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FeinSinn zaubert I'm a Nerd, but that's OK! Ein Semester in Bordeaux Die Jagd nach neuen Planeten Heft 19 ǀ Ausgabe 10/09 ǀ www.meins-magazin.de


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Inhalt

Hallo lieber Leser, dieses meins-Heft zaubert ein bisschen. Nicht nur, um Euch, wie bei FernSicht, verschwinden und in Istanbul, Bordeaux und China wieder auftauchen zu lassen. Nein, wir zaubern Euch auch ein bisschen mehr Geld in die Geldbörse. Wie das geht, könnt ihr auf Seite 16 lesen - das Trödeln ist das sehr beliebt. Außerdem könnt ihr, apropos Geld, lesen, wie man günstigen Urlaub macht: die meinsWG fliegt für wenig Geld nach Spanien. Wenn ihr mal etwas anderes in Köln sehen wollt, lest Euch den Artikel über den HareKrishna Tempel durch (S.8). Außerdem gibt es direkt danach etwas über Hipster zu er-

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FernSicht

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Die meins-WG mal ganz woanders Befremdung, Toleranz und orangefarbene Gewänder I'm a Nerd, but that's OK Inception Me Too Trödeln – eine geheime Geldquelle Über den Bachelorstudiengang Romanistik Fotostrecke Skulpturenpark Köln

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Istanbul – Ein Spaziergang durch Beyoğlu Ein Semester in Bordeaux Majiang und Mosquitos

fahren. Die zaubern übrigens immer wieder neue Modetrends hervor - um dann meist dafür ausgelacht zu werden. ErkenntnisReich zaubert Euch neue Planeten herbei. Unter anderem einen, der von Forschern der Uni Köln entdeckt wurde. Außerdem erfahrt ihr in den drei Kurzen einiges wissenswertes rund um Heuschnupfen, Erdmännchen und Online Einkauf. FeinSinn zaubert natürlich wie immer am meisten - den Kreativität ist doch nichts anderes als Zauberei. Dazu gibt es wie immer Kurzgeschichten, Playlists und Gedichte.

ErkenntnisReich

FeinSinn

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Inhaltliches

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Die Jagd nach neuen Planeten Augen auf, beim Online-Kauf Erdmännchen schlagen unüberhörbar Alarm Landkinder haben weniger Heuschnupfen

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Wenn du glaubst, du bist verrückt, wirst du immer einen finden der verrückter ist Telepathie Wikipedia-Zauber Playlist

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Impressum

Viel Spaß beim Lesen wünscht Euch, Simeon Buß (stellvertr. Chefredakteur)

{ Editorial

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mal ganz woanders Bekanntlich geht ja alles irgendwann einmal zu Ende, die Wurst sogar an zwei Seiten. Manchmal kann einen diese Erkenntnis furchtbar traurig stimmen, manchmal findet man es schade und manchmal, ja manchmal wartet man auf das Ende, bevor alles eigentlich richtig begonnen hat. Dass zur letzten Kategorie definitiv das vergangene Semester gehört, das steht für die Meins-WG außer Frage. Gut, die Meinungen gehen darüber auseinander, wer von den Mitbewohnern wirklich Ferien verdient hat und für wen sie lediglich eine noch ereignislosere Variante der Vorlesungszeit sind. Aber in einem Punkt stimmen alle überein: Es wird Zeit für zweieinhalb Monate akademischer Abstinenz. Schon das gesamte Semester über haben unsere Meinsler ausführliche Ferienplanungen unternommen und zumindest in der Theorie müsste ihr Tagespensum vor Hobbys und Freizeitaktivitäten nur so bersten. Eine nette Sache, diese Theorie, wenn ihr Bruder, die Praxis, nicht häufig so ein Arsch-

Weitsinn EchtZeit

loch wäre. Dieser Praxis, oder auch Realität, hat es die Meins-WG nämlich zu verdanken, dass ihre Pläne nicht ganz so reibungslos verlaufen, wie ursprünglich geplant. Um genau zu sein, ist es sogar die Schuld der Uni, denn die lässt die Studenten auch während der Ferien dank Klausuren und Hausarbeiten nicht ganz alleine. Wie ernst man diese Ferienstolpersteine jetzt aber nehmen muss, darüber wird in der WG durchaus diskutiert. Eine solche Diskussion kann in etwa so aussehen: Akt 1 Ein Zimmer auf dessen Boden mehr Müll, Klamotten und Flaschen liegen als Laminat. Zwei unserer Meinsler hängen auf der Couch und ziehen sich irgendwas im Fernsehen rein. Auftritt Meinsler Nr. 3. Meinsler 3: Ey Leute, habt ihr eigentlich schon irgendnen Urlaub geplant? Meinsler 1: Hmm, nä. Vielleicht n Wochenende nach Holland oder so. Hab keine Kohle. Meinslerin: Wenn du die beiden Hausarbeiten und die Klausuren für mich schreibst, dann komme ich gerne mit.

Meinsler 3: Ach kommt schon. Ich hab nen super günstigen Flug gefunden. Hin und Zurück für 43 Euro pro Nase. Nach Spanien. Wird cool. Klausuren kann man auch wiederholen und jetzt tu nicht so, als wenn du nicht noch 3 Jahre Zeit hättest für die Hausarbeiten. Meinsler 1: Ich hab trotzdem keine Kohle. Hotel oder Ferienwohnung kostet doch auch. Meinsler 3: Wir müssen ja noch nix buchen. Wir nehmen Rucksäcke mit und gucken, wohin es uns verschlägt. Sieht man eh mehr vom Land. Und wir könnten unser Spanisch mal wieder aufbessern. Meinslerin: Wo hast du nur immer so tolle Ideen her … Meinsler 1: Hm, na gut...ich bin dabei. Meinslerin: Was? Ne, ich lauf doch nicht quer durch Spanien. Das is viel zu heiß da unten, um mit nem Rucksack unterwegs zu sein. Und überhaupt … Meinsler 1/3: Du bist dabei? Cool.

Zwei Wochen Spanien also. Ohne Hotel, kein All-Inclusive Büffet und keine Schirmchendrinks. Nicht ganz das, was sich mancher Meinsler zunächst unter einem gelungenen Urlaub vorgestellt hat, aber man muss ja auch mal neue Erfahrungen machen. Vom Geld sparen ganz abgesehen. Schnell wird den Meinslern klar, dass so ein Urlaub trotzdem mehr Planung in Anspruch nimmt, als gedacht. Der billige Flug ist schnell gebucht, aber danach müssen Reiserouten und Hostels gesucht werden und überhaupt braucht man ja ein paar Infos über die Gegend. Gut, dass es dafür inzwischen das Internet gibt, denn irgendwelche Reiseführer sind zu teuer und bieten immer nur dieselben Tipps an, wie man in der jeweiligen Landessprache zu verstehen gibt, dass man Durchfall hat.

Irgendwann ist es dann auch soweit. Die Rucksäcke sind gepackt und die Reiseziele raus gesucht. Endlich Urlaub, geil! Ab in die Bahn, ab zum Flughafen und ab in den Flieger. Ab nach Spanien. Hm … Oder vielleicht auch erst einmal ab an den Arsch der Welt, um überhaupt das Flugzeug zu finden. Manche Airlines sind billig, nehmen es aber auch mit der Angabe ihres Abflugorts nicht ganz so genau. „Alter, das hier soll noch Düsseldorf sein?! Wir sind bestimmt schon siebzig Kilometer zu weit! Ich sehe hier keinen verdammten Terminal, aber dafür jede Menge Kühe.“ „Mann, es heißt ja auch Düsseldorf-Weeze, das liegt nun mal ein bisschen außerhalb. Dafür war's billig. Und jetzt halt die Klappe und fahr da vorne rechts. Ich glaub in einer Stunde sind wir da ...“ Sieben Stunden später kommen unsere Meinsler dann tatsächlich in Spanien an. Natürlich auch dort nicht am Ort ihrer eigentlichen Wahl, sondern einhundert Kilometer davon entfernt. Aber immerhin war es billig. Und irgendwie hat es etwas abenteuerliches. Jedenfalls für Großstädter, die es gewohnt sind in zehn Minuten von A nach B zu gelangen. Im Idealfall sollen Reisen ja auch immer bilden und tatsächlich hat die Meins-WG schon eine neue Lektion gelernt: Die Sache mit der Vernetzung der Welt hat echt gut geklappt. Keine lästigen Wochen- und Monatsreisen mehr von Land zu Land. Es hat sogar so gut geklappt, dass man vor lauter Vernetzung doch wieder gefühlte Wochen braucht, um an seinen Zielort zu kommen. Aber egal, warum stressen? Immerhin sind unsere Meinsler endlich angekommen in der Sonne. Zwar, wie bereits erwähnt, eine ganze Ecke von ihrem eigentlichen Ziel entfernt, aber genau deswegen haben sie auch keine zu genauen Pläne gemacht. Jetzt stellt sich nur die Frage, wie man aus dem Nirgend-

wo raus kommt, in dem einen der Flieger abgeworfen hat. Ein Mietwagen kostet und auch zu Fuß gehen stellt sich nach ein paar Kilometern in der prallen Sonne als gar nicht mal so gute Idee heraus. Nach zwei Stunden zu Fuß auf dem heißen Asphalt hat die WG die Nase voll vom Laufen (es war nicht die Meinslerin, die zuerst angefangen hat zu nörgeln) und macht erst einmal Halt. Vielleicht nimmt sie ja ein netter Autofahrer mit, wenn sie sich schon selbst kein Auto mieten können. Also steht einer unserer Meinsler mit dummem Grinsen und ausgestrecktem Daumen am Straßenrand und versucht auf diese Weise irgendwie Mitleid mit drei abgerissenen Gestalten zu erheischen. Scheinbar sehen sie aber noch nicht verzweifelt genug aus, denn kein einziger Autofahrer kann sich erweichen für unsere Jungs anzuhalten. Das merken die Meinsler auch nach einer Stunde stehen, grinsen und warten. Und ihr nächster Gedanke ist der einzig logische: Wofür schleppen wir eigentlich eine Frau mit uns herum? Kurz darauf kommt dem weiblichen Teil der WG also die ehrenvolle Aufgabe zu, an der Straße zu stehen und gleichzeitig nett und verzweifelt auszusehen. Dabei hilft ihr vielleicht auch der Ärger über ihre beiden männlichen Mitbewohner, die sich derweil ihrerseits in einem Gebüsch wirklich unsichtbar gemacht haben.

eines Kleinlasters, dessen Fahrer zunächst gar nicht so begeistert war über die männlichen Mitfahrer aus dem Gebüsch. Jetzt redet er aber fröhlich und in unverständlichem Spanisch-Kauderwelsch auf die Meinslerin ein, die es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht hat, während sich die Jungs mitsamt ihren Rucksäcken und dem Bauschutt auf der Ladefläche arrangieren müssen. Ihr Fluchen kann die Meinslerin leider über den spanischen Wortschwall und die genauso spanische Pop-Schmieren-Musik aus dem Radio nicht hören. Eigentlich doch ein ganz guter Urlaubsanfang. Später werden in diesem Urlaub noch diverse Fälle von Autopannen, Kakerlaken und Badezimmern, Handydieben und vermeintlich giftigen Tieren vorkommen. Ach ja und zwischendurch werden sich die Meinsler auch noch wünschen, sie hätten den teuren Reiseführer mit den zehn verschiedenen Bezeichnungen für Durchfall gekauft. Aber das alles gehört in die Welt der Anekdoten und als die Drei an einem ihrer letzten Abende am Wasser sitzen und sich die Urlaubsfotos nicht zum ersten Mal durch gucken, hätten sie nicht übel Lust, den Flieger ohne sie starten zu lassen. Keine spanische Landstraße könnte einem so viel Zeit stehlen, wie eine Hausarbeit. Felix Schledde

Ein Trick, der echt gut funktioniert, denn kurz darauf sitzen sie auf der Ladefläche

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Befremdung, Toleranz und orangefarbene Gewänder: mein Tag bei den Hare-Krishnas

Als ich an der Haltestelle Kalk-Post aussteige, weiß ich: jetzt gibt es kein Zurück mehr. Aber ich hatte es mir ja selbst ausgesucht. Mit meinem grün-grau gestreiften Longsleeve und meiner khakifarbenen Hose mache ich mich auf den Weg zum Sonntagsfest im Kölner Hare-Krishna-Tempel in der Taunusstraße. Extra hatte ich darauf geachtet, dass meine Kleidung nicht zu materialistisch aussieht, was grotesk ist, denn Kleidung ist per definitionem materiell. Wenigstens keine auffälligen Labels, nichts Körperbetontes; bei meiner Tasche hatte ich es nicht ganz geschafft: ziemlich selbstbewusst ziert sie eine metallische Plakette mit dem Namen einer recht teuren italienischen Marke. Ich habe nur die eine, also musste ich sie wohl nehmen. Ein ganzes Stück muss ich auf der Taunusstraße noch zurücklegen. Ich komme vorbei an einem marokkanischen Café, einer leer stehenden Shisha-Lounge, einem arabischen Teeladen, einer kölschen Kneipe und zahlreichen türkischen Geschäften. Zwar hat die Hare-Krishna-Bewegung mit dem Islam wenig zu tun, aber ich wundere mich nicht, dass sich der Tempel ausgerechnet hier befindet. Auf der anderen Straßenseite sehe ich vor einem Haus, das aussieht wie jedes andere, mehrere Inder in feierlichen Gewändern: ich bin angekommen. Ich wechsele die Straßenseite, gehe auf die Gruppe zu, doch sie nehmen mich nicht wahr. Etwas abseits von ihnen steht eine westlich aussehende Frau. Sie hat schulterlange hellbraune Haare mit ein paar grauen Strähnen, sie trägt helle, farblose Kleidung, ein Armband aus Holzperlen und eine dazu passende Kette. Wie sie da steht und mit den Händen etwas nervös an ihrer dünnen handgefertigten Stofftasche spielt, merke ich: sie ist auch neu. Ich spreche sie an und sie stellt sich mir als Angelika vor, sie möchte einfach mal hier vorbeischauen, um sich ein Bild zu machen. Manche Klischees werden halt erfüllt. An dem Haus, vor dem wir stehen, dem Kölner Tempel, der „Gauradesh“

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genannt wird, prangt ein großes Logo von ISKCON, der International Society for Krishna Consciousness. Dies ist der offizielle Name der Hare-Krishna-Bewegung, die 1966 mit der Gründung des ersten Tempels in New York begann und zunächst in Nordamerika, aber schnell auf der ganzen Welt bekannt wurde. Die Organisation ist zwar neu, stützt sich aber auf eine Philosophie, die Jahrtausende alt ist. Das wichtigste Schriftstück, die Bhagavad-Gita, ist bereits einige Jahrhunderte vor Christus entstanden; die zugrundeliegende Philosophie der Veden ist aber noch sehr viel älter. Nicht nur für ISKCON hat die Bhagavad-Gita eine hohe Relevanz: von allen hinduistischen Glaubensrichtungen wird sie als eine der wichtigsten Schriften betrachtet; als philosophisches Werk findet sie auch in der westlichen Welt Beachtung. Einer der Grundsätze und damit das hohe Ziel der Hare-Krishna-Anhänger ist die Entsagung allen Materialismus und die Selbsterkenntnis der Seele sowie deren Verbindung zu Gott (Krishna). Angelikas und mein Ziel ist es erstmal, ins Gebäude zu gelangen. So schwer ist das nicht, die Tür ist auf. Wir gehen rein, ich schaue mich um, will irgendwas in der Hand haben, nehme mir einen der Flyer des „Gauradesh“-Tempels, die auf einer Ablage liegen. Plötzlich kommt Keshava, der Tempelpräsident, auf mich zu. Mit Keshava hatte ich vorher Mailkontakt, er wusste, dass ich komme und dass ich diesen Artikel schreiben werde. Als ich mich vorstelle, leuchten seine Augen: „Ach du bist Dennis“, sagt er, legt zur Begrüßung die Hand an meinen Oberarm. Er erklärt mir, wann das Fest beginnt, wo ich hingehen soll. Plötzlich fühle ich mich wohl. Ein Mann in einem orangefarbenen Gewand kommt zu uns. „Das ist Rupa“, sagt Keshava. „Hallo“, sage ich. „Hare Krishna“, sagt Rupa. Dann kommt noch einer, etwas jünger als ich, in weißem Gewand. „Hare Krisha“, sage ich, es fühlt sich komisch an. „Hare Krishna, Dennis. Wir kennen uns schon!“ Es ist Jan. Wegen ihm bin ich überhaupt hier. Vor drei

Monaten trafen wir uns in der Weimarer Fußgängerzone, er verkaufte dort Bücher. Vedische Literatur. Ich hatte Zeit, blieb stehen, wir kamen ins Gespräch. Ich hatte die Idee, den Kölner Tempel zu besuchen und darüber zu schreiben, wir tauschten Kontaktdaten aus und jetzt stehe ich wieder vor ihm. Jan führt mich die Treppe hinauf zum Tempelraum. Ich ziehe meine Schuhe aus und betrete den schönen Parkettboden, auf dem Sitzkissen liegen. Der Duft von Räucherstäbchen ist in der Luft. An dem einen Ende des Raumes ist ein Altar aufgebaut. Mit frischen Blumen geschmückt stehen auf dem Altar zwei Figuren, Deities (von engl. deity: Gottheit), die aussehen wie festlich gekleidete hinduistische Tänzerinnen. Am anderen Ende des Raumes sitzt eine ziemlich gut getroffene, sehr detailliert ausgearbeitete Statue von Prabhupada, dem Gründer von ISKCON. Der damals 69 Jahre alte Inder setze den Startschuss für eine Bewegung, die in der im Umbruch befindlichen amerikanischen Gesellschaft zu einer Modeerscheinung wurde, aber schnell auch Europa erreichte: schon 1969 wurde in Hamburg der erste ISKCON-Tempel eröffnet. Die Hare-Krishna-Anhänger tauchten plötzlich tanzend und singend in den Fußgängerzonen auf; in der Popkultur waren sie präsent: allen voran arbeiteten die Beatles Ideen der Krishna-Philosophie in ihre Songs ein. Aber nicht nur textlich, auch konkret musikalisch findet sich beispielsweise das Hare-Krishna—Mantra in den Backing Vocals zu „My sweet Lord“ wieder. Kein Wunder, denn George Harrison, BeatlesGitarrist, war ein Devotee, ein Eingeweihter in den Glauben Krishnas. Doch schon in den 1970er Jahren machte die Bewegung extrem negative Schlagzeilen. Waffenbesitz, Gehirnwäsche, Drogenhandel, Ausbeutung wurde den Mitgliedern vorgeworfen. 1974 wurde das deutsche Krishna-Zentrum im Taunus durchsucht, es wurden Waffen sichergestellt. Ein großer Missbrauchsskan-

dal an Krishna-Privatschulen in den USA kam in den 90ern ans Licht. Das Bild, das sich die Öffentlichkeit von ISKCON machte, verschlechterte sich drastisch, der Aufschwung der Anfangsjahre war vorüber. Lebensphilosophie? Religionsgemeinschaft? Wirtschaftsunternehmen? Sekte? Destruktiver Kult? Doch auch heute noch, 2010, ist die Bewegung aktiv, das kann ich gerade bezeugen. Ich setze mich auf eines der Sitzkissen und warte mit etwa zehn anderen Menschen auf den Beginn der Zeremonie. Bis jetzt ist der Großteil der Anwesenden, gerade mal ein Dutzend, offensichtlich indischer Herkunft, doch das soll nicht so bleiben. Keshava betritt den Raum, begrüßt mit seiner wirklich charismatischen Art alle Gäste. Für die wenigen, die zum ersten Mal gekommen sind, erklärt er kurz den Ablauf des Festes und schon geht es los. Den ersten Teil bildet das Chanten (=Singen) des Hare-Krishna-Mantras. Keshava singt, begleitet von Jan an einer Mridanga, einer speziellen indischen Trommel, den immergleichen Vers in jeweils unterschiedlicher Melodik und Rhythmik. Anschließend wiederholen wir alle seinen Gesang. Da ist er, der Mantra-Gesang, eines der Markenzeichen der Bewegung, das in der Kritik steht, bewusstseinsverändernde Funktion zu haben. Gehirnwäsche, so das große, böse Wort. Immer wieder beginnt Keshava den Vers, immer wieder wiederholen wir ihn. Ich warte darauf, dass mir langweilig wird. Aber mir wird gar nicht langweilig. Der Mantra-Gesang steigert sich in Lautstärke, Tonhöhe und Tempo: die Musik, die diesen Raum erfüllt, ist dynamisch, mitreißend, fast ekstatisch. Dann fängt Keshava die Spannung ab, singt das Mantra wieder tiefer, leiser, langsamer. Jan passt sich an, wir passen uns an. Währenddessen füllt sich der Raum. Sehr unterschiedliche Menschen kommen zum Fest: junge Menschen, alte Menschen, Deutsche, Ausländer, einige Frauen in bunten Gewändern, andere unauffälliger, ein Jugendlicher mit

einer knielangen Schwimmhose und einem ausgewaschenen T-Shirt, ein Inder in einem langen hellbraunen Gewand, ein Deutscher mit schulterlangen Haaren und einem Stirnband. Eines aber haben alle gemeinsam: sie betreten den Raum und knien sich auf den Boden, küssen ihn, halten inne, stehen wieder auf, begrüßen andere Festgäste, freuen sich über den Gesang, strahlen, und setzen sich auf die Sitzkissen. Bin ich in Köln? Wieder steigert sich der Gesang, es wird wieder laut, hoch, mitreißend. Ein paar Anläufe nimmt Keshava noch und erst nach einer knappen Stunde ist der Gesang vorbei. Was mich am meisten wundert – und weshalb ich mich trotz aller Fremdheit hier irgendwie wohlfühle – ist die Ungezwungenheit und Selbstverständlichkeit mit der diese Zeremonie bisher abläuft. Keshava geht ans Mikrofon und kündigt den anschließenden Gastredner an. Dieser geht nach vorn, setzt sich in seinem weißen Gewand neben den Altar und begrüßt die mittlerweile mehr als fünfzig Gäste. Der Raum ist voll. Nikhilananda heißt der Mann, der da vor uns sitzt. Er beginnt zu predigen von dem, was ihn in den letzten Wochen inspiriert habe. Ich kann nicht ganz folgen, sein Vokabular ist ungewöhnlich. Was ich verstehe, ist, dass es ihm grundsätzlich darum geht, die Missstände der materiellen Welt aufzuzeigen und stattdessen die Liebe regieren zu lassen. Er hat natürlich einen guten Aufhänger in diesem Zusammenhang: „Die Ratha yatra [eine festliche Parade, in der die ISKCON-Anhänger durch die Stadt ziehen] ist die eigentliche Loveparade.“ Man habe ja wieder einmal gesehen, dass das Verhalten der materiellen Menschen zum Verderben führen kann. Er lacht sehr viel, nickt beständig mit dem Kopf, um seine Aussagen zu unterstreichen. Ich kann mir nicht helfen, ich mag ihn nicht. In einem anderen Zusammenhang rutscht ihm das Wort „Neger“ heraus. Er merkt, dass das irgendwie unpassend war; er fügt hinzu: „Wie sagt man auf Deutsch? Schwarze? Darf man das

so sagen?“. Ich rätsele, welche Sprache seine Muttersprache sein mag. Er hat einen ziemlich deutlichen amerikanischen Akzent. Aber seine Sprachmelodie erinnert an Dieter Bohlen. Später erfahre ich: er ist Hamburger und seit langer Zeit viel als Prediger unterwegs – auch im Ausland, wo er meist Englisch spricht. Plötzlich fällt das Wort „Verrückter“, auch diesmal verbessert er sich: „Oder, Moment, ich sollte wohl besser

sagen…’mentally challenged’, ein Psychopath, schizophren“, und ich frage mich, ob die Menschen um mich herum auch merken, welche Begriffe da gerade in einen Topf geworfen wurden und wie grundlegend sich ihre Bedeutungen tatsächlich unterscheiden. Dieser Mann war direkter Schüler Prabhupadas, dem Gründer ISKCONs. Nachdem Nikhilananda fertig gesprochen hat – er hat seine Zeit überzogen,

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denn in Köln fühle er sich immer so inspiriert – ist der dritte Teil des Sonntagsfestes an der Reihe: eine Altarzeremonie mit Gesang und Tanz. Keshava und Jan sind wieder für die Musik verantwortlich. Diesmal aber sind alle Sitzkissen weggeräumt, wir stehen im Raum. Die Männer auf der linken, die Frauen auf der rechten Seite. Wie eben beginnt der Gesang verhalten, er steigert sich aber immer mehr. Einige haben Schellen in der Hand, die sie rhythmisch gegeneinander schlagen, fast alle im Raum singen, viele bewegen sich. Immer mehr tanzen, hüpfen. Ein Mann in einem braunen Gewand kommt fröhlich auf mich zu, fordert mich auf, richtig mitzumachen. Ich tanze, hüpfe nun auch, ein bisschen Spaß macht es zwar schon. Ich bin aber nicht ganz hier im Raum, ich gucke auch von außen auf das, was gerade geschieht. Verkleidete Menschen tanzen und singen zu Musik, vorne am Altar

Nach meinem Toilettengang betrete ich wieder den Raum. Die Stimmung ist etwas weniger euphorisch als vorhin. Zum Ende des Tanzes kommt Nikhilananda dann doch noch in den Raum und tanzt mit. Der Akt ist vorbei, das Festessen, genannt „prasadam“, geheiligtes Essen, steht nun auf dem Plan. Die Sitzkissen werden wieder auf dem Boden verteilt, aber sofort kommt Rupa zu mir. Es war vereinbart, dass ich noch mit Keshava spreche, über das Leben ganz konkret hier im Kölner Tempel. Keshava hatte nun stattdessen Rupa gebeten, das Gespräch zu führen. Nicht mit den anderen also im Tempelraum, sondern im Erdgeschoss an einem richtigen Tisch essen wir. Wir sitzen in den Räumen eines ehemaligen Restaurants und jetzigen Catering-Service, den ISKCON betreibt und der Kindergärten unterschiedlicher Trägerschaft mit Essen versorgt. Jan kommt dazu,

vollführt eine Frau in rosafarbenem Gewand mir unbekannte Rituale mit Blumen. Ich sage mir, Karneval ist doch eigentlich nichts anderes. Aber es ist mir bekannter. Und ich bin mir auch nicht so sicher, dass Karneval nichts anderes ist. Das Fremdheitsgefühl, das ich nach der ersten Begegnung mit Keshava weitgehend abgelegt hatte, wächst wieder. Die, die vorne in der ersten Reihe tanzen, direkt vor dem Altar, sind wirklich ekstatisch. Schweiß läuft ihnen das Gesicht herunter. Eine Polonaise bildet sich. Ich bin mitten drin. Ein kleiner Junge, vielleicht vier Jahre alt, ist hinter mir. Er hält sich an meiner Hose fest. Als die Polonaise sich auflöst, verlasse ich den Raum, gehe zur Toilette. Im Flur steht Nikhilananda. Ich frage mich, warum er nicht mittanzt. Müsste er nicht der Enthusiastischste von allen sein?

es ist eine nette Runde. Das Essen ist fantastisch. Rein vegetarisch, das versteht sich von selbst, denn die Hare-Krishna-Anhänger verzichten auf alles, was dem Körper nicht gut tut: Fleisch und jede Art von Drogen, auch Alkohol, Nikotin, sogar Koffein stehen auf der Liste der verbotenen Substanzen. „Der Körper ist das Haus unserer Seele, deswegen sollten wir ihn nicht vergiften“, erklärt Jan später. Wir essen ein BohnenIngwer-Gericht, Reis mit Erbsen und Koriander, Gemüse ummantelt mit Teig, eine Joghurt-Gurke-Sauce, eine süße Grießnachspeise mit Trauben und Walnüssen. „Man nennt uns auch ‚kitchen religion’“, sagt Jan. Wie ist der erst 19jährige zu ISKCON gekommen? „Ich war in Bayern auf einer Institution, die nennt sich Gymnasium“, erklärt er zynisch, aber nicht

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unsympathisch, „da gab es einen Unterricht, der nannte sich Biologie und da gab es ein Thema, das nannte sich Evolution.“ Die Evolutionstheorie habe er schon immer als lückenhaft und nicht nachvollziehbar empfunden. „Wenn du in den Wald gehst und eine Uhr findest, dann wirst du nicht bezweifeln, dass jemand sie hergestellt hat, oder?“ „Nein“, sage ich, gespannt. „Wir stimmen alle darin überein, dass Dinge nicht einfach so da sind. Wir sind überzeugt, dass jemand sie gemacht hat. Warum sollte also diese perfekt funktionierende Welt einfach so entstanden sein? Irgendeine Art von höherer Intelligenz muss sie erschaffen haben.“ Ihm sei klar geworden, dass die Gesellschaft, das „System“, ihn krank machte. Also hat er nach Alternativen gesucht. „Ich habe erst einige Esoterikgruppen besucht, aber das war nicht das Wahre.“ Der Plan, nach Indien in ein Kloster zu gehen, reifte. Doch dann stolperte Jan über Bücher von Armin Risi, der in Zürich in einem ISKCONTempel lebte. Seine Bücher schienen im faktisch, logisch, intelligent; er fand in ihnen das, wonach er suchte. Also machte er sich auf den Weg in die Schweiz und zog mit Ende 17 in eben diesen Tempel. Die besondere Stimmung in der Villa auf einem Hügel mitten in der Stadt habe ihn sehr beeindruckt. Jetzt lebt Jan im Leipziger Tempel. Er ist Novize und wartet darauf, dass sein Tempelpräsident befindet, dass er bereit ist, Mönch zu werden. Es gebe dafür keine Prüfung; durch die Beobachtung seines Verhaltens werde der Präsident irgendwann seine Entscheidung treffen. Dann wird Jan sein weißes gegen ein orangefarbenes, safran-gefärbtes Gewand eintauschen, so wie Rupa. Die Farbe zeigt: ich entsage mich Allem – in Indien werden Leichen mit safrangefärbten Tüchern eingewickelt. Jans Erzählungen von seinem Alltag zeigen, wie weit „Entsagung“, wie er es selbst nennt, schon jetzt geht. Meistens ist er gar nicht im Tempel, sondern unterwegs: seine Hauptaufgabe ist es, Bücher zu verteilen und die vedische Literatur, die Philosophie der Hare-Krishna-Bewegung bekannter zu machen. So fährt er mit einem Van von Stadt zu Stadt, schläft in ihm und lebt in ihm. Wir gehen vor die Tür, er zeigt mir den Wagen. Ich bin sehr beeindruckt, hier gibt es wirklich nur das Nötigste. Bücherkisten, darauf Holzplatten und dünne Isomatten, ein paar Schubladen, eine winzige Kochplatte und eine ebenso winzige Spüle. Außen, am hinteren Teil des Wagens, ist ein Schlauch mit einem Duschkopf befestigt. „Das ist

unsere Dusche. Wir stehen ja sehr früh auf [4.30 Uhr], also stören wir auch keinen. Außerdem duschen wir nicht nackt, wir haben immer noch ein Tuch an.“ Zu seiner Mutter, bei der er aufgewachsen ist, hat Jan noch immer guten Kontakt, sie hat ihn sogar besucht, in Zürich und auch in Leipzig. „Und? Kommt sie damit klar, dass ihr Sohn ein Hare-Krishna ist?“ – „Am Anfang war es schwer. Aber jetzt sieht sie, dass es mir gut geht und das ist für sie das Wichtigste.“ So ganz habe ich die Struktur, die Aufgabenverteilung innerhalb des Tempels nicht verstanden. Rupa erklärt es mir. „Es gibt den Tempelpräsidenten, der in eigener Verantwortung den Tempel leitet, allerdings unter bestimmten Richtlinien. Ein einheitliches Erscheinungsbild, eine einheitliche Organisationsstruktur ist das Ziel.“ So muss auch das wöchentliche Sonntagsfest organisiert werden und zum Beispiel die jährlich stattfindende Ratha Yatra, der festliche Umzug durch die Kölner Innenstadt, den Nikhilananda als die „eigentliche Loveparade“ bezeichnete und bei der die Hare-Krishnas tanzend, singend und mit bunten Kostümen die Toleranz der Fußgänger auf den Prüfstand stellen. Das nächste Mal am 11. September. „Im Tempel leben dann Mönche wie ich“, fährt Rupa fort. „Ich zum Beispiel übernehme viele Hausmeister-Tätigkeiten, koche aber auch oft, betreue Gäste und halte Vorlesungen, verteile Bücher.“ Darüber hinaus gibt es Haushälter, die verschiedene Aufgaben im Tempel übernehmen und Gemeindemitglieder, die häufig Familie und Beruf haben. Sie unterstützen den Tempel finanziell und helfen bei Festen. Als ich nun in den Raum stelle, dass das doch ein hierarchisches System sei, erwidert Rupa sofort sehr bestimmt, dass es gewiss hierarchische Züge gebe, aber dass es sich dabei eben nicht um die Art von Hierarchie handle, die es in der materiellen Welt gibt. Es sei keine Machtstruktur „im eigentlichen Sinne“, denn niemand in der Organisation habe die Macht, einen anderen zu etwas zu zwingen, das dieser absolut nicht will. Es gehe dabei viel um „love and trust“, um Liebe und Vertrauen, auch zum Beispiel im Umgang mit Spenden. Genau in diesem Moment, wie bestellt, bringt einer der Festgäste eine kleine Schüssel mit einer überschaubaren Menge an Geld, die die Mitglieder gerade für das Fest und insbesondere das Essen gespendet hatten. Wir alle am Tisch lachen über sein Timing. Jan und besonders Rupa liegt sehr viel daran, dass ich ihre Philosophie

verstehe. Immer wieder kommen sie auf die philosophischen Grundgedanken zurück, denn das sei es ja, weshalb sie hier sind. Ähnlich wie Jan konnte auch Rupa den Materialismus in der Gesellschaft nicht mehr ertragen. Er sei katholisch groß geworden, habe aber nie eine echte Beziehung zur christlichen Gemeinschaft aufbauen können. „Das Christentum ist für mich keine spirituelle, sondern eine soziale Institution.“ Der dortige Dualismus, Gut und Böse, sei ihm außerdem schon immer fremd gewesen. „Das Christentum kann nicht erklären, warum es das Böse auf der Welt gibt, obwohl Gott ja allmächtig ist und das Gute will“, sagt er, „also braucht es den Gegenpart: die Hölle.“ Das Christentum, sagt er, sei eigentlich viel radikaler als die HareKrishna-Philosophie. Aber kein Christ lebe diese Philosophie im eigentlichen Sinne. „Fast alle Menschen definieren sich nur über ihren Körper, ihre Wünsche sind materieller Natur.“ Das ist die Oberflächlichkeit, die Rupa so weit wie möglich zu meiden versucht. Mit Definition über den Körper meint er dabei allerdings längst nicht nur die Fixiertheit auf eine perfekte, fettminimierte Hollywood-Figur, sonnengebräunte Haut und Markenkleidung – auch Wünsche wie „Ich will ein guter Sänger/Ingenieur/Schreiner/etc. werden“ seien insofern materiell, als dass sie sich auf eine Rolle beziehen, die der Körper erfüllt. „Das sind Hirngespinste, sentimentale Träumereien. Genau das also, was uns immer vorgeworfen wird!“ Der Körper sei schließlich stets im Wandel. „Mit 7 Jahren sagt jemand ‚ich’ und meint damit seinen Körper. Mit 18 sagt er immer noch ‚ich’ und meint immer noch seinen Körper.“ Dabei sind die Zellen aber nicht mehr die gleichen, sie sind eine Kopie der vorherigen. Im Tod müsse jedes Lebewesen seinen Körper sogar ganz loslassen. „Deshalb konzentrieren wir uns auf das Konstante und das, was uns wirklich ausmacht: unsere Seele. Wir versuchen, sie zu erkennen. Sie ist alles, was nach dem Tod bleibt.“ Aber warum diese Gemeinschaft, warum diese Kleidung, warum braucht man ISKCON, um diese Philosophie zu leben? „ISKCON gibt uns eine Art Dach, gibt uns die Möglichkeit, Spiritualität zu leben in dieser westlichen Welt, die so wenig spirituell ist.“ Er betont dabei genau dieses Wort: Gemeinschaft. Ein Wort, das etwas so Positives meint, im Zusammenhang mit Sekten aber immer einen bedrohlichen Unterton hat. Den Begriff „Sekte“ habe ich im Gespräch wie im Artikel bislang vermieden.

Jan ist es, der ihn beiläufig ins Spiel bringt. Als ich darauf eingehe und nachfrage, ob ISKCON denn nun als „Sekte“ bezeichnet werden kann, weist mich Rupa scharf zurück. „Wir sind Vertreter einer Jahrtausende alten Tradition.“ In der Tat gibt es weltweit renommierte Religionswissenschaftler, die den Bezug zur Tradition der Veden bestätigen. Aber es gibt auch die Gegenstimmen: die „Elterninitiative Sekten e.V.“ mit Sitz in Leverkusen zum Beispiel, die ISKCON als „destruktiven Kult“ bezeichnet und erschütternde Erfahrungsberichte ehemaliger Devotees auf ihrer Internetseite veröffentlicht. Das alles spielt für mich in diesem Moment eine untergeordnete Rolle. Ich fühle mich akzeptiert von den Menschen, in deren Gegenwart ich nun seit sechs Stunden bin, gut zwei Stunden schon sitze ich alleine mit Jan und Rupa zusammen. Wir machen noch ein Foto, gehen dafür in den Tempelraum, der wieder leer ist und aufgeräumt. Wir stellen uns vor die Statue Prabhupadas, ich bin erstaunt, dass wir davor ein Foto machen dürfen. Der Ort kommt mir dafür irgendwie zu heilig vor. Als wir die Treppe hinunter gehen und die Verabschiedung naht, frage ich mich, wo Keshava eigentlich ist. Seit Ende der Tanzzeremonie vor mehr als zwei Stunden habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich gehe an zwei jungen Männer vorbei, die in gewöhnlicher Straßenkleidung im Flur stehen und schnappe nur einen Gesprächsfetzen auf: „…weißt du, mich Krishna völlig hinzugeben“, sagt einer. Ich verabschiede mich von Jan und Rupa, bedanke mich für das schöne, intensive, anregende Gespräch. Wir geben uns die Hand und Jan sagt „Tschüss“. Da bin ich wieder allein auf der Taunusstraße, es dämmert allmählich. Mein Kopf ist vollgestopft mit Gedanken und vielen, vielen Bildern. Ich fühle mich inspiriert, würden Jan und Rupa vermutlich sagen. Ich will noch nicht sofort nach Hause, setze mich in eine arabisch geführte Pizzeria, bestelle einen Milchkaffee und hole mein Notizbuch aus der Tasche. Der Kaffee schmeckt gut, aber mein Notizbuch kommt mir unnötig teuer und unnötig schön vor. Ich fühle mich materiell. Die Philosophie, sich über seine Seele zu definieren. Das hat doch was, das stimmt schon, denke ich. Ich bin verwirrt. Schon morgen werde ich mein Notizbuch wieder weniger unnötig schön finden. Ich weiß nicht, ob mich das beruhigt oder beunruhigt. Text und Bilder: Dennis Große-Plankermann

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I’m a Nerd, but that’s OK Es ist zur gängigen Modeerscheinung westlicher Medien geworden über Hipster zu schreiben. Überall ließt man unter dem Stichworten Hornbrille, Jutebeutel oder Animal Collective von einer Gruppe mehr oder weniger junger Leute mit einem nahezu krampfhaften Drang zum ironisch Gebrochenen. Dabei geht es größtenteils eigentlich nur darum zu zeigen wie wenig Menschen mit extrem engen Hosen eigentlich darstellen. Leider besitzt ein Artikel in diese Richtung meist den Tiefgang eines Mario Barth Auftritts. Kennste? Sicher, man kann ewig über des Kaisers neue Kleider schreiben - jedoch weiß der verständige Leser bereits nach einem Artikel, dass der gute Mann wohl einfach nur nackt ist. Insgeheim wussten das die Meisten wohl ohnehin schon. Der Trend „Hipster“ selbst scheint sein Haltbarkeitsdatum längst überschritten zu haben. Dies ist leicht zu erkennen, blickt man allein hinter die Kulissen der Hausmarke des modernen Szenemenschen, „American Apparel“, zeichnet sich ein katastrophales Bild. Neben diversen Klagen aufgrund sexueller Belästigung und einem Rechtsstreit mit Woody Allen musste das Unternehmen im letzten Jahr 1500 Arbeiter entlassen, die ohne Arbeitserlaubnis in den USA illegal beschäftigt wurden. Dazu kommen sinkende Verkaufszahlen, Probleme in der Buchhaltung und dementsprechend ein Aktienkurs auf Talfahrt. Das was übrig bleibt findet sich vollständig bei H&M und Mumford & Sons. Fein säuberlich portionierte Happen jugendlicher Subkultur für 14, 95 Euro das Stück. Kein

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schlechter Schnitt für eine Generation der stets nur angedachten Ideen. Einer Generation voll von verschwendetem Potenzial. Rückblickend betrachtet wurde man wohl schlichtweg Opfer der Möglichkeiten. Statt Qualität galt Quantität. Man musste möglichst viel und am Besten noch gleichzeitig machen, schließlich gab es viel zu viel zu verpassen. Warum auf einer Party bleiben, während man zwei andere verpasste, warum ein Buch lesen wenn in der gleichen Zeit 30 Wikipedia-Einträge zu schaffen waren? Denn nach außen zählte nur die Oberfläche, das kennen oder das nicht kennen, fernab vom tatsächlichen Wissen. Die Handlung an sich wurde zum angestrebten Zweck, während das Ergebnis sich als nebensächlich darstellte. Das dadurch nie Nachhaltigkeit entstehen konnte liegt auf der Hand. Insofern scheint es auch nicht verwunderlich dass dieses von Anfang an schlecht konstruierte Gebilde nun langsam Stück für Stück in sich zusammenfällt um Platz für etwas Neues zu schaffen. Oder vielleicht sogar Platz für etwas Altes. Denn wenn Hipster in all der Zeit eine gute Sache bewirkt haben, dann ist es die Kultivierung des Internets und die Idealisierung des gemeinen Nerds. Erst vor kurzem habe ich in einem alten Playboy von 1996 einen Beitrag über die „Digitalen Deppen“ gelesen. In dem Artikel amüsiert Petra Reski sich über die Lächerlichkeit eines Netzes, das zu 90 % von Männern bevölkert wird, spottet über die Trivialität von Chatrunden und hält das Internet in Wahrheit lediglich für eine simple Bezugsstelle für schlechte Pornografie. Vergleicht man diese Einschätzungen mit dem heutigen Bild des Web 2.0, kommt man nicht umhin die radikalen Änderungen zu bemerken. Vor allem im Bereich der 1024 Jährigen wird das Internet heutzutage fast zu gleichen Teilen von Männern und Frauen bevölkert, durch Dienste wie Twitter, Facebook oder StudiVZ werden völlig neue Ebenen der bedeutungslosen Kommunika-

tion erklommen und besonders pornografische Inhalte finden allgemein eine immer größere Anerkennung. Wer wenn nicht Hipster haben an diesem Imagewandel maßgeblich beigetragen. Man denke einfach an die zahlreichen Musik-, Mode- und Fotografieblogs, tumblr, Last.fm oder die künstliche Aufplusterung in sozialen Netzwerken. Dazu kommt der Konsum moderner, geeklastiger US und UK Serien wie „O.C. California“, „Big Bang Theory“, „the IT Crowd“, „Spaced“ oder „How I met your mother“, der maßgeblich zu deren Erfolg beiträgt. Auch fallen die optischen Parallelen zum Nerd schnell ins Auge. Große Brille, enge Kleidung an einem dürren Körper, blasse Haut und ein unmöglicher Haarschnitt? Der typische Nerd wird quasi so geboren! Der Szenemensch von Heute wird sicherlich schnell wieder in Vergessenheit geraten, doch dafür traue ich seinen Erben noch Großes zu. Betrachtet man allein die letzten Präsidentschaftswahlen in Amerika und den ersten Nerd im weißen Haus, erhält man schon einen Ausblick darauf, was die Internetcommunity noch alles erreichen kann. Wer weiß, vielleicht schlüpft am Ende aus dem Kokon engsitzender Textilien noch ein wunderschöner Schmetterling Philip Schweers Hipster ist die Bezeichnung für eine „Subkultur“, die ihren Weg aus Berlin in die Großstädte Deutschlands fand. Eigenschaften eines typischen Hipsters umschließen: Jede Party mitzunehmen, möglichst wenig Emotionen zu zeigen und mehr Facebook Freunde zu haben als Woody Allen. Außerdem muss zu jedem Thema dieser Welt der jeweilige Senfs hinzuzugeben sein. Damit dies nicht zu anspruchsvoll ist, wird in Hipsterkreisen meist nur über Parties, Musik und Kleidung gesprochen. Apropos Kleidung: nötige Accessoires, die Hipster ausmachen: Hornbrille, Jutetasche, hautenge Markenhose, markant schief geschnittene Frisuren. Wer Pauschalisierungen findet, darf sie behalten. EchtZeit

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Inception Me Too Dass Christopher Nolan intelligente und unterhaltsame Filme macht, ist spätestens seit den Filmen „The Prestige“ und „The Dark Knight“ nichts neues. Mit seinem neuen Werk „Inception“ übertrifft er sich allerdings selbst und liefert das Kinohighlight des Jahres. Dom Cobb (Leonardo DiCaprio) ist ein begnadeter Dieb, genauer gesagt, ein Spezialist auf dem Gebiet der Extraktion. Er hat sich auf das höchste Gut in der Welt der Industriespionage spezialisiert: Informationen. Während der Traumphase, wenn der Verstand am verwundbarsten ist, stiehlt er aus dem Unterbewusstsein wertvolle Geheimnisse. Die Kehrseite seiner Tätigkeit, er hat alles verloren was er liebt und er wird auf der ganzen Welt gesucht. Ein letzter Auftrag, der ihm sein heißersehntes altes Leben wieder geben könnte, verlangt allerdings das fast Unmögliche. Cobb und sein Speziallistenteam sollen diesmal keinen Diebstahl, sondern genau das Gegenteil vollführen: das Einpflanzen - die Inception einer Idee. In diesem, laut Regisseur/ Autor / Produzent Christopher Nolan, Gegenwarts- Sci- FiAction- Thriller taucht man in die Tiefen des Unterbewusstseins ein und sieht Träume Wirklichkeit werden. Der Großteil des Films handelt in dieser beeindruckend inszenierten Traumwelt in der das Unmögliche

versucht wird. Fast zehn Jahre arbeitete Nolan am Konzept für „Inception“. Das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen. Er schöpft aus den vollen der Kinokunst und zeigt noch nie gesehene Bilder, die Gänsehaut garantieren. Durch das Eintauchen in immer tiefere Traumdimensionen, knüpft Nolan ein komplexes Netz aus Handlungssträngen, das uns als Zuschauern die volle Aufmerksamkeit abverlangt. Allerdings lohnt es sich mal auf die Pinkelpause zu verzichten. Denn anders als andere Filme, in denen die Traum Thematik oft als Freifahrtschein für ein ausuferndes Verwirrspiel der Zuschauer genutzt wird, überzeugt „Inception“ mit nachvollziehbarer Struktur und Logik der bizarren Traumrealitäten. Als Begleiter stellt Nolan uns die Figur der Ariadne (Ellen Page) - die Architektin - zur Seite. Auch sie ist neu und muss sich erst zurechtfinden in dieser verwirrend faszinierenden Nolanschen Traumwelt und steht - wie der Name schon verrät - für den roten Faden der uns durch dieses Labyrinth führt. Die geforderte Aufmerksamkeit wird zudem mit faszinierenden Bildern voller architektonischer wie perspektivischer Unmöglichkeiten und optischer Täuschungen, die an die Werke von M.C.Escher ( die unendliche Treppe ) erinnern, belohnt. Während des Traums halten wir ihn für real. Erst wenn wir aufwachen, merken wir, dass er recht seltsam war. - erklärt uns Meister-

dieb Dom Cobb in „Inception“. Diesem grundlegenden Realitätsanspruch, den Träume so an sich haben, löste Christopher Nolan wohl auch deshalb so bravourös, weil er es sich und seinem Team auch nicht ganz so einfach machte. Trotz des „Avatar“ – Zeitalters, versuchte er Computereffekte auf ein Minimum zu reduzieren. Dass nicht zu viel in die Trickkiste gegriffen wurde, merkt man dem Film auch an. Anstelle, wurden aufwendige und vor allem hydraulische Sets gebaut. Darunter ein Hotelkorridor der sich um 360° drehen konnte und in dem Schauspieler Joseph Gordon - Levitt auch selbst – nach wochenlangem Training – seine Szene und seinen Stunt spielte. Um möglichst viel an Originalschauplätzen drehen zu können, wurde auch viel gereist. Da „Inception“ uns nicht nur in die Traumwelt entführt, sondern fast einmal um die ganze Welt, fanden die Dreharbeiten in sechs Ländern und vier Kontinenten statt. Nolans Hang zu unbequemer aber lohnender Authentizität trägt zum realistischen Ambiente seines Films über Träume bei. „Inception“ ist ein Meisterwerk geworden, dass Christopher Nolan in den Regie Olymp katapultiert. Ein Leuchtfeuer des gegenwärtigen Kinos, das neue Maßstäbe setzt. Ein Film, den man nicht verpassen darf, weil er uns als Zuschauer wieder daran erinnert, warum es das Kino überhaupt gibt. Sabina Filipovic

Ein absolut sehenswerter kleiner Film mit großer Wirkung Daniel ist 34 Jahre alt, hat sein Studium mit Auszeichnung abgeschlossen und beginnt einen neuen Job. Zwischen ihm und seiner Kollegin Laura entwickelt sich eine enge Freundschaft aus der die große Liebe wird. Der einzige Haken an der Sache ist, dass er ein Chromosom zu viel hat. Daniel ist mit dem Down - Syndrom auf die Welt gekommen. Diese ungewöhnliche Liebesgeschichte ist für die spanischen Regisseure Álvaro Pastor und Antonio Naharro, der erste abendfüllende Kinospielfilm. Pastor und Naharro schaffen es mit Feingefühl und Respekt die schwierige Thematik von Liebe und Sexualität bei Menschen mit Down – Syndrom ehrlich und mit viel Leichtigkeit darzustellen. Ein Film mit einer schlichten Erzählweise und einer klaren Inszenierung, bei der viel mit der Schulterkamera und mit natürlichen Lichtquellen gedreht wurde. Die alltäglichen Vorurteile und Ressentiments die Daniel begegnen, treten durch das Lachen und die Unbeschwertheit des liebenswürdigen und ungleichen Paars in den Hintergrund. Vor allem wegen seiner grandiosen Darsteller Pablo Pineda (Daniel), der tatsächlich als erster Europäer mit Down – Syndrom einen Hochschulabschluss erlangte, und Almodovar – Schauspielerin Lola Dueñas (Laura) ist „Me Too“ eine bewegende Romanze geworden die ins Mitten ins Herz trifft. Bei den Filmfestivals in San Sebastian erhielten beide Darsteller 2009 die „Silberne Muschel“ als Beste Schauspieler und in Rotterdam wurde „Me Too“ 2010 Sabina Filipovic

Hintergrundbild: "CINEMA" von LILITHIA auf www.deviantart.com

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Trödeln - eine geheime Geldquelle Man kennt es ja: Wir Studenten sind oft knapp bei Kasse! Vorallem jetzt im Zeitalter der Studiengebühren. Da reicht oft ein Job

Sonntagmorgen, 06:30Uhr: Besims Wecker klingelt. Der Frühe Vogel fängt den Wurm. Deswegen steht der FH-Student lieber etwas eher auf, um bereits um 07:15Uhr vor den Toren der Alten Feuerwache, nähe Ebertplatz, zu stehen. „Um 08:00Uhr wird zwar erst das Tor geöffnet, aber bis dahin hat sich hinter mir eine lange Schlange gebildet, um die besten Plätze abzustauben. Wer einen guten Platz hat, verkauft auch mehr.“

nicht mehr aus. Ein bisschen legal erworbenes Taschengeld käme im Prinzip jedem von uns gelegen, oder? Und wenn man dieses legal erworbene Taschengeld auch noch mit einer netten häuslichen Entrümplung verbinden kann, wäre es für uns Studierende fast wie ein Sechser im Lotto.

Na klar, gemeint ist das Trödeln, oder besser gesagt der Flohmarkt. Meins-magazin hat für euch einen Tag lang den BWLer Besim auf dem Flohmarkt begleitet und eine geheime Geldquelle entdeckt.

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08:00Uhr: Ein Gedränge hat sich vor der Alten Feuerwache entwickelt. Nicht nur ein menschlicher Auflauf, auch Autos stehen Schlange, um auf das Gelände fahren zu können. Jeder „Nicht-Trödler“, der die anliegende Straße befahren will, sollte lieber einen anderen Weg wählen, denn hier ist derzeit jeder versuchte Durchgang vergebens. Sobald die Tore öffnen stürmen die Trödler auf die Fläche, besetzen den erwünschten Platz und bauen schnellstmöglich auf. „Die eingefleischtesten Kunden stehen schon beim Aufbau auf der Matte und wühlen sogar in noch nicht ausgepackten Sachen rum“, so Besim. Das frühe Aufstehen wird belohnt, seinen erwünschten Platz bekommt er nämlich. Während des Aufbaus erklärt Besim mir, wie man sich eigentlich anmelden muss, um auf dem Flohmarkt verkaufen zu können: „Zunächst schaut man unter www.altefeuerwachekoeln.de nach, wann der nächste Flohmarkt stattfindet. Am Montag zwischen 17Uhr und 19Uhr vor dem Flohmarktsonntag ist dann immer die telefonische Anmeldung oder online zwischen 18Uhr und 19Uhr. Wenn dann am Dienstag die Standgebühr bezahlt wurde, ist die Anmeldung verbindlich. Jeder gemietete Meter kostet 8Euro. Fairnesshalber und wegen der hohen Nachfrage darf ein Stand sich

höchstens auf 4 Meter belaufen. Außerdem gibt es zwei Bereiche. Mietet man den roten Bereich darf man, wie ich, schon um 8Uhr aufbauen, bei dem weißen Bereich erst um 9Uhr. Spätentens um 18Uhr aber muss alles wieder geräumt sein.“

liche Verkäuferin aus der Südstadt, doch sie bietet ihre Sachen stets auf der Alten Feuerwache an. „Die familiäre Atmosphäre und die Menschen hier gefallen mir. Ich sehe das Verkaufen nicht als Arbeit, sondern als Vergnügen an“, sagt die 27Jährige.

Derweilen stöbern die frühen Besucher tatsächlich in noch nicht ausgepackten Taschen, um gute Ware zu erbeuten. Besims Nachbarin Angelique hat sich noch nicht ganz daran gewöhnt und möchte lieber erst alles aufbauen, bevor verkauft wird. „Da verliert man sehr schnell den Überblick und merkt auch nicht gleich, ob was fehlt“, so die hauptberufliche Erzieherin. Das Aufbauen der eigens mitgebrachten Tische und Klamottenständer benötigt schließlich die Aufmerksamkeit der Verkäufer.

Informatikstudentin Lena kauft gerne auf dem Flohmarkt ein. Am liebsten kauft sie Halstücher. „So ein Halstuch bekommt man in normalen Geschäften für 7-10 Euro. Hier sehe ich meistens sehr ausgefallene Tücher, die weit unter diesem Preis liegen. Aber vor allem mag ich den Flair des Flohmarkts. Im Geschäft ist alles festgesetzt, hier hat man nicht nur relativ günstige Preise, sondern kann diese auch noch weiter runter handeln. Das macht Spaß“, erklärt Lena.

„Egal ob CDs, Klamotten, Schuhe, Schulbücher, Bilder, Elektroware oder alte Handys – auf dem Flohmarkt kann man praktisch alles verkaufen“, schwärmt Besim, „wichtig ist nur, dass es kein Müll ist, sondern wirklich schöne, brauchbare Dinge. Wer her kommt und abgetragene Shirts für 5Euro loswerden will, ist hier falsch. Die Menschen kaufen keinen Müll und schon gar nicht für 5Euro. Da bekommt man bei diversen Billigdiscountern neue Shirts für den Preis.“ Der Tag bewegt sich gen Mittag und bei Besim läuft das Geschäft prächtig. Rund 200Euro hat er schon eingenommen. „Jetzt wird es nicht mehr so gut laufen. Schließlich hab ich unter anderem eine Digital Kamera und eine teure Uhr verkauft“, befürchtet er, „da kommt schnell mal 200Euro zusammen“. Auch andere Verkäufer scheinen einen guten Handel zu machen. „Solange das Wetter mitspielt, sind die Kunden bester Laune und kaufen folglich mehr“, weiß Angelique. Eigentlich kommt die freund-

Gegen 17Uhr beginnen die Verkäufer aufzuräumen, da kaum mehr Kunden kommen. Mit knapp 350Euro ist Besim sehr zufrieden mit diesem für ihn besonders sonnigen Sonntag. „Das hat sich wirklich gelohnt. Die Sachen wären andernfalls verwahrlost und so haben sie noch irgendwo Verwendung gefunden und ich bin um einiges reicher“, lacht er ein wenig erschöpft. Für meinsmagazin Leser gibt der 26Jährige mir noch einen Tipp mit auf den Weg: „Wer nichts zu verkaufen hat und gerne kocht und backt, kann vielleicht selbstgemachte Kuchen und Snacks für Flohmarktbesucher und -verkäufer anbieten.“ Auch so ein Stand existiert an der Alten Feuerwache, aber warum sollte man keine Konkurrenz machen dürfen…? Text und Bilder: Veronika Czerniewicz

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Ein altes Fach in neuem Gewand Über den Bachelorstudiengang Romanistik Ich werde häufig gefragt, was sich hinter dem Studienfach Romanistik verbirgt und in der Tat könnte ich auch einfacher formulieren, was ich studiere, nämlich Französisch und Spanisch. Diese Angabe klingt jedoch nicht ganz so altehrwürdig und geheimnisvoll, daher gebe ich meist dem Überbegriff den Vorzug. Doch auch die Frage, was man denn genau studiert, wenn man (diese) zwei Sprachen studiert, wird mir bisweilen gestellt. Meist in der Verbindung „auf Lehramt?“. Nein, nicht auf Lehramt, nicht mehr auf Magister, sondern auf Bachelor. Selbst im traditionsbewussten Fach Romanistik kann man sich nicht mehr gegen die neue Spezies der B.A.’s wehren, die sich im Philosophikum der Universität zu Köln immer weiter verbreiten. Doch was macht das Bachelorfach Romanistik in Köln aus? Zunächst handelt es sich dabei um einen Zwei-Fach-Bachelor, was bedeutet, dass es möglich ist, lediglich eine der romanischen Sprachen (Französisch, Spanisch, Italienisch, Portugiesisch) mit einem weiteren Fach der Philosophischen Fakultät zu verbinden. Man kann jedoch auch zwei romanische Sprachen studieren, worüber man nicht selten verständnislose Blicke erntet. Das Studium gliedert sich in Sprachpraxis, Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Landeskunde. Erst- und letztgenannte Module werden in der jeweils studierten Sprache von Muttersprachlern aus den entsprechenden Ländern unterrichtet. Zu Studienbeginn werden B1-Kenntnisse der jeweiligen Sprache vorausgesetzt, was allerdings nicht bedeutet, dass man ohne solche nicht trotzdem anfangen könnte Romanistik zu studieren, man muss sich lediglich auf eine Verlängerung des Studiums durch Propädeutika gefasst machen (und die Regelstudienzeit darf man als B.A.-Student ja nie aus den Augen verlieren…). Die Sprachkurse, zu denen auch Übersetzungskurse gehören, verbessern die Sprachkenntnisse

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zwar, können einen Auslandsaufenthalt jedoch nicht ersetzen, welcher in Köln übrigens nicht obligatorisch ist, sondern nur dringend angeraten wird. Alle Module münden in einer Bachelorprüfung und –arbeit, von denen im Moment die ersten durchgeführt bzw. verfasst werden, daher hapert es auch noch manchmal mit der Organisation - Probleme mit dem universitären Netzwerk und Lieblingsthema Klips exklusive. Die Tatsache, dass man als Bachelorstudent alle Veranstaltungen mit Lehramtstudenten teilt, führt leider dazu, dass man als solcher hin und wieder übergangen wird, man Informationen über das eigene Studium verzweifelt suchen muss und schließlich immer wieder auf das recht kurz gehaltene Modulhandbuch zurückgreifen muss. Wer über diese formellen Schwierigkeiten jedoch hinwegsieht, darf sich darauf freuen, sich mit inhaltlichen Fragen zu beschäftigen wie: inwiefern hängt unser Denken mit unserer Sprache zusammen und bedeutet eine andere Sprache zu beherrschen auch, sich in fremde Denkmuster hineinzudenken? Auf literaturwissenschaftlicher Ebene kann man sich z.B. mit den Romanen Marcel Prousts beschäftigen, mit der existenzialistischen Philosophie Jean-Paul Sartres, der Romantik, dem Realismus, der Antike. Oder aber mit der Lyrik im goldenen Zeitalter oder den politischen Gedichten zur Zeit des spanischen Bürgerkriegs. Einer Frage wird man selbstverständlich nicht entgehen können, einer, die mindestens jedem Geisteswissenschaftler, wenn nicht jedem, der nicht Medizin, Jura oder auf Lehramt studiert, früher oder später, aber eigentlich permanent blüht: Und was willst du damit machen? Tja, die leidige alte Frage und die perfekte Antwort habe ich zwischen „Mal sehen“, „alles und nichts“ oder dem Versuch penibler Aufzählung aller sich mir bietenden Möglichkeiten noch nicht gefunden. Tatsächlich gibt es vielfältige Möglichkeiten

im Kulturbereich, bei internationalen Organisationen, im Lektorat und so weiter und so fort. Letztendlich kann wohl keiner, der sich noch im Studium befindet, sicher sagen wohin es ihn verschlägt, aber ist das nicht auch etwas Schönes? Die Möglichkeit der Spezialisierung durch einen Master ist ebenfalls gegeben: so kann man im Nachhinein doch noch „nachgeben“ und einen Master of Education ablegen (jedoch noch nicht in Köln), um doch noch in den so häufig abgewiesenen Lehrerberuf einzusteigen (aber das nach all der Mühe bei der Rechtfertigung des eigenen Studienfachs, nicht auf Lehramt?). Außerdem gibt es den wohlklingenden Masterstudiengang Literaturübersetzen in Düsseldorf und zahlreiche andere weiterführende Übersetzer- und Dolmetscherstudiengänge. Was den Master angeht, gibt es auch noch einen weiteren Bonus zu nennen: bleibt man beim Fach Romanistik an der Uni Köln, gibt es hier keine Zulassungsbeschränkungen, Eignungstests, Grenznoten oder andere Filtermaßnahmen, vor denen es einem als Bachelorstudent graut, und man kann sich ohne jeglichen Stress weiterhin mit Voltaire, Dante, Góngora und Camus befassen und nebenher den schönen Abschluss Master of Arts erlangen. Leyla Bektas

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Fotostrecke Skulpturenpark Köln

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RenĂŠ Becker


RenĂŠ Becker


RenĂŠ Becker


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FernSicht Bild: Leyla Bektas


Istanbul – Ein Spaziergang durch Beyoğlu

In seinem Nobelpreisgekürten Buch Istanbul (2003) schreibt Orhan Pamuk, dass lediglich die Leute, die außerhalb von Istanbul leben, das Innere Istanbuls ausnahmslos loben und die Stadt als durchweg schön beschreiben und darstellen können. Dieses Schicksal wird wohl jedem zuteil, der einen kurzen Trip in diese Stadt unternimmt, so auch mir, sogar im doppelten Sinne. Zum einen lebe ich nicht in Istanbul und zum anderen wohne ich in den paar Tagen nicht in der Innenstadt, sondern eine Stunde von ihr entfernt. Nähert man sich ihr von der Peripherie über die Schnellstraße, so reihen sich ärmlich anmutende Viertel an neu gebaute Hochhäuser und an Bauflächen. Die Außenbezirke Istanbuls weisen kaum Grün oder freien Platz auf, hier wird Beton an Beton gereiht, Tendenz steigend. Die Innenstadt mit Vierteln wie Ortaköy oder Taksim hingegen steht in Widerspruch zu dieser Flächennutzung: hier und dort verfallene, nicht mehr bewohnbare, alte Holzhäuser, denen man ihre ehemalige

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Anmut und Schönheit noch anmerkt und welchen man eher eine Restauration wünschen würde, als den Außenbezirken einen weiteren gleich aussehenden Neubau.

Seit vielen Jahren fahre ich nun nach Istanbul, aber wirklich kennen tue ich diese Stadt nicht.

Kann man sie in ihrer Vielfalt und Größe überhaupt erfassen? Dieses Jahr orientiere ich mich geographisch ein wenig, das lässt sie mir näher erscheinen. Von den letzten Jahren habe ich Eindrücke im Kopf behalten, es gefällt mir, diese Bilder im Kopf nun auch auf einer Stadtkarte einordnen zu können. Diese Berechenbarkeit macht mir die Stadt nicht langweilig, sondern vertrauter. Wir starten am Taksimplatz, laufen durch den alten Stadtkern um Beyoğlu, einstiges Wohnviertel ethnischer Minderheiten. Dieser Stadtteil besteht zu einem Großteil aus der Istiklâl Caddesi, der Straße der Unabhängigkeit, einer breiten, langen und belebten Einkaufsstraße, durch die sich eine Bummelbahn mit einem Waggon ihren

Weg bahnt, und über der auch im Juli eine weihnachtlich anmutende Beleuchtung funkelt. Auf dieser Straße laufen verschleierte neben knapp bekleideten Frauen. Ich empfinde es als komfortabel, wegen meines Rockes, der nicht einmal kurz ist, nicht viele fixierende Männerblicke auf mir zu spüren, wie ich es beispielsweise in Ankara erlebe. Würde ich hier in Beyoğlu wohnen, würde ich mir morgens wahrscheinlich keine moralischen Gedanken darüber machen, was ich anziehe und das tragen wonach mir ist – das bin ich gewohnt und das weiß ich hier zu schätzen. Schön sind die kleinen Gassen um die große Istiklâl Straße herum: der Fischmarkt (Balık Pazarı), die Ciçek Pasajı und die Sofyalı Sokak. Hier lässt es sich angenehm im Schatten flanieren, Restaurants und Cafés pflastern den Weg, häufig in Verbindung mit Live-Musik. Folgt man der Istiklâl Caddesi und passiert das schwedische Konsulat auf der Linken, wird die große Einkaufsstraße zu einer absteigenden Gasse mit einigen Kreativ-/Second-Hand-Geschäften und unzähligen Musikinstrumenten-Läden. An jeder Ecke gibt es preiswerten, frisch gepressten Saft zu kaufen. Wir nähern uns dem Galata-Turm, unter dem Alt und Jung den Schatten genießt. Durch enge Gassen laufen wir auf das Goldene Horn zu, in

Galata am Ufer kann man sich noch einen Fisch auf die Hand nehmen, bevor man auf der Brücke von Fischrestaurantbesitzern geworben wird.

Das Wasser ist hier so nah und blau, dass ich nicht umhin kann, diese Stadt als schön zu beschreiben, wohl wissend, dass dies nur ein Teil des Ganzen ist und sicherlich einer der angenehmeren. Kurze Zeit später bin ich auch wieder entnervt, als wir uns durch einen Tunnel unseren Weg auf die andere Seite erkämpfen, in der Hitze und umgeben von Körpergerüchen und Leuten, die selbst in diesem Gedränge noch ein Geschäft machen wollen. Die Stadt strengt mich an und doch fasziniert sie mich. Ich werde die nächsten Jahre wiederkommen.

Text und Bilder: Leyla Bektas

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Ein Semester in Bordeaux I. Noch in Köln / August 2010

In weniger als einem Monat ist es nun soweit. Seit einem Jahr schon denke ich schon so: in einem Jahr, in sechs, in zwei Monaten bin ich in Bordeaux. Immer dieser Countdown, mit immer weniger Monaten und Tagen vor mir, aber näher bringt es mir die Sache nicht. Ich bin

jetzt, 24 Tage vor Abreise, nicht schlauer als vor 100 Tagen und werde es auch nicht sein, wenn ich schon im Zug sitze. Ich male mir heute die gleichen Szenarien aus wie vor ein paar Monaten, meine nächtlichen Träume spielen sich vielleicht etwas häufiger in Bordeaux ab, aber die fiktiven Geschehnisse haben eigentlich nichts mit Bordeaux, sondern eher mit meiner jeweiligen Verfassung zu tun.

Majiang und Mosquitos Mein Auslandssemester in Südchina. Peter und Daniel fliegen in vier Wochen nach China. Das ist ja eigentlich schon fast nichts besonderes mehr, zumal die Volksrepublik als aufsteigende Wirtschaftsmacht, sowohl gefeiert als auch gefürchtet, immer mehr ausländische Studierende ins Land lockt, die das Land und die Sprache lernen wollen. Denn ist Chinesisch nicht nur die weltweit meist gesprochene Muttersprache sondern eben auch mehr und mehr der Schlüssel zum Geschäftserfolg auf asiatischem Raum.

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Und das wissen die Chinesischen Universitäten auch zu schätzen, bieten maßgeschneiderte Sprachkurse mit Ausländerwohnheimen für besseren Wohnkomfort und vielen anderen Annehmlichkeiten. Doch was, wenn man wie Peter, Daniel oder ich selbst Chinesisch als Hauptfach studiert und die unverfälschte Chinaerfahrung sucht? Erst Shanghai, dann Guangzhou, von dort aus noch zwei Stunden mit dem Bus nach Zhuhai, das wird die Route von Peter und Daniel und war auch meine vor fast genau einem Jahr. In Zhuhai werden sie ankommen vor dem längsten Unterrichtsgebäude Südasiens: ein langer weißer Kasten auf Stelzen, eingekeilt zwischen zwei dunkelgrünen Hügeln, hunderte von Unterrichtsräumen fassend, das Jiao Xue Lou des Außencampus Zhuhai der Sun Yatsen-Universität. Dort werden

Man denkt über die Zukunft nach. Ich tue es, vielleicht noch mehr, als ich über Vergangenes sinniere, zumindest im Moment. Was wird sie mir bringen? Qué será? Es ist schwierig, etwas darüber zu sagen, denn es führt einen immer wieder zum Ausgangspunkt zurück, man landet immer wieder bei Null und schließlich erzählen einem alle das Gleiche: „du wirst schon sehen, wie es wird. Es macht keinen Sinn, groß darüber nachzudenken. Lass es auf dich zukommen.“. Was Besseres kann ich mir auch nicht sagen. Lass es auf dich zukommen. Geht das überhaupt? Ist das nicht hohe Kunst? Überhaupt – nicht darüber nachdenken, ein Ding der Unmöglichkeit? An irgendwas muss ich doch denken. Aber Schluss mit den pseudo-

beide ein Jahr studieren, so wie nur wenige Studenten der Universität zu Köln vor ihnen.

Zhuhai ist fast schon ein Geheimtipp - wenn man ein etwas abenteuerliches Auslandsstudium sucht. Als ich vor über einem Jahr das erste Mal zum Beratungsgespräch im Akademischen Auslandsamt saß, fragte mich die Mitarbeiterin, ob ich mich in China auch für Guangdong - die in Deutschland auch als Kanton bekannte Provinz interessieren würde. Erst musste ich etwas stutzen - ich wollte ja Chinesisch studieren und diese Gegend ist als Sonderwirtschaftszone auch dafür bekannt mit seiner eigenen acht tönige Sprache "Guangdong Hua" sämtliche Ausländer auf kommunikatives Grundeis laufen zulassen, wenn sie hier ihr "Nihao!" an den Kantonesen zu bringen versuchen. Vielleicht gerade deshalb entschied ich mich den Sprung ins subtropische Wasser zu wagen, denn wo sonst würde ich vielleicht noch ein "echtes" Stückchen China mitbekommen. Doch was für eine Portion meine

philosophischen Fragestellungen. So tiefgründig und einzigartig ist ein ErasmusAufenthalt im Nachbarland nun wirklich nicht. Als Erasmus-Student ist man schon lange kein Exot mehr. Im Gegenteil – wer heutzutage diese Gelegenheit an sich vorbeiziehen lässt, muss schon triftige Gründe vorweisen können. Ist ja fast wie Pauschalurlaub, wie Mallorca, eigentlich geht man gar nicht weg. Der Organisationsaufwand ist gering, die Bewerbung für einen Nebenjob wäre umfangreicher. Ein paar Emails von der Uni, aber klappen tut es sowieso immer irgendwie, so heißt es. Bin ich aufgeregt? Es hält sich in Grenzen, zu viele Dinge, die man hier noch regeln muss, keine Zeit sich allzu verrückt zu machen, wie es sonst meine Spezialität ist. Klar, schon ein paar Sachen, die das Potenzial hätten, mir Panik zu machen… zum Beispiel die noch nicht vorhandene Wohnung. Doch auch das haben etliche

Erasmus-Studenten schon vor mir erlebt, ist längst kein Abenteuer mehr, man mietet sich in ein Hostel ein und sucht vor Ort, hat immer geklappt, wird also auch bei mir schon klappen. Diese ganze Angelegenheit ist wirklich nicht so spektakulär.

Kommilitonin Elena und ich uns aufgeladen hatten, wurde uns wohl erst bei unserer Ankunft bewusst.

auf die Echtheit unserer hellen Haut, Haare und Augenfarben überprüft oder ausgefragt wurden, verschwanden die Berührungsängste völlig. Ob morgens Milchtee und Bratnudeln zu frühstücken, abends zum Straßengrill zu schlendern oder Majiang zu zocken, selbst das Handeln um Gemüse geht nur auf Chinesisch und wird somit einfach Teil des Studiums, jeder Tritt vor die Tür eine neue Unterrichtsstunde, parallel in Chinesisch und Kantonesisch, versteht sich. Auch wenn das eigentliche Lernen einen erst den richtigen Geschmack vom chinesischen "Studentenleben" verlieh: Seitenweise Vokabelübungen und Aufsätze schreiben, Texte auswendig zu Lernen und Reden aus dem Stehgreif halten, Anstandsunterricht und Kalligraphie -

Plumsklos, Bananenstauden, Taifune - kein südasiatisches Dschungelklischee blieb uns vorenthalten. Ob nachts eine Riesenspinne aus der Klimanlage krabelte oder morgens sich ein Kakerlake auf der Schulter räkelte, die Natur macht selbst vor unserer klimatisierten "Luxuswohnung" mit zwei Schlafzimmern und Küche mit Kühlschrank nicht halt. Magenverstimmungen, daumengroße Mosquito-stiche, Kaffeeentzug rückblickend kommt einem vieles nicht mehr so schlimm vor. Mit nur 30 ausländischen Studenten, einer Überzahl davon Koreanern, ließ es sich schnell auch chinesische Freunde finden, die einem nicht nur beim Mittagessen halfen die Sprachkenntnisse aufzupolieren, sondern uns in das chinesische Studentenleben ließen. Obwohl man uns auf hundert Metern schon als Laowais ausmachen konnte, gerne mal auch an der Bushaltestelle

Und dann gehe ich auch noch nach Frankreich, näher geht es kaum und klassischer wäre nur Spanien. Etliche Male dort gewesen, habe es lieben gelernt und verstehe nicht die Abneigung, die einige gegenüber dem Land und seinen Einwohnern hegen. Vielleicht wird das meine Mission: Vorurteile aufdecken! Auch nicht sehr kreativ…orientiere ich mich an den Berichten zurückgekehrter „Erasmuser“ werde ich in einem Monat ohnehin vor lauter Wein und Partys nicht mehr wissen wo die Uni ist, geschweige denn eine

schnell wurde uns klar, warum chinesische Studenten so oft Instantnudeln essen und jede freie Minute zum Schlafen nutzen. Der Unterricht begann meist um 8 Uhr, doch Mittagspausen inklusive Mittagsschlaf werden eisern eingehalten, abends

komparatistische Studie über französische und deutsche Verhaltensweisen anfertigen. Dabei ist das schon eine super Sache, Erasmus, wenn man einmal darüber hinwegsieht, dass es so normal ist. Eigentlich ist es gerade eine super Sache, dass es so normal ist. Ich finde es ganz wunderbar, dass einem auf dem Weg ins Ausland keine Steine in den Weg gelegt werden. Es ist toll, dass es keine Frage des Geldes, sondern der Motivation ist. Egal, was mich nun erwartet, was…ja, auf mich zukommt (aber kommt es überhaupt auf mich zu, bewege ich mich nicht darauf zu?), diese Dinge bleiben sicher, genau wie etwas anderes sicher bleibt: Ich freue mich! Denn so normal es auch sein mag, mit Erasmus ins europäische Ausland zu gehen, so ist es für die Allgemeinheit vielleicht nichts Besonderes, aber für den Einzelnen, und somit auch für mich, wird es das auf jeden Fall sein. Leyla Bektas

noch etwas Sport, all das aber auf dem abgeschotteten Campus, den man höchstens zum Einkaufen oder Essen gehen verlässt. Vor den Toren warten auch bereits die Fliegenden Händler mit Imbissbuden, frischem Obst und Postlieferungen, die über Privatversand laufen. In die Disco gehen die wenigsten, denn um 11 Uhr schließen die Campustore, allein wer wie wir "Ausländer" in einer Privatwohnung lebt, hat Narrenfreiheit und geht auch in die örtliche Bar. Ein wenig erinnert das Leben ans Internat, auch die Sicherheitseinweisungen und das soziale Verhalten, erst recht zwischen den Geschlechtern. Händchen Halten in der Öffentlichkeit ja, für weiteres lassen die getrennten Wohnheime keinen Freiraum. Das wirkt auf den ersten Blick vielleicht weltfremd, aber dann sind wir es, die unsere Einstellung auflockern und diese scheinbare Verklemmung im Vergleich zum aufdringlichen Balzverhalten in den Bars schon recht entspannt finden. Das Leben in China läuft nun mal nach einer anderen Uhr, aber das habe ich erst nach meiner Rückkehr wirklich verstanden.

Maximiliane Koschyk

FernSicht


ErkenntnisReich Foto: RenĂŠ Becker


Die Jagd nach neuen Planeten

am Ende des Namens.

Foto: Christine Willen

Kölner Forscher suchen im Licht der Sterne von Christine Willen

Pätzold. Je nach Stand der Technik werden Astronomen in der Zukunft immer weiter entfernt liegende Sterne sehen können. Allein in unserer Galaxie, der Milchstraße, gibt es 400 Milliarden Sterne, von denen etwa 15 % unserer Sonne ähneln. Für die Kölner Forscher ist es allerdings viele interessanter mit Hilfe der Sterne neue Planeten zu entdecken. Und zwar diejenigen Planeten, die außerhalb unserer Sonne kreisen. Die Kölner Forscher rund um Herrn Pätzold sind an einer Weltraummission der französischen Raumfahrtagentur CNES beteiligt. CoRoT steht für Convection, Rotation und planetare Transits. „Wir haben eine spezielle Software entwickelt, mit der wir die Daten von CoRoT auswerten können.“, erzählt Pätzold.

CoRoT funktioniert wie eine Digitalkamera. Das Weltraumteleskop macht alle 10 Minuten ein Bild von einem bestimmten Sternenfeld und das durchgehend bis zu 150 Tage lang. Daraus ergibt sich der so genannte Strahlungsfluss eines Sternes über die Zeit. Mit Hilfe von Hochleistungsrechnern im Rechenzentrum der Universität Köln wird der Strahlungsfluss auf Schwankungen hin untersucht. „Wenn diese Schwankungen, sich durch ein kurzzeitiges und periodisch wiederkehrendes Absinken der Lichtintensität auszeichnen, dann können wir ziemlich sicher davon ausgehen, dass dafür ein Körper verantwortlich ist, der die Sternscheibe bedeckt. Dieses Phänomen kennen wir auch von unserer Sonne, zum Beispiel als im Jahr 2004 der Planet Venus vor der Sonnenscheibe herwanderte.“, weiß Pätzold. Das ist die so genannte Transit-Methode mit der man Planeten entdecken kann: ein Begleiter läuft an der Sternenscheibe vorbei.

„Planeten und Planetensystem sind üblich im Weltraum – nur eben schwer zu finden“, weiß Pätzold. Die Endeckung neuer Planeten ist aber eher ein Zufallsprodukt. Genau in der Ebene zwischen Stern und Teleskop muss die Umlaufbahn eines neuen Planeten verlaufen, um sichtbar zu sein. Da aber noch viele andere Umlaufbahnen möglich sind, werden mit dieser Methode Schätzungsweise nur 5 % der extrasolaren Planeten entdeckt.

Foto: www.corot.de

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ErkenntnisReich

„Dann ist immer noch nicht geklärt, ob dieser Begleiter ein erdähnlicher oder ein gasförmiger Planet ist oder sogar zu den extrem selten beobachteten braunen Zwergen gehört. Mit der Transit-Methode können wir die Umlaufbahn und die Größe des Begleiters feststellen.“, erläutert Pätzold. Dann übernehmen Astronomen die weiteren Untersuchungen und schauen sich den besagten Stern und sein Begleiter noch mal genauer an. Von der Erde aus kann man feststellen, aus welchem Material der Begleiter besteht und welche Dichte er hat. „Bei einer Dichte von 3000-5000 Kilogramm pro Kubikmeter, handelt es sich um einen erdähnlichen Planeten. Bei einer Dichte von 1000 Kilogramm pro Kubikmeter ist es ein gasförmiger Planet, wie etwa der Jupiter oder der Saturn aus unserem Sonnensystem.“, erläutert Pätzold.

Die braunen Zwerge stellen ein besonderes Mysterium dar. Foto: www.corot.de

Sag mir, wie viel Sternlein stehen? Wer in den Nachthimmel schaut, mag über diese Frage schon einmal philosophiert haben. Für die Kölner Forscher vom rheinischen Institut für Umweltforschung ist diese Antwort kein Problem: „Die Anzahl hängt vom Blickwinkel und den technischen Möglichkeiten ab“, weiß Dr. Martin Pätzold. „Wenn wir mit bloßem Auge in den sternenklaren Nachthimmel schauen, dann sehen wir etwa 5000 Sterne am Firmament.“ Am 27. 12. 2006 schoss ein Satellit namens „CoRoT“ in eine Umlaufbahn der Erde. Dieser Satellit ist ein Weltraumspäher. Er soll im Universum nach den Planeten außerhalb unseres Sonnensystems suchen. „CoRoT ist ein hochauflösendes Teleskop, es beobachtet ungefähr 12 000 Sterne in einem bestimmten Sternenfeld“, erläutert

Braune Zwerge können die Forscher nur schwer zuordnen. Sind es Sterne oder Planeten? „Auf jeden Fall sind braune Zwerge, viel zu groß um als Planet durchzugehen aber eben auch viel zu klein, um als Sonne deklariert zu werden, da sie kein Licht abstrahlen. Braune Zwerge sind so etwas wie die Verlierer aus dem All“, erzählt Pätzold augenzwinkernd. Bisher wurden in dem Projekt 15 Begleiter entdeckt. Einer davon ist der Erde ähnlich, zwölf

sind gasförmig und zwei sind den braunen Zwergen zuzuordnen. Das Projekt läuft noch bis 2013. Bis dahin rechnen die Kölner Forscher noch mindestens 100 weitere Planeten mit Hilfe des Weltraumteleskops CoRoT zu entdecken. „Jetzt befindet sich das Teleskop in etwa 900 Kilometer über der Erde. Wenn das Projekt vorbei ist, wird das Teleskop abgeschaltet und in eine weiter draußen liegende, stabile Umlaufbahn geschossen.“, weiß Pätzold. Stabile Umlaufbahn, das heißt für mindestens 4000 Jahre stabil. Eine andere Möglichkeit Satelliten zu entsorgen, wäre sie in der Erdatmosphäre verglühen zu lassen.

Wer gibt den neuen Planeten einen Namen? Wäre es nicht schön, einen neuen Planeten seinen Namen geben zu können? Im Fall von Planeten ist das leider nicht möglich. Nur bei Kometen können die Entdecker den Namen geben. Trotzdem sind sich die Experten rund um CoRoT bei der Namensgebung noch nicht bis ins Detail einig. Hier stellen die Braunen Zwerge einmal mehr einen Sonderfall dar. Normalerweise heißt ein neu entdecktes Objekt immer „CoRoT, plus eine Zahl, plus ein kleiner Buchstabe“. Die Zahl steht für den Stern und der kleine Buchstabe für seinen Planeten. So ist zum Beispiel „CoRoT-8b“, ein relativ kleiner Planet, der etwa 30 % kleiner ist als Saturn. Wie will man nun die braunen Zwerge nennen, wo sie doch weder Sonne noch Planet sind? Vermutlich wird man sich darauf einigen, dass braune Zwerge Großbuchstaben tragen statt des üblichen Kleinbuchstaben

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Augen auf, beim Online-Kauf Internet-Kunden gehen verhältnismäßig naiv mit ihren persönlichen Daten um In der Theorie sind sich alle Internet-Kunden einig: 95 % geben an, großen Wert auf den Schutz ihrer Privatsphäre zu legen. Ein Experiment mit Studierenden der TU Berlin offenbarte nun ein völlig anderes Kaufverhalten. Die Teilnehmer der Studie konnten über die Amazon-Plattform eine DVD bei zwei verschiedenen Online-Anbietern erwerben. Einer von den beiden Anbietern erfragte neben den kaufrelevanten Informationen zusätzlich noch das Geburtsdatum und das Einkommen des Käufers. In dem ersten Experiment war die DVD bei beiden Anbietern gleich teuer. In diesem Fall entschieden sich etwa gleich viele Probanten für den einen oder anderen Anbieter. Ohne irgendeinen Vorteil davon zu haben, gaben etwa die Hälfte der Probanten ihre persönlichen Daten preis. War die DVD bei dem Anbieter mit den zusätzlichen Datenangaben um nur einen Euro günstiger, so entschieden sich sogar 90 % der Käufer für die günstigere DVD. Das Ergebnis zeigt, das in der Praxis gar nicht so sehr auf Datenschutz geachtet wird. Es bestehe wenig Bereitschaft, die Kaufbedingungen der Anbieter genau zu vergleichen, selbst wenn diese Bedingungen völlig transparent dargestellt würden. Christine Willen

Erdmännchen schlagen unüberhörbar Alarm Nicht-linerare Lautphänomene erhöhen die Aufmerksamkeit bei Gefahren Nicht-linerare Lautphänomene, das sind Lautäußerungen bei der eine Stimmmembran doppelt so schnell schwingt, wie die andere. Hört sich kompliziert an? Ist es aber gar nicht. Nicht-linerare Lautphänomene sind vergleichbar mit Babygeschrei oder einem Ausruf aus Furcht. Verhaltensbiologen der Universität Zürich haben jetzt den nicht-linearen sing sang der Erdmännchen in der Kalahari in Südafrika untersucht. Und zwar kommen diese Lautphänomene genau dann vor, wenn sie sich gegenseitig vor Raubtieren warnen. Nicht-lineare Lautphänomene steigern die Aufmerksamkeit, da sie schlichtweg überraschender, unvorhersehbarer und damit schwieriger zu überhören seien. Überhören konnten die Erdmännchen auch nicht die Tonbandaufnahmen von Marta Manser und Simon Townsend von der Universität Zürich. Die beiden Verhaltensbiologen spielten den Erdmännchen Warnrufe vor, waren diese Nicht-linear, dann retteten sich die Erdmännchen eher in ihr Schutzloch und brauchten länger, bis sie wieder auf Nahrungssuche gingen. Somit wurde zum ersten Mal bewiesen, dass nicht-lineare Lautphänomene bei Tieren eine wichtige Funktion erfüllen. Damit nicht genug: weitere Forschungen sollen darauf abzielen, anhand der Erdmännchen, die menschlichen schrägen Lautphänomene besser zu verstehen. Uuuiiiaaah, was für eine Untersuchung! Christine Willen

Landkinder haben weniger Heuschnupfen Ausgerechnet ein Stoff aus Pflanzen verhindert die übersteigerte Immunantwort Auf dem Bauernhof groß zu werden kann vor Allergien schützen. Forscher der Ruhr-Universität Bochum haben den Staub aus Viehställen untersucht, um herauszufinden ob sich dort der Schlüssel zu diesem Phänomen befindet. „Die Suche nach der schützenden Substanz war wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen“, sagt Dr. Marcus Peters. Stallstaub besteht hauptsächlich aus pflanzlichen Bestandteilen. Davon mit etwa 10 % aus einem großen Zuckermolekül, dass so genannte Arabinogalaktan. Dieser Zucker kommt zum Beispiel in der Futterpflanze Wiesenfuchsschwanz vor. Zuckermoleküle spielen eine wichtige Rolle für das Erkennen von Bakterien durch das Immunsystem. So testeten die Forscher an Laborratten, ob sich eine Immunantwort in Anwesenheit von Arabinogalaktan veränderte. Mit dem Ergebnis, dass die Immunantwort zwar etwas gedämpft war, aber die Abwehr von Krankheitserregern an sich trotzdem funktionierte. Es wurde lediglich eine übersteigerte Immunantwort verhindert, wie es etwa bei Allergien der Fall ist. So schützt ausgerechnet das Gras-Bestanteil vor Heuschnupfen. „In kleinen Konzentrationen können die Pollen des Wiesenfuchsschwanzes Allergien auslösen, in großen Dosen und sehr früh im Leben aber auch verhindern. Nichts anderes als eine Dosissteigerung ist ja auch die Strategie bei der Hyposensibilisierung.“, weiß Peters. Christine Willen

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FeinSinn Foto: RenĂŠ Becker


Aus dem gleichen Grund, eben weil er nicht sprechen konnte, stand er hier. Er hatte sich in seiner Jugend oft Experimente ausgedacht, um sich von seiner Sprachlosigkeit abzulenken. Dinge selbst herauszufinden, war immer eine Leidenschaft von ihm gewesen. Sie kompensierte das nicht vorhandene Vermögen zu Sprechen. Deshalb stand er hier und zählte die Sekunden, die er aushielt unter dem kalten Strahl zu stehen und zu frieren. Wenn es ihm zu kalt werden würde, würde er gehen. Die Sekunden, die er gezählt hätte, tief in seinem Kopf verwurzelt nach Hause tragen und sie aufschreiben. In das Buch in dem er all die Dinge festhielt, die er selbst rausgefunden hatte. Es war ein großes, dickes Buch mit dem Titel: „Die Experimente des Hermann

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Wassernau“. Als Untertitel hatte er festgehalten: „Ich muss wohl verrückt gewesen sein, doch das sollten sie mir verzeihen.“ Er wusste nicht für wen er das Buch schrieb. Er hatte einfach damit angefangen. Doch er wusste, dass wahrscheinlich niemand ihn je wirklich verstehen würde. Genauso, wie er niemandem je wirklich etwas sagen können würde. „Fünfhundereinundachzig, fünfhundertzweiundachzig, fünfhundertdreiungachzig.“ Das Wasser lief immer noch in Strömen, doch noch war Hermann nicht kalt genug. Ja, er hielt sich wirklich für verrückt. Ein wenig jedenfalls. Aber er hatte Spaß daran. „Fünfhundertvierundachzig, fünfhunderfünfundachzig, fünfhundersechsundachzig.“ Während er so vor sich hinzählte, grinste, nickte und winkte, bemerkte er einen Mann mit Hut, der auf ihn zu kam. „Fünfhundertsiebenundachzig, fünfhundertachtundachzig, fünfhundertneunundachzig.“ Der andere trat jetzt neben ihn, verbeugte sich, grinste, nickte, zuckte mit den Schultern und winkte ihm zu. Dann gab er ihm die Hand. Lachte kurz auf und begann sich auszuziehen. „Fünfhunder...“ Hermann sah dem Fremden verwundert zu. Dieser zog sich aus, bis auf die nackte Haut, stellte sich in den Regen und begann zu tanzen. Den Hut vor sich auf den Boden gestellt, wie es die Straßenmusiker taten. Langsam lief das schwarze Kleidungsstück mit Wasser voll. Der Mann machte sich aber allen Anscheins nach nichts daraus, sondern tanzte ausgelassen. Hermann grinste ihm zu. Es regnete zwar, doch er

fühlte sich verstanden. Ein Schimmer der Sonne brach durch die Wolken. Hermann fiel auf, dass er vergessen hatte, wo er aufgehört hatte zu zählen. Doch er fror eh nicht mehr. Der Mann nahm den mit Wasser gefüllten Hut in die Hand, und setzte ihn sich auf. Das Wasser lief ihn Strömen an seinem nackten Körper entlang. Er lachte auf, klaubte seine anderen nassen Sachen auf, und lief davon. Hermann nickte. Dann ging auch er davon.

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Christopher Dröge { Bild von sxc.hu (bertvthul) Simeon Buß | Bild von Evelyn Laoun

Es regnete schon den ganzen Tag. Zudem war es nebelig. Hermann stand mitten unter einem Regenrohr. Besser gesagt, unter einem Loch in einem Regenrohr. Das Wasser lief sein Gesicht hinab, unter seinen Kleidern hindurch direkt in seine Schuhe. Es war als ob er mit Regenwasser duschte. Ein schöner, dicker Strahl, der direkt auf seinen Kopf klatschte. Er selbst zählte die Sekunden, seit er angefangen hatte zu frieren. Menschen die tief gebückt unter ihren Regenschirmen vorbeigingen, betrachteten ihn mit argwöhnischen Blicken. Einige waren gekommen, hatten ihn gefragt, ob alles in Ordnung sei. Er hatte nur genickt, gegrinst und gewunken. Er konnte von Geburt aus nicht sprechen. Das wussten sie natürlich nicht, waren sich veralbert vorgekommen und ihres Weges gegangen. Er hatte mit den Schultern gezuckt, genickt, gegrinst und gewunken.

Wenn du glaubst, du bist verrückt, wirst du immer einen finden, der verrückter ist.


Sehr geehrte Frau Kannengießer, Wir bedanken uns herzlich für ihre Bewerbung um einen Studienplatz an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee für das Wintersemester 06/07. Leider müssen wir ihnen mitteilen, dass… Lena lässt den Brief sinken. Weiter braucht sie nicht zu lesen. Den Rest kennt sie bereits aus dem halben Dutzend anderer Ablehnungsschreiben, die sie in der untersten Schublade ihres Schreibtisches aufbewahrt. Trotzdem dauert es eine Weile, bis sich ihr Herzschlag wieder beruhigt. Das war’s dann wohl. Als sie an der Mappe gearbeitet hatte, hatte sie beschlossen, dass es ihr letzter Versuch sein würde. Wenn sie sie auch diesmal ablehnten, würde sie diesen schal gewordenen Traum zu Grabe tragen und sich etwas Neues überlegen. Damals hat das sehr einfach und vernünftig geklungen. Aber jetzt, da sie es schwarz auf weiß hat, fällt ihr einfach nichts „Neues“ ein. Seit sieben Semestern studiert sie nun schon Kunstgeschichte, was sie nach den ersten Ablehnungen für eine passable Notlösung gehalten hat. Aber in den vergangenen Jahren hat sie ständig diese flüsternde Stimme im Hinterkopf gehabt: Das ist es nicht. Das ist nicht das, was du mit deinem Leben anfangen willst. Deswegen hat sie es noch einmal wissen wollen. Noch nicht einmal Mitte zwanzig und schon gescheitert. Sie denkt an die naiven Vorstellungen die sie früher gehabt hat; irgendwie kommt ihr die Küche auf einmal kälter vor. Sie ließ den Blick noch einmal über das Schreiben wandern. „Bitte betrachten sie dies nicht als

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eine Abwertung ihrer künstlerischen Fähigkeiten…“ Wütend knüllt sie den Brief zusammen und feuerte ihn in Richtung des Papierkorbs. Nicht als Abwertung. Der reine Hohn. Sie schnappte sich das Telefon und wählte Stefans Nummer. Ihre Hausarbeit über die Fluxus-Bewegung wird wohl warten müssen. Heute Abend braucht sie ein wenig Ablenkung. Sie treffen sich in ihrer Stammkneipe, einer kleinen Bar, in der sie alte Soulsachen und Funk aus den Siebzigern spielen. „Trink doch nicht so schnell“ meint Stefan, als sie ihr zweites Bier in einem Zug zur Hälfte hinunterkippt. „Ich trink heute so schnell und so viel ich will“ murrt Lena. Stefan schweigt einen Moment, bevor er einen neuen Versuch startet sie aufzumuntern. „Versuch es doch nächstes Jahr einfach noch mal. Diese Gutachter sind doch genauso subjektiv wie du und ich. Dieses Mal hattest du halt Pech, nächstes Mal vielleicht Glück.“ Lena schüttelt den Kopf. „Nein, ich muss mir das aus dem Kopf schlagen. Irgendwann muss man einfach der Realität ins Auge sehen. Ich kann doch nicht ewig meinen Träumen hinterher hängen.“ Stefan zuckt die Achseln. „Warum eigentlich nicht? Wenigstens hast du dann noch Ziele im Leben; ist doch egal, wie unrealistisch sie sind. Immerhin wagt man dann etwas, anstatt einfach aufzugeben.“ Lena lässt sich das durch den Kopf gehen. „Tja… so gesehen… irgendwie hast du schon recht. Aber soll ich jetzt darauf vertrauen, dass ich beim

Christopher Dröge { Bild von sxc.hu)

Telepathie nächsten Mal zufällig an den einen Prüfer gerate, der meine Sachen für gut genug hält, nachdem ich vorher schon hundertmal abgelehnt wurde? Ich glaube einfach nicht an Zufall.“ „Na ja, ich auch nicht. Ich glaube nur, dass du die verdammt beste verkannte Künstlerin in diesem Land bist.“ Er steht auf und küsst sie im Vorbeigehen auf die Wange. „ich geh mal auf Klo.“ Zwei Stunden später kommt Lena von der Toilette wieder, wobei sie etwas erschrocken bemerkt, dass sie anfängt zu schwanken. „Ich glaube, ich hab langsam genug. Lass uns gleich mal gehen“ sagt sie, als sie sich setzte. Stefan nickt geistesabwesend, starrt derweil auf das Display seines Handys. „Ja, okay. Lass uns nur kurz warten, ich will wissen, was Jan will, vielleicht ist er ja irgendwo in der Nähe.“ „Häh? Hat er dich gerade angerufen?“ Stefan schüttelt den Kopf. „Nein, aber er wird mir gleich eine SMS schreiben. Ich hatte gerade einen Fall von Gedankenübertragung; hab irgendwie gedacht, ich könnte mich ja mal bei ihm melden und jedes Mal, wenn ich das tue, ruft kurze Zeit später er bei mir an.“ Lena glaubt sich verhört zu haben: „Du willst mir also weismachen, dass du zwar nicht an Zufälle glaubst, aber dafür an Telepathie? Du spinnst doch.“ „Klar glaub ich daran. Passiert dir das nie? Ich hab das ständig.“ In diesem Moment gibt Stefans Telefon ein schrilles Piepen von sich. Triumphierend zeigte er ihr das Display. „Siehst du? SMS von Jan, wie ich gesagt habe.“ Lena muss lachen und schüttelt ungläubig den Kopf. „Okay, wie hast du das gemacht?“

Stefan grinst und tippt sich an die Stirn. Das Rattern der S-Bahn versetzt sie beide in einen dämmrigen Zustand und den größten Teil der Heimfahrt verbringen sie schweigend. Lena hängt ihren Gedanken nach. Gerade passieren sie den Bahnhof, der Lena immer im Gedächtnis bleiben wird, denn vor Jahren hat sie hier eine sehr kalte Nacht verbracht. Das war an dem Tag gewesen, als ihre Eltern sich getrennt hatten; zuhause hatte sie es einfach nicht mehr ausgehalten. Eine andere Illusion, die zerbrochen ist. Inzwischen ist es mehr als ein Jahr her, dass sie das letzte Mal mit ihrem Vater gesprochen hat. Vielleicht hat Stefan ja recht. Vielleicht sollte man manchmal besser auf seine Träume und Illusionen aufpassen, damit man weitermacht und nicht aufgibt. Aber vielleicht ist es manchmal auch besser, sich von ihnen zu verabschieden, damit man offen für Neues sein kann. Sie denkt an die Telefonnummer ihres Vaters, die in ihrer Schublade unter dem Stapel mit den Ablehnungsschreiben liegt. Sie beschließt, am nächsten Tag bei ihm anzurufen. Warum auch nicht? Das Klingeln ihres Handys reißt sie aus ihren Überlegungen. Sie traut ihren Augen nicht, als sie die Nummer des Anrufers auf dem Display sieht.

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Wikipedia-Zauber

Playlist

FeinSinn hat sich in dieser Ausgabe besonders den Rätsel-Freunden angenommen und hofft, dass Ihr uns die richtigen Lösungen der Wikipedia-Gedichte herzaubert. Die Lösung des Rätsels drucken wir natürlich in der nächsten Ausgabe. Ein kleiner Tipp: Die Reihenfolge der Wörter aus den Artikeln wurde jeweils beibehalten. Und nun: Viel Spass beim Rätseln!

Crystal Castles - Magic Spells Bezogene Bedeutungen (ohne Plural) Menschen Grundstrukturen zu gebrauchen Bedeutet das Wort Oder mittels anderer fest definiertes verfügen Instrument einer Absicht Zudem (beim Menschen) Medium des Denkens gehalten von konstruierten unterschieden Disziplin zum Teil aber auch Inhalt wie ???

Abfolge im Gegensatz Richtung ist Wahrnehmung Vierdimensionale Rolle nur in einem einzigen Punkt (bezeichnet) dem Wesen der Themen berührt bei allen bewegten Körpern Entwicklung Betrachtet als Wertgegenstand Bedeutet die Form ???

The Tango Magicians – The Third Process Queen - A Kind Of Magic The Jimi Hendrix Experience - Spanish Castle Magic Explosions in the Sky - Magic Hours Nina Simone - I Put A Spell On You Portishead - Magic doors Here We Go Magic - Collector Magic Man – Monster Ladytron - Light & Magic Jarvis Cocker – Black Magic

Überwiegend Macht reservierte früher den einen verschiedenen Gebrauch jedoch heute (europazentrisch und) umstritten Menschheit, des Lebens Sich Natur ausgeweitet Gennant ???

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The Magic Magicians – I'm On Your Side Klimek – Movies Is Magic Magic Kids – Superball

Moritz Heumer { Bild von sxc.hu FeinSinn

Iris Sygulla { Bild von sxc.hu FeinSinn

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Impressum

Herausgeber:

Verein zur Förderung studentischen Journalismus Köln e.V. www.vfsjk.de

ViSdP

Niels Walker

Chefredaktion:

Niels Walker (stellv. Simeon Buß)

Art Direction:

Sebastian Herscheid

Bildredaktion:

Sebastian Herscheid

Redaktion/Lektorat:

Leyla Bektas, Simeon Buß, Christopher Dröge, Sabina Filipovic, Dennis Große-Plankermann, Moritz Heumer, Maximiliane Koschyk, Christiane Mehling, Felix Schledde, PhilippSchweers, Christine Willen

Gestaltung/Layout:

Sven Albrecht, Sara Copray, Elisa Hapke, Sebastian Herscheid

Fotografie: Website:

René Becker, Leyla Bektas, Veronika Czernievicz, Dennis Große-Plankermann, Eva Helm, Denise Hoffmeister, Evelyn Laoun, Christine Willen

Erscheinungsweise:

monatlich

50

Impressum

www.meins-magazin.de


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