbiete, fremde Frauen zu berühren, dies jedoch nur von wenigen Gläubigen hier im Senegal befolgt würde. Plötzlich steht eine Frau in blauem Gewand auf und intoniert mit einer gewaltigen Stimme einen feurigen Sprechgesang, der fast wie ein Gebet klingt. Sie ist eine Griotte. In Westafrika sind die Griots (weibl. Griottes) so etwas wie fahrende Sänger und Erzähler, Meister der Redekunst und Stimmungsmacher auf Hochzeiten und Taufen. Ihre kulturelle Bedeutung hat eine lange Tradition, denn Griot sein kann nicht jeder. In die Zunft, ja fast schon Kaste der Griots wird man hineingeboren. Eine der vielen Geschichten über die Entstehung der Lobessänger und ihrer Lieder ist die eines Zweikampfes, in dem ein Ungläubiger den Propheten Mohammed herausfordert. Mohammed gewinnt, woraufhin sich der Ungläubige inbrünstig zu Allah und seinem Propheten bekennt, indem er ein Loblied anstimmt. Dies soll der erste Griot gewesen sein.

schließlich eine Griotte und bringe mir allein durch ihre Anwesenheit Glück. Nix da. Das Spiel kenne ich schon… Nicht nur die Dame, auch eine Gruppe von vier Männern mit kleinen tamas (Minitrommeln) unter dem Arm, treten als Griots auf, schlagen heftig mit kleinen gebogenen Holzstöckchen auf das gespannte Leder ihrer Instrumente und besingen lauthals das Brautpaar und dann jeden, der ihnen vor die Füße stolpert. Und bei dem Gedränge, das mittlerweile in dem Innenhof herrscht, sind das nicht wenige Leute. Auch ich bin fällig. Doch im Gegensatz zu einigen genervten Festgästen, freue ich mich über die Musik und finde diese Art des ‚Lobens’ viel netter als die der penetranten Dame. Gegen drei Uhr verteilen zwei junge Männer Löffel und Servietten. Bald darauf werden große Silberschüsseln hereingetragen, mindestens zwanzig, um die sich dann jeweils fünf bis sechs Gäste scharen und hungrig zulangen. Es gibt Reis mit Hammelkeule, sauren Gurken und Fleischbällchen. Sehr lecker! Nach dem Essen wird Obst und Tee verteilt – und natürlich Zahnstocher. Ein Senegalese schiebt sich nach jedem guten Essen erstmal einen Zahnstocher in den Mund, auf dem dann manchmal stundenlang herumgekaut wird. Ich rauche stattdessen mit Thomas eine Zigarette. So kurze Haare habe er noch nicht lange, erzählt er mir, erst seit er zum Islam konvertiert ist. Das war vor sechs Tagen. Für die traditionelle Salbung sei das notwendig gewesen. Ich frage ihn, ob er dann also auch das Glaubensbekenntnis abgelegt habe? Er meint, das wisse er nicht,

er habe nichts von dem verstanden, was er den Marabus nachsprechen musste. „War ja alles auf Arabisch!“ Zu konvertieren war für ihn notwendige Bedingung, um die Frau heiraten zu können, die er liebt. Irgendwie beeindruckt mich diese Bedingungslosigkeit, denn in seinen Worten steckt keinerlei Naivität. Bei den Senegalesen heiße er jetzt eben Ibrahim und nicht mehr Thomas, das sei aber auch der einzige Unterschied. Um fünf Uhr geht Cheikh mit den anderen Männern zum Beten in die Moschee. Dort wird nun auch die muslimische Trauung des Paares stattfinden. Ich wage währenddessen einen Blick in das Zelt draußen auf der Straße, aus dem laute Trommelmusik dröhnt. Wieder sitzen nur die Frauen zusammen, nebeneinander, eine bunter als die andere. Aissatu, die Haushälterin, zieht mich zu sich und fordert mich auf mit ihr zu tanzen. Der Rhythmus pocht schon in meinen Ohren und durch meinen Körper, aber ich ziere mich noch. Eine dicke Frau in feuerrotem Kostüm mit rosa Spitze und einem goldenen, schleierähnlichen Tuch um die Schultern, steht auf, zieht ihre Bluse etwas hoch, streckt den Oberkörper nach vorne und den breiten Hintern so in die Höhe, dass man ein Tablett darauf abstellen könnte. Dann beginnt sie sich zu bewegen, wie elektrisiert zucken die Pomuskeln, es wackelt und schwabbelt. Sie tanzt einen leumbeul, einen erotischen Tanz, der die Männer bezirzen soll. Die anderen Frauen sind begeistert. Tatatatam, tatatatam. Mindestens vier Schläge pro Sekunde schaffen die Jungs auf der Djembé. Andere Frauen beginnen zu tanzen, euphorisch fangen sie an zu quietschen, sie lachen und klatschen. Ich stehe etwas unbeholfen daneben und traue mich nicht so recht mitzumachen. Da kommt Aissatu und nimmt meine Hand. „Schau, so geht’s“, sagt sie und zeigt mir, wie man wackeln muss. Ich mache es ihr nach, ziehe meine Bluse ein Stück nach oben, schon seufzen die Frauen laut vor Entzücken und Belustigung. Die Toubab tanzt! Toubab bedeutet Weiße. Tatatatam, tatatatam. Immer schön weiter wackeln, die Bluse hoch und den Hintern raus. Schütteln, schütteln, schütteln! Nach fünf Minuten gerate ich außer Atem und ziehe mich ans Ende des Zelts zurück, wo ich noch eine Weile das Spektakel verfolge.

Morgen hab’ ich bestimmt Muskelkater im Po, denke ich. Kurze Zeit darauf kommen die Männer und das frisch vermählte Brautpaar aus der Moschee zurück. Fatou hat ganz verheulte Augen und kann sich schon auf dem Weg ins Haus vor Glückwünschen und Aufwartungen kaum retten. Thomas strahlt und wirkt immer noch genauso gelassen wie vorher. In einer Stunde, wenn die anderen erst richtig losfeiern, wird er im Wagen sitzen und in die Flitterwochen nach Saint Louis fahren. Dann ist der ganze Trubel hier vorbei. Ich drücke ihm kräftig die Hand bevor ich gehe und wünsche ihm alles Gute. „Wir sehen uns spätestens auf deiner Hochzeit, Eva“, sagt er. „Dann muss es aber schon ein Mercedes sein!“ Eva Helm

Fotos: Eva Helm

Im Laufe der Feier kommt die tönende Dame noch einige Male zu mir und besingt mich. Dabei wirft sie mir jedes Mal einen zusammengefalteten 1000 Franc Schein (ca. 1,60 Euro) auf den Schoß, ruft ein Gebet und fordert mich auf, ihr das Geld zurückzugeben und noch etwas mehr. Sie sei

FernSicht


Mach Schluss mit deiner Stadt Es ist irgendwas nach halb vier Uhr morgens, es regnet in Strömen und mir tut der Kiefer weh. Mag daran liegen, dass ich gerade aufs Maul bekommen habe. Dass der Typ mich nicht schlimmer verdroschen hat, hab ich seinem Kumpel zu verdanken, der ihn zurückgehalten und an seine Bewährung erinnert hat. Noch mal Glück gehabt, an Gegenwehr wäre ohnehin nicht zu denken gewesen. Kann ja kaum geradeaus laufen. Am UFA-Palast lehne ich mich an die Hauswand und kotze herzhaft in den Eingangsbereich. Das verbessert meine Laune aber nur unerheblich. Es ist erbärmlich kalt, ich bin klatschnass, und ich fürchte, ich war gerade im Roxy. Was für ein Scheißabend. Ich bin sturzbetrunken und hatte überhaupt keinen Spaß. Bin restlos bedient, will nur noch ins Bett. Das Problem ist nur, wie ich dahin komme. Die letzte Bahn ist mir vor der Nase weggefahren und ich habe wenig Lust eine Stunde im Regen zu stehen. Außerdem dreht sich der Bürgersteig, wenn ich anhalte. Also lieber weiterlaufen, suche ich mir eben irgendwo eine andere Bahn. An der nächsten Straßenecke, wo der Asphalt von tausenden platt getretenen Kaugummis gesprenkelt ist, drehe ich von den Ringen ab und taumele in die Seitenstraße. Hier sind die Straßen zwar menschenleer, leider aber auch nicht trocken. Kalt prasselt der Regen aus dem Streifen Nachthimmel, der zwischen den Dächern zu sehen ist.

ten, nicht an Vögel. Kein Wunder, bei dem ganzen Dreck. Als richtiger Kölner ist man ja so verdammt stolz auf seine Herkunft: man schreibt es sich auf T-Shirts, Taschen und Heckschutzscheiben, grölt besoffen die immergleichen Lieder und lässt keine Gelegenheit aus, die Stadt in eine Müllkippe zu verwandeln. Ich weiß gar nicht mehr genau, warum ich damals zum Studieren nicht mal woanders hingegangen bin. Irgendwie habe ich nach der Schule keinen Grund dafür gesehen, schließlich wohnte ich schon in der Großstadt. Ich hatte meine Leute hier, wir gingen in unsere Stammkneipen und wussten, wann es wo Freibier gab; Hotel Mama war natürlich auch ein Argument. Es war eben das Bequemste. Irgendwie habe ich damals meinen Arsch nicht hoch bekommen. Dann komme ich an der Breite Straße raus, wenigstens weiß ich wieder wo ich bin. Hätte wirklich nicht gedacht, dass ich mich hier in der Gegend mal verlaufen würde. Aber hier sieht ja auch nichts mehr aus wie zu der Zeit, als unsere Mutter uns immer zu C&A geschleift hat. Jetzt stehen hier überall diese Glasbunker, die Carré oder Arkaden heißen, aber auch nicht viel hübscher sind als die Betonburgen von früher. Am Appellhofplatz versuche ich den Fahrplan zu lesen, aber die Zahlen verschwimmen vor meinen Augen. 3 und 4 nutzen mir sowieso nichts, ich muss woanders hin. Wenn ich nur wüsste wo...verflucht...ich weiß doch, wo ich wohne… Moment mal, der Hauptbahnhof.

Da fährt bestimmt noch eine Bahn, vielleicht fällt mir da auch wieder ein, wo ich hin muss, um ins Bett zu kommen. An der Ampel zur Nord-Süd-Fahrt bleibe ich stehen, obwohl sie gelb blinkt und weit und breit niemand außer mir zu sehen ist. Muss aber grad mal einen Moment lang Pause machen. Dabei bemerke ich den LeuchtSchriftzug über der südlichen Tunneleinfahrt und obwohl ich das Ding schon ein- oder zweimal gesehen habe, registriere ich gerade erst wirklich, was dort steht: Liebe deine Stadt. Also, irgendwie weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Das klingt verdächtig nach Befehl, so wie: Bring den Müll raus. Irgendwie fuchst mich das. So was lasse ich mir nicht gern befehlen. Ich wüsste nicht, was ich an einer Stadt lieben sollte, in der man 15 Euro blechen muss, nur weil man auf der falschen Seite der Straße gefahren ist. Oder in der die Polizei mit Hubschraubern Jagd auf Sprayer macht. In der ein Fußballverein gefeiert wird, der zwischen den Ligen hin und her titscht. Aber ich mache da nicht mehr mit. Was immer ich auch mal an diesem Ort geliebt habe, es ist weg. Das ist nicht mehr meine Stadt; ich weiß nicht, ob sie es jemals war. Ich hätte damals auch nach Hamburg oder Berlin gehen sollen, oder ins Ausland oder so. Es ist langweilig hier. So langweilig, dass ich glaube, es nicht länger ertragen zu können. Nein, ich kann es nicht mehr länger verschweigen,

es muss raus: Wir müssen reden. „Weißt du...vielleicht sollten wir uns eine Weile nicht sehen“, sage ich zu meiner Stadt. Der Wind flaut ab und die plötzliche Stille wirkt wie vor den Kopf geschlagen, dabei habe ich es nur als erster ausgesprochen, gedacht haben wir es beide. „Das kommt jetzt wahrscheinlich etwas plötzlich... aber genau da liegt ja das Problem“, murmele ich in meinen Bart. „Es ist mein Fehler, ich hab es zu lange mit mir herumgetragen.“ Die Ampel blinkt gelb und schockiert. „Ach komm schon, du musst das doch auch sehen. Wir hängen einfach viel zu eng aufeinander, und zwar schon seit Jahren. Ich kann mich an überhaupt nichts anderes erinnern.“ Ich schlurfe ohne mich umzudrehen über die Straße, und ignoriere das anklagende Blinken in meinem Rücken. „Diese ganze Routine ist so eintönig. Wir machen nie mal was... anderes, nie. Immer gehen wir in dieselben Läden, immer die gleichen Kneipen, mittwochs dann ins Kino... Warum auch mal was ausprobieren? Wir kennen ja schließlich schon alles, oder?“ Im Überschwang werde ich verletzend. Aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Lieber ein Ende mit Schrecken. „Es gibt mit dir einfach nichts Neues zu entdecken. Ich vermisse die Leidenschaft von früher. Was ist nur daraus geworden?“ Ich bleibe einen Moment stehen, lehne mich an die Wand und übergebe mich noch einmal. Das ruiniert mir zwar ein bisschen den Auftritt. Aber ich glaube, auch sonst sähen die Straßenlaternen nicht weniger vorwurfs-

voll aus. „Wir sind völlig festgefahren. Und ich glaube nicht, dass wir die Kraft haben, das zu ändern.“ Eine paar Passanten kommen vorbei und drehen sich nach mir um. Aber offensichtlich merken sie, dass es um etwas Privates geht. Ich glaube, wenn ich schon dabei bin, sollte ich auch die Karten auf den Tisch legen. „Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich mich in den letzten Jahren immer wieder mal nach anderen umgesehen. Ja, ich habe auch das Gefühl etwas verpasst zu haben. Das mit uns, wir haben uns viel zu früh aufeinander festgelegt. Ich habe einfach Nachholbedarf.“ Ich torkele um die Ecke und stehe auf der Domplatte. Der ewige Wind heult um die dunklen Türme und klatscht mir wütend den Regen ins Gesicht. „Ich bin also egoistisch, ja? Und was ist mit dir? Du brauchst mich doch gar nicht, du kannst Tausend andere haben. Du kannst es doch nur einfach nicht ertragen, dass du keine Kontrolle mehr über mich hast!“ Das Licht des Bahnhofs kommt zum Vorschein, und ein Entschluss formt sich. Warum es noch länger hinauszögern? Je eher ich gehe, umso leichter ist es. „Es ist für uns beide das Beste“, stelle ich endgültig fest. Der Wind ist zu einem flüsternden Lüftchen verkommen, das mir kraftlos in den Nacken bläst. „Jetzt mach nicht so ein Gesicht. Das ist auch für mich nicht leicht, glaub mir.“ Die Domstatuen sehen nicht aus, als würde sie das trösten. „Ich werd dich mal anrufen“, sage ich noch

Scheißwinter. In Köln hat diese Jahreshaupt keine angenehmen Anderswo soll ja angebwieder mal Schnee liemehrere Tage lang. Hier nie und wenn doch, dann zwei Stunden alles wegzen. Dafür dieser stänWenn ganz Deutschland Schneedecke liegt, ist schmieriger, grünbrauner dem Satellitenbild. Ich komme an einem tainer vorbei, als mir eine die Füße läuft und erhochspringt. Das passiert nicht zum ersten Mal. Gebüsch raschelt, denke

zeit überAspekte. lich hin und gen, sogar schneit es ist nach geschmoldige Regen. unter einer Köln ein Fleck auf

und klinge nicht sehr überzeugend. Dann drehe ich mich um und schwanke die Treppen zum Bahnhof runter. Ich laufe auf den Bahnhof zu, ohne mich noch einmal umzudrehen. Eine seltsame Heiterkeit lässt meine Schritte schneller werden. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass von nun an alles besser wird. Als ich am nächsten Morgen am Fuß einer Rolltreppe aufwache, stelle ich als erstes fest, dass mir jemand die Schuhe geklaut hat. Ich habe einen mörderischen Kater, mein Hals fühlt sich an wie ein Stück Holz und ich habe keine Ahnung, wie ich hierher gekommen bin. Ich liege in einem zugigen Fußgängertunnel, dessen gekachelte Wände mit stümperhaften Tags zugebombt sind, und ein leichter Urinhauch liegt in der Luft. An der gegenüberliegenden Wand hängt eine DB-Anzeigetafel: Wuppertal Hbf. Ach du Scheiße. Was hab ich gestern nur gemacht? Diesmal habe ich es echt übertrieben. Himmel, nichts wie raus aus diesem gottverlassenen Nest! Auf Socken haste ich zum Bahnsteig, auf dem ich eine halbe Stunde auf einen Zug nach Köln warten muss, wobei ich zwischen den anderen Wartenden von einem Fuß auf den anderen hüpfe. Der Zug kommt zwanzig Minuten zu spät und die Fahrt dauert fast eine Stunde, weil er dreimal darauf wartet, von anderen Zügen überholt zu werden. Wenigstens habe ich meine Ruhe, denn meine Fahne ist geradezu unheilig, und hält die morgendlichen Pendler auf Abstand. Trotzdem kann ich mich erst wirklich entspannen, als der Zug über die Hohenzollernbrücke rollt und ich das vertraute Dröhnen in der Magengrube spüre. Lass uns nie wieder streiten, denke ich, obwohl ich nicht genau weiß, wieso. Christopher Dröge

MüllconRatte über schrocken mir auch Wenn es im ich an Rat-

Fotos: Fotos: Niels Maiko Walker Henning


Impressum Herausgeber: Verein zur Förderung studentischen Journalismus Köln e.V. www.vfsjk.de ViSdP (Verantwortlicher im Sinne des Pressegesetzes): Niels Walker Chefredaktion: Niels Walker, Kristin Gabriel Art Direction: Sebastian Herscheid, Sabine Wißdorf Bildredaktion: Hannah Gärtner Marketing: Martina Oelke, Sarah Oppenberg, Annika Bastians Redaktion/Autoren: Jennifer Borsky, Eva Helm, Marieke Steinhoff, Jennifer Schmitz, Felix Grosser, Mario Derstappen, Christine Willen, Jan Handel, Anne Wellmann, Sara Schneider, Tina Trinks, Sylvia Jobi,Elisa Hapke, Janina Heuser, Jörg Bernady, Christine Wilkn, Alexander Graeff, Mitra Moezodine, Katja Koslowski, Nicolas Martin, Christina Klassen, Annika Kruse, Ilka Bühner, Veronika Czerniewicz, Annika Bastians, Maiko Henning, Stephanie Meyer, Christopher Dröge, Adam Bronisz, Christiane Mehling, Holger Reinermann, Sarah Gronemeyer, Anno Bergmann, Agathe Miskiewicz, Alexander Schulz, Kathrin Mohr Gestaltung/Layout: Stephanie Meyer, Sara Copray, Sabine Wißdorf, Tina Trinks Internet: Henrik Greger, Michael Römer, Christian Klassen Fotografie: Alexander Gräff, Nina Mathar, Meiko Henning Sarah Oppenberg, Nicolas Martin Ausbildung: Kathrin Mohr Website: www.meins-magazin.de Erscheinungsweise: vierteljährlich

ErkenntnisReich Fotos: © Martin Mach


Die Sprit

Wir leben in

der dritte

n Ölkrise

ztour ist

vorbei

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ei?

Der Ölpreis ist mir egal. Ich habe kein Auto und fahre mit dem Rad oder gehe zu Fuß. Das kann ich mir leisten, denn ich wohne in der Innenstadt. Wenn es regnet, fahre ich mit dem Bus zur Uni, aber hier fängt es schon an: Der Bus fährt natürlich mit Diesel. Und, achja, meine Wohnung muss ich ja auch heizen. Und ich will jede Woche frische Bananen essen, die kommen natürlich mit dem Schiff aus Mittelamerika. Ok, der Ölpreis, er interessiert mich doch. Aber was ist das, der Ölpreis, und warum ist es so ein Drama, wenn das Öl teurer wird? Man braucht kein Studium der Weltwirtschaft, und auch die internationale Politik muss einem nur aus der Tagesschau bekannt sein um zu begreifen, dass die Welt zurzeit ein handfestes Problem mit dem Öl hat. Es ist zu teuer. Früher kostete der Liter Benzin 60 Pfennig, heute über 1,55 €, also über 3 Mark. Das ist auch inflationsbereinigt richtig teuer. Und meine Bananen, die können nicht mit dem Fahrrad fahren. Gerade jetzt merke ich, wie wichtig Öl für mich ist. Benzin, Diesel und Kerosin sind das Blut in der Hauptschlagader der Welt, die mich umgibt. Ohne

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geht nichts mehr, kein Bus führe zur Uni und kein Kühlschiff käme mit Bananen oder Kiwis nach Deutschland. Noch nicht einmal unsere eigenen Bauern in Deutschland könnten ihre Ernte zum Markt fahren – unser Brot käme nicht mehr zu uns. Ok Öl, ich brauche dich. Und bitte sei billig, sonst kann keiner mehr den Transport bezahlen. Kommt also jetzt die Krise? Warum sollte sie denn? Die Ölkrise 1978 war politisch motiviert und auch die zweite, während der Golfkriege, hatte ebendiese zur Ursache. Beides Dinge, die vorübergegangen sind. Noch 2007 haben uns die großen Ölkonzerne versichert, dass noch genug Öl für die Zukunft da ist. Das haben auch Forscher gesagt, nur konnten sie sich alle nicht darauf einigen, wann diese Zukunft beginnt und wann sie aufhört. Und was niemand erwähnt hat ist, dass die sogenannten „Vorräte für mindestens weitere 40 Jahre“, so aus einem Briefing eines amerikanischen Ölkonzerns, nur schwer zu erschließen sind. Was heißt das? Es gibt unfassbar viel Öl auf der Welt, aber an das meiste ist leider auch unfassbar schwer ranzukommen. Bisher wurde Öl geför-

dert, das leicht zu erreichen war. Ein herkömmliches Ölfeld gleicht einem Luftballon, der nur angepickt werden muss und das Öl sprudelt heraus. Aber diese Luftballons voller Öl sind bald erschöpft und so sehr sich die weltweite Ölindustrie auch bemüht, sie findet kaum noch neue Luftballons unter der Erde. Auch besitzt die Ölindustrie nicht die technischen Kapazitäten, um den Ölhahn einfach immer weiter aufzudrehen. Das andere Öl, das es noch gibt, liegt unter der Arktis oder im Sand. So zum Beispiel in Kanada, dort wird es mit Wasserdampf aus dem Sand gepresst, was, wie man sich denken kann, viel aufwendiger und teurer ist, als wenn es einfach so aus der Erde sprudelt. (Nebenbei ist es auch für die Umwelt in der betroffenen Gegend ein Fiasko, zum Beispiel im Norden Albertas, aber das ist ein anderes Thema.) Von diesem Ölsand, so der Fachausdruck, gibt es noch eine Menge, aber die Förderung lohnt sich nur, wenn der Ölpreis langfristig hoch bleibt. Und das wird er wahrscheinlich auch, denn mit einem naiven Blick in die Zukunft sieht es so aus, als wenn die Nachfrage recht schnell das Angebot übertreffen wird.

Wie bitte? Genau, es wird mehr Öl gebraucht als gefördert wird. Wer sich besser fühlt, wenn er jemandem die Schuld daran geben kann, dann sollte er in die Schwellenländer schauen. Die Massenmotorisierung und der nicht enden wollende Wirtschaftsboom zum Beispiel in China und Indien verbrauchen viel Öl. Und zwar jeden Tag mehr. Die genauen Wirtschaftsdaten dazu sind ein vollkommen eigenes Kapitel und gehören deswegen nicht hierher. Aber sicher ist, dass die moderne Zivilisation in Ländern wie China und Indien zum größten Teil auf Öl aufgebaut ist, genau wie bei uns. Als Zwischenstand können wir feststellen, dass unsere Welt derzeit ohne Öl nicht leben kann, das Öl aber leider knapp und somit auch teuer wird. Aber zeichnet sich nicht auch ein Umbruch ab? Es gibt doch Hybridautos und Energiesparlampen, und sogar die Amerikaner fahren schon kleine Autos! Das stimmt. Aber ein Auto mit Benzinmotor kann noch so effizient sein, es verbraucht nun einmal Benzin und somit sind wir weiter auf Öl angewiesen. Und so bitter es klingt, eine Energiesparlampe

rettet nicht die Welt. Es stimmt zwar, dass Energie, die gar nicht erst verbraucht wird die bessere Energie ist, aber die beste Energie ist jene, die aus einem regenerativen Energiekreislauf stammt. Sprich: Erneuerbare Energien, der ganze Ökokram also. Windräder, Wärmetauscher, Solarenergie, etc. Wenn man die Sahara mit Solarpanelen zupflastern würde, hätten wir soviel Strom, dass wir im Winter die Autobahnen beheizen könnten. Es ginge aber auch anders: Im Saarland gibt es ein kleines Geothermalkraftwerk, das Strom aus Erdwärme erzeugt. In der Theorie kann Deutschland sich selbst mit Strom versorgen; der Rheingraben (genau, die Ecke unseres Landes, in der es vor langer Zeit einmal Vulkane gab) ist prädestiniert für Thermalkraftwerke im großen Stil. Sogar in Gegenden wo der Boden etwas kälter ist, Schleswig-Holstein zum Beispiel, kann man noch aus Erdwärme Energie gewinnen. Nehmen wir noch Solar- und Windenergie dazu, so sollte unsere Ölabhängigkeit der Geschichte angehören, wir steigen um auf Strom. Das klingt verführerisch einfach, erfordert aber Mut. Die Technologie dafür ist in Deutschland vorhanden,

sie steckt aber noch voller Tücken und ist noch nicht massentauglich. Fördergelder wären hier eine gute Idee, die werden aber nur homöopathisch vergeben. Man scheut sich davor, zum einen, weil es eine starke Öllobby gibt, zum anderen, weil eine solch radikale Umstellung auch sehr teuer und vor allem ungewohnt ist. Jeder Hausbesitzer muss seine Solar- oder Geothermalanlage größtenteils selber zahlen und die Energieversorger werden wohl kaum ihre bestehenden Kraftwerke einfach ausschalten und durch neue ersetzen. Dazu müssen wir uns von einem uralten System verabschieden, dem der Energiegewinnung aus Verbrennung und der zentralen Energieversorung. Wir verbrennen Kohle, Gas, Öl und spalten sogar Uran. Aber ein Heizkraftwerk an eine heiße Quelle anzuschließen (z.B. bei uns in Köln), hat seit den Römern keiner mehr gemacht. Da bleibt es, so kurios es auch klingt, bequemer beim Öl zu bleiben. Bis es endgültig zu teuer wird. Wer aber den Mut findet, in Energieunabhängikeit zu investieren, wird diese Sorge nicht haben.

Niels Walker

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Ein Attentat...

...und seine ideologischen Hintergründe Rudi Dutschke und die "Neue Linke"

11. April 1968, 9.10 Uhr. Der Interzonenzug aus München fährt in den West-Berliner Bahnhof Zoo ein. An Bord ist der vierundzwanzigjährige Josef Bachmann, von Beruf Anstreicher. Unter seiner Jacke befindet sich eine Pistole. Nach einem Frühstück begibt er sich zum Einwohnermeldeamt und erkundigt sich dort nach der Adresse von Rudi Dutschke. Nach einer weiteren Mahlzeit macht er sich zu Fuß auf zum Kurfürstendamm 140, der Zentrale des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Es ist 16.35 Uhr, als er dort ankommt und gerade sieht, wie ein Mann mit einem Fahrrad das Haus verlässt. Bachmann geht auf ihn zu, stellt sich vor und fragt: „Sind sie Rudi Dutschke?“ Als dieser bejaht, zieht Bachmann seine Waffe, sagt: „Du dreckiges Kommunistenschwein!“ und schießt; zuerst in die Wange. Zwei weitere Schüsse treffen Dutschke in den Kopf und in die Schulter. Danach läuft Bachmann fort und versteckt sich im Keller eines Rohbaus ganz in der Nähe. Dutschke erhebt sich noch einmal, wankt auf das Haus des SDS zu, spricht noch einige Worte und bricht endgültig zusammen. Kurze Zeit später findet die Polizei Bachmanns Versteck, und nach einer Schießerei kann er festgenommen werden. Bachmann, der eine Überdosis Schlaftabletten genommen hat, wird im Krankenhaus gerettet. Auch Dutschke wird umgehend ins Krankenhaus gebracht, wo er sofort operiert wird. Er überlebt. Die Neuigkeit vom Attentat auf Rudi Dutschke verbreitet sich schnell in Berlin; und in den Kreisen des SDS ist man bald der Auffassung: „’Bild’ hat mitgeschossen.“

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Am Abend versammeln sich Menschen, um gegen den Springer-Verlag zu demonstrieren und die Auslieferung der SpringerZeitungen zu verhindern. Ein Zug von Demonstranten bewegt sich mit Fackeln, roten Fahnen und „Mörder Springer“Parolen von der Technischen Universität aus in Richtung Springer-Hochhaus, wo schon einige andere Protestierende aus Autos eine Barrikade errichtet haben. Weit über tausend Demonstranten treffen am Verlagshaus ein, wo sie sich mit der bereits wartenden Polizei eine Schlacht mit Steinen und Wasserwerfern liefern. Molotowcocktails werden herbeigeschafft und bald brennen die ersten Auslieferungsfahrzeuge des SpringerVerlags. Was waren die Hintergründe für diese Reaktion seitens der Studenten? Um zu verstehen, warum die Springer-Presse von den Akteuren der so genannten 68er für das Attentat auf Rudi Dutschke, das von einem jungen Mann mit vermutlich rechtsradikalen Motiven verübt worden war, mitverantwortlich gemacht wurde, muss der Fokus auf die Vorgeschichte gerichtet werden: Seit den Anfängen der deutschen Studentenproteste, insbesondere seit dem 2. Juni 1967, als bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien in Berlin der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde und die Revolte sich daraufhin verschärfte, richtete

sich die Berichterstattung der Zeitungen des Verlegers Axel Springer ausdrücklich gegen das Ansinnen der Studenten. Die Springer-Presse bezeichnete die linke Studentenschaft unter anderem als „politische Gammler“, „immatrikulierten Mob“, „Krawallbrüder“, „geistig ungewaschen“, „fanatisch“, „hysterisch“ und als „akademische Halbstarke“, die nur „faseln“ und im Grunde „ausgemerzt gehörten“. In Axel Springers konservatives Weltbild passten keine Meinungsabweichler, die das Leben in der Bundesrepublik nicht als paradiesisch empfanden, seiner Meinung nach dem kommunistischen Ostblock durch ihre Randale Vorschub leisteten und sich durch ihre Anti-Vietnamkriegsproteste der amerikanischen Schutzmacht gegenüber zumindest grob undankbar zeigten. Die Beleidigungen gingen sogar bis zur Publikation unangebrachter Vergleiche mit dem Nationalsozialismus und seinen Opfern. So wurden in der Springerpresse Karikaturen veröffentlicht, die die Studenten als „Rote SA“ bezeichneten und die angegriffenen Einrichtungen Springers mit in der „Reichspogromnacht“ 1938 verwüsteten jüdischen Geschäften und Institutionen gleichsetzten. Auch in umgekehrter Weise war der Faschismusvorwurf in jenen Tagen oft zu hören. Die Atmosphäre zwischen Studenten und „Establishment“ war von Feindseligkeit geprägt. Schon vor dem Attentat war ein junger Mann, der Dutschke ähnlich sah, in Berlin von einer

aufgebrachten Menge verfolgt worden. Schlimmeres konnte nur durch das Eingreifen der Polizei verhindert werden. Und noch kurz vor dem Dutschke-Attentat hatte die „Bild-Zeitung“ zum „Ergreifen“ der „Rädelsführer“ der Linken aufgerufen. Josef Bachmann, der zum Zeitpunkt des Attentats die rechtsextreme „Deutsche Nationalzeitung“ mit sich führte, die in einem Artikel forderte: „Stoppt Dutschke jetzt! Sonst gibt es Bürgerkrieg.“, sagte in seinem Verhör aus, dass er durch das Attentat auf Martin Luther King sieben Tage zuvor zu seiner Tat inspiriert worden sei. Obwohl Josef Bachmann wohl dem rechtsradikalen Spektrum zuzuordnen ist, lässt sich in dieser Zeit eine gesamtgesellschaftliche Angst vor Linksradikalen konstatieren, zumal die Gegendemonstrationen gegen die revoltierenden Studenten von allen parlamentarischen Parteien und den Gewerkschaften mitorganisiert wurden. Es bestand eine gewisse Furcht vor kommunistischem und sozialistischem Gedankengut und der dazugehörenden Praxis. Die von Anfang an heterogenen Ideen und Ideologien in der „Studentenbewegung“ lassen sich sehr grob in vor und nach Auflösung des SDS am 21. März 1970 unterscheiden. Konzentrieren wir uns vorerst auf das „vor 1970“: Die Außerparlamentarische Opposition (APO), hauptsächlich getragen durch den SDS, formierte sich verstärkt ab Mitte der sechziger Jahre in der Ära der großen Koalition unter Bundeskanzler Kiesinger (CDU), als eine parlamentarische Opposition kaum Einflussnahme versprach. Die große Koalition hatte sich unter anderem zur Aufgabe gemacht, eine Notstandsregelung für den Kriegsfall auszuarbeiten, die bis dahin noch den West-Alliierten zukam. In den Reihen vieler Intellektueller aber auch anderer waren diese „NS-Gesetze“, wie sie in der APO genannt wurden, eine Vorstufe zum autoritären Staat, erinnerte man sich doch noch an das Ende der Weimarer Republik, die ab 1930 durch Notverordnungen regiert worden war und von da an als ein Präludium des Nationalsozialismus gedeutet werden kann. Die APO war sozusagen der deutsche Teil der „Neuen Linken“, einer internationalen linken Bewegung, die in Opposition zur Sowjetunion die Schriften Marx’ undogmatisch interpretierte und sich, vor allem in Deutschland, auf die Begründer der „Kritischen Theorie“, Adorno, Horkheimer und Marcuse berief. Wichtigste Merkmale der „Neuen Linken“ waren hier, dass der Staatssozialismus des Ostblocks als ein Herrschaftsinstrument über die

Arbeiterschaft gedeutet wurde, die Deutung der Entfremdung als Selbstentfremdung und die These vom Spätkapitalismus, der immer mehr autoritäre bis faschistische Züge annehme. Für die Welt der vornehmlich jungen Vertreter der APO waren die Selbstentfremdung und die Deutung, dass das Proletariat nicht mehr das hauptsächliche revolutionäre Subjekt sei, von großer Bedeutung. So kann man als einen der Hauptbeweggründe für ihre Proteste die restriktiven gesellschaftlichen Zustände in der Bundesrepublik anführen: Kuppeleiparagraph, Verbot von Homosexualität, allgemeine Prüderie, aber auch soziale und ökonomische Angepasstheit. Leistung und wirtschaftliche Effizienz waren zu den Eckpfeilern der deutschen Wirtschaftswunderideologie geworden, die kaum ein Abweichen duldete. Die Revolte gründete sich nicht so sehr darauf, materielle Missstände zu beheben, sondern sich von den Zuständen der „bleiernen Zeit“ zu befreien. Hinzu kam bei vielen ein trotz aller „Faschismusängste“ und „Zusammenbruchsvorhersagen“ ungebrochener Fortschrittsglaube, den die „Neue Linke“ mit den konservativen und reaktionären Kräften teilte. „Geschichte [war] machbar“. Dieser Fortschrittsgedanke fußte zu einem nicht unerheblichen Teil auf dem wirtschaftlichen Erfolg des Westens, vor allem der Bundesrepublik, und wurde erst durch die Ölkrise 1973 und die darauf folgende Rezession und Arbeitslosigkeit gedämpft. Zur Führungs- und Symbolfigur der „Neuen Linken“ in Deutschland avancierte Rudi Dutschke, der sowohl Hoffnungsträger als auch Angst- und Hassobjekt wurde. Durch seine Schussverletzungen fiel er für einige Zeit aus dem politischen Leben aus: Unter anderem verlor Dutschke durch die Kopfverletzung die Fähigkeit zu sprechen und musste sie erst wieder neu erlernen. Man kann davon ausgehen, dass der Ausfall der Führungspersönlichkeit Dutschke einer der Gründe für die baldige Auflösung des SDS im März 1970 war. Als eine weitere Erklärung für das Ende der 68er-Bewegung als Massenbewegung - auch auf internationaler Ebene – sollten auch die Sommersemesterferien nicht außer Acht gelassen werden. Als viele Studenten im Sommer nach Hause fuhren, flaute die Protestbewegung merklich ab. Übrig blieben vor allem ihre radikalsten Vertreter. Nach der Selbstauflösung des SDS und der darauf folgenden Bildung von verschiedenen „Roten Zellen“ und anderen kommunistischen Organisationen im Laufe der siebziger Jahre, setzte eine „Proletarisierung“ der 68er ein, die eine Re-Dogma-

tisierung der Marx-Auslegung beinhaltete. Die Selbstentfremdung verlor an Bedeutung innerhalb des marxistischen Konstrukts. Dutschke stirbt am 24. Dezember 1979 in Århus, Dänemark. Er ertrinkt während eines epileptischen Anfalls, einer Spätfolge seiner Schussverletzung am Kopf, in seiner Badewanne.

Kurzinhalt: Am 11.04.1968 wurde Studentenführer Rudi Dutschke niedergeschossen. Die rechte Presse schürte in dieser Zeit die Angst vor Kommunisten und der „Neuen Linken“ deren Theorie auf einer undogmatischen MarxInterpretation fußt und insbesondere das Konzept der Selbstentfremdung beinhaltet.

Zum Weiterlesen: „1968: Jugendrevolte und globaler Protest“ von Norbert Frei, dtv-Taschenbücher, 2008 „Rebellion und Wahn. Mein ’68“ von Peter Schneider, Kiepenheuer und Witsch, 2008 „Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977“ von Gerd Koenen, Fischer Taschenbücher, 2002

Text von Alexander Graeff

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Das Bärtierchen einfach bärenstark

eine durchaus irdische Erklärung: Bärtierchen sind optimal an kalte Temperaturen angepasst, ob nun minus 20 °C oder minus 200 °C herrschen, spielt dann keine Rolle mehr.

Forscher rätseln über die Widerstandskraft der

Kein Leben ohne Wassertropfen

drolligen Miniaturen Bärtierchen sind winzig, fast zu klein, um für das bloße Auge sichtbar zu sein. Die größte Bärtierchenart wird bis zu 1,5 mm lang, die eher durchschnittlichen Vertreter liegen bei 0,25 bis 0,5 mm. Mit den großen Namensvettern haben sie gar nichts gemeinsam. Aber wenn man sie durchs Mikroskop beobachtet, erkennt man sehr schnell, wie die Bärtierchen zu ihrem Namen gekommen sind. Tapsig bis schwerfällig spielen sie mit den sie umgebenden Sandkörnern. Die tatzenartigen Krallen am Ende der acht Stummelfüße unterstreichen den bärigen Stil. Die lateinische Bezeichnung der Bärtierchen lautet Tardigraden (lat. tardus, langsam; gradus, Schritt) und ist ebenso eine Hommage an ihr drolliges Verhalten.

die Bärtierchen nicht angepasst sind. Wie kann ein Bärtierchen, das nicht schneller als maximal 17,7 cm pro Stunde vorankommt, auf der ganzen Welt zu Hause sein? Das Geheimnis ihrer globalen Verbreitung liegt in der Fähigkeit, äußerst robuste Dauerstadien zu bilden. Als Tönnchen können Bärtierchen mehrere Jahre leblos verharren, bis sie, wenn es die Umweltbedingungen zulassen, wieder auferstehen. Auch wenn das aktive Bärtierchen auf seinen Stummelfüßen nicht schnell vorankommt, so kann es doch im Dauerstadium mit dem Wind oder als blinder Passagier versteckt im Gefieder eines Vogels die Welt erobern.

Auf Stummelfüßen die Welt erobert

Wissenschaftler haben im Labor die Widerstandsfähigkeit der Tönnchen getestet. Bärtierchen überleben in Tönnchenform absolute Extreme wie zum Beispiel das Vakuum, starke UV-Bestrahlung und kälteste Temperaturen von bis zu minus 273 °C. Das ist der absolute Nullpunkt in der Temperaturskala, kälter kann es nicht werden. Diese außergewöhnliche Fähigkeit hat unter Biologen zu wilden Spekulationen geführt. Bärtierchen seien etwa Außerirdische, die die Welt für sich erobert hätten. E.T. lässt grüßen. Für ihre Kälteresistenz gibt es allerdings

Trotz ihrer Gemächlichkeit sind Bärtierchen kosmopolitisch. Überall auf dem Globus haben sie die verschiedensten Lebensräume besiedelt. Ungefähr 930 Arten sind bisher beschrieben worden. Bärtierchen leben zum Beispiel in den Tiefen des Indischen Ozeans, auf dem Himalaja in 6000 Metern Höhe, am Nord- und Südpol, sogar an heißen Quellen und nicht zu vergessen: auch vor unserer Haustür. Im Meerwasser, im Süßwasser, an Land – egal. Es scheint keine Umweltbedingungen zu geben, an

Bärtierchen aus dem All?

Es gibt eine einzige Umweltbedingung, auf die Bärtierchen nicht verzichten können. Aktive Bärtierchen fühlen sich erst richtig wohl, wenn es feucht genug ist. Im Meer oder Süßwasser erübrigt sich das Problem. Das ist auch der Grund dafür, warum marine Bärtierchen keine Trockenstadien bilden. Sie leben bereits in einer relativ konstanten, nassen Umwelt. Die meisten Bärtierchenarten leben aber nicht im Meer, sondern an Land. Hier muss wenigstens ab und zu ein Wassertropfen herunterkommen, damit die Bärtierchen aus der Trockenstarre erwachen. Vorzugsweise leben sie in feuchten Lebensräumen, zum Beispiel in Dachrinnen oder Tümpeln. Ihre beliebteste Herberge ist aber das Moos. Zwischen Pflastersteinen, an Mauern, auf Bäumen, überall wachsen Moospolster. Nicht umsonst trägt das Bärtierchen auch den altertümlichen Namen “Moosschwein“. Das “Moosschwein“ ernährt sich von kleinen Fadenwürmern, Bakterien, Algen und Rädertierchen. Anders herum dienen Bärtierchen im Moos als Nahrung für Spinnen, Milben und Insektenlarven. Das Bärtierchen stellt die Forscher noch vor so manches Rätsel. Allein seine Evolution wurde lange diskutiert. Heute geht man davon aus, dass die Bärtierchen eine Schwestergruppe der Arthropoden (Gliederfüßler) sind. Obwohl das Bärtierchen so klein ist, ist es sehr komplex gebaut. Es besitzt die verschiedensten Zelltypen, von den Drüsen

Bärtierchen unterwegs in der Petrischale, durchs Lichtmikroskop betrachtet.

Das robuste Dauerstadium

des Verdauungstraktes über männliche und weibliche Keimzellen bis hin zu sensorischen Rezeptoren an der Oberfläche der Epidermis. Die Epidermis (Oberhaut) besteht aus einer chitinhaltigen Cuticula, welche als Atmungs- und Ausscheidungsorgan dient. Bärtierchen häuten sich nicht nur im Jungstadium, sondern werfen ein Leben lang immer mal wieder die alte Cuticula ab. Forschungsobjekt Tönnchen Das beliebteste Forschungsobjekt sind die Dauerstadien, jedenfalls für die Arbeitsgruppe von Dr. Ralph O. Schill vom Biologischen Institut der Universität Stuttgart. Mit Hilfe des Projektes FUNCRYPTA (Funktionelle Analyse dynamischer Prozesse in cryptobiotischen Tardigraden), welches durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziell gefördert wird, möchte Ralph Schill das Geheimnis der Dauerstadien lüften. Fällt ein Bärtierchen in den Trockenzustand, so zieht es seine Stummelfüßchen teleskopartig ein und wird zu einer wasserundurchlässigen Kugel. Wieso verharren Bärtierchen über Jahre hinweg unbeschadet und revitalisieren danach, als wäre nichts passiert? In anderen Organismen führen Trockenheit oder Kälte zu erheblichen Schädigungen der Zellwände und Proteine, welche unvermeidlich zum Tode führen. Warum überleben aber die Bärtierchen? Ralph Schill will herausfinden, welche Gene und Enzyme an der Trockenstarre beteiligt sind. Ist dieser Prozess erst einmal verstanden, so erhofft er sich zahlreiche Anwendungen insbesondere für die Haltbarmachung von Impfstoffen, Blutkonserven und Spenderorganen. „Wenn wir diese Prozesse kennen, lassen sich neue Methoden entwickeln, um Makromoleküle, Zellen und ganze Organismen zu konservieren“, schwärmt Schill.

Bärtierchen verschlingt Rädertierchen

Expedition der Bärtierchen ins All

Literatur und Quellen:

Auch wenn die Bärtierchen keine Ausserirdischen sind, machen sie nun doch Bekanntschaft mit dem Universum. Die Forscher des Weltraumprojektes TARDIS (Tardigrades in Space Projekt) schickten Bärtierchen ins All, um zu testen, ob die Dauerstadien erstmals Vakuum und Strahlungen aus dem Weltraum gleichzeitig ertragen können. In dem Projekt arbeiten Ralph Schill sowie Wissenschaftler der schwedischen Kristianstadt Universität, der Universität Stockholm und des deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Köln zusammen. Im September letzten Jahres ging die Reise der Bärtierchen auf einem Satellit ins All. Ohne Raumanzug verbrachten sie rund 12 Tage im lebensfeindlichen Universum. Das Ergebnis dieser spannenden Expedition ist bis jetzt noch nicht veröffentlicht. Aber eines steht fest: „Sollten die Bärtierchen diese Reise, wofür vieles spricht, in ihrem Ruhezustand überleben“, so Ralph Schill, „sind ihre Fähigkeiten wohl noch einzigartiger als bisher angenommen.“

Buch: M. Kinchin: The biology of tardigrades. Portland Press, London 1994

Wer mehr über die Biologie der Bärtierchen wissen will, findet im Internet unter www. baertierchen.de spannende Seiten aus dem Leben der Tardigraden.

Paper: G. I. Jönsson: Tardigrades as a Potential Model Organism in Space Research, in: Astrobiology, Vol. 7, Number 5, 2007, S. 757 Jörgensen, R. Kristensen: Molecular Phylogeny of Tardigrada - investigation of the monophyly of Heterotardigrada. in: Molecular Phylogenetics and evolution. Elsevier, Amsterdam 32.2004, 2, S. 666. D. R. Nelson: Current Status of the Tardigrade. Evolution and Ecology. in: Integrative and Comparative Biology. Lawrence 42.2002, S. 652 D. R. Nelson, N. J. Marley: The biology and ecology of lotic Tardigrada. in: Freshwater Biology. Blackwell, Oxford 44.2000, S. 93

Pressemitteilungen der Uni Stuttgart vom 10.09.2007: Stuttgarter Bärtierchen fliegen ins All vom 08.08.2006: Stuttgarter Biologen koordinieren weltweit größtes Verbundprojekt zur Erforschung von Bärtierchen

Von Christine Willen

Elektronenmikroskopisches Portrait eines Bärtierchens

Ein Lebensraum: Moos

Foto: © Ralph O. Schill

Foto: © Martin Mach

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ErkenntnisReich

Foto: © Martin Mach

Foto: © Martin Mach

Foto: © Martin Mach

Foto: © Ralph O. Schill

Foto: © Mike Braunhardt

ErkenntnisReich

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Rush Hour mal philosophisch Zeitbeschleunigung Beginnen wir mit einer einfachen Assoziationskette. Nehme ich den Begriff Rush Hour in allen seinen Kontexten, so denke ich an Stadtverkehr, Industrialisierung, Fortschritt, Modernisierung, Technokratie, maschinelles Zeitalter und Beschleunigung. Bei allen nun aufgelisteten Begriffen spielt das Phänomen Zeit eine entscheidende Rolle. Die Zeit hat in der Philosophie eine lange Geschichte, später dann auch vor allem in der Physik, und es gibt jede Menge Arten, wie man die Zeit betrachten kann. Zum Beispiel wurde sie in unserer Denkgeschichte lange als linear angesehen, das heißt man hatte die Vorstellung einer stringenten Zeitgeraden. In der christlichen Tradition zielt die ganze Geschichte auf den jüngsten Tag. In der Moderne wurde dem Phänomen Zeit der objektive Existenzgrund entzogen, und sie wurde von Kant als eine Form der reinen Anschauung des menschlichen Bewusstseins definiert. Einstein dekonstruierte „Zeit“ endgültig und verwies sie in ihre Relativität. Statt der linearen Zeitvorstellung wird der Begriff der Gleichzeitigkeit immer wichtiger. Manifestation der Langsamkeit Rush Hour ist die Zeit am Tag, in welcher die Menschen von zu Hause zur Arbeit fahren oder eben nach Feierabend von ihrem Arbeitspatz nach Hause möchten. Rush Hour ist also das englische Wort für Hauptberufsverkehr oder Stoßzeit. Nun bringt diese „Hetz-Stunde“ ein paar nicht uninteressante Absurditäten mit sich. Der Geschwindigkeitsrausch der Moderne zeigt sich plötzlich, und zwar zweimal am Tag, in seiner Negativität. Obwohl mit modernster Ampelschalttechnik, neuester Automobiltechnik und sehr guter Straßenanlage ausgestattet, kommt es zum Stau. Das bedeutet, dass die Zeit langsamer vergeht, denn die Beschleunigung ist geringer. Und das bedeutet warten und Nerven behalten. Im Phänomen Rush Hour offenbart sich also im Wesentlichen seine eigene Kehrseite: die Manifestation der Langsamkeit. Einheit in der Vielheit Wie man auf das Phänomen Rush Hour reagiert und damit umgeht ist natürlich eine Frage des Temperaments. Der klassische Philosoph stünde außerhalb der Rush Hour und würde sich nicht aktiv beteiligen. Befände er sich innerhalb des Verkehrchaos, so würde er sich ihm gegenüber gleichgültig verhalten und sich in Geduld üben. Denn der antike Philosoph geht zwar auf den Marktplatz, beteiligt sich jedoch nicht am Handel. Interessant ist die Gleichzeitigkeit von verschiedenen Individuen, die formal-logisch alle das gleich wollen, nämlich ankommen. Von A nach B, und dies so schnell wie möglich. Wenn auch A und B sich unterscheiden, so bilden diese unterschiedlichen Individuen dennoch eine Kollektivgemeinschaft, die der Wille zum Ankommen verbindet. Es ist die Einheit in der Vielfalt oder anders gesagt: die Identität in der Differenz. Rush Hour überall Da aber ja seit Popper alle Menschen Philosophen sind, wird sich der heutige Philosoph genauso ungeduldig verhalten und genauso ÄRGERN wie alle andere Menschen, die im Stau stehen. Denn man hat nicht nur Rush Hour beim Autofahren, sondern ebenso beim Einkaufen, Fliegen, Schifffahren und selbst im Internet am PC muss man in den Stoßzeiten warten, weil die Verbindung langsamer ist. Da man in unserer technologisierten Welt überall warten muss - auf dem Wasser, in der Luft, auf der Strasse und im Netz, könnte man sagen, dass sich im Phänomen Rush Hour die Absurdität unserer Zeit darstellt. Alles geht schneller und doch haben wir subjektiv das Gefühl, dass man sich überall zu Tode wartet. Die Beschleunigung der Moderne wird in der Rush Hour zum gefühlten Zeitstillstand. Ein rasender Stillstand. Da kann man nur sagen: Mensch, ärgere dich langsam!

Jörg Bernardy

Könnt ihr euch noch an den Tag erinnern, an dem ihr aufgehört habt an den Nikolaus, das Christkind und böse Hexen zu glauben? Ich habe das Gefühl, bei mir war es eher ein schleichender Prozess als ein konkreter Zeitpunkt. Irgendwann war mir klar, dass mein Vater Heiligabend nicht zu Hause geblieben ist, um dem Christkind die Tür zu öffnen, sondern weil er schon vor Jahren aus der Kirche ausgetreten war und deswegen nicht mit zum Gottesdienst kommen wollte. Und irgendwann musste auch meine Zimmertür abends nicht mehr offen bleiben, damit durch den Spalt das Licht hereinscheint und die bösen Geister der Dunkelheit vertrieben werden. Das muss wohl mit Reife oder sowas zu tun haben. Als heranwachsender Mensch wird man ja jeden Tag etwas mehr mit dem Ernst des Lebens konfrontiert und da muss man halt akzeptieren, dass die Welt anders funktioniert als man mal geglaubt hat. Wir lernen zum Beispiel in der Schule, wie es möglich ist mit dem Flugzeug die wahnsinnig große Entfernung von Deutschland nach Australien zurückzulegen oder dass Sonnenaufgänge in Wirklichkeit nur eine Illusion sind, da sich ja die Erde um die Sonne dreht und die Sonne sich überhaupt nicht bewegt. Aber wer hat eigentlich festgelegt, was wahr und was nur eine verklärte Sicht der Dinge ist. Hat nicht jeder seine ganz persönliche

Wirklichkeit? Und verlernen wir nicht auch eine ganze Menge im Laufe unseres Lebens? Was hat es nur auf sich mit dem Ernst des Lebens und wann fängt er an? Ich finde jedenfalls, der Ernst soll sich vom Acker machen und sehe es langsam nicht mehr ein, dass ich für blöd oder verrückt oder was auch immer gehalten werde, nur weil es in meinem Leben Dinge gibt, die es bei anderen Leuten nicht mehr geben darf, weil sie so vernünftig und erwachsen geworden sind. Hat sich schon mal jemand gefragt, wie es möglich ist so etwas Kräftezehrendes wie eine Hausarbeit zu schreiben und warum die Studenten in der Bibliothek nach spätestens zwei Stunden in einen tranceartigen Zustand verfallen? Die Erklärung liegt auf der Hand, sollte man meinen. Wenn man sich nur lang genug konzentriert, ist der Kopf plötzlich ganz leer und die wesentlichen Dinge, die man sonst nicht mehr registriert, nehmen Konturen an. Es tut sich eine Welt auf, die für andere Menschen unsichtbar ist und man erlebt Sachen, die gar fantastisch scheinen. Erst vor einiger Zeit ist mir etwas passiert, was ich hier und jetzt das erste mal erzählen möchte. Während eines Marathon-SchreibTages vor meinem Computer hörte ich merkwürdige Geräusche von der Straße durch mein geöffnetes Fenster dringen. So als würde sich jemand mit einem großen Messer

den Weg durch dichtes Gestrüpp schlagen. Als ich aus meinem Fenster sah, hatte sich die kleine Efeuranke an der Hauswand zu einem wahrhaftigen Urwald entwickelt, der ein Herauskommen unmöglich machte und ein schöner junger Mann war dabei diesen zu entfernen, während er auf einer Leiter zu meinem Fenster emporstieg. Ich war wohl die einzige, die noch im Haus war und befreit werden musste. Dass ich in Gefahr schwebte, war mir allerdings noch gar nicht klar, als ich auch schon in zwei tiefblaue Augen schaute, die mich aufforderten, durch das Fenster auf die Leiter und hinunter zur Straße zu steigen. Der Tag, den ich dann mit meinem mir seelenverwandten Retter verbrachte, war wohl der schönste, den ich je erlebt habe. Dumm nur, dass ich kurz darauf meine Augen öffnete und in meinen viel zu alten und flackernden Bildschirm starrte. Ich hab dann einen Schluck Wasser genommen und noch ein bisschen weiter gearbeitet. Ein paar Tage später im Supermarkt um die Ecke hab ich an der Käsetheke einen Typ gesehen, der mir irgendwie bekannt vorkam. Und ich hatte das Gefühl, etwas Wissendes in seinem Blick zu erkennen.

Katja Koslowski


ZeitGeist Foto: Tobias Battenberg


Radio On! So sang es Jonathan Richman von den Modern Lovers 1976. Wer heute versucht ist es ihm nach zu tun, wird schnell mit eher verdrießlichen Realitäten konfrontiert. Keine Ahnnung, ob das in den Siebzigern besser war. Doch wem könnte man es schon verübeln, vor lauter nervigen Jingles, ewig gleicher Musik und Werbung am laufenden Band, das Radio lieber auszuschalten. Es ist Donnerstag morgen, acht Uhr. Wir befinden uns im Obergeschoss eines Gebäudes unweit der Stelle, an der Hunderte von Studierenden jeden Morgen aus der Bahn steigen. Auf der Straße ist es zu dieser unstudentischen Zeit noch ruhig, doch hier oben tut sich etwas. Sechs verwegene Gestalten sind bereits auf den Beinen und sie haben eine Mission - darbende Kölner Ohren mit einem qualitativ hochwertigen, werbefreien Radioprogramm zu versorgen. Neuigkeiten und fundierte Berichte zu Themen, die Studenten wirklich interessieren. Ein musikalisches Spektrum, das mühelos den Bogen über nahezu alle erdenklichen Genres spannt; mitunter in ein und derselben Sendung. Songs, die gespielt werden, weil sich für jeden Einzelnen von ihnen engagierte Redakteure stark gemacht haben. Ehrenamtliches Personal, das unabhängig und aus Leidenschaft handelt. Die Möglichkeit, jederzeit selbst mitzumachen. Ein Wunschtraum? Absolut nicht! All das ist Realität - nicht erst seit gestern. 2002 ging in Köln der mittlerweile größte Hochschulsender im deutschsprachigen Raum auf eigener Frequenz on air. KölnCampus, 100.00 Mhz. Der Schritt in eine bessere Radiowelt ist nur ein kleiner Dreh am Regler. Die KölnCampus-Saga begann 1995 als 50 Radiobegeisterte den Verein Campus-Welle Köln e.V. gründeten. Bereits 1998 ging man erstmals auf Sendung, damals noch mit gelegentlichen Zeitfenstern im Lokalradio. 2002 kam dann die eigene Frequenz. Finanziert wird das ganze Projekt seitdem durch einen Träger- und einen Förderverein. Ersterer besteht aus Vertretern der Kölner Hochschulen und ASten, Letzterer aus all jenen, die bereit sind eine Sache, die ihnen am Herzen liegt, auch finanziell zu unterstützen. Darunter so prominente Fans und Hörer wie Charlotte Roche. Zudem entrichten sämtliche Mitabeiter einen minimalen Beitrag

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ZeitGeist

von zehn Euro pro Semester, um zumindest eine rudimentäre finanzielle Unabhängigkeit zu sichern. Einflussnahme von außen ist somit ausgeschlossen. Von der Redaktion bis zur Moderation, von der PR Arbeit bis zur Technik befindet sich bei KölnCampus alles in studentischer Hand. Damit ergibt sich für alle an den Kölner Hochschulen Eingeschriebenen die einzigartige Möglichkeit, selbst Radio zu machen. Es genügt, zu einem der regelmäßig abgehaltenen Infotreffen zu erscheinen, schon kann es losgehen. Zwar gibt es mittlerweile Wartelisten, doch zuverlässigen Quellen zufolge hat noch kein Medienbegeisterter länger als einige Wochen schmoren müssen. Die Ausbildungsmaschinerie von KölnCampus läuft auf Hochtouren. In nur zehn Wochen werden Interessenten für die Mitarbeit in einer Redaktion ihrer Wahl qualifiziert. Dabei sind sie von Anfang an aktiv in die Gestaltung des täglich live produzierten Vormittagsmagazins Frührausch eingebunden und dürfen schon ab der zweiten Woche ans Mikro. Mensatipps, Umfragen, Glossen, Kollegengespräche. Sämtliche Grundlagen des Radio-Journalismus können unter der Betreuung von Leuten, die schon länger dabei sind, erlernt werden. Klar gibt’s da mal Kritik, aber auch jede Menge guter Ratschläge. Wer noch mehr möchte, dem steht im Anschluss eine fünfwöchige Weiterbildung zum Moderator offen. Und wem es selbst danach noch nach mehr Knowhow dürstet, für den lässt KölnCampus seine mittlerweile beträchtlichen Verbindungen zur Medienwelt spielen. So manch Alumnus hat es mittlerweile zu Erfolg in der Branche gebracht und kehrt nur zu gern zurück, um seine Erfahrung mit einer neuen Generation von Radiomachern zu teilen. Selbst die berühmt berüchtigten Soft Skills sollen nicht zu kurz kommen. Zumindest werden die von den Beteiligten nicht verschwiegenen, gelegentlichen Konflikte zwischen Mitarbeitern und Redaktionen gerne unter diesem Gesichtspunkt gesehen. Harmoniebedürftigeren Naturen mag dies durchaus zur Abschreckung gereichen, andererseits scheint der Einwand, dass sich so etwas in einer weitgehend hierarchiefreien Umgebung kaum vermeiden lasse, gerechtfertigt.

Hier spricht das Radio: Angesichts der Tatsache, dass, wer etwas auf die Beine stellt, mit Widerständen rechnen muss und es an den meisten Arbeitsplätzen kaum friedfertiger zugehen dürfte, stellt sich die Frage: Warum nicht gleich ins Getümmel stürzen?! Es bleibt nur noch einmal klarzustellen: KölnCampus ist eine Institution und das zu Recht. Wer gute Musik und gutes Programm mag, weiß es eh schon. Wer ein ernsthaftes Interesse an der Arbeit mit dem Medium Radio besitzt, sollte es unbedingt wissen. Und wer glaubt, bei KölnCampus mal eben auf die Schnelle eine kostenlose Ausbildung abstauben zu können, um dann dick ins Medienbusiness einzusteigen, der sei gewarnt. Um von der KölnCampusCommunity profitieren zu können, ist Zeit und viel persönliches Engagement gefragt. Alle Möchtegerns sparen also lieber gleich Hörern, Radiomachern und Personalern die Strapazen. KölnCampus macht Spaß und Arbeit - gute Arbeit. In diesem Sinne: Weitermachen! Mitmachen! Radio on! Felix Grosser

O-Töne von KölnCampus Mitarbeitern: „Wer sich für Radiojournalismus interessiert, hat hier die Möglichkeiten viel auszuprobieren und so für sich selbst zu klären, ob das wirklich etwas für sie oder ihn ist. KölnCampus ist eine riesige Spielwiese mit sehr professionellen Möglichkeiten. Ich persönlich habe mein Berufsziel gefunden. Die einzelnen Redaktionen funktionieren Hand in Hand und es ist schön das zu sehen. Natürlich gibt es hin und wieder auch mal Konflikte, doch gerade das lehrt sehr viel soziale Kompetenz.“ - Nico Rau, Chefredakteur

to: Fo

und Moderator

„Ein Studium ohne KölnCampus kann ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen. Das prägt sehr stark, nicht nur persönlich sondern auch jobmäßig. Ich will weiter im Medienbereich arbeiten. Nichts ist schlimmer als Langeweile - und die hab ich seit KölnCampus überhaupt nicht mehr.“ -Marcel Joppa, PR

Für alle, die Lust bekommen haben und mehr wissen möchten empfiehlt sich:http://koelncampus.com, die sehr infomative und gepflegte Website von KölnCampus. Dort gibt’s aktuelle Programminfos, die Termine für die nächsten Infotreffen und für alle, die kein Radio besitzen einen LiveStream.

Al

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„Ich bin seit zwei Wochen bei KölnCampus und habe gerade das erste Mal on air gesprochen. Das war die Hölle! Aber ich bin froh, dass ich es durchgezogen habe. Mir gefällt es sehr gut. Es ist cool zu sehen, wie so ein Radio funktioniert. Ich könnte mir schon vorstellen, später mal etwas in einer der Redaktionen zu machen.“

„Ich bin jetzt in meiner dritten Woche. Die Mensatipps habe ich hinter mir, nun geht’s mit einer Umfrage weiter. Ich freue mich auf die Dinge, die noch kommen. Alles, was man machen kann, hat seinen eigenen Charme. Ich will auf jeden Fall dabeibleiben. Die Redaktion Filmspur würde mich schon sehr interessieren, aber auch die Arbeit hinter den Kulissen, wie z.B. in der Ausbildung oder Öffentlichkeitsarbeit.“ - Julia, in der Ausbildung

- Arthur, in der Ausbildung

„Mit Leuten ehrenamtlich zusammen zu arbeiten ist das beste Traning, was die Soft Skills angeht. An das, was man hier an Miteinander lernt, kommt keine Streiterei am WGKüchentisch ran. In anderen Betrieben schafft Geld eine bestimmte Hierarchie und die haben wir hier nicht. Es kommt darauf an, wie motiviert man ist.“

„Ich bin seit acht Wochen bei KölnCampus dabei. Diese Woche war ich mit den News und der Glosse dran. Mir hat es bisher sehr gut gefallen. Ein toller Einblick in den Radiojournalismus und alles was damit zusammenhängt. Das ist schon ein sehr interessantes Medium. Mal gucken, wie sich das hier weiterentwickelt und ob ich dabeibleibe.“

- Johanna Bächer, ehemalige Leiterin der Musikredaktion, Moderatorin

-Steffen, in der Ausbildung

ZeitGeist

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38 Punkt Bold

Eine umfangreiche Schriftenfamilie für merkantile und private Drucksachen.

Graffiti

12 Punkt Regular

Die einfache Grotesk hat sich unter den Schriften des Buchdruckers einen hervorragenden Platz errungen. Aber nicht nur für Druckwerke. Überall da, wo für das lebendige Wort ein monumentaler Ausdruck gefordert wird, stellt auch die Grotesk sich zur Wahl. Ihre Ruhe und Klarheit, die strenge Einfachheit ihres Aufbaues befähigen sie zur Wiedergabe jeder ernsten, gehaltenen Darlegung. Man sollte meinen, dass in diesen scheinbar nüchternen, nur auf den Zweck bedachten Formen zu wenig Anreiz läge, um die hohe Stellung der Grotesk im Schriftenschatze besonders des Buchdruckers zu halten. Aber liegt nicht gerade in diesen einfachen Konstruktionen, wenn sie wie bei der Akzidenz-Grotesk von Meisterhand geschaffen wurden, mehr Schönheit, als in der Ausgestaltung mancher Kunstschrift? Kann die

Bar Pf

Formung einer durchdachten Eisenkonstruktion nicht auch zur Bewunderung hinreißen?

Uri Erz Bâle 85 Punkt Bold

115 Punkt Bold

ohne Schmutz

145 Punkt Bold

230 Punkt Bold

Du

Grundstück JAHR 1956 61 Punkt Bold

115 Punkt Bold Condensed

Designstudent Tobias Battenberg bittet zur Schriftprobe. Sein Experiment geht um die Welt

30 Punkt Bold

Neue Wege und Ziele in der fotomechanischen Reproduktions-Technik DIE LICHTBILDKUNST

Riesige Buchstaben aus gleißendem Licht bevölkern die nächtliche Stadt, tummeln sich auf Häuserwänden, Brückenpfeilern, Autos, Bäumen. Ein a trampt auf einem Zug, eine 30 Meter große 3 macht es sich auf einer Fabrik bequem, ein b und ein g hängen zusammen auf einem Zaun ab, ein " klebt unter einer Brücke, ein ? lehnt an einem Turm.

Neon Kai

Duo Brød Fische 85 Punkt Bold Condensed

290 Punkt Bold

popular and versatile family.

has expanded this extremely

Throughout the years, Berthold

medium and bold weights.

who also supplied the regular,

originates from Royal Grotesk

foundry in 1896. The design

released by the Berthold type

influential grotesque, was first

The original sans and most

15 Punkt Light Condensed

light by Ferdinand Theinhardt

175 Punkt Bold

230 Punkt Bold Condensed

145 Punkt Bold Condensed

175 Punkt Bold Condensed

7 Punkt Light Italic

Les premières versions de l‘Akzidenz Grotesk ont

ractères inexistants jusqu‘alors, le tout dans l‘esprit

été commercialisées en 1896 par la typofonde-

de la police de 1896. Akzidenz Grotesk a été la pre-

rie H. Berthold AG. Les versions que nous con-

mière police sans serif à être largement utilisée, et a à

naissons aujourd‘hui ont été élaborées dans les

ce titre inspiré bon nombre de designers. On pourrait

années 1950, par un groupe dirigé par Günter

par exemple citer Max Miedinger et son Helvetica

Gerhard Lange. Il a enrichi la famille de plusieurs

dont les ressemblances sont frappantes, ou encore

graisses et largeurs, et a également ajouté des ca-

Adrian Frutiger et sa famille de polices Univers.

32 Punkt Light

buH 290 Punkt Bold Condensed

Wenn die Zeichen Auslauf haben, steckt Tobias Battenberg, Designstudent an der Kölner Design-Akademie ecosign, dahinter. Im Rahmen eines Typographiekurses setzt er sich mit der bei Schriftexperten hoch angesehenen Schrift Akzidenz Grotesk auseinander. Den Studenten wurde die Aufgabe gestellt, eine Schrift auszuwählen „und ihr zu huldigen“, wie Battenberg es formuliert. Die Akzidenz Grotesk, die z.B. in den 70er Jahren in der New Yorker U-Bahn Anwendung fand, gilt als Vorläufer der heute sehr gebräuchlichen Helvetica. Er entschied sich für die Akzidenz Grotesk, da diese den Ruf hat, jegliche Veränderungen auszuhalten, ohne dabei ihren Charakter zu verlieren. „Ich sagte zu der Schrift: Beweise mir, ob das auch für Extremsituationen gilt.“

Wer bedenkt, wieviele technische und formale Probleme die Scha ffung einer qualitätvollen Druck type mit sich bringt, kann den Sch

Bau

Bibel Ice 85 Punkt Light

120 Punkt Super

Mut Elf 115 Punkt Light

135 Punkt Super

32 Punkt Extra Bold Condensed

170 Punkt Extended

Din 230 Punkt Extended

Die Ausnahmesituation schafft der angehende Designer gemeinsam mit einem Kommilitonen mithilfe eines Beamers, eines Stromgenerators, eines Laptops, einer Fotokamera und – nicht zu vergessen – der Dunkelheit. Er projiziert die Schrift auf große Flächen und hält die entstehenden Bilder mit der Kamera fest. Auf diese Weise stellt er die Akzidenz Grotesk in eine neue Umgebung, die das gewohnte Din A 4-Blatt sprengt und so die Möglichkeit bietet, „mit Perspektiven zu spielen und durch die Wahl der Kameraposition Brüche und andere Effekte zu erzeugen“.

Wer bedenkt, wieviele technische und formale Probleme die Scha ffung einer qualitätvollen Druck type mit sich bringt, kann den Sch 10 Punkt Regular, Light, Medium, Italic

Accidenz Grotesk was released by

specimen booklet no. 429, which was

kept adding weights, some of them

a marketing and naming success. That

Berthold in Berlin in 1898, according

most likely released in 1954, Akzidenz

from other faces, acquired from other

only changed when they cut Series

to their own literature. It was obviously

Grotesk Mager (light) was still referred

foundries. Every foundry had a version

57, and then Series 58, named for

based on faces already offered by

to as Royal Grotesk, in brackets.

of that type of face, more often than

the years of release. These had some

other foundries, some of which were

Berthold acquired a typeface in 1908,

not available in a few sizes only. The

sizes (but not all) recut under the

later taken over by Berthold. One of

(when they bought Ferd. Theinhardt)

original series remained quite divers,

direction of Günter Gerhard Lange,

the contemporaries of AG was Royal

which they released as Akzidenz

individual weights showing not much

who was their (freelance) artistic

Grotesk from Theinhardt. In Berthold’s

Grotesk Halbfett (medium). They

resemblance but in name. It was mainly

director at the time.

48 Punkt Regular

CG OJ B RQ1234567adcegsty CGOJ BRQ1234567adcegsty CGOJ B RQ1234567adcegsty CGOJBRQ1234567adcegsty 48 Punkt Italic

48 Punkt Medium

48

48 Punkt Bold

ZeitGeist

Foto: Tobias Battenberg

Links: Akzidenz Grotesk Schriftmuster


Sonderschule der Ästhetik

Labersack Es ist schrecklich, es ist furchtbar, es ist der endgültige Untergang des Abendlandes: kaum ist die Vogelgrippe langsam in Vergessenheit geraten, geht in Köln schon eine neue, weitaus furchteinflößendere Seuche um. Habt Ihr es bereits bemerkt? Habt Ihr sie auch schon gesehen – die Opfer, die abscheulichen Symptome? Ihr lauft durch die Stadt und plötzlich sind sie da. Sie laufen vor Euch, sie kommen Euch entgegen, sie verfolgen Euch. Da! Einer steht an der Bahnhaltestelle. Oh mein Gott! Eine kommt auf dem Fahrrad um die Ecke geprescht.

Foto: Tobias Battenberg Bei den ersten Versuchen projiziert Battenberg noch ganze Texte auf Gebäude, nämlich „die grotesken Bild-Schlagzeilen einer Woche“. Doch schnell wird deutlich, dass der Inhalt zu sehr von der Form ablenkt. Stehen die Zeichen allein, haben sie außerdem mehr Fläche zur Verfügung, um sich mit all ihren Details zu präsentieren. Ausreichend große ‚Leinwände’ finden die Studenten vor allem in Industriegebieten in Deutz und Ehrenfeld. Battenberg hat noch weitere Schwierigkeiten zu meistern: „Wir mussten das Experiment von Tobias Battenberg, 2007, ecosign richtige Zeitfenster abpassen.“ Da er das Fotos: Stephan J. Englisch & Oliver Eickholt Projekt im Sommer durchführt, bleiben nur vier Stunden Zeit, in denen Dunkelheit herrscht. „In der Stadt ist es außerdem immer hell.“ Hinzu kommt das Meistern der Technik: „Der Stromgenerator ist dreimal durchgebrannt“, erinnert sich Battenberg. Dennoch waren die Studenten überrascht, mit welch einfachen Mitteln sie so ‚buchstäblich große’ Effekte erzielen konnten. Obwohl das Projekt nicht als Performance gedacht war, bleiben vereinzelte Passantenreaktionen natürlich nicht aus. Einige fragen, was der Quatsch solle, andere freuen sich an den ungewohnten Aussichten und empfinden die Buchstaben als erfreuliche Abwechslung im Stadtbild. Einer lobt: „Cool – Graffiti ohne Schmutz!“

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ZeitGeist

Doch nicht nur auf der Straße erntet das Experiment Aufmerksamkeit. Nach Abschluss des Projekts wendet sich Tobias Battenberg an den Betreiber des portugiesischen Designblogs Type for you. Er entscheidet sich bewusst nicht für eine deutsche Seite, weil er unsicher ist, wie die Leute auf sein Projekt reagieren. „Ich hatte da eine gesunde Ehrfurcht“. Doch der Blogger ist begeistert, stellt die Bilder und Battenbergs Konzept auf seiner Website aus und verlinkt auch auf dessen eigene Seite. Von nun an wird das Experiment zum Selbstläufer: „Innerhalb von zwei Wochen hat sich die Arbeit selbst verbreitet“. Über Portugal, Ungarn und China, sowie Blogs, Typographiemagazine und Facebook dringt sie schließlich vor zu den anerkannten deutschen Designwebseiten Fontblog.de und Slanted.de. „Das hat mir vor Freude für einen Tag das Herz rasen lassen, weil viele etablierte Designer diese Seiten lesen“, freut sich der Student. Sogar Erik Spiekermann, eine deutsche Designgröße, gibt einen – wenn auch kritischen – Kommentar zum Experiment ab. Neben den fast ausschließlich positiven Reaktionen, wird Battenberg vereinzelt auch der Fälschung bezichtigt: „Öfter dachten die Leute: Das ist ja Pfusch, mit Photoshop nachbearbeitet.“

Dennoch wurden die Erwartungen des Designstudenten weit übertroffen – sowohl in Bezug auf die Charakterstärke der Akzidenz Grotesk, als auch auf das Bekanntwerden seiner Arbeit. Die Schrift ist sich nicht nur treu geblieben, sondern wurde durch das Versetzen in eine andere Umwelt noch facettenreicher. „Sie sprengt die Realitätsvorstellungen des Betrachters“, findet Battenberg. Genauso sprengt die rasend schnelle Verbreitung über das Internet immer noch unsere Vorstellungen von Raum und Zeit. Battenbergs Experiment zeigt, dass nicht nur einige wenige Auserwählte, wie etwa die Arctic Monkeys, es schaffen, über das world wide web die Karriere in Schwung zu bringen. Bekannte deutsche Beispiele sind Katharina Borchert, die durch ihre Blogs zur Online-Chefredakteurin der WAZ aufstieg, und Katrin Bauerfeind, die ihre Fernsehkarriere beim Internetsender Ehrensenf begann. Jeder kann das Netz nutzen, um seine Arbeit in einem relativ geschützten Raum zu präsentieren und mit Interessierten aus aller Welt darüber zu diskutieren. Anne Wellmann

Gibt es denn kein Entrinnen?! Was ist nur los mit diesen Menschen?! Sie labern und labern, doch weit und breit ist keiner, mit dem sie labern! „Sprechen sie etwa mit mir?“ denkt Ihr erschrocken. „Warum werde ich plötzlich laufend von wildfremden Menschen angemotzt?“ „Sprechen sie mit jemand anderem?“ denkt Ihr weiter. „Nein, da ist sonst keiner!“ „Sprechen sie mit der Luft?“ Ein grauenvoller Gedanke drängt sich auf...

„Bin ich von Irren umgeben?!“

Doch gerade in dem Moment, da der Fluchtinstinkt Euch übermannen will, seht Ihr ihn: den Knopf im Ohr. Und plötzlich wird alles ganz klar... Also liebe HeadsetVerseuchten: wenn Ihr es schon nicht lassen könnt Eure Mitmenschen mit Euren Privatgesprächen zu belästigen, haltet Euch doch nächstens bitte zumindest wieder das gute alte Handy an die Backe. Dann hält man Euch immerhin nur für penetrant und nicht für völlig bekloppt. Felix Grosser

Widerstand wogegen? Am 12. April 2008 geschah auf den Kölner Ringen Erstaunliches: Hunderte junger Menschen gingen gegen Nachmittag auf die Straße und veranstalteten zwischen Rudolf- und Friesenplatz ein großes Volksfest – womit sie den Verkehr für einige Stunden völlig lahm legten. „Reclaim the Streets“ - so das Motto, unter dem sich zunächst etwa 70 Leute versammelten, während aus Richtung des Zülpicher Platzes weitere 30 in einer Art Umzug auf dem Fahrrad dem Geschehen zustrebten, um in einer ungewöhnlichen Mischung aus Party, Jahrmarkt und Demo „Freiräume zu erkämpfen und zu verteidigen“. Schätzungen zufolge feierten, tanzten und musizierten zeitweilig bis zu tausend Personen auf der Straße, zerrten gar Sessel und Couchen auf die Kreuzung – bis die Veranstaltung zwischen halb zwölf und zwölf mit sanftem Druck von der Polizei beendet wurde. Besondere Brisanz erlangte die Geschichte dadurch, dass es keinerlei öffentliche Ankündigung gegeben hatte, geschweige denn eine Genehmigung von behördlicher Seite. Über Internet und zahlreiche Flyer in UniNähe (s. u.) war die Kunde unter Studenten wohl sehr weit verbreitet, traf die Polizei und nicht zuletzt andere Bürger Kölns jedoch völlig überraschend. Und das sogar mit voller Absicht: Wesentlicher Bestandteil der Idee von „Reclaim the Streets“ ist es, den Verkehr für andere unvorhersehbar zum

Erliegen zu bringen und durch eine bunte Party zu ersetzen: „Spaß kann auch Widerstand machen.“ Doch Widerstand wogegen? Das blieb der Polizei, der Presse und wohl auch den meisten Umstehenden schleierhaft und war bewusst eher vage definiert worden. So sollte zwar in erster Linie der Trott des Alltags und die zunehmende Reglementierung des gesellschaftlichen Lebens durchbrochen werden, jedoch brachte ein Jeder auch ein bisschen seine eigene Agenda mit ein – seien es nun Studiengebühren oder Weltfrieden. Dass es dadurch unmöglich wurde, das Ereignis auf einen einheitlichen Nenner zu bringen, war durchaus beabsichtigt, denn Reclaim the Streets ist keine Demo im eigentlichen Sinne: Vielmehr zielt es darauf ab, ein bisschen Chaos in die allzu geordnete bürgerliche Welt zu bringen und ähnelt insofern eher dem Flashmobbing; nur eben erweitert um den Aspekt der Blockade und ein politisches Anliegen, das jedoch wie gesagt zu einem bestimmten Grade unbestimmt bleibt. Große Freude ringsum also, kreative politische Partizipation der unkonventionellen

Art jenseits der ermüdenden Betulichkeit althergebrachter Demonstrationen und Mahnwachen? Nun ja, da gibt es wohl wie immer mehrere Wahrheiten. Zwar muss man hervorheben, dass einem anrollenden Krankenwagen anstandslos Durchfahrt gewährt wurde und die Veranstaltung bemerkenswert friedlich verlief – allerdings, werden hier nicht die Zeit und die Nerven der Außenstehenden ungerechterweise zu Kollateralschäden marginalisiert (zugegebenermaßen eine überspitzte Formulierung)? Wo der eine die Auflockerung gängiger Protestformen und thematische Vielfalt willkommen heißt, sieht der andere vielleicht nur eine Beliebigkeit des Unzufriedenseins ohne verbindliches Anliegen. Und während der eine begeistert die lang ersehnte Möglichkeit wahrnimmt, sich in einer einengenden, weil von Regeln und Effizienzwahn durchdrungenen Welt aus grauem Beton ein Stück Freiheit zurück zu erobern, mag sich der andere fragen, ob nicht gerade Urbanität und Beschleunigung das Versprechen unzähliger Möglichkeiten in sich tragen. Holger Reinermann

ZeitGeist

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Straßen-, Bahn- und Wegmusik

Christine

Eric

In der letzten Ausgabe stellten wir bereits fest, dass Musik beflügelt. Aber entfaltet sie diese Wirkung auch im hektischen Straßenverkehr auf dem Weg zur Uni? Welche Musik verschönert die gespannte Stimmung in der vollgepackten Bahn? Wie heißen die Interpreten, die es schaffen, die Leute immer wieder aufs Neue von A nach B zu treiben? Und was hören die ganzen Menschen mit Knopf im Ohr eigentlich? Um genau das zu erfahren haben wir eine Überfallaktion gestartet und bei einigen unserer Mitbürger reingehört... Natassja (30) bezeichnet sich selbst als Musikfanatikerin. Deshalb hört sie auch unterwegs ununterbrochen Musik. Gerade läuft bei ihr „Mercy“ von Duffy. Eine andere gern gehörte Begleitung in der Bahn ist für sie Maria Mena. Als wir die noch fünfzehnjährige Charlotte ansprechen, versüßen ihr gerade Dynamite Deluxe mit „Gönnt mir doch auch ‘n bisschen“ den grauen Tag mit ihren Reimen. Für sie macht es keinen Unterschied, ob sie, so wie gerade, unterwegs ist oder zu Hause. Hip Hop und Rock sind stets ihre Favoriten.

Nastassja

Pablo

mit Metal und Hardcore, wie zum Beispiel Hatebreed, Six Feet Ditch und Slayer. Wir stören ihn beim Genuss von „End of Days“ von Bullet For My Valentine. Sogar französische Radiosendungen treffen wir im Gewimmel der Stadt an. Christine (37) hört aber auch gern Jazz oder Lou Reed und David Bowie. Aktuell steht Kate Nash mit „Foundations“ ganz oben auf ihrer Liste. Musik gehört zu Pablos (25) gesamtem Tagesablauf. An der Bahnhaltestelle hat er gerade die Klänge von Salsa und Merengue im Ohr. Davon bevorzugt er die legendäre Celia Cruz und Juan Luis Guerra. Aber auch andere Rhythmen begleiten ihn durch den Tag, wie beispielsweise deutscher Hip Hop von Fünf Sterne Deluxe oder den Absoluten Beginnern.

Katjas und Iris‘ urbanisierte Playlist Martha and the Vandellas: Dancin‘ In The Streets Dschingis Khan: Moskau Frank Sinatra: New York, New York Massive Töne: Cruisen Razorlight: In the City Carlos Gardel: Mi Buenos Aires Querido Seeed: Dickes B Manu Chao: Rumba de Barcelona Höhner: Hey Kölle, du bes e Jeföhl Bloc Party: Kreuzberg The Lovin' Spoonful / Joe Cocker: Summer in the City The Jam: Down in the Tube Station at Midnight Tocotronic: Freiburg

Das Warten auf die nächste Bahn kann auch nützlich sein, wenn man die Zeit dazu verwendet, sich das aktuelle Album „Konk“ der Kooks anzuhören. So sieht das zumindest die 21-jährige Sarah.

Wenn Eric (24) von der Arbeit nach Hause fährt, möchte er abschalten und entspannen. Das funktioniert bei ihm am besten

Katja Koslowski & Iris Sygulla


Politik ist die verbindliche Zuweisung von Werten, besagt eine sehr einfache Definition. Doch diese ist keinesfalls abschließend und noch weniger vollständig. Und genau dies versucht auch die Rubrik Staatskunst zu vermitteln: Aufgeteilt in drei Bereiche –Außen-, Innen- und Hochschulpolitik– soll die Vielschichtigkeit der weiten Welt der Politik dir, als Leser, nahe gebracht werden. Mit kritischen, aufschlussreichen und interessanten Themen soll zum Nachdenken, Nachvollziehen und Nachfragen angeregt werden, sodass die Kunst der Staatsorganisation nicht mehr länger wie ein ungeliebtes Buch mit einer Staubschicht überzogen bleibt.

Sarah Gronemeyer <politik@meins-magazin.de>

Faszination Dalai Lama

StaatsKunst

StaatsKunst

Einen Dalai Lama gibt es schon seit 1578. Gerade in den letzten Jahren hat sich seine Popularität so erheblich gesteigert, dass er nunmehr als Oberhaupt der Tibeter und als Verkörperung göttlicher Weisheiten in weiten Teilen der Welt anerkannt ist. Doch was genau macht einen Dalai Lama aus und warum ist die westliche Welt gerade von dem jetzigen so fasziniert? Ein kurzer Abriss soll versuchen Aufschluss zu geben: Der Dalai Lama ist das politische und religiöse Oberhaupt Tibets und des tibetischen Lamaismus, einer Richtung des Buddhismus. Gleichzeitig ist er der Schutzpatron Tibets. Als Emanation Tschenresis, dem Buddha des Erbarmens, hat der Dalai Lama aus Mitgefühl auf seine eigene Erlösung verzichtet, um so den anderen Wesen dienen zu können. Obwohl er als erleuchtetes Wesen in das Nirwana hätte eintreten können, wird er stattdessen solange wiedergeboren, bis alle Menschen erlöst sind. Nach dem Ableben eines Dalai Lama wird der Nachfolger aufgrund bestimmter Vorzeichen unter den neugeborenen Kindern gefunden.

Auch der aktuelle wurde durch eine Vision des Regenten und mehreren bestandenen Prüfungen im Jahr 1937 als der 14. Dalai Lama erkannt. Durch den Einmarsch chinesischer Truppen und der durch sie hervorgerufenen zunehmenden Bedrohung, musste er bereits 1950 die Regierungsgeschäfte Tibets übernehmen. Nach vergeblichen Bemühungen des Dalai Lama, eine friedliche Lösung des Konflikts zu finden, kam es 1959 zum Volksaufstand. Als sein eigenes Leben bedroht war, floh er mit rund 90.000 Tibetern nach Dharamsala in Indien, wo heute noch die tibetische Regierung im Exil ihren Sitz hat. 1963 verkündete der Dalai Lama den Entwurf einer demokratischen Verfassung für ein künftiges freies Tibet und setzt sich seitdem unentwegt für die Autonomie der Region ein. Höhepunkt seiner Bemühungen war der 1987 von ihm entwickelte 5-PunkteFriedensplan, der unter anderem Tibet zu einer Friedenszone erklären sollte. Für seine unermüdlichen Anstrengungen, das Leid der Tibeter innerhalb und außerhalb Tibets zu

mindern, wurde ihm 1989 der Friedensnobelpreis verliehen. Dies offenbart, wie sehr seine Bemühungen in der Welt anerkannt und befürwortet werden. Gerade dieses unnachgiebige Streben für den Frieden seines Volkes macht die Faszination um den Dalai Lama so sinnlich und erlebbar. Mit seiner mitreißenden und zugleich beeindruckenden Art spricht er alle Glieder der Gesellschaft an. Des Weiteren konnte er sich in solchem Maße in ihr verankern, dass nahezu jeder weiß, wofür der Dalai Lama kämpft und was seine Person für die Tibeter bedeutet.

StaatsKunst


KรถrperKultur Foto: Dimitrios Papatheodorou

Kรถrperkultur

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American Football in Köln und 1989 im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft und gewannen den Titel 1988. Damit ist Köln bis heute die einzige Stadt, die zwei Deutsche Meister hervorgebracht hat. Trotz des sportlichen Erfolges war dem Verein jedoch keine lange Zukunft beschert: Bereits Anfang der 90er Jahre gab es die „Red Barons“ nicht mehr.

Die NFL Europe Ein Marketing-Experiment

Fotos: Dimitrios Papatheodorou

American Football gehört zu den populärsten Sportarten auf dem amerikanischen Kontinent. Neben Baseball ist Football eine der „ureigenen“ und typischen US-amerikanischen Ballsportarten, und gehört gemeinsam mit Basketball und Eishockey zu den meist verfolgten Mannschaftssportarten des Landes. So saßen im Februar 2008 durchschnittlich rund 100 Millionen Amerikaner vor den Fernsehapparaten und sahen den „Super Bowl“, das Endspiel der US-Profiliga NFL. Doch auch über sein Ursprungsland hinaus hat der Kampf um das Leder-Ei einen enormen Verbreitungsgrad erreicht. In zahlreichen Ländern existieren professionelle oder semi-professionelle Ligen, wenn auch teilweise mit modifizierten Spielregeln.

Die Anfänge in Deutschland Football ist eine Sportart, deren Regelwerk zunächst eigentümlich und kompliziert erscheint. Die Spielweise unterscheidet sich strukturell deutlich von Europas Sportart Nr.1 – dem Fußball. Dennoch gibt es gerade in Deutschland eine lang verwurzelte und gepflegte Football-Tradition. Schon im Jahre 1979 ging die Football-Bundesliga mit sechs Teams an den Start, deren Spielbetrieb seit 1982 durch den American Football Verband Deutschland (AFVD) geleitet wird. Aktuell kämpfen 12 Amateurmannschaften aus ganz Deutschland um den „German Bowl“, die Deutsche Meisterschaft in der Bundesliga, die seit 1999 „German Football League“ (GFL) heißt.

Die „Cologne Crocodiles“ Auch wenn kein Gründungsmitglied der GFL aus Köln kam, mussten die hiesigen Football-Fans nicht lange warten. Bereits 1980 wurde der „First American Football Club Köln e.V.“ gegründet. Der sperrige Name machte bald dem griffigeren „Cologne Crocodiles“ Platz, und unter dieser Bezeichnung war das Team 24 Jahre lang eine Institution am Rhein und in der Bundesliga. Schon 1982 standen die Kölner zum ersten Mal im Endspiel. Fünf weitere Finalauftritte sollten folgen, doch es dauerte bis zum Jahre 2000, bis die „Crocodiles“ den Titel erstmals gewinnen konnten. Drei Jahre später kam dann allerdings das vorläufige Aus: Der Verein musste Insolvenz anmelden und die erste Mannschaft aus dem Spielbetrieb zurückziehen. Gegenwärtig gibt es zwar Bestrebungen, die „Cologne Crocodiles“, die immer noch die ewige Tabelle der GFL anführen, wieder aufleben zu lassen. Ob dies jedoch auch umsetzbar ist, muss abgewartet werden.

Konkurrenz: Die „Red Barons Cologne“ Die 80er Jahre wurden zu einer Hochzeit des Kölner Football, als die „Crocodiles“ Konkurrenz aus dem eigenen Lager erhielten. Ein Teil der Mannschaft spaltete sich ab und trat unter dem Namen „Red Barons Cologne“ selbst in der Bundesliga an. Mit Erfolg: Die „Roten Barone“ standen 1988

Neben der langen Amateurtradition hielt auch der Profifootball für kurze Zeit Einzug in die Domstadt. Seit 1991 erprobte die US-Profiliga NFL ein Modell, selbst auf den wachsenden europäischen Markt zu expandieren. Nachdem mit der „World League of American Football“ ein erster Versuch fehlgeschlagen war, ging im Jahre 1995 die „NFL Europe“ an den Start, unter anderem mit den deutschen Teams „Frankfurt Galaxy“ und „Rhein Fire“ aus Düsseldorf. Die Mannschaften der NFL Europe gehörten der Mutterliga NFL, die auch den Großteil des Etats beisteuerte. Die meisten Spieler rekrutierten sich aus Ersatz- und Ergänzungsspielern der NFL-Teams, neben denen einige „Nationals“ im Kader standen; Spieler aus nicht-amerikanischen Ländern. Zu diesen gehörten auch Kölner wie Christopher Liess, David Odenthal und der gerne als „Urgestein“ bezeichnete Werner Hippler, der schon bei den „Red Barons Cologne“ gespielt und Erfahrungen im US-CollegeFootball sowie in NFL-Trainingslagern gesammelt hatte. Im Jahre 2004 war es dann auch für Köln soweit: Die an chronischem Zuschauermangel leidenden „Barcelona Dragons“ wurden als „Cologne Centurions“ an den Rhein verpflanzt. In den vier Jahren ihres Bestehens konnten die „Centurions“ zwei vierte und zwei dritte Plätze verbuchen, wobei im Jahre 2007 das Finale erst am letzten Spieltag verpasst wurde. Im selben Jahr beschloss dann jedoch die Führung der NFL, ihre ebenso kostspielige wie verlustträchtige Ablegerliga einzustellen. Die „Cologne Centurions“ wurden wie alle anderen Teams aufgelöst. Das kurze Intermezzo des Profi-Football in Köln war damit zu Ende. Ein vergleichbares Engagement der NFL ist derzeit nicht absehbar.

Die "Cologne Falcons" Gegenwart und Zukunft des Football in Köln Sowohl die „Crocodiles“, als auch die „Red Barons“ und die „Centurions“ mussten also die Segel streichen. Doch nach wie vor gibt es American Football in Köln. So wie einst die „Red Barons Cologne“ aus Mannschaftsteilen der „Cologne Crocodiles“ hervorgegangen waren, gründeten ehemalige Mitglieder der „Red Barons“ im Jahre 1995 die „Cologne Falcons“. Inzwischen hatte sich der Spielbetrieb der Bundesliga derart verbreitert, dass das neue Team zunächst in der Verbandsliga (5. Liga) antreten musste. Ab 2002 arbeiteten sich die „Falcons“ dann durch alle Ligen nach oben, bis im Jahre 2004 schließlich der Aufstieg in die GFL gelang. Schon in der zweiten Spielzeit erreichte das Team das Viertelfinale bislang der größte Erfolg der Vereinsgeschichte. Nach dem Aus der „Crocodiles“ im Jahre 2003 sind die „Cologne Falcons“ das letzte Kölner Team in der höchsten deutschen Spielklasse und auch das einzige aus NordrheinWestfalen. Die Mannschaft setzt sich aus einer Hand voll amerikanischer Spieler sowie einer Mischung aus erfahrenen und jungen deutschen Spielern zusammen. So stehen im Kader auch die NFL-Europe-Veteranen David Odenthal und Werner Hippler. Trotz eines eingeschränkten Budgets ist der Verein sowohl in der Breite als auch in der Tiefe aufgestellt. Eine zweite Mannschaft spielt derzeit in der Oberliga (4. Liga), zusätzlich gibt es ein Nachwuchsteam, eine Frauen- und sogar eine Seniorenmannschaft. Daneben betreiben die „Falcons“ „Flag Football“, eine kontaktlose Variante des American Football. Seit diesem Jahr engagiert sich der Verein auch an der Universität Köln. Interessierten Studenten wird dort die Möglichkeit geboten, erste Erfahrungen mit der Sportart American Football zu sammeln. Unter der Leitung eines Mitgliedes des Trainerstabes der „Falcons“ können die Interessenten dort zwischen einem ersten Einstieg über das „Flag Football“ oder dem direkteren Zugang zur Vollkontakt-Variante wählen. Alexander Verbeeck, Vorsitzender der „Cologne Falcons“, über das Uni-Programm seines Vereins:

Die „Falcons“ engagieren sich inzwischen auch an der Universität. Wie ist es dazu gekommen? Das war eine Entscheidung, die fast wie im Berufsleben getroffen wurde. Man muss sich fragen, für wen man attraktiv ist, und da kommt man zwangsläufig auf Gruppen, die nicht von vornherein im Fokus stehen. Das sind zum einen die Frauen. Fakt ist, dass es Frauen gibt, die gerne Football spielen wollen. Das Gleiche gilt für Kinder, und das Gleiche gilt für Leute, die aus dem Kontaktsport herausgehen, aber trotzdem noch den Sport betreiben wollen. Eine weitere Zielgruppe sind ganz klar Studenten. Das sind in der Regel junge Leute, die häufig relativ viel Zeit haben, und vor allem Leute, die sich Neuem gegenüber offen zeigen und solche Sachen auch ausprobieren. Die Projekte, die wir da aufgezogen haben, zeigen auch, dass das gut funktioniert. Schildern Sie doch einmal Ihr Engagement an der Uni. Wir haben zum einen ein „Einsteigerprogramm“, wie ich es gerne nenne. Das ist für Leute, die sich das Ganze anschauen wollen, und zwar in der Form von „Flag Football“, der kontaktlosen Variante. Hier können sich Leute mit dem Spiel auseinandersetzen, ohne gleich blaue Flecken zu riskieren. Das ist ein ganz gerne genutzter Einstieg. Wir bieten auch die Kontaktvariante an, und diese Gruppe umfasst inzwischen deutlich über 20 Leute. Das sind aus meiner Sicht Riesenathleten. Wenn

von denen nur 10 Leute beim Sport hängen bleiben, haben wir schon gewonnen. Die Suche nach Nachwuchs ist also auch ein Ziel des Programms? Absolut. Die Studenten sind aus meiner Sicht genau in einem Alter, wo es Sinn macht, als Quereinsteiger hereinzukommen. Wenn es wirklich dazu führt, neue Athleten an den Sport heranzuführen, ist das gut für den Sport, und gut für den Verein sowieso. Gibt es einen zeitlichen Rahmen für das Projekt? Wie bei jeder Sache, die man startet, muss man erst einmal sehen, ob das auch funktioniert. So viel Resonanz haben wir nicht erwartet. Da wir jedes Semester neue Leute bekommen können, gibt es aus heutiger Sicht keinen Grund, damit aufzuhören. Aus organisatorischer Sicht auch nicht. Das kann ruhig noch so weiterlaufen. Die „Falcons“ entwickeln sich langsam, aber stetig. Die Verantwortlichen vertreten die Ansicht, dass kurzfristiger Erfolg womöglich mit Geld zu kaufen ist, wirkliche Strukturen jedoch wachsen müssen. Angesichts derart vorausschauender und langfristiger Planungen ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Tradition der nach wie vor exotischen Sportart American Football in Köln noch lange fortgeführt werden wird. Dimitrios Papatheodorou

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Körperkultur

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Exotische Sportarten

Capoeira - Kampftanz der die Sinne anspricht

Vor dem kleinen Flachdachgebäude in einer Wohnsiedlung im Kölner Norden, stehen ein paar Leute in weißen Sporthosen und unterhalten sich. Die Gesichter wirken etwas verschlafen, denn die Capoeira-Schule „Pernas pro Ar“ (port.: „Beine in die Luft“) hat am Vorabend ihr achtjähriges Bestehen gefeiert. Im Eingang liegen Schuhe in allen Größen herum und sofort fällt der Blick auf ein Schild, auf dem „Schuhe ausziehen!“ geschrieben steht. Der erste Eindruck ist alles andere als exotisch. Der große Raum ist komplett mit Schaumstoffmatten ausgelegt, an einer Wand hängt ein Spiegel - wie eine gewöhnliche Gymnastikhalle also. Nur die zwei riesigen, an die Wand gemalten Konterfeis zweier älterer Herren, wirken erst einmal befremdlich. Die beiden Männer sind die Brasilianer „Mestre Bimba“ (1899-1974), Begründer des „Capoeira Regional“ und „Mestre Pastinha“(1889-1981), der Urvater des „Capoeira Angola“.

Verbreitung und Geschichte der Capoeira Die Existenz des brasilianischen Kampftanzes Capoeira ist seit dem 18. Jahrhundert belegt und dicht mit der Geschichte der Sklavenhaltung in Brasilien verbunden. Vorläufer sind indianische und durch die afrikanischen Sklaven nach Brasilien gebrachte Kampfspiele und Tänze. Capoeira versteht sich bis heute als Widerstand gegen die

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Körperkultur

Herrschenden. Allerdings „spielen“ mittlerweile in Brasilien, und seit den 80er Jahren überall auf der Welt, durch alle Schichten hinweg Menschen Capoeira. Wobei die Tatsache, dass bei der Ausübung dieses Sports von Spielen und nicht von Kämpfen gesprochen wird, die positive und selten wirklich aggressive Einstellung der Capoerista, zeigt. Es geht nicht darum, seinen Gegner ernsthaft zu verletzen, sondern ihn, durch akrobatische und schnelle Bewegungen, auszutricksen. Zur Philosophie des Spiels gehört eine gewisse Hinterlist, die im Portugiesischen als „Malicía“ bezeichnet wird. Doch trotzdem - und das ist mit Sicherheit einer der Gründe, warum Capoeira auch in unseren Gefilden eine solchen Boom erlebt soll der Spaß an der Sache nie verloren gehen. So schreibt der brasilianische Autor Nestor Capoeira in seinem Buch „Capoeira. Kampfkunst und Tanz aus Brasilien“: „Wer die Kenntnis der menschlichen Natur hat, aber seine gute Laune nicht entwickelt, wird sich auf dem Weg verirren: Er mag Capoeira sehr gut turnen können - aber es ist keine Capoeira.“ Allerdings hat sich die Sportart seit ihrem Entstehen in den brasilianischen Hafenstädten Rio de Janeiro, Recife und Salvador de Bahia, weiterentwickelt. Die Gründungsväter des zeitgemäßen Capoeira, „Mestre Bimba“ und „Mestre Pastinha“, vertreten die beiden unterschiedlichen Richtungen Capoeira Angola, welches spielerischer ist und stärker die afrikanischen Wurzeln betont,

und Capoeira Regional, die kampfbetontere und weniger traditionelle Variante. Es gibt aber auch zahlreiche andere Mestres, die sich einen Namen gemacht haben. Jede Schule hat ihre spezielle Vermittlung des Kampftanzes, eine eigene Philosophie und Musik. Das Spiel wird begleitet vom Gesang der traditionellen Lieder, dem Klatschen der im Kreis um die Kämpfenden Stehenden (port.: „Roda“) und der Musik des capoeiraeigenen Instruments, dem „Berimbau“.

Ein Sport für alle In der Trainingshalle der „Companhia Pernas pro Ar“ trudeln nach und nach immer mehr Männer, Frauen und Kinder jeden Alters ein, die an der großen Roda teilnehmen wollen. An diesem Sonntag im Mai wird nämlich nicht trainiert, sondern es wird gespielt. Jeder soll das Erlernte zeigen können. Außerdem werden vom „Contra-Mestre Porquinho“, dem Leiter der Schule, die Kordeln verliehen. Die verschiedenfarbigen Kordeln, die jeder Capoerista um die Hüfte trägt, zeigen den Grad an, den er in der Schule erworben hat. Als die Klänge des Berimbaus erklingen, versammeln sich alle im Kreis und die ersten zwei Schüler beginnen in dessen Mitte zu kämpfen. Langsam wird der Takt der Musik schneller und alle singen mit. Immer wieder treten abwechselnd Schüler in den Kreis, bis am Schluss die Besten, mit immer schnelleren Bewe-

gungen, Radschlägen, Handständen und Tricks, von ihren Lehrern herausgefordert werden. Dann werden die Kordeln verliehen und diejenigen, die einen höheren Grad erreicht haben, stehen mit stolzen, schweißglänzenden Gesichtern im Mittelpunkt. Trotz der Regeln und der Philosophie, die die Capoeira ausmachen, ist hier an diesem Nachmittag nichts von Dogmatik oder gar Eitelkeit zu spüren. Denn auch ohne sich die komplette Weltanschauung anzueignen, ist Capoeira ein Sport, der fit macht und alle Sinne anspricht. Vielleicht ist auch das der Grund, warum am Ende des Tages alle so strahlen, als hätten sie Urlaub in Brasilien gemacht?

Info

Kathrin Mohr

Es gibt zahlreiche Capoeira-Schulen in Köln, hier nur zwei: - Companhia Pernas pro Ar (Regional): www.capoeira.de - Capoeira Angola Mãe (Angola): www.capoeiraangolamae.de Literatur: -Capoeira, Nestor: Capoeira. Kampfkunst und Tanz aus Brasilien. Verlag Weinmann. 2004 (überarbeitete Auflage). 12,80€. - Onori, Piero: Sprechende Körper. Capoeira - ein afrobrasilianischer Kampftanz. Edition diá. 2002 (2. Auflage). 14€.

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