meins-magazin 5

Page 1

Clueso hautnah ǀ Feinsinn lacht ǀ Geocaching Europawahlen 2009: Warum soll ich wählen gehen? Warum lachen wir? ǀ Studenten für den Weltfrieden Kneipensport: wie früher auf dem Schulhof Heft 5 ǀ Ausgabe 02/09 ǀ www.meins-magazin.de


meins

Inhalt LebensEcht

06 09 10 12 13

3 Rezepte für den schmalen Geldbeutel Geocoaching Coca Cola, Müller und so! Essen in der Mensa Sex-ABC Kolumne "Vom Leben da(n)neben"

16 17 19 21

Sylvester der anderen Art Studenten für den Weltfrieden Erfahrungsbericht: Projektarbeit und Feldforschung in Kapstadt / Südafrika Erinnerte Augenblicke in einer fremden Welt

26 28 30 30 31

Warum lachen wir? Der Zufall Fluch und Segen in der Therapie mit Antibiotika Mit dem Rollator auf der CeBIT Solarzellen wie gedruckt Identität im Internet

34 36 38 42 44 45 45

NRW-Ticket . Wuppertal für Nicht-Wuppertaler Vorhang auf - Welttheatertag Clueso NoZart-Festival XIII Sonderschule der Ästhetik: Killerspiele Kölner Kiez: Das King Georg Glosse: "Plopp. Zisch. Ahhh!"

48 49 50 52 56

Lachen... mal philosophisch SMS N2O FeinSinn lacht Playlist

StaatsKunst

60 63

Europawahlen 2009 - Warum soll ich wählen gehen? Bayern, Bonn & Berlin

KörperKultur StaatsKunst

66 67 67

Kneipensport - wie früher auf dem Schulhof Besetzte Zonen Dos and Don'ts im Schwimmbad

FernSicht

ErkenntnisReich

ZeitGeist

FeinSinn

2

Inhaltliches

{

Deins, ihr Lieben!

Et voilà, hier ist sie, die zweite Ausgabe für dieses Jahr und die fünfte Ausgabe überhaupt. meins-magazin hat sich von unserem ersten Heft bis heute kräftig gewandelt und bei dieser Ausgabe freue ich mich ganz besonders, sie euch vorzustellen; sie ist gleichzeitig die erste und die letzte ihrer Art, denn es kommt viel Neues auf uns und euch zu! Seit zwei Jahren gibt es das Projekt „meins“, zwei Jahre in denen wir uns vor Mut fast in die Hose gemacht hätten, die Haare gerauft, aber auch durchgehalten haben. Und wir sind besser geworden. Das klingt natürlich großspurig, wenn das der Herr Chefredakteur selber sagt. Aber, na und? Schaut doch mal her! Schaut ins Heft und sagt uns, was ihr davon haltet! Politisch korrekt essen an der Uni oder lieber selber kochen, Gründe für die Europawahl oder lieber alles weglachen; lobt und tadelt uns und seid dabei eines: gespannt auf das, was noch kommt. In diesem Heft haben wir die Ressorts umgebaut, die Seitenfolge ist neu, und unsere internen Strukturen, von der Idee bis zum Text und Bild, haben wir gehörig gebürstet und gestrafft. Aber es ist auch das letzte Mal, dass wir uns für ein Heft drei Monate Zeit lassen, ab jetzt geht es richtig ran: meins-magazin erscheint ab Juli jeden Monat! Für diesen Schritt haben wir viel gearbeitet, gute Menschen zu uns geholt und schreibfreudige Talente gewinnen können. Wollt ihr auch dabei sein? Dann schaut nach auf der Webseite unter „mitmachen“. Oder macht es euch jetzt erstmal gemütlich, druckt das Heft aus, wenn ihr wollt und genießt die Seiten. Wir haben uns für jede sehr viel Mühe gegeben. Aus und für die Redaktion,

Niels Walker, Chefredakteur

PS: Und wenn es (nicht) gefällt, dann sagt es uns: [post(at)meins-magazin(dot)de]

{


LebensEcht


Liebe geht durch den

Lasagne

Tenderoni Die Lasagne gehört zu den Klassikern der italienischen Küche, nicht aber unbedingt zum Klassiker der simplen Kochkunst. Diese Lasagne hier ist aber einfach und zielt auf eine leckere, gehaltvolle Sättigung von mindestens 4 Personen ab. Nährwerte-angaben und Kalorien? Müsst ihr selber zusammenrechnen. Eine Lasagne besteht aus einem Grundrezept, nämlich den Lasagneplatten und Käse. Welche weiteren Zutaten ihr verwendet, bleibt euch überlassen. Für die meins-magazin Lasagne Tenderoni braucht ihr folgendes: •

• • • • • • • • •

• • •

1 Pfanne und eine Auflaufform, die mindestens DIN A 4 groß, oder 10cm tief ist. 500 g Hackfleisch (nicht Tartar!) 1 Pckg. Lasagneplatten, die ohne vorkochen gar werden (steht drauf) 2 Becher Créme Fraiche 1 Zwiebel 1 Aubergine (das ist diese große, glatte schwarze Frucht) 1 Pckg. passierte Tomaten (500ml) Tomatenmark aus der Tube 3 Mozzarella Ein Stück Maasdammer Käse oder irgendeinen anderen Käse, Hauptsache gerieben oder reibbar, ca. 300-400 g 1 – 3 Knoblauchzehen Wenn es geht frisches Basilikum Oregano, Salz und Pfeffer

Kosten: ca. 12 Euro€

Schritt 1, vorbereiten: Die Zwiebel klein schneiden, den Knoblauch auch (nicht mehr als zwei Knoblauchzehen wenn ihr an dem Abend noch was vor habt!). Aber nicht mischen! Die Aubergine möglichst in dünne Scheiben schneiden, den Mozzarella normal in Scheiben schneiden. Den Backofen vorheizen auf 200°, bei Umluft auf 180°. Schritt 2, braten: Die Zwiebeln mit etwas Öl anbraten, bis sie entweder leicht durchsichtig oder braun

LebensEcht

von Niels Walker

Magen

werden (je nach Zwiebel). Dann das Fleisch dazugeben und schön durchbraten. Jetzt eine drittel Tube Tomatenmark, den Knoblauch und die passierten Tomaten dazu und alles gut durchmischen. Mit Oregano, Salz und Pfeffer abschmecken. Schritt 3, schichten: Den Boden der Auflaufform mit Lasagneplatten auslegen. Darauf eine dünne Lage aus der Pfanne geben, darauf wiederum eine Schicht Auberginen. Jetzt wieder Lasagneplatten. Darauf eine gut gemeinte Schicht Créme Fraiche geben, dann Fleisch, Mozzarella und Aubergine. Immer so weiter machen bis nichts mehr da ist. Zu aller oberst den Käse geben. Schritt 4, backen: Das ganze für mindestens 30 Min. in den Backofen geben und immer wieder kontrollieren. Wenn der Käse gut knusprig geworden ist, ist die Lasagne fertig.

Tipps zur Lasagne Lasagneplatten brechen: Die Lasagneplatten vorher mit einem scharfen Messer anritzen, dann mit dem Messer die Platten brechen. Dann brechen sie nicht so wild durcheinander. Aubergine als Schwamm: Auberginen saugen Öl und Fett auf, deswegen eigenen sie sich gut in einer Lasagne, damit sie nachher nicht in der Auflaufform schwimmt. Auberginen aber nie direkt auf die ­Lasagneplatten geben, sondern darunter! Créme Fraiche anstelle von Bechamelsauce: Ist einfacher, schmeckt gut, hat aber auch mehr Kalorien…

Stell dir vor, du hast eine wunderschöne Nacht mit einer wunderschönen Frau verbracht und du möchtest sie wieder sehen. Damit eure Liebschaft nicht nur bei einem One-night-Stand bleibt, musst du dir schleunigst etwas überlegen, um sie zu beeindrucken. Wie wäre es, wenn du sie mit einem süßen Start in den Tag überraschen würdest? Mit Apfelpfannkuchen à la Omas Originalrezept. Ein Quickie in Punkto Zubereitung- schnell und einfach! Und mit Nahrungsmitteln, die eigentlich in jeder Studentenbude stehen sollten. Zutaten für vier Apfelpfannkuchen • • • • • • • • •

1/4 l Milch 125 g Mehl 1 Prise Salz 4 Eier 4 mürbe Äpfel (z.B. Boskop) 1 EL Zitronensaft 3 EL Zucker 4 EL Butter 1/4 TL Zimtpulver

von Vero Czerniewicz

1. Schritt Mehl, Milch, Salz und Eier verrühren. Den Teig ungefähr eine halbe Stunde ruhen lassen. Die Äpfel schälen, vierteln und entkernen. Die Viertel nun in dünne Scheiben schneiden. Zitronensaft und 1 EL Zucker untermischen und ziehen lassen. Jetzt hast du Zeit kurz unter die Dusche zu schlüpfen und dich frisch zu machen ;) 2. Schritt Sobald die halbe Stunde um ist, zerlässt du 1/2 EL Butter in einer Pfanne. Ein Viertel von dem Teig einfüllen und glatt streichen. Ein Viertel von den Apfelscheibchen drauf legen und den Pfannkuchen bei mittlerer Hitze in wenigen Minuten goldbraun braten. 1/2 EL Butter auf den Pfannkuchen geben, wenden und in zwei Minuten fertig braten. Im vorgeheizten Backofen (50°) kannst du die süße Speise warm halten. Sobald die vier Apfelpfannkuchen fertig sind folgt: 3. Schritt Jetzt nur noch das Zimtpulver und den restlichen Zucker mischen und je eine Prise auf die Pfannkuchen streuen. Fertig! Servier der Dame die goldgelben Teigwunder mit leckerem O-Saft. Achtung: Nicht ans Bett bringen! Sondern lieber warten bis sie selbst aufgestanden ist und dann zu Tisch bitten. Bon Appetit!

Nie tiefgefrorenes Hackfleisch verwenden, schmeckt nicht so gut und ist doof zu braten.

LebensEcht


Gefüllt mit köstlichem Baiser-Quark und roten Beeren kommt das Gläser-Sammelsurium einer Studentenküche toll zur Geltung.

Als erstes den Quark mit ein wenig Milch oder Mineral-wasser und etwas Honig kräftig schlagen, bis er schön cremig wird.

Geocaching von Vero Czerniewicz

http://www.geocaching.de/

3x3 Dinge muss man sich für das CupDessert nur merken: 1. • •

Ein Nerd im Wald. Vier Worte, die so absolut nicht zusammen passen, denn jener hockt doch vor dem PC und hält sich nicht in der Natur auf. Von wegen! Geocaching räumt mit diesem verstaubten Vorurteil mal so richtig auf.

Drei Zutaten: 1 kg Quark 500 g frische oder tief gefrorene, aber ungezuckerte Himbeeren oder Erdbeeren 2 große Baiser vom Bäcker oder kleine aus der Tüte (gesehen bei Rewe)

2. Nur 3 Euro Kosten einkalkulieren: Quark an sich ist nicht teuer. Beim Obst entweder auf tief gefrorene Ware aus einem günstigen Supermarkt zurückgreifen oder im Sommer selber pflücken – das macht eh viel mehr Spaß! Baiser gibt es ebenfalls günstig beim Bäcker oder im Supermarkt für einen Euro.

Zweitens das Baiser in die Creme krümeln, allerdings nicht zu fein, damit der>Knuspereffekt< noch erhalten bleibt. Die Stückchen vorsichtig unter den Quark heben.

3. Das Dessert ist in drei Arbeitsschritten fertig.

Zum Schluss abwechselnd mit den Früchten in die Gläser füllen und bei Bedarf noch mit etwas Baiser oder Quark garnieren.

t r u C e p s s s D e a D von Maximiliane Koschyk

LebensEcht

Eine elektronische Schnitzeljagd weckt den Indiana Jones im Computerfreak. Die Rede ist von: Geocaching, einer Schatzsuche, dessen geographische Koordinaten im Internet verzeichnet sind und dessen „Cache“ (Schatz) mit Hilfe eines GPS-Empfängers gefunden werden kann. Dieser befindet sich meist in einer Art Tupperdose und wird zum Tausch angeboten. Der Finder nimmt sich also einen Gegenstand heraus, dafür legt er einen anderen hinein. Zusätzlich trägt er sich mit Namen, Datum und Uhrzeit in ein Logbuch ein, so dass jeder nachvollziehen kann wann, wie oft und wer den Schatz bereits gefunden hat. Ganz wichtig: Der Schatz muss wieder an exakt derselben Stelle für den nächsten Sucher versteckt werden. Eine Anleitung liegt immer dabei, damit Unwissende nicht auf die Idee kommen den Schatz für Müll zu halten. Soweit zum Ablauf.

Schatzsuche nie gesehen hätte. Als „beruflicher Nerd“ ist Geocaching die perfekte Abwechslung für ihn. Wenn die Zeit es erlaubt, geht er fast täglich los und lernt nebenbei dutzende Leute kennen, die sein Hobby teilen. „Vom traditionellen Cache über den Multi-Cache bis hin zum Nacht-Cache oder lost Places-Cache, die Schnitzeljagd bietet allerlei Varianten und Abwechslung“, so der erfahrene Geocacher.

verwalten und auf denen man sich mehr Infos einholen kann. Und wer jetzt schon begeistert von dem Konzept ist und sicher weiß, dass er sich mal wie Jack Sparrow in Fluch der Karibik fühlen will, den lädt Sebastian Schürg auf seine Homepage ein: www.gc-bn.de.vu Gerne hilft er euch dabei den ersten Cache eures Lebens zu finden. Viel Spaß dabei.

Im Internet gibt es spezielle Seiten wie Geocaching.de, Opencaching.de oder Geocaching.com, die alle Schätze der Welt

„Der Weg ist das Ziel“, weiß Sebastian Schürg (25). Der Mediengestalter sucht seit letztem Herbst die Schätze seiner Umgebung und erfreut sich vor allem an den ungewöhnlichen Orten, die man ohne http://www.geocaching.de/

LebensEcht


Coca Cola, Müller und so! Was uns die Mensa auftischt. von Simeon Buss Zähneknirschend stehe ich vor dem Getränkeregal in der Mensa und werfe einen letzten verzweifelten Blick in meine Tasche. Leider kristallisiert sich immer noch keine Wasserflasche aus dem Nichts. Verstört sehe ich wieder in das Kühlregal und zähle die angebotenen Marken im Kopf auf: Coke, Müller, Fanta, Bionade, Bertrams Säfte, Wiesenhof, Bitburger, Reissdorf, Nestea und Vitamalz. Ich muss zugeben, dass es mich stört, wenn ich mir Getränke in der Mensa kaufen muss. Viele andere Studierende scheinen kein Problem damit zu haben, Getränke von Firmen mit kritischem Hintergrund zu kaufen. Eher im Gegenteil. Laut offizieller Stellungnahme des Studentenwerks werden Coca Cola und Müllermilch sogar bevorzugt aus den Regalen genommen. Eine Alternative zur Milch von Müller, die vor drei Jahren angeboten wurde, kam bei den Studierenden überhaupt nicht an und wurde schnell wieder durch die altbewährte Markenmilch ersetzt. Eine andere Cola von der Firma Grapos wurde in einigen Betrieben sogar preisgünstiger angeboten und wiederum von den Studenten abgelehnt. Dem Studentenwerk selbst ist also kein Vorwurf zu machen; es sind die Studenten, an denen ein Wechsel zu politisch und ethisch korrekten Produkten scheitert. Zu markenorientiert scheint der Student von heute und beteuert, „dass andere Cola Produkte einfach nicht schmecken wie das Original.“ Im Test mit verbundenen Augen konnten eine alternative Cola und Coke dennoch nicht auseinander gehalten werden. Die meisten derer, die vorher beteuert hatten, wenn Cola, dann Coke zu trinken, hielten sogar die zweite, andere Marke für ihren Liebling. Es ist also wohl doch der weiße Schriftzug auf rotem Grund der die Käufer lockt, der durch die

LebensEcht

Werbung früh eingeimpft wird. Und so wie man bei Handcreme automatisch an Nivea denkt, so denkt man bei Cola automatisch an Coke. Ähnlich muss es bei Müller zugehen. Die schönen, bunten Becher, die einen aus dem Regal praktisch schon anschreien: „Kauf mich!“, werden immer beliebter. Über die Hintergründe der Marke macht sich dabei kaum einer Gedanken. Die regelrechte Unmenschlichkeit die die Konzerne fast schon repräsentieren, wird fahrlässig übersehen. Dabei ermöglichte das Studentenwerk einigen studentischen und kirchlichen Gruppen ihren Protest gegen Coca Cola in den Betrieben öffentlich zu machen. Ein Gewerkschafter aus Kolumbien wurde eingeladen, um seine Sicht auf die Dinge zu präsentieren. Trotzdem kauften immer noch genug Studenten die Produkte der großen Konzerne. Die Frage, die sich mir nun stellt: Ist es Gedankenlosigkeit und Gewohnheit, ist es die mangelnde Aufklärung oder ist es uns Studenten wirklich so egal was genau wir trinken? Das Argument, das leider immer noch sehr oft genannt wird, ist: „Was kann ich alleine schon machen?!“ Dabei vergessen offensichtlich viele, dass man an der Universität nie alleine ist. Es würde schon reichen, wenn man seinen Freunden beim gemeinsamen Essen in der Mensa einmal die Problematik anspricht:

Schon wäre der Punkt der mangelnden Aufklärung obsolet. Vielleicht kann man so auch schon die Gewohnheit und Gedankenlosigkeit besiegen. Nur gegen solche, denen die Verbrechen der Konzerne egal sind, kann man wohl nichts ausrichten. Ich jedenfalls bin eigentlich guter Hoffnung, dass ich irgendwann nicht mehr zähneknirschend vorm Getränkeregal stehen muss, sondern mit einem Griff gleich eine verbrechensfreie Marke herausfischen kann, ohne mir lange Gedanken zu machen. Und solange das nicht geht, trinke ich eben Kölsch.

Müller. „Alles Müller, oder was?“ Das kann ich leider nicht beantworten. Aber, dass bei Müller© nicht alles in Ordnung ist, ist sicher. Eine Studie des Bunds für Umwelt- und Naturschutz stellte fest, dass der Konzern trotz staatlicher Subventionen von 70 Millionen Euro, Arbeitsplätze abbaute und zwei Werke schloss (eins in Nordrhein-Westfalen, eins in Niedersachsen). Weiterhin ist es Fakt, dass im Frühjahr 2008 Druck auf die liefernden Milchbauern ausgeübt, ihnen ein verminderter Abnahmepreis angedroht wurde, wenn sie nicht aus der Milcherzeugergemeinschaft (MEG) austräten, also ihre eigene Gewerkschaft verließen. ­Mehreren hundert Milchbauern wurden die Abnahmeverträge gekündigt, als diese sich gegen die Repressionen wehrten. Nur zaghaft verteidigte Müller© sich gegen diese Vorwürfe. Greenpeace konnte sogar gerichtlich durchsetzen, Müllers Produkte als “Genmilch” bezeichnen zu dürfen, da diese auch Milch von Kühen verwenden, die mit genveränderten Soja-Produkten gefüttert worden sind. Ein Sprecher der Müller© AG bezeichnete diese Bezeichnung als „für den Verbraucher irre führend“, da der Eindruck entstehen könnte, nicht das Kuhfutter, sondern die Milch selbst wäre genverändert. Wie auch immer die Verbraucher die Bezeichnung verstehen mögen: den einzigen bekannten Vorwurf, den man Müller© nicht nachweisen kann, ist die Unterstützung der NPD durch Chef Alois Müller. Für Leute, die den Konzern nun meiden möchten: Mittlerweile gehört auch die in Deutschland weit verbreitete Marke „Weihenstephaner“ zum Konzern. Bitburger und Apollinaris. Auch die Produkte dieser Konzerne kann man mit einem ruhigen Gewissen genießen. Allerdings muss man bei Apollinaris beachten, dass es sich entgegen dem Aufdruck nicht um ein Tafelwasser handelt. Einzeln gestellt sind beide aber nur, weil es sich bei Apollinaris um einen internationalen Konzern handelt und Bitburger eine der größten Brauereien Deutschlands ist.

Vitamalz, Bertrams Säfte, Reissdorf, Bionade, Wiesenhof Sahnemolkerei. Bei diesen Getränken stößt man positiver Weise nicht sofort auf irgendwelche dunklen Flecken in der Firmengeschichte, wenn man die Namen googelt. Auffällig ist, dass es sich bei allen Sieben um im Vergleich kleine Konzerne handelt. Sie kommen allesamt aus Deutschland, werden also nicht aus irgendwelchen fernen Winkeln der Erde importiert. Das sollte, wie man am Beispiel Müller sehen kann, nicht unbedingt als Leitsatz gelten, ist aber ein guter Hinweis darauf, dass hier bedenkenlos getrunken werden kann. Ein wenig weitere Recherche kann trotzdem nie schaden. Coca Cola. „Killer Coke“ lautet der provokante Titel, den man bei einer kurzen Recherche im Netz nach Coca Cola© immer wieder findet. Der abgeänderte Name bezieht sich auf die Anschuldigungen kolumbianischer Gewerkschaftler, nach deren Aussage Coca Cola© jene Arbeiter, die einer Gewerkschaft beitreten wollen, entführt, tötet oder auf andere Art und Weise mundtot macht. Diese Repressionen sollen dazu dienen die Löhne möglichst gering zu halten und jeden Protest gegen das immer noch währende Outsourcen der Arbeiterschaft zu unterbinden. Coca Cola© wehrt sich vehement gegen die Vorwürfe. Trotzdem verschwinden in Kolumbien weiter spurlos Menschen, die sich dem Konzern zuvor kritisch gegenüber geäußert hatten. Vor einem amerikanischen Gericht gewann der Konzern: die Anschuldigungen seien nicht korrekt. Kritiker bezeichneten das Gericht als nicht neutral und mit zu einseitigen Informationen ausgestattet. Ein weiterer Kritikpunkt an der „beliebtesten Marke der Welt“ ist, dass sie Wasserreservate wasserarmer Länder wie zum Beispiel in Indien benutzt, um billig zu produzieren und damit sozusagen das Trinkwasser dieser Länder in Form

von Cola in den ­Industrienationen zu verkaufen. Auch hier versucht der Konzern seinen Ruf zu wahren. Auf der Seite „www.cokefacts.com“ werden angebliche Fakten aufgezählt. Über deren Wahrheitsgehalt kann man sich allerdings streiten. Nestea. Hier ein ganz besonderer Fall. Nestea gehört zwar zur Nestlè Gruppe, wird aber von Coca Cola in Deutschland vertrieben. Nestlè ist ein Musterbeispiel für politische incorrectness. Besonders heftig in Kritik geriet der Konzern als er zum Verkauf von Babynahrung in Entwicklungsländern Verkäuferinnen als Krankenschwestern verkleidete. Durch das Einstellen des Stillens und den Ersatz durch die Nahrung versiegte die Muttermilch. Die Mütter waren somit gezwungen die teure Nahrung weiterhin zu kaufen, die meist für sie jedoch nicht bezahlbar waren. Außerdem wurde bei der Produktion die Verwendung von verschmutztem Wasser “versehentlich” übersehen. Ein anderer großer Kritikpunkt an Nestlè ist, dass die meisten Produkte mit genveränderten Substanzen hergestellt werden. Selbst Menschen, die kein Problem damit haben, genveränderte Schokoriegel zu essen, sollte die Skrupellosigkeit erschrecken, mit der der Konzern genveränderte Samen ausstreut, so dass andere Felder praktisch übernommen werden. Die anderen Pflanzen gehen zu Grunde, weil die deutlich widerstandsfähigeren genveränderten Gewächse die Mineralien verbrauchen. Ein letzter schockierender Gesichtspunkt ist die regelrechte Sklavenarbeit von Kindern auf Kakaoplantagen von denen auch Nestlé die Kakaobohnen bezieht. Konfrontiert mit dieser Kritik gründete Nestlè die “International Cocoa Initiative”, die gegen Kinder- und Sklavenarbeit vorgehen soll.

LebensEcht


Vom Leben da(n)neben

Sex ABC von Vero Czerniewicz

Aphrodisiakum Erregung ist die Vorraussetzung für guten Sex. Doch Stress oder Depressionen verringern manchmal unsere Lust. Um dieser wieder ein wenig auf die Sprünge zu helfen, gibt es kleine Helferchen – Aphrodisiaka. Diese sollen die sexuelle Begierde steigern. Yohimbin, ein Stoff, der aus der Rinde des afrikanischen Yohimbe- Baums gewonnen wird, wird von der westlichen Schulmedizin als einziges Aphrodisiakum anerkannt. Für knapp 20 Euro gibt es das Präparat unter dem Namen Yohimbe zu kaufen. Auch Bananen, Ginseng und Austern sollen helfen und sind weitaus günstiger. Die Nahrungsmittel haben nämlich Ähnlichkeiten mit Form, Geschmack oder Geruch der Geschlechtsorgane und sollen dadurch erregend wirken.

BDSM Die Bezeichnung BDSM stammt aus dem Englischen und setzt sich aus den folgenden Begriffseinheiten zusammen: B&D: Bondage und Discipline (Fesselung und ­Disziplin) D&S: Domination and ­Submission (Beherrschung und Unterwerfung) S&M: Sadism and Masochism (Sadismus und Masochismus) Es sind Begriffe, die sexuelle Vorlieben beinhalten und umgangssprachlich unter Sado- Maso bekannt sind. Freiwilligkeit spielt dabei eine große Rolle: Der devote ­Partner

12

LebensEcht

Deepthroating

übergibt seinem dominanten Gegenüber die ­Kontrolle, dabei sind der ­Fantasie keine Grenzen gesetzt. Beide Beteiligten ­erzielen daraus einen ­Lustgewinn. Wenn das Spielchen zu bunt wird, gibt es Codewörter, die die Session beenden. Eine Session ist nein einziges Spiel innerhalb der BDSMHandlungen.

Cunnilingus Viele Männer und Frauen praktizieren es, ohne zu wissen, wie es wirklich heißt. Die Rede ist von Cunnilingus oder: dem Oralverkehr bei dem die Frau verwöhnt wird. Hierbei werden die Klitoris, die Schamlippen und der Scheideneingang der Frau mit der ­Zunge oder durch sanftes Saugen und Knabbern stimuliert. Die Bezeichnung Cunnilingus stammt aus dem Lateinischen: cunnus entspricht der weiblichen Scham, während lingua Zunge bedeutet.

Auch das ist eine Form von Oralsex. Allerdings eine, bei dem der Mann auf seine Kosten kommt. Deepthroating oder Deep Throat bedeutet übersetzt tiefkehlig. Der Penis wird dabei ganz tief in den Mund, bis in die Kehle eingeführt, sodass dieser den gesamten Rachenraum ausfüllt und ein Gefühl der Enge entsteht. Diese Sexualpraktik ist mit dem Würgereflex verbunden. Mit der Zeit kann dieser langsam abtrainiert werden. Dazu wird allerdings abgeraten, da der Würgereflex beim Verschlucken eine lebensrettende Funktion hat.

Erogene Zonen Erogene Zonen sind die ­Stellen am Körper, bei denen es am stärksten prickelt. Welche Art von Erregung eine lustvolle Reaktion auslöst, ist bei jedem Menschen anders. Die erogensten Zonen sind natürlich die Geschlechtsorgane. Doch auch die ­Liebkosung der Brust, Ohrläppchen, Bauchnabel und After stehen bei den meisten Menschen hoch im Kurs. Probieren gilt hier definitiv über studieren. Doch aufgepasst: Die Reizung erogener Bereiche ohne entsprechendes Verlangen kann unangenehme Gefühle bis hin zum Schmerz auslösen.

Für Taschentücher und das Mädchen am Nebentisch von Marcel Doganci

Ich ziehe mich gerne in Cafés zum Schreiben zurück, Menschen bieten einem einfach mehr Inspiration als das auf den Bildschirmrand des heimischen Rechners geklebte, frustrierende To-doPost-It. Hoch motiviert falle ich in einen abgewrackten Sessel meines Lieblingscafés (und Arbeitsplatzes), der dicht an der schwachen Lichtquelle (kleines Fenster zum Innenhof) steht, nippe an meinem Kaffee und lasse den Blick einmal flüchtig durch den Raum schweifen. Die üblichen Verdächtigen: Studenten. Große, Kleine, Jungen und Mädchen, mehr Wuschelige als ordentlich Gekämmte und eine Menge Erasmus-Volk. Dazwischen die üblichen zehn Prozent Künstler und/oder Freaks. Herrlich, das sollten genug Statisten für die nächsten Seiten sarkastischer Zoten auf das Leben sein. Ich möchte gerade die unterstützende Hintergrundberieselung meines MP3-Players lauter stellen und Block sowie Kuli zücken, als ich noch vor dem ersten Wort eine leise, brüchige Stimme am Nebentisch bemerke. Unweigerlich drehe ich meinen Kopf in Richtung dieses Geräuschs, welches sich anhört wie ein Weinen. Ich bin ehrlich überrascht, dass dort tatsächlich eine junge Dame sitzt und Tränen vergießt und frage mich gleichzeitig, warum das so ist. Nur Bruchteile dessen, was sie in ihrer Trauer erklärt, dringen an mein Ohr und einen Moment später habe ich jedes Wort schon wieder vergessen. Scheinbar straft mich der Pietismus mit Löchern im ohnehin schon grobmaschigen Netz meiner Erinnerungen. Aber es ist doch immer so, wenn ein vollkommen Fremder an öffentlichen Orten und in Deinem Beisein seinen Gefühlen freien Lauf lässt: Dich überkommt eine Welle

der Peinlichkeit und sobald Du sogar noch Erklärungen für diesen Zustand mitbekommst, fühlst Du Dich wie ein unfreiwilliger Spanner. In etwa so, als würde ich mich wie selbstverständlich auf ihren Schoß setzen und einen Schluck von ihrem (mittlerweile) salzigen Kaffee nehmen. Plötzlich wird mein Herz ein bisschen schwerer und ich begreife nicht, warum der Junge mit den Locken, direkt neben ihr sitzend, sie nicht in den Arm nimmt. Sie sieht aus wie ein Baum, dessen Stamm von einem Blitz in der Mitte gespalten wurde. Nur einen Luftzug später würde er vielleicht vollends gestürzt. Doch der Junge tut nichts, beugt sich kaum sichtbar in ihre Richtung und schweigt. Der verschwommene Kranz um die Flamme der Kerze taucht ihre Tränen in ein unwirkliches Licht und lässt sie noch ein wenig zerbrechlicher aussehen. Sie zerrt förmlich an mir mit ihrer Gestalt, dem leicht gesenkten Kopf und ihrer dennoch großen Aufrichtigkeit, aus ihrer Trauer kein Geheimnis zu machen. Schließlich weiß ich mir nicht mehr anders zu helfen, ich muss doch etwas tun, dem Drang widerstehen, sie in den Arm zu nehmen, ihr zu sagen, dass alles gut wird und es wirklich so zu meinen, stehe stattdessen auf, gehe schnellen Schrittes zum Tresen, lache laut auf, weil meine Kollegin Faxen mit einem Cappuccino macht, stoppe meine aufschäumende Belustigung, frage laut nach einem Taschentuch, das mir ein Stammkunde anbietet, den ich gar nicht angesprochen habe, nehme mir trotzdem eins, besser zwei, frage meinen Chef, ob es sich schickt einer weinenden Fremden so einfach Taschentücher anzubieten (er findet das nett), laufe zurück an ihren Tisch, entschuldige mich für die Störung (sie weint

immer noch), reiche ihr die Taschentücher ohne sie anzusehen und sage beiläufig im Abwenden: „Du brichst mir das Herz“. An dieser Stelle lasse ich den Sarkasmus auf meiner Untertasse liegen. Vor einer halben Stunde wollte ich eine „lustige“ Kolumne schreiben. Mir ist eigentlich gar nicht nach schwerem Kram zumute, was durchaus kein schlechtes Zeichen ist, da ich mich dem Tiefem immer nur dann widme, wenn ich eine Mülltüte vergammelter Lebensscheiße zumindest in ein paar geschriebenen Zeilen hübsch aussehen lassen möchte. Und hier kommt ein bisschen Weisheit, denn das Leben ist eben doch eine Schulstunde, bei der sich jeder mit Kreide auf der Tafel verewigen darf – oder sogar muss. Die Tränen des fremden Mädchens werde ich nicht abwischen, auch wenn ich es für diesen Text gekonnt hätte. So sehr ich mich auf eine andere Hausaufgabe freute, ist es wichtig auch auf das leise Kreidequietschen von anderen zu hören. Das Leben lehrt mich heute, dass ein paar lyrische Worte nicht immer vom eigenen voll gerotzten Taschentuch inspiriert werden. Manchmal sind die Tränen völlig Fremder genauso kostbar für Dich wie Deine eigenen. Besonders dann, wenn Du Dir genau jetzt wünschtest, sie zum Lachen zu bringen. Ein Lächeln würde sogar schon genügen. Es wäre schön, wenn es Dir bald besser ginge. Und diese Vorstellung lässt mich am Ende dieses Stücks genauso lächeln wie die Komödien am Tisch neben Dir oder aber meine Hoffnung, dass Du tatsächlich lächelst, wenn Du das hier liest und weißt, dass es Dir gewidmet ist.

LebensEcht

13


FernSicht


diesen Geruch und hörte diesmal deutlich ein lautes Fauchen. Langsam begriff sie: Das Gefühl, das sie überkommen hatte, war wohl jenes, welches ein Beutetier spüren musste, kurz bevor das Raubtier zuschlägt. Der Schreck dieser Erkenntnis spiegelte sich in ihrem Gesicht wider. Sie suchte den Blick ihres Gefährten, welcher plötzlich zusammenzuckte: Eine mittelgroße Katze. Sie hatten nur sich und die Macheten in dieser unwegsamen Wildnis. Sie beschleunigten ihren Schritt, es gab jedoch kein Vorankommen, unnachgiebig fand sich ein Spinnennetz hinter dem andern, Ast hinter Ast, Busch hinter Busch. Spinnen in allen Farben und Formen verbunden mit der unnachgiebigen Sturheit der Lianengewächse, die wohl meist deshalb eher zum Hangeln in Filmen verwendet werden, da es für die ungeübte Hand mit der Machete kein Durchkommen gibt. Endlich erreichten sie ihr Ziel. Ein wunderschöner Wasserfall, der sich aus großer Höhe in die Tiefe stürzte und dabei die Felsen streichelte. Die Katze wusste nun, dass sie hier waren. Der Wettlauf mit der Dämmerung hatte begonnen. Trotzdem badeten sie sich schnell. Deshalb waren sie ja schließlich in diese unwegsame Wildnis eingedrungen. Der Dschungel hüllte sich in Schweigen, das übliche Gezirpe schien auf lautlos gestellt. Als auch der letzte Sonnenstrahl verschwinden wollte, erreichten sie ihr Zelt mitten im Urwald. Es bedeutete auf gewisse Weise Sicherheit.

Silvester der anderen Art Während einer zweitägigen Wanderung im hochgelegenen Dschungel in Peru, verspürte sie eine unbekannte Panik. Dieses Jahr würde sie sehr dankbar sein, 2009 tatsächlich erleben zu dürfen.

gleichmäßig mit der Machete den Weg frei. Ein merkwürdiges Geräusch ließ sie aufhorchen, während ihr ein starker Geruch von Pumakäfig in die Nase drang. Sie stockte. Wo befand sie sich noch einmal? Im hochgelegenen, von Menschenhand unberührten Dschungel, in der Provinz Amazonías in Peru, in den Bergen, zu deren Füssen der Fluss Marañon sich windet.

Eine schleichende unbekannte Panik übermannte sie. All ihre Sinne schärften sich. Intuitiv wollte sie wegrennen, aber ihr Kopf zweifelte, wovor eigentlich und vor allen Dingen wohin? Erschrocken schaute sie sich um, nichts als grün. Ihr Reisegefährte schlug ruhig und

Ihr Gefährte arbeitete sich langsam mit der Machete weiter vor. Er hatte nichts gehört. Ihr Ziel: ein abgelegener Wasserfall. Der schmale Pfad dorthin war beinahe vollständig zugewuchert. Und wieder spürte sie diese eigenartige Ahnung, vernahm

FernSicht

Doch plötzlich war er wieder da, dieser alarmierende Gestank. Während sie aßen, sprangen sie immer wieder von Panik erfüllt abwechselnd mit der Machete in der Hand auf, um willkürlich in den Dschungel zu zielen. Katzen greifen von hinten an, Genickbiss. Sie befanden sich im Krieg. Weglaufen war ausgeschlossen, es blieb nur Verteidigung, Verteidigung gegen einen unsichtbaren Gegner, den man wohl riechen, hören und spüren, allerdings nicht sehen konnte. Schließlich ließen sie sich ins Zelt fallen, Macheten und Benzin neben sich. Der Dschungel schwieg weiter. Um 24 Uhr klingelte der Wecker: Frohes neues Jahr! Wie wunderbar begann es endlich wieder aus den Bäumen zu zirpen und zu singen. 2009 sollte also doch für sie kommen. Sie lächelten sich an. Das war mal ein Sylvester der anderen Art. Janina Heuser

Studenten für den Weltfrieden! The International Student Festival in Trondheim / ISFiT 2009 Auf der TED-Konferenz im März 2007, dem alljährlichen Treffen des Ideenaustauschs zu brisanten Themen der Welt im kalifornischen Monterrey, plädierte Steven Pinker für die Sichtweise, dass die Menschheit statistisch gesehen in diesen Tagen die friedlichste Phase ihrer Existenz erlebe: Denn der Anteil gewaltsamer Todesfälle sei im Vergleich zu früheren Zeiten verschwindend gering. Auch wenn es angesichts so grausamer Konflikte wie im Irak oder Sudan zynisch erscheinen mag, so etwas zu behaupten, liegt darin sicherlich eine richtige Beobachtung. Und doch, vielleicht ist der Bürger unserer heutigen Welt sich all dieser Konflikte bewusster als zuvor. Da die Medien die Nachrichten humanitärer Katastrophen von allen Seiten an ihn herantragen, ist diese Welt in seinen Augen grausamer denn je. Ist die Menschheit also heute „humaner“ als früher? Welche Möglichkeiten bietet die Globalisierung bei der Lösung von Konflikten? Und ist vielleicht sogar der oftmals spöttisch belächelte Weltfriede realisierbar? Samstag, 21. Februar 2009, 19:30 Uhr. Der große Saal des Studentersamfundet, der studentischen Gesellschaft in Trondheim, ist brechend voll und eine Handvoll dezidiert auftretender Sicherheitsleute sorgt dafür, dass die Treppen in dem amphitheaterähnlichen Raum weiterhin begehbar bleiben. Es ist ein prächtiger studentischer Sauhaufen, der hier die Stufen emporwogt, auf der Suche nach

einem Sitzplatz mit möglichst freier Sicht auf das kleine Rednerpult, das unten vor dem Podium aufgebaut ist. Knapp 500 junge Menschen aus weit über 100 Ländern haben sich versammelt, um dem zweiten Auftritt Desmond Tutus, des anglikanischen Erzbischofs und Friedensnobelpreisträgers aus Südafrika, beizuwohnen, der sich bereits am Nachmittag zur Eröffnung des Festivals an die Teilnehmer gewandt hat. Nun spricht er über Ubuntu, die südafrikanische philosophische Tradition, die den hohen Wert des gemeinschaftlichen Lebens und die Bedeutung restaurativer (im Gegensatz zu ausgleichender) Gerechtigkeit lehrt: Ein menschliches Vergehen bedeutet eine Verletzung der Gemeinschaft, nicht bloß den Fehltritt des Einzelnen, und zum Wohle der Gemeinschaft muss ein konstruktiver Umgang damit gefunden werden – eine Bestrafung hingegen käme lediglich einer weiteren Verletzung gleich. Der Vortrag ist extrem unterhaltsam, immer wieder nimmt Tutu auch die Bibel zur Hand und formuliert zuletzt eine derart saloppe Paraphrase auf die Genesis, dass sein bis dahin andächtiges Publikum in schallendes Gelächter und Applaus ausbricht. Doch ist es ihm durchaus ernst mit seiner Botschaft, die als eigentlicher Inhalt der Rede von Anfang an präsent ist und immer wieder in leidenschaftlichen Appellen zum Ausdruck kommt: „Dream, dare to dream of this world as a better place than it is today, and your dreams will be fulfilled!“ Hiermit ist ISFiT 2009 endgültig eröffnet. Insgesamt 10 Tage werden wir in Trondheim verbringen und uns von morgens bis abends mit dem Thema Peacebuilding auseinandersetzen. Jeder Teilnehmer ist einem von 17 Workshops zugeteilt. Die Themen reichen von „Demobilisation, Disarmament & Integration“ bis zu „Music – Jamming for Peace“. Ich selbst bin zusammen mit 16 anderen im Workshop „Peace as a Concept“. Doch zunächst einmal gilt unsere ganze Aufmerksamkeit den anderen Teilnehmern, fast den gesamten ersten Tag verbringen wir damit, uns kennenzulernen, einander auf der Weltkarte zu zeigen, wo wir herkommen (nicht jeder kennt Surinam, Bahrain oder auch Serbien), und zu erklären wie es dazu kommen konnte, dass jemand drei

ISFiT wird seit 1990 alle zwei Jahre von norwegischen Studenten in Trondheim organisiert. Ins Leben gerufen wurde das Festival direkt nach dem Fall der Berliner Mauer mit dem Ziel, ein Kommunikationsforum für Ost und West zu etablieren. Heute ist es die wohl renommierteste Veranstaltung ihrer Art und zieht jedes Mal nicht nur aktive Studenten aus der ganzen Welt, sondern auch hoch angesehene Gastredner an; so konnten die Organisatoren bereits 1994 den Dalai Lama für sich gewinnen. ISFiT 2009 hat „Peacebuilding“ zum Thema und trägt den Untertitel „Building a Future“. Dieses Jahr waren mit Desmond Tutu, Shirin Ebadi und Betty Williams wieder drei Friedensnobelpreisträger dabei und verliehen der Konferenz ihren globalen Charakter. Mehr Informationen auf www.isfit.org. Nationalitäten hat. Denn natürlich ist ein solches Festival in allererster Linie ein Ort der Begegnung, unabhängig von Themen, Rednern oder Programm, hier kommen junge Menschen zusammen um sich kennenzulernen, Beziehungen zu knüpfen und ihren Horizont zu erweitern. Am zweiten Tag wird dann der Einstieg in die Thematik gewagt. Wir gehen sehr behutsam vor, schließlich haben wir alle die unterschiedlichsten Voraussetzungen was Weltwissen und Englischkenntnisse, aber auch Umgangsformen und Empfindlichkeiten betrifft, und wir haben uns am ersten Tag darauf verständigt, jeden von uns zu jeder Zeit einbinden und niemanden abhängen zu wollen. In der Praxis sieht das jedoch schon bald anders aus und ich merke selbst, wie auch ich als relativ eloquenter, aber ebenso redseliger Mensch meinen Teil zu den entstehenden Asymmetrien beitrage. Dennoch herrscht von Anfang an eine ausgezeichnete Stimmung, wir verstehen uns gut und unsere Workshopleiter, vier norwegische Studenten in unserem Alter, sind nett und hervorragend organisiert. Schon sehr bald haben wir alle unsere Scheu abgelegt und debattieren wie im Freundeskreis über die Frage nach dem Frieden – meinen wir damit lediglich die Abwesenheit physischer Gewalt, oder aber die quasi metaphysische Erfüllung menschlicher Existenz, oder doch irgendetwas dazwischen? Welche Voraussetzungen sind notwendig für eine nachhaltige Konsolidierung des Friedens? Liegt die Verantwortung für Krieg und Frieden nur bei den Politikern, oder ist sie

FernSicht


vielmehr eine Frage der Ethik eines jeden Einzelnen? Wie kann man zwei hoffnungslos verbitterten Feinden den Frieden verkaufen? Ist Religion ein Hindernis auf dem Weg zum Frieden? Ist es legitim und überhaupt zweckmäßig, im Namen des Friedens Gewalt zu gebrauchen? Leider ist die Zeit knapp und die meisten Diskussionen müssen irgendwann abgebrochen werden, ohne dass sie ein wirklich fassbares Ergebnis hervorgebracht hätten, aber das eigentliche Ergebnis ist mit jedem weiteren Tag deutlich spürbar, wir werden mit der Materie vertraut, denken differenzierter, entwickeln gar eine Art grundsätzliche Terminologie. Es ist wirklich interessant, die verschiedenen Perspektiven einzunehmen, etwa die von Sayaka aus Japan, wenn sie leicht verunsichert in die Runde fragt, was wir denn von der japanischen Verfassung halten, die jedes militärische Engagement im Ausland kategorisch verbietet, oder die von Amir aus dem Iran, der seine Regierung auf den Mond wünscht aber überzeugt ist, dass sich sein Volk aus eigener Kraft von diesem Joch befreien müsse, da es ansonsten nicht in der Lage sein werde, seine neu gewonnene Freiheit in vernünftige Bahnen zu lenken. Am letzten Tag kommen wir übereinstimmend zu dem Schluss, dass der Weg das Ziel gewesen ist, und dass wir

18

FernSicht

vermutlich erst später begreifen werden, was wir hier tatsächlich gelernt haben. Dabei sind die Workshops nur ein Teil des Programms. Jeden Tag gibt es ein vielfältiges Angebot an kulturellen Betätigungen, Kino, Ausstellungen, Konzerte am Abend. Niemals reicht die Zeit auch nur annähernd alles wahrzunehmen, was mich interessiert, aber genauso wenig bleibt mir Zeit mich darüber zu ärgern. Höchste Priorität haben die Sitzungen im Plenum, die meistens am frühen Abend stattfinden, und wenigstens diese kann ich lückenlos abdecken. Der formale Ablauf ist immer gleich – eine Stunde Vortrag, fünfzehn Minuten musikalische Darbietung, fünfzehn Minuten Pause, eine Stunde für Fragen aus dem Plenum – jedoch entwickelt sich jeder Abend komplett anders, je nachdem, wer gerade zu Gast ist. Es gibt ruhige Abende, wie der mit Hans Blix, der über die Problematik und die Perspektiven der atomaren Abrüstung spricht und regelmäßig warmen Beifall erntet, oder die extrem kritische Auseinandersetzung Jonas Gahr Støres mit den Vereinten Nationen, die er als Dinosaurier bezeichnet, was im Plenum auf einigermaßen heiteres Einvernehmen stößt. Und es gibt stürmische Abende mit kontroversen Diskussionen. Ein solcher ist der mit Shirin Ebadi, deren Vortrag „Empowering Women“ überschrieben ist, tatsächlich aber fast ausschließlich die missliche Lage der Frauenrechte in den verschiedensten Ländern aufs Korn nimmt und dabei auf teilweise heftigen Widerstand stößt, etwa von einem jungen Mann aus Bahrain, der die Ehre seines Vaterlandes angegriffen sieht. Es wird deutlich, dass trotz aller Weltoffenheit unter uns Teilnehmern längst nicht alle kulturellen Barrieren aufgehoben sind. Später frage ich die zweite Teilnehmerin aus Bahrain, die zufällig bei mir im Workshop ist, nach ihrer Meinung zu dieser Diskussion, doch sie möchte sich nicht wirklich äußern und weicht aus. Heftiger noch ist die Auseinandersetzung zum Thema Redefreiheit mit Johan Galtung und Flemming Rose, dem Redakteur der dänischen „Jyllandsposten“, der die Veröffentlichung der berüchtigten Mohammed-Karikaturen zu verantworten hatte. Ist das Recht auf Redefreiheit absolut, quasi ‚heilig’, oder bedarf es eines Korrektivs im Sinne eines Rechts auf „Schutz vor Erniedrigung“? Galtung vertritt eine radikal diplomatische Position – Redefreiheit sei ein hohes Gut, aber kein Freibrief für die kulturelle Arroganz

und Ignoranz, die im Übrigen auch der Veröffentlichung der Karikaturen zu Grunde liege – und trifft damit den Geschmack des Publikums, wodurch er im Folgenden die Sympathien deutlich spürbar auf seiner Seite hat. Die Fragen aus dem Publikum im Anschluss sind durchaus militant, und Rose hat Mühe, in seiner Defensive nicht hysterisch zu wirken. Dennoch argumentiert er überzeugend, und eine Stunde und viele Erkenntnisse später als vorgesehen endet die Debatte mit einer versöhnlichen Geste auf dem Podium.

Unabhängigkeit zusteht) um ihre Rechte kämpfen. In ihrer Rede schildert sie in beklemmender Eindringlichkeit, in welch hoffnungsloser Lage sich ihr Land befindet. Die Bilder ihres Martyriums im Gefängnis, die überlebensgroß an die Wand projiziert werden, tun ein Übriges und lassen uns völlig verstört in unseren Sesseln versinken. Ein ebenfalls anwesendes Mitglied meiner Organisation bringt es im Anschluss richtig auf den Punkt: „I feel like a piece of shit, just because I am spending my free time on the cause of European Integration“.

Und der Weltfriede? Die eigentlichen Highlights im gesamten Programm spiegeln vielleicht die zwei Seiten dieser Medaille. Absolut großartig ist die Global Fiesta am vierten Abend, bei der alle Teilnehmer aufgerufen sind, ihre nationale Kultur auf der Bühne zu präsentieren. Es gibt eine große Vielfalt an Darbietungen zu bestaunen, von kanadischer Folklore bis zum RapGedicht aus Ghana, und mit jedem Akt springt der Funke der Begeisterung weiter über. Meistens wird getanzt, und schon bald tanzt auch das ganze Publikum, immer ausgelassener bis zur kompletten Ekstase, als die brasilianische Fraktion die Bühne betritt und eine völlig entfesselte Samba-Show abliefert. Es ist wunderbar mit anzusehen, wie Teilnehmer aus Ländern, die sich in der politischen Realität unversöhnlich gegenüberstehen, wie etwa Indien und Pakistan, hier zusammen auftreten und feiern. In diesen Momenten wird nicht nur mir bewusst, dass wir gerade das Modell der idealen, harmonischen Weltgemeinschaft erleben, die uns auf einmal überhaupt nicht mehr utopisch vorkommt. Das Glücksgefühl, denselben Gedanken in den Augen so vieler anderer Menschen zu lesen, ist unbeschreiblich. Die Kehrseite erleben wir am vorletzten Abend bei der Verleihung des Student Peace Prize, einer Initiative norwegischer Studenten, die traditionell im Rahmen von ISFiT stattfindet. Die diesjährige Preisträgerin, Elkouria „Rabab“ Amidane aus Westsahara, hat praktisch alles durchlebt, was ein repressiver Sicherheitsapparat einem freiheitsbewussten jungen Menschen antun kann: Aufhebung jeglicher Rechte, tägliche Überwachung, Entführung, Folter, Gewalt gegen die Freunde und Angehörigen. Den Preis nimmt sie nur an im Namen all ihrer Mitstreiter, die im von Marokko widerrechtlich besetzten Westsahara (dem laut UN-Resolution eine Volksabstimmung über die eigene

Es gibt also noch einiges zu tun auf dieser Welt. Was ISFiT dazu beigetragen hat, werden wir wahrscheinlich erst später realisieren. Die menschliche Bereicherung für alle Beteiligten steht auf jeden Fall außer Frage, und auch wenn wir keine etwaige Road Map zur Lösung der Probleme dieser Welt erarbeitet haben, so hat die Auseinandersetzung unser eigenes Bewusstsein enorm erweitert, uns einen tiefen Einblick in die Natur von Konfliktsituationen verschafft und Perspektiven aufgezeigt, wo und wie eventuelle Wege zum Frieden beschritten werden können. Im Gegensatz zu mir selbst haben viele der Teilnehmer angesichts der Situation in ihren Heimatländern das zweifelhafte Vergnügen, die Erfahrungen aus Trondheim direkt in die Praxis umsetzen zu können. Und nicht nur so wird das Gelernte weitergetragen werden; für mich war der wichtigste Faktor der riesige Motivationsschub, tatsächlich etwas zu verändern in dieser Welt, und ein erneuertes Bewusstsein von Demut angesichts der Lebensleistung anderer Menschen, die mein gemächliches, verantwortungsloses Dasein ernsthaft in Frage stellt. Die Teilnahme 2011 kann ich jedem nur empfehlen! Thomas Leßke

Erfahrungsbericht: Projektarbeit und Feldforschung in Kapstadt / Südafrika So ziemlich jedem Studenten graut es vor der letzten Etappe des Studiums: der Abschlussarbeit. Bei mir rückt Mitte letzten Jahres die Scheinfreiheit in greifbare Nähe. Es wird also auch für mich Zeit mir über die anstehende Magisterarbeit in meinem Hauptfach Ethnologie Gedanken zu machen. Mein Wunsch ist es eine empirische Arbeit zu schreiben, also in einer Feldforschung eigene Daten zu erheben. Ziel einer ethnologischen Feldforschung ist es, mit Hilfe von teilnehmender Beobachtung und Interviews vor Ort eine Kultur zu beschreiben. Der Ausblick in ein fernes Land zu reisen und das im Studium Gelernte endlich anzuwenden, anstatt für die Magisterarbeit nur Monate lang Bücher zu wälzen, nahm mir ein wenig die Angst vor der größten Hürde auf dem Weg zum Examen. Als ich mich eines Nachmittags mit meinen Freunden Chris und Basti über mein Vorhaben unterhalte, geht anschließend alles ziemlich schnell. Die beiden Musiker arbeiten bei dem Projekt EachOneTeachOne, kurz EOTO, mit. Der Plan, mich bei der nächsten Projektreise als Ethnologin mit ins Boot zu holen, ist schnell geschmiedet. Auch mein Professor findet die Idee gut, die Projektarbeit als Ausgangspunkt für eine eigene Forschung zu nutzen. Er hilft mir beim DAAD, dem deutschen akademischen Austausch Dienst, ein Stipendium für meine Forschung zu beantragen. So stehen nach kurzer Zeit Thema und Forschungsort fest: Im Oktober 2008 soll es nach Kapstadt, Südafrika gehen. Zunächst werde ich drei Wochen an der Arbeit des EOTO-Projekts teilnehmen und mache anschließend zwei Monate eine

Feldforschung zu der Hip-Hop-Szene in Kapstadt. Das seit 1993 bestehende gemeinnützige Projekt EOTO hat zum Ziel, durch kreative Aktivität Aufklärungsarbeit u.a. zum Thema HIV/Aids in den Townships vor Kapstadt und in sozialen Einrichtungen in Kapstadt zu leisten. Die aus Bremen und Bremerhaven stammende EOTO-Crew ist aber nicht nur in Südafrika aktiv, sondern auch in Auroville, Indien sowie in Cecina, Italien und vor allem in Deutschland. In Kooperation mit lokalen Musikern vor Ort und in Workshops entstehen von EOTO produzierte MusikAlben. Diese werden auch in Deutschland verteilt, um das Bewusstsein für ein friedliches Miteinander und ein globales Denken zu fördern. Die letzte Projekt-CD hat den Titel „I have a dream - Timeless Arts“ und ist 2008 in Zusammenarbeit mit lokalen Künstlern und Kinderchören mehrerer Schulen in Kapstädter Townships entstanden. Projektleiterin Anne Schmeckies sagt: „Kunst dient dazu, Grenzen im Kopf und real zu überschreiten“. Diesen Umstand nutzt EachOneTeachOne, um Kinder und Jugendliche auf der ganzen Welt zu erreichen. Hierzu dient vor allem die Jugendkultur HipHop als Medium. Sowohl in den Projekt-CDs und Musikvideos, als auch in Workshops und Konzerten wird durch Rap und Soul, Breakdance und Graffiti mit den jungen Menschen kommuniziert. Über die 15-jährige Projektlaufzeit wurde ein großes Netzwerk nach Kapstadt sowie Auroville und Cecina aufgebaut, durch das eine große Reichweite gewährleistet werden kann. Für ihre Arbeit wurde Projektleiterin Anne Schmeckies bereits mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. (http://www.eoto-online.com/; http://www. myspace.com/eachoneteachonecrew≠; http://www.work-on-peace.de/ ). Im Vordergrund der Projektreise 2008 steht neben der Produktion von zwei Musikvideos auch die Planung und Durchführung eines Record-Release-Konzerts zu der gerade veröffentlichten CD. Neben dem Kernteam, das aus der Projektleiterin und den zwei Musikern Christian Künning alias Dj Phax Mulder und Sebastian Bosum alias BigLebasti besteht, reisen zwei Filmstudenten, die für den Videodreh zuständig sind, eine Studentin der sozialen

FernSicht

19


Arbeit, ein weiterer Ethnologie-Student und ich mit nach Kapstadt. Für mich ist es eine neue Erfahrung, bei einem Videodreh zu assistieren und bei der Konzertplanung mitzuwirken. Außerdem warten noch andere Aufgaben auf mich: Ich führe Interviews mit Musikern aus Kapstadt für Radiosendungen zum Projekt, die später in Deutschland gesendet werden. Dies ist auch eine gute Vorbereitung auf meine Feldforschungsinterviews. Am meisten beeindrucken mich allerdings die Ausflüge zu den Schulen in den Townships vor Kapstadt. Hier hat EOTO in den letzten Jahren Workshops veranstaltet. Die Besuche sollen die langjährigen Partnerschaften pflegen. Jeder von uns bringt Geschenke aus Deutschland für die Kinder mit. Außerdem werden auch hier Teile der Videoclips abgedreht. Als erstes besuchen wir die Mvula Independent School im Township Nyanga. In der kleinen Aula der Schule erwartet uns ein tolles Programm: die Schulband und der Chor geben ein paar Musikstücke zum Besten, einige Schülerinnen beeindrucken mit einer Tanzeinlage, die Beyoncé weit in den Schatten stellen würde und es werden neben einem Theaterstück Gedichte zu so aktuellen Problemen wie HIV/ Aids vorgetragen. Wir sind überwältigt von den eindrucksvollen Vorführungen. Anschließend kann ich mich keinen Schritt mehr bewegen ohne eine Traube von mindestens 10 Kindern um mich herum zu haben, ein schönes Gefühl. Während des Videodrehs spiele ich mit den Kleinsten auf dem Spielplatz der Schule im Sandkasten. Bald ist der komplette Sandkasten voll mit Kindern und die Sandburg wird immer größer und größer. Die Kommunikation mit den Kids funktioniert ganz wunderbar trotzt der Tatsache, dass ich nicht ihre Sprache spreche. Der Großteil der Kinder spricht Xhosa, eine afrikanische Sprache. Die positive Energie der Kinder schwappt sofort auf mich über. Zum ersten Mal sehe ich mich aber auch mit der Realität in den Townships konfrontiert: schon während der Vorstellung lässt sich die Schulleiterin entschuldigen. In der Nacht vor unserem Besuch ist ihr Enkelkind an Aids gestorben. Am Ende der Projektzeit bin ich dennoch um viele schöne Erfahrungen reicher. Als ich mich von der Projektgruppe verabschieden muss, habe ich glücklicherweise eine Unterkunft für die Zeit meiner Feldforschung gefunden und schon erste Kontakte geknüpft. Trotzdem stehe ich nun völlig allein vor der Aufgabe in nur zwei Monaten

20

FernSicht

meine Forschung zu realisieren und die dafür erforderlichen Interviews zu machen. Immerhin habe ich schon einige Künstler getroffen und Konzerte besucht. Dadurch habe ich eine Grundlage, meinen im Vorfeld erstellten Fragebogen noch einmal zu überarbeiten. Befragen möchte ich ausschließlich Rap-Künstler der Kapstädter Szene. Im Hauptteil des Interviews soll es um deren Lebensgeschichte in Verbindung mit der HipHop-Kultur gehen. HipHop entsteht in Südafrika Anfang der 1980er Jahre als Form des kulturellen Widerstandes gegen das geächtete Apartheidsregime. Unabhängig von dem kommerziellen Durchbruch des HipHop in den USA entwickelt sich Kapstadt als Hochburg dieser Musikrichtung in Südafrika. Vertreter sind zum größten Teil „schwarze“ Afrikaner aus den Townships, die der dort ansässigen Jugend eine Stimme geben. Die Texte von ersten HipHop-Bands wie Prophets of da City, kurz POC, oder Black Noise sind politisch motiviert und kritisieren offen die Missstände im Land. Die regimekritische Musik ist vor dem Ende der Apartheid 1994 verboten und wird nicht im Radio gespielt. Die Platten sind nur auf dem Schwarzmarkt erhältlich. Im Untergrund jedoch floriert die Szene. Die HipHopJams, das sind öffentliche Konzerte, finden

meist in den Townships statt. Das ändert sich mit dem Ende der Apartheid 1994. HipHop wird als Populärkultur kommerziell vermarktbar und radiotauglich. Andere Fragestellungen spielen jetzt in den Texten der Musik eine Rolle. Ziel ist es nunmehr Probleme zu thematisieren, welche durch Armut, Kriminalität und HIV/Aids entstehen. Die Anwendung lokaler Sprachen wie Xhosa und Afrikaans ist zwar weit verbreitet, aber viele Musiker nutzen auch die englische Sprache, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Meine ersten beiden Interviewpartner lerne ich durch das EOTO-Projekt kennen und es hat sich zum Zeitpunkt der Interviews schon eine Vertrauensbasis entwickelt. Die Gruppe Young Soldiers besteht aus Maninho, 19, und Masakane, 20. Beide haben in ihrem jungen Leben schon so einiges durchmachen müssen und verarbeiten dies in ihrer Musik. Mit ihren positiven Texten wollen sie ihre Erfahrung an andere Jugendliche weitergeben und so verhindern, dass andere Kids wie sie früher einmal auf die schiefe Bahn geraten. Ej von Lyrik ist meine erste weibliche Interviewpartnerin. Die im Township geborene Künstlerin hat schon früh angefangen zu singen und zu rappen. Sie wurde mit der HipHop-Girlband Godessa

international bekannt und ist heute solo aktiv. Im Interview mit ihr wird klar, dass sie sich über viele Widerstände in ihrem Umfeld hinwegsetzen muss, um als Frau Musik machen zu können. Seit ihr mit Godessa der Durchbruch gelang und sie jetzt mit ihrer Musik nicht nur für sich, sondern auch für ihre Familie Geld verdienen kann, widmet sie sich ausschließlich ihrer musikalischen Karriere. Neben Ej interviewe ich noch zwei weitere weibliche HipHop-Talente: Eavesdrop und Kanyi. Als Frau habe ich zu meinen weiblichen Interviewpartnern einen guten Zugang und ihre Lebensgeschichten inspirieren mich sehr. Mindestens dreimal in der Woche besuche ich HipHop-Jams, Konzerte und Partys. Zu meiner Freude finden hier noch spontane „BreakdanceCircles“ statt. Dabei bildet sich ein Kreis in dessen Mitte sowohl begabte Tänzer als auch jeder, der Lust hat, Tanzeinlagen zum Besten geben kann. Die Stimmung ist meist sehr gut und die Leute kommen aus Liebe zur Musik zu den Veranstaltungen. Mit Gangster-HipHop komme ich im Laufe meiner Forschung kaum in Berührung. Durch Kontakte und auf so genannten „Open-Mic-Sessions“, bei denen jeder spontan rappen kann, lerne ich meine restlichen Interviewpartner kennen. Insgesamt schaffe ich bis zum Ende meines

Aufenthalts 16 Interviews und bin damit sehr zufrieden. Im Laufe meiner Feldforschung muss ich mich immer wieder überwinden potentielle Interviewpartner anzusprechen. Nicht jeder ist sofort davon begeistert, sich auf ein so langes und intensives Interview einzulassen, für das ich nichts bezahlen kann. Nach einiger Zeit habe ich mir jedoch meinen „Status“ in der Szene erarbeitet und man kennt mich. Letztlich erleichtert es auch immer die Kommunikation, wenn man die Begeisterung für die Musik teilt. Zur Zeit werte ich meine Interviews aus und habe Spaß an meinem Magisterarbeitsthema. Schließlich war ich „live“ dabei und habe mir meine Daten selber erarbeitet. Eine größere Motivation für die Hürde Abschlussarbeit könnte ich nicht haben. Links: http://www.myspace.com/ youngsoldierscapetown http://www.myspace.com/ejvonlyrik www.myspace.com/kanyimusic Die in Kapstadt entstandenen EOTO – Musikvideos findet man unter: http://www. youtube.com/user/Phaxer

Ivanka Klein

Erinnerte Augenblicke in einer fremden Welt Da bin ich kaum ein paar Tage in Saint-Louis, der ältesten Stadt des Senegal, und schon geht die Reise weiter. Jonas, ein befreundeter Schweizer und weit gereister Chaot (er hat früher Autos von Europa durch die Sahara nach Westafrika gefahren, um sie dort zu verkaufen), hatte mir bereits kurz nach meiner Ankunft angeboten, mich am Montag mit in die Hauptstadt Dakar zu nehmen – mit dem LKW. Dann könnte ich mich schon einmal nach einer Unterkunft umschauen für die Zeit, in

der ich dort mein Praktikum am Goethe-Institut machen werde. Warum auch nicht, denke ich, je eher, desto besser. Fest davon überzeugt, mir könne in der unübersichtlichen Großstadt ohne Schutz einer erfahrenen Aufsichtsperson etwas zustoßen, wollte es sich meine senegalesische Freundin Seynabou nicht nehmen lassen, mich zu begleiten. Und einen guten Platz zum Wohnen wüsste sie auch schon für mich: auf Gorée bei einer Freundin, da sei ich sicher und von allem Übel weit entfernt.

Die Fahrt Am Montagmorgen um halb sieben ist Abfahrt. Im Fahrerhäuschen des LKW, hoch über der Straße thronend, fahren wir in den Sonnenaufgang. Glühend rot und flimmernd, wie beim König der Löwen, hebt sich die runde Scheibe über den flachen Gewächsen der Sahelsavanne. Es ist ein wunderschöner Anblick. Wir umfahren die Schlaglöcher auf der sandigen Piste nach Süden, vorbei an kleinen Dörfern, Kinder rennen am Straßenrand, Ziegenhirten treiben ihre Herden auf die spärlichen Grünflächen. Bald kommen wir auf Asphalt. Dann geht es nur geradeaus. Die Landschaft verändert sich, die Pflanzen werden grüner, die Gewächse höher und üppiger, die Erde rot. Und man sieht die ersten Affenbrot- und Mangobäume. Sechs Stunden dauert es, bis sich rechts und links der Straße erste Auswüchse der Hauptstadt erkennen lassen. Es ist 13h. Die Mittagssonne brennt auf unser Auto, es ist heiß und stickig, alles klebt, der Körper ist vom langen Sitzen mit angewinkelten Beinen ganz steif und unbeweglich. Ich hoffe, dass mir ein gütiges Schicksal so

FernSicht

21


bald wie möglich den Weg unter eine Dusche weist, im Geiste fühle ich schon das kühle Wasser auf meiner Haut, da verdichtet sich der Verkehr. Stau! Sofort quetschen sich Verkäufer zwischen den stehenden Autos hindurch und wollen Erdnüsse, Plastikramsch und Feuerzeuge loswerden. „Bachna, djouredjouf“, ruft Jonas auf Wolof, der gängigsten Sprache im Senegal - Wir brauchen nichts, danke! Das Chaos auf der Straße wird immer größer, je näher wir dem Stadtzentrum kommen. Langsam rollen wir an Wellblechbaracken vorbei, brennendem Müll, Ziegen, niedrigen Häusern mit Flachdächern, vor deren unverputzten Wänden die Menschen im spärlichen Schatten dösen, alten Autowracks und hunderten Gummireifen. Bäume sieht man fast keine mehr. Neben hupenden und klappernden Peugeots, gebohnerten Pickups, unzähligen LKWs und dank Jonas’ Engelsgeduld, erreichen wir schließlich unbeschadet den Platz an der „Großen Moschee“ im Zentrum Dakars. Auf nach Gorée Seynabou und ich verabschieden uns hier von Jonas und steigen in ein Taxi um, das uns zum Hafen bringen soll. Ich bin jetzt

22

FernSicht

schon fix und fertig. Die vielen Eindrücke der Straße neben pausenlosem Erzählen und guten Ratschlägen vom Beifahrersitz rechts, Erfahrungsberichten aus der stürmischen Jugend vom Fahrersitz links, übersteigen meine Aufnahmekapazitäten und ich werde grantig - nur noch raus aus dem Gewimmel. An Bord der Schaluppe, welche die kleine Insel Gorée mit dem Dakarer Festland verbindet, werde ich ruhiger. Es ist immer noch unheimlich heiß, doch der salzige Wind kühlt die roten Wangen. Nicht weit vor dem Bug des Schiffes sehe ich ein Stück Land im blauen Meer, von dessen höchstem Punkt ein Monument aufragt, das mich von der Form her an einen riesigen Elefantenzahn erinnert. Was mag das wohl sein? Später finde ich heraus, dass es sich nicht um einen Zahn, sondern um ein Denkmal handelt. Es gilt den vielen tausend Afrikanern, die von den Küsten Gorées noch bis ins 19. Jahrhundert als Sklaven nach Amerika verschifft worden sind. Heute ist die Insel ein Ort der Idylle und seit 1978 UNESCO Weltkulturerbe. Je näher wir kommen, desto fröhlicher werde ich. In rot und ocker getünchte Häuser aus den Tagen und im Stil der Kolonialzeit, mit hölzernen Balkonen, säumen die kleine Bucht, auf die wir zufahren. Am kurzen Strand, der auf der einen Seite von schwarzen Felsen, auf der anderen durch den Bootssteg begrenzt ist, baden Jugendliche und Kinder, machen Fitnessübungen und winken den Passagieren auf der Schaluppe zu. Autos scheint es hier keine zu geben. Alle Wege sind Sandwege. Mir wird sofort klar, dass ich hier wohnen will. Das neue Heim Auf Empfehlung von Seynabous Freundin Madame Josslin, einer kleinen Dame in himmelblauer Robe, mit weißem Haar und großer schwerer Perlenkette um den Hals, sollen wir bei Pépé und Charlotte vorbeischauen. Das senegalesische Pärchen wohne mit seinen drei Kindern gleich um die Ecke in einem kleinen roten Haus mit weißen Fensterläden und hätte Zimmer zu vermieten. Also nix wie rüber. Als mir an der weißen Holzpforte dann ein großer dunkler Mann mit langen Rastazöpfen öffnet, denke ich sofort an Bob Marley. Pépé ist Rastamann und begrüßt uns mit einer Herzlichkeit, die mir für eine erste Begegnung ganz fremd vorkommt. Er bittet mich in den sauberen, von einer weißen Veranda umsäumten Innenhof, in dessen Mitte ein großer violett gestrichener

Holztisch steht. Im Schatten eines Trompetenbaumes sitzt Charlotte, Pépés Frau, auf einem kleinen Schemel und schält Gemüse fürs Abendessen. Auch sie strahlt, als sie uns sieht und grüßt freundlich. Dann zeigt mir Pépé mein Zimmer. Darin befinden sich ein Bett, ein Schrank, ein kleiner Schreibtisch und ein Ventilator. Alles, was ich brauche. Wenig später handeln wir dann unter einem großen Bild im Innenhof, auf dem der äthiopische Kaiser Haile Selassie I. abgebildet ist, den Preis für drei Monate Miete aus und am Schluss sind alle zufrieden. Die Familie ist sehr nett. Sie gehören zu den wenigen katholischen Christen, die es im Senegal gibt und laden mich gleich ein, mit ihnen zusammen sonntags in der Kirche zu singen. Außer Pépé, der geht nicht in die Kirche. Er brauche sowas nicht, meint er ernst. „Ich bin meine eigene Kathedrale.“ Goethe und Migration Am nächsten Morgen will ich gleich nach dem Frühstück beim Goethe-Institut vorbeischauen, um mich einmal vorzustellen und mir die Räumlichkeiten anzusehen. Vom Hafen aus geht es an einem kleinen, ziemlich schmutzigen Fischermarkt vorbei, um die Ecke in die Rue Hassan II. Dann ist man eigentlich schon da. Das zweite Haus auf der rechten Seite, ein altes graues Hochhaus ohne funktionierenden Fahrstuhl und ohne Licht auf den Gängen beherbergt im sechsten Stock die Büros des Instituts. Ich denke sofort daran, dass meine Waden, Oberschenkel und Gesäßmuskulatur um einiges straffer sein werden, wenn ich nach drei Monaten Praktikum wieder nach Saint-Louis zurückkomme. Aber nichts für ungut. Immerhin ist die Luft in den oberen Stockwerken besser als auf der Straße, wo sich hunderte schrottiger Autos aneinander vorbeiquetschen, schwarze Rauchschwaden in die Luft blasen und so die ganze Stadt in eine Dunstglocke hüllen. Die Mitarbeiter des Goethe-Instituts wirken alle sehr sympathisch. Ich bekomme gleich einen Kaffee angeboten und der Buchhalter, ein älterer Senegalese mit grauen Haaren und einer dicken Brille auf der Nase, erzählt mir lustige Dinge auf Wolof (die ich natürlich nicht verstehe, was ihn merklich amüsiert) bis der Institutsleiter zu mir hereinkommt. Wir besprechen kurz einige zukünftige Projekte, an denen ich mitarbeiten soll. Für Januar 2008 ist eine Online-Ausstellung zum Thema „Migration“ geplant, deren Redaktion und Gestaltung ich übernehmen soll.

Migration, und der Versuch der Flucht über die See in den Westen, sind bei den Senegalesen Themen des Alltags. Allein in Seynabous Heimatdorf Gandiole gibt es über 200 Familien, die unmittelbar betroffen sind. Da ist kaum einer, dessen Sohn, Vater, Bruder, Onkel oder Freund nicht schon einmal versucht hätte in einem Boot nach Europa zu gelangen. Einige haben es geschafft, von anderen hat man nie wieder etwas gehört. Es sind unglaubliche Geschichten. Ich nehme mir vor, einige Einzelschicksale zu dokumentieren, mit den Leuten im Dorf zu sprechen und Fotos von den Familien zu machen. So will ich versuchen, meinen eigenen Beitrag zum bereits bestehenden Konzept des Projekts zu leisten. Madame Dakar Später auf dem Weg zurück zum Hafen, ärgere ich mich schon wieder. Es ist laut und heiß und an jeder Ecke werde ich

angequatscht, man will mir Erdnüsse verkaufen, Souvenirs, kleine Fächer gegen die Hitze. Kurzerhand verschwinde ich in einen Supermarkt, um mir eine senegalesische Tageszeitung und eine Plastiktüte zu besorgen. „Mit der Zeitung unterm Arm und der Tüte in der Hand, siehst Du aus wie eine Madame Dakar, eine Ortsansässige, und man wird Dich in Ruhe lassen.“ Diesen Tipp hatte mir Seynabou gegeben. Und tatsächlich – für den Rest des Weges bis zur Schaluppe habe ich meine Ruhe. Perlen Zurück auf Gorée führt Monsieur Sissoko, ein Perlenhändler aus Mali, der jedes Jahr für drei Monate in den Senegal kommt, um dort seine Antiquitäten, Perlen und alte Grabschätze zu verkaufen, Seynabou und mich am Abend in sein „Verlies“. Er wohnt bei Madame Josslin. Wir treten

durch eine schwere Holzpforte in einen wunderschönen Innenhof, in dessen Mitte ein großer Affenbrotbaum seine Äste in alle vier Winde streckt. Blumenkübel stehen in den Ecken, eine Bank aus gekacheltem Mosaik lädt zum Verweilen ein. Durch einen niedrigen Vorsprung unterhalb einer hölzernen Veranda schlüpfen wir in einen kleinen Raum, der zu einem dunklen Gang und dann in den Keller führt. Hier ist es modrig, die tiefen Decken sind mit alten Palmenstämmen verstärkt. Von der Feuchtigkeit des Meeres sind sie jedoch schon ganz durchgeweicht. Überall stehen Tongefäße herum und kleine, in Tierformen geschnitzte Hocker aus festem Holz. Am Ende des Ganges ist eine vergitterte Eisentür in die Steinwand eingefasst, die den Blick auf das Meer freigibt und man hört, wie die Wellen an den vor der Außenwand des Hauses aufgeworfenen Steinwall branden. Diese muss eine der Portes sans retour sein, der Pforten ohne Rückkehr, durch die in vergangenen Zeiten tausende Menschen auf die Sklavenschiffe getrieben worden sein sollen. Als uns Monsieur Sissoko schließlich seine Antiquitäten zeigt, erdene Krüge, Maliteppiche, kupferne Grabschätze und Perlen, Perlen, Perlen, spüre ich, wie mir ein leichter Schauer über den Rücken läuft. Genau das waren früher die Zahlungsmittel beim Tauschhandel gewesen. Mit wertvollen Glasperlen und Waffen hatte man viele Afrikaner bestochen, ihre eigenen Brüder einzufangen und Sklavenhändlern auszuliefern. Das ist zu viel Authentizität für mich. Ich werde ruhig und leise, konzentriere mich auf das Rauschen der Wellen und höre die anderen beiden nur noch dumpf über den Preis eines Kupferpferdchens verhandeln. Dieser Ort hat eine traurige Geschichte, das spürt man. Vorfreude Als wir am nächsten Tag früh morgens um 7 Uhr die Schaluppe aufs Festland nehmen, bin ich angefüllt mit Eindrücken und Vorfreude auf die kommenden Monate, in denen ich hier in Dakar mein Praktikum machen werde. Ich freue mich auf die Insel und die Menschen, denen ich in den letzten Tagen hier begegnet bin. An der großen Moschee in der Innenstadt Dakars wartete schon Jonas neben seinem gelben LKW auf uns. „So ihr beiden, kann’s losgehen? Wenn wir Glück haben, sind wir in acht Stunden zurück in Saint Louis.“

Eva Helm

FernSicht

23



Warum lachen wir? ErkenntnisReich gibt Denkanstöße zum Thema „Lachen“

Definition

Eine Studie im Auftrag von Men´s Health brachte es ans Tageslicht: Kölner Männer lachen im Schnitt täglich mehr als ihre Artgenossen in anderen deutschen Großstädten. Da wir also in einer besonders fröhlichen Stadt wohnen, ist es für ErkenntnisReich ein Grund mehr, sich das Thema „Lachen“ einmal genauer anzusehen. Die Lachforschung, Gelotologie, beschäftigt sich wissenschaftlich mit dem Lachen. Mittlerweile gibt es so viele Aspekte, die auf diesem Feld untersucht werden können und so viele Zusammenhänge mit anderen Bereichen der Medizin, Psychologie und Philosophie, dass die Fülle an Literatur und Forschung immer weiter zunimmt. Besonders hervorzuheben ist aktuell der Zusammenhang zwischen Lachen und Gesundheit. Doch warum lachen wir? Vera M. Robinson, eine amerikanische Humor-Expertin, schreibt dem Lachen drei Hauptfunktionen zu. Die erste ist die kommunikative Funktion. Hier wird

26

ErkenntnisReich

schnell deutlich, dass Lachen Menschen verbindet, denn durch lachen wird eine Beziehung aufgebaut. Ein Lächeln kann Vertrauen aufbauen, auch wenn Menschen sich gerade erst gegenüber getreten sind: Selbst wenn man sich vorher noch nie gesehen hat, entscheidet gemeinsames Lachen über Sympathie oder Antipathie. Die zweite Funktion ist die soziale Funktion. So bilden sich soziale Gruppen durch Lachen, da man sich mit den Menschen identifiziert, mit denen man lachen kann. Die dritte Funktion des Lachens ist die psychologische Funktion. Hierbei geht es vor allem um die Bewältigung von Gefühlen, zum Beispiel von Ängsten und Stress. Lacht man aus Verzweifelung, so ist es nicht etwa Zynismus, der das Lachen hervorbringt, sondern es ist eine erwiesene Funktion des Lachens: Man bewältigt Schmerz, Trauer und Verzweiflung oder Ratlosigkeit. Es gibt viele weitere Theorien darüber, warum der Mensch lacht. Eine Weitere ist

beispielsweise, dass man durch Lachen ein gewisses Überlegenheitsgefühl ausstrahlt. Schadenfreude ist in diesem Zusammenhang nur ein mögliches Beispiel dafür. Ein in diesem Zusammenhang interessantes, länderübergreifendes Projekt wurde 2001 im sogenannten „Laugh Lab“ (Lachlabor) durchgeführt. Ziel war es, den witzigsten Witz zu finden. Nebenbei sollten aber auch Unterschiede zwischen dem Humor von Männern und Frauen, Kindern und Erwachsenen und natürlich Menschen unterschiedlicher Kulturen herausgearbeitet werden. Dazu konnte man in einem begrenzten Zeitraum sowohl Witze an das Laugh Lab schicken, als auch bereits eingesandte Witze unter Angabe einiger persönlicher Informationen bewerten. Bei dem Projekt kam unter anderem heraus, dass Deutsche im Vergleich zu anderen europäischen, aber auch inernationalen Testteilnehmern auf die unterschiedlichsten Witze positiv reagiert haben.Den meisten Ländern konnte ein spezifischer Humor zugeordnet werden, den Deutschen jedoch nicht.

Brockhaus sagt, Lachen ist eine „angeborene Grundform menschlicher Ausdrucksbewegungen, der eine gehobene Stimmungslage zugrunde liegt und die besonders als Sozialverhalten von Bedeutung ist. Entsprechend der Vielfältigkeit der auslösenden Momente sind die Formen des Lachens vom Lächeln bis zum Krampf zahlreich. Von besonderer sozialer Bedeutung ist das Lächeln als Artgebärde sozialer Begrüßung, Sympathiebekundung und Beschwichtigung.“ In unseren Link-Tipps sind weitere Informationen zu diesem unserer Meinung nach sehr lustigen Feldversuch. Außerdem findet man dort die Siegerwitze und einige Beispiele für die kulturellen Unterschiede, die durch die Vielzahl von Witzen deutlich werden. Auch unabhängig von der Ermittlung des besten Witzes der Welt wurde mithilfe von Fotografien wissenschaftlich nachgewiesen, dass Menschen verschiedener Kulturen verschiedene menschliche Emotionen in in eine von acht Kategorien einordnen, von denen eine Fröhlichkeit ist. Dies ist besonders interessant, da damit herausgestellt wurde, dass es kulturübergreifende Übereinstimmungen

über die Mimik gibt. Schon 1987 wurde herausgefunden, dass diese Einigkeit nicht nur über die Gefühle herrscht, sondern dass die verschiedenen Kulturen sich auch einig darüber sind, welche Gefühle die stärksten, und welche die schwächsten Gefühle sind. Das heißt, genetisch ist Lachen im Menschen verankert, Humor jedoch ist eine kulturelle Erscheinung, die in verschiedenen Ländern verschieden wahrgenommen wird. Wer sich näher mit diesem Thema beschäftigen will, sollte sich unbedingt in unserer Link-Tipps-Box umsehen. Dort gibt es das Interview mit Michael Titze und die Studie von Mens Health. Außerdem sollte man sich das Interview mit Carsten Niemitz durchlesen, da er dort nicht nur Fragen zu lachen allgemein beantwortet, sondern auch einen Zusammenhang zwischen menschlichem Lachen und dem Lachen von Tieren herstellt.

Was passiert denn eigentlich mit dem Körper, wenn man lacht? Zu dieser Frage berichtet Dr. Michael Titze in einem Interview mit dem Südwest Fernsehen, dass bei einem richtig herzhaften Lachen der Puls auf bis zu 120 Schläge pro Minute steigt. Man atmet schneller, die Nase bewegt sich durch den vermehrten Luftein- und auszug, und der Körper setzt Endorphine frei. Christiane Mehling

Link Tipps Das Laugh Lab: www.laughlab.co.uk

Interview mit Michael Titze: http://www.michael-titze.de/content/de/ interviews/interview_001.html

Studie von Mens Health http://www.menshealth.de/health/allggesundheit/koeln-ist-hauptstadt-deslachens.9505.htm

Interview mit Carsten Niemitz: http://www.planet-wissen.de/pw/Artikel04BA6853D2291D83E0440003BA5E08D7.html

ErkenntnisReich

27


Der Zufall

zufällige Mutation eines Gens sorgt in diesem Fall für das Überleben der Bakterienzelle.

Fluch und Segen in der Therapie mit Antibiotika Der Zufall führte zur Entdeckung des Penicillins, der Zufall sorgt auch dafür, dass ein Antibiotikum seine Wirkung wieder verliert. Innerhalb der kurzen Geschichte des Antibiotikums von 1945 bis heute steigt die Zahl der Antibiotikaresistenzen stetig an. Welche Mechanismen spielen dabei eine Rolle? Und wie kann ich mich schützen?

Der Zufall hat das Penicillin entdeckt Die Erfolgsgeschichte beginnt 1928: Sir Alexander Fleming (zu der Zeit stellvertretender Direktor des St. Mary's Hospital Medical School der Universität London), lässt eine Bakterienkultur mit Staphylococcus aureus für einige Wochen in einer Petrischale wachsen. Der Schimmelpilz Penicillium notatum war zufällig in der Luft und keimte unbeabsichtigt mit heran. Bei der Untersuchung der beiden Kulturen stellte Fleming fest, dass die Bakterien in der Nähe des Pilzes nicht überlebensfähig waren. Fleming nannte den Stoff der das Wachstum der Bakterien hemmt in Anlehnung an den Pilz Penicillin. Etwa fünfzehn Jahre später wurde der erste Patient mit einer bakteriellen Infektion erfolgreich mit Penicillin behandelt. 1945 erhielten Alexander Fleming zusammen mit Howard Walter Florey und Ernst Boris Chain für die Entdeckung des Penicillins und seiner heilenden Wirkung bei verschiedenen Infektionskrankheiten den Nobelpreis. Antibiotika avancierten in den 50iger Jahren

28

ErkenntnisReich

zu einem Wundermittel, man sprach von einer Revolution in der Humanmedizin. Zu jener Zeit waren Verletzungen oder ein chirurgischer Eingriff aufgrund bakterieller Infektionen mitunter lebensbedrohlich.

Was ist vom Ruhm übrig geblieben? Dank der Entwicklung von Antibiotika gehören Operationen mittlerweile zum medizinischen Alltag. Aber haben Antibiotika immer noch die gleiche vernichtende Wirkung auf Bakterien wie damals? Die Zahlen der Deutschen AntibiotikaResistenzstrategie (DART), eine Initiative des Bundesministeriums für Gesundheit, sind alarmierend: über 40.000 Personen starben in Deutschland aufgrund einer bakteriellen

Infektion, davon über 50 % an einer Lungenentzündung. Lungenentzündungen gehörten 2006 zu der siebthäufigsten Todesursache in Deutschland. Erreger von Lungenentzündungen sind u.a. Staphylokokken, genau derjenige Bakterienstamm, bei dem Alexander Fleming die Wirkung des Penicillins ursprünglich nachgewiesen hat.

Somit hat es eine Resistenz gegen das Antibiotikum erworben und kann sich weiter vermehren. Nicht nur das, es kann die Resistenz auch auf andere medizinisch relevante Bakterienstämme übertragen. Krankenhäuser sind Brennpunkte, in denen viele verschiedene Bakterien vermehrt auftreten und aufgrund des stetigen Antibiotikaverbrauchs resistente Stämme gefördert werden können. „Patienten, die unter antibiotikaresistenten Erregern leiden, sind keine Seltenheit;“, weiß Prof. Dr. med. Gerd Fätkenheuer von der Uniklinik Köln, “auf unseren Stationen haben wir ständig mit solchen Fällen zu tun. Ein typischer Erreger ist der Methicillin-resistente Staphylococcus aureus, MRSA, der ist unser größtes Problem.“ Staphylococcus aureus ist mittlerweile sogar multiresistent: Das Bakterium ist nicht nur gegen Penicillin und Methicillin immun, sondern auch gegen weitere Präparate. „Das macht die Behandlung dieser Stämme so schwierig.“, betont Fätkenheuer.

Warum verlieren Antibiotika mit der Zeit ihre Wirkung? Der Zufall ist dafür verantwortlich, dass das Penicillin seine Wirkung auf Staphylococcus aureus verloren hat. Unter hunderten von Bakterienzellen kann es vorkommen, dass eines dabei ist, bei dem das Antibiotikum keine zerstörerische Wirkung zeigt. Die

In Europa ist ein Anstieg der Antibiotikaresistenzen zu verzeichnen Das europäische Überwachungssystem EARSS (European Antimicrobial Resistance Surveillance) berichtet seit 2001, dass die südeuropäischen Länder wie Spanien und Griechenland relativ hohe Zuwachsraten haben. Dies geht mit einem relativ hohen Antibiotikaverbrauch einher. Dagegen zeigen die EARSS-Daten sehr geringe Resistenzraten in den skandinavischen Staaten und den Niederlanden, wo relativ geringe Mengen Antibiotika verbraucht werden. Deutschland

nimmt bei dieser Bestandsaufnahme eine mittlere Position ein. Je weniger Antibiotika verbraucht werden, desto weniger Antibiotikaresistenzen bilden sich aus. Der sorgsame Umgang mit Antibiotika ist also der Schlüssel für eine langanhaltende Wirksamkeit des Präparats.

Patienten gehen mit einer gewissen Erwartungshaltung zum Arzt Die Umsetzung dieses Zieles ist aber schwierig. „Viele Patienten gehen mit einer gewissen Erwartungshaltung zum Arzt.“, schildert Fätkenheuer, “Die Patienten sind häufig sehr viel glücklicher, wenn sie mit einem Antibiotikum nach Hause gehen können, als wenn der Arzt Ihnen erklärt: Ich schreib Sie krank, legen Sie sich ins Bett, mehr können wir nicht tun.“ Dieses ist zum Beispiel bei über 80 % der Erkältungen der Fall. In der Regel werden diese durch Viren verursacht. Viren sind aber keine Bakterien, deswegen macht eine Therapie mit Antibiotika keinen Sinn. „Aber manchmal verschreibt der Arzt auch aus einer gewissen medizinischen Unsicherheit heraus ein Antibiotikum, ganz einfach weil er auf Nummer sicher gehen will, falls doch eine bakterielle Infektion vorliegen könnte.“, räumt Fätkenheuer ein.

entwickelt werden. Zu allem Übel reißen sich die Pharmafirmen nicht darum, in die Forschung von neuen Antibiotika zu investieren. „Es kostet sehr viel Geld ein neues Antibiotikum auf den Markt zu bringen, welches dann von den Ärzten aus gutem Grund nur sparsam eingesetzt wird. Dieser Markt ist nicht lukrativ, da verdienen die Pharmakonzerne mehr Geld mit Medikamenten für die Behandlung von chronischen Erkrankungen wie Diabetes oder Allergien.“, berichtet Fätkenheuer, „Hier treffen gegensätzliche Interessen aufeinander, nur noch ganz wenige Pharmaunternehmen entwickeln neue Antibiotika.“ Jetzt müssen alternative Wege gefunden werden. Die Deutsche AntibiotikaResistenzstrategie (DART) schlägt vor, das Personal über den rationalen Umgang mit Antibiotika zu schulen, HygieneBedingungen peinlich genau einzuhalten, sowie den Antibiotikaverbrauch weltweit zu dokumentieren und Frühwarnsysteme über die Verbreitung resistenter Erreger wie MRSA zu etablieren.

Christine Willen

Zu oft und zu viel eingesetzte Antibiotika beschleunigen den Prozess der Resistenzbildung Jedes Antibiotikum verliert mit der Zeit seine Wirkung. Zu oft und zu viel eingesetzte Antibiotika beschleunigen diesen Prozess. Es müssen stetig neue Antibiotika

ErkenntnisReich

29


Mit dem Rollator auf die CeBIT Im Grundgesetz heißt es, dass „Forschung und Lehre frei“ sind, d.h. man darf erforschen wo man Lust drauf hat, solang es einen Sinn ergibt. Diesen Satz beherzt man am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität des Saarlandes. Dort nahm man sich des gemeinhin nicht gerade technisch aufwendigen Rollator an, um zu zeigen, was möglich ist. Ein Rollator ist allgemein bekannt als ein Gerät, das gehbehinderten Menschen ein Vorankommen ermöglichen soll. Der Rollator der Uni Saarland ist technisch hochgerüstet worden:

unter dem Sitzbrett ist ein kleiner Laptop eingebaut, dazu ein Laser, große Batterien und Räder mit speziellen Bremsen. Ist eine Wand, eine Stufe oder ein anderes Hindernis im Weg, meldet dies der Laserabtaster an den Computer, der darauf umgehend die Bremsen ansteuert und so den Rollator mitsamt Anwender sanft stoppt. Der technische Leiter des Projekts umschreibt die Zielgruppe als „gehbehindert mit vermindertem Sehvermögen“. Falls dieses Unikat der Technik in Serie geht, bleibt zu hoffen, dass bei langen Spaziergängen der aufwendigen Technik nicht die Puste ausgeht. Niels Walker

Identität

im Internet

Solarzellen wie gedruckt Identität im Internet. November 2010 können wir uns im Internet ausweisen. Mein Drucker rattert laut, aber er druckt mir meine Arbeiten aus. Bald kann er vielleicht sogar noch mehr und mir Solarzellen ausdrucken, wenn an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena der Durchbruch gelingt. Dort haben sich Forscher Inkjet Drucker vorgenommen und umgebaut. In diesem Forscherteam arbeitet auch Christian Friebe mit, er promoviert gerade über die Charakterisierung von Metallkomplexen und Polymeren.

„Man kann es eine Spezialtinte nennen“ erklärt er.

„Auf diese Weise kann man dann Schaltkreise herstellen“ sagt Friebe und erläutert, wie das geht:

„Es werden Silbernanopartikel in einem speziellen Lösungsmittel auf die Druckunterlage gedruckt.

Das Lösungsmittel verdampft dann, und zurück bleibt das Silber. Aber dies ist noch alles experimentell“, betont er. Trotzdem klingt es faszinierend. Wenn diese Forschung an der Uni Jena Erfolg haben wird, wird es vielleicht zukünftig möglich sein, auch kompliziertere Dinge zu drucken, „theoretisch auch Solarzellen“, so Friebe. Ich freu mich darauf, dann klebe ich mir die nämlich auf meinen Balkon.

Niels Walker

Der neue Ausweis besitzt einen RFIDFunkchip zur drahtlosen Identifikation, auf dem die üblichen persönlichen Daten z. B. Name, Adresse, Geburtstag etc. gespeichert sind. Biometrische Daten wie Lichtbild und Fingerabdruck sind ebenfalls abrufbar. Der Personalausweis im ScheckkartenFormat hat aber auch noch ein weitaus spannenderes Feature: Eine elektronische Signatur macht es möglich, im Internet Behördengänge zu erledigen oder Verträge abzuschließen.

Die elektronische Signatur ersetzt damit die persönliche Unterschrift. Alles, was man dafür braucht, ist ein spezielles Lesegerät für den elektronischen Personalausweis. Umstritten ist, ob der neue Ausweiß nicht auch ein großes Sicherheitsrisiko darstellt. Experten führen darüber kontroverse Diskussionen. Die einen betonen die Nützlichkeit der elektronischen Signatur, die anderen sehen Datenschutzprobleme und warnen sogar vor Identitätsdiebstahl.

Christine Willen

Grob erklärt geht es darum, mit einem normalen Drucker, durch den Einsatz von Spezialtinten, zum Beispiel Silberfäden aufs Papier oder andere Unterlagen zu drucken.

30

ErkenntnisReich

ErkenntnisReich

31


ZeitGeist


NRW - Ticket Wuppertal für Nicht-Wuppertaler Zum Auftakt: Wuppertal, an Uncoolness eigentlich nur noch übertrumpft von Gummersbach oder Neuss. Deswegen: Wuppertal, die erste Stadt von „NRWTicket“, der neuen Kulturrubrik für ganz NRW. Du hast ein NRW-Ticket auf deinem Studi-Ausweis? Dann kann die Reise ja losgehen! Wuppertal ist eigentlich keine Stadt, sondern eine Anreihung von kleinen Dörfern und Orten im Tal der Wupper. Zur Zeiten der industriellen Revolution siedelten sich in diesem doch sehr engen Tal immer mehr Industriebetriebe an, was zu Prosperität im frühen 19. Jahrhundert führte. Irgendwann während dieser Zeit wurde auch die Schwebebahn gebaut, die heute das bekannteste Merkmal von Wuppertal für Nicht-Wuppertaler ist. Aber um kurz die Geschichte zu komplettieren: Von den vielen kleinen Orten, aus denen sich später Wuppertal zusammensetzte, waren die größten und bedeutendsten Barmen und Elberfeld. Diese wurden durch die florierende Industrie immer wichtiger, während das Ruhrgebiet noch in den Kinderschuhen steckte. Also baute man verschiedene Eisenbahnen und Straßen in das frühe Herz der deutschen Industrie und kaum als dass man sich versah, war das schmale Tal an der Wupper ein industrielles Zentrum für das damalige Deutsche Reich geworden. Dann kamen zwei Weltkriege und zwischendurch, nämlich 1929, noch die Vereinigung von Barmen und Elberfeld zur Stadt Wuppertal. Der Name „Wuppertal“ wurde übrigens nach einer Bürgerbefragung gewählt.

ZeitGeist

Die Schwebebahn Für den Tagestrip nach Wuppertal empfiehlt sich eine Fahrt mit der Schwebebahn, eventuell ein Zoobesuch, und wer möchte kann sich noch die Stadthalle ansehen. Ganz bestimmt nicht sehenswert ist der Wuppertaler Hauptbahnhof, doch beginnt genau hier die Reise (muss ja). Am Hauptbahnhof angekommen verlässt man denselben dann am besten so schnell wie möglich, auch den Bäcker und das Büdchen kann man getrost links liegen lassen. Aus dem Bahnhof raus geht es über die Taxistrasse, vorbei an einer noch gelben Telefonzelle durch eine Fußgängerunterführung zur Wupper. Die Wupper sieht man zunächst gar nicht, bis man auf einmal vor ihr steht. Sie ist natürlich nicht so breit wie der Rhein und überhaupt ein übersichtlicher Fluss. Dazu kommt noch, dass sie an beiden Seiten des Ufers sehr dicht bebaut ist; es gibt keine Uferpromenade, keine Ufercafés, nichts. Der einzige Weg, die Wupper zu sehen, ist auf einer Brücke zu stehen oder: mit der Schwebebahn zu fahren. Und genau dazu sind wir hier. 1898 wurde mit dem Bau der Schwebebahn nach der Idee eines Deutzer Industriellen, Eugen Langen, begonnen. Die Wupper-taler Stadtväter hatten nämlich gemerkt, dass für eine Straßenbahn in ihrer Stadt kein Platz mehr ist. Drei Jahre später war das erste Teilstück dann fertig und selbst Kaiser Wilhelm II kam für eine Probefahrt vorbei (Von dieser Fahrt rührt der sog. Kaiserwagen, in dem man heute sogar heiraten kann. Wenn man denn will.). Nach diversen Erweiterungen und dem Wiederaufbau nach zwei Kriegen fährt die Schwebebahn heute auf einer Länge von knapp über 13km, für die sie eine

halbe Stunde braucht. Die Fahrt mit der Schwebebahn ist für Inhaber eines NRWTickets auf ihrem Studi-Ausweis kostenlos. Es ist in der Schwebebahn ein wenig eng, es gibt nur drei Sitze nebeneinander, am empfehlenswertesten ist der Sitz hinterm Fahrer, weil man hier die schönste Aussicht in alle Richtungen hat. Schwindelfrei sollte man allerdings schon sein, und auch Seekrankheit sollte nicht Unwohl auslösen können. Man steht in der Schwebebahn auf nur wenigen Lagen Blech und Stahl, der Fakt, dass unter diesem Blech unter den eigenen Füßen erstmal zwölf Meter Luft und dann ein recht flaches Flussbett kommen (je nach Jahreszeit), sollte einen nicht beunruhigen. Die Schwebebahn hat ihre Räder auf dem Dach, und anders als bei normalen Zügen hat sie nur eine Schiene und ergo auch nur zwei Räder, an denen ein ganzer Waggon aufgehängt ist. Dies mutet sehr industriell an und ist es auch. Wenn man sich also den Einstieg traut, fährt man am besten erstmal zur Endhalstestelle Vohwinkel. Hier hat man gleich das meiste Bohei während der Fahrt gesehen, man fährt über den Fluss, legt sich mit der Bahn bei jeder Flussbiegung mit ca. 30-40km/h in die Kurve und rauscht sogar über eine Autobahn hinweg! In Vohwinkel steigt man dann aus, geht hinunter ins Café (Kaffee und Brötchen sind modern belegt, aber vernünftig bepreist.) und lässt ein paar Bahnen über sich her fahren. Dann geht man wieder hoch, stellt sich auf die Plattform nach ganz vorne und erhascht so bei der nächsten Bahn den ersten Platz hinterm Fahrer. Achtung, es gibt mehrere Leute mit dieser Idee. Dann fährt man einmal die ganze Strecke. Wer schon als Kind gerne mit Eisenbahnen

gespielt hat oder in Lego-Technik vernarrt war, bekommt hierbei den Mund gar nicht mehr zu. Während der Fahrt kann man dann sein Wissen über die technische Meisterleistung und Kuriosita der Bahn zum Besten geben. Z.B., dass einmal ein Elefant aus der Bahn gefallen ist, worauf danach ein Gericht beschloss, dass die Schwebebahn kein geeignetes Transportmittel für Elefanten ist. Wer Raumangst während der Fahrt bekommt, der sei beruhigt dadurch, dass für den Fall, dass die Bahn liegen (bzw. hängen) bleibt, einfach der nächste Zug kommt und sie sanft in den nächsten Bahnhof schiebt, eine spezielle Kupplung macht es möglich. Sollte aber sogar das nicht mehr funktionieren, kommt ein Zug auf der Gegenseite und es wird zwischen den Mittelstücken der beiden Züge eine Klappbrücke, ja genau!, ausgeklappt, damit die Passagiere des liegen gebliebenen Zuges in luftiger Höhe in den anderen Zug wechseln und sicher in den nächsten Bahnhof fahren können. Also alles kein Problem, wir wiegen uns in Sicherheit und genießen die Schwebefahrt über die Wupper. An der anderen Endhaltestelle Oberbarmen gibt es sonntags einen Ramschmarkt, wo man noch günstig eine große Zimmerpflanze und T-Shirts mit Wrestlingstars kaufen kann (yeahyeahyeah!). Ein Spaziergang entlang der Wupper ist, wie oben erwähnt, leider nicht möglich. Also fahren wir wieder zurück zum Hauptbahnhof, verwerfen die Fahrt zum Wuppertaler Zoo, nachdem uns diese Fülle an Ingenieursleistung schon vollkommen überfasziniert hat, und fahren mit der nächsten Regionalbahn wieder zurück nach Köln. Auf herkömmlichen Gleisen, ganz gewöhnlich. Niels Walker

ZeitGeist


Vorhang auf

Welt-Theatertag

Welt-Soundsotage gibt es viele: da wären zum Beispiel der Welt-Aidstag, der Welt-HirnTumor-Tag, der Welt-Drogentag. Es gibt aber auch Tage für weniger beunruhigende Dinge wie beispielsweise den Tag des deutschen Butterbrotes, den Welt-Ei-Tag, den Welt-Schildkrötentag und den Internationalen AntiDiät-Tag. Es gibt auch einen Tag zur Abschaffung von Fleisch. Und: es gibt den Welt-Theatertag! Am 27. März gedenkt die Welt der aus so manchem Kopf verdrängten Kunstform, der ein wenig Extra-Aufmerksamkeit sicher nicht schaden kann. Während sich im TV-Programm C-Promis Fisch-Innereien-Shakes runterschütten, ein (ehemaliger?) A-Promi seine dünnen Möchtegern-Nachfolgerinnen über Laufstege scheucht und Pseudo-Esoterikerinnen Anrufer mit Lebensbewältigungstipps versorgen (was allerdings relativ lustig sein kann: „Birgit, ich verbinde mich für dich mit der geistigen Welt.“), bietet das Theater ebenfalls etwas für jeden Geschmack: Komödien, Tragödien, Modernes, Klassisches, Abstraktes, Kitschiges, Innovatives, Einfaches, Intelligentes, Originelles. Was für ein Glück, dass der Kölner also beruhigt angesichts der Aussicht auf einen unterhaltsamen Abend seinen Fernseher ausschalten, sich die Jacke überziehen und zum Theater gehen kann. Denn in Köln hat er jede Menge Gelegenheit dazu. Das international renommierte Schauspielhaus am Offenbachplatz (zwischen Neumarkt und Appellhofplatz), vor dessen größter Bühne 830 Zuschauer Platz finden, präsentiert eine Vielzahl von Produktionen: ab Mitte Mai zum Beispiel die griechische Tragödie Iphigenie und Ende Mai noch eine Vorstellung des Lustspiels Leonce und Lena, in dem Prinz Leonce aus dem Königreich Popo and Prinzessin Lena aus dem Königreich Pipi auf ungewöhnlicher Basis ihre Liebe finden. In der Uni-Mensa kann man sich am Infostand des Schauspielhauses wochentags von 12-14.30 Uhr über die Vorstellungen informieren und Karten kaufen. Die sind besonders für Studenten auch sehr erschwinglich: für 6 Euro (auf allen Plätzen) kommt man rein (Normalpreise 9-33 Euro). Auf der Internetseite www.schauspielkoeln.de gibt es sogar teilweise Trailer zu den einzelnen Produktionen zu sehen. Darüber hinaus lassen sich in der Stadt mehrere freie Theater mit unterschiedlichen Schwerpunkten finden. In der Südstadt, mitten im Volksgarten bietet die Orangerie experimentelles Theater und Tanz in einem ehemaligen Gewächshaus. Darüber hinaus finden dort regelmäßig u.a. Workshops zum Thema „Freies Bewegen“ (Sharing Movement)statt. Ende Mai kann man sich dort in der Produktion KONG ansehen, was aus King Kong geworden wäre, wenn er nicht vom Empire State Building gesprungen wäre. Studenten bezahlen knapp 11 Euro pro Karte, der Normalpreis beträgt 17,50 Euro. Ein paar hundert Meter weiter, sind die Zuschauer im Theater am Sachsenring ganz nah am Bühnengeschehen dabei; mit der Tradition im Hinterkopf richtet sich dieses kleine Theater mit nur 100 Plätzen an Menschen, die frische, intelligente Inszenierungen sehen wollen. Zur Zeit sind u.a. das neue Stück Kafkas Welten, eine Montage verschiedener Kafka-Erzählungen, im Programm. Auch für andere Genres ist die Bühne hin und wieder frei. So konnte man Ende April ein Programm der Schauspielerin Nicole Kersten und dem Musik- und Videokünstler Peter C. Simon erleben, das sich mit dem Leben der amerikanischen Dichterin Anne Sexton befasst. Donnerstags bekommt man die Karte schon für 9 Euro, ansonsten bezahlen Studenten 12 Euro (Normalpreis 16 Euro). Wem mehr an Kleinkunst und Kabarett gelegen ist, für den mag das Senftöpfchen in der Altstadt interessant sein: die Bühne, vor der rund 200 Menschen Platz finden, wurde im April zum Beispiel geöffnet für Kabarettistin und Ex-Dschungel-Queen Desiree Nick (womit

der Bogen zum Fisch-Innereien-Shake wieder gespannt wäre). Die Preise hängen von der jeweiligen Veranstaltung ab, bewegen sich aber für Studenten ungefähr zwischen 10 und 15 Euro (Normalpreis 15-20 Euro). Wer sich Volkstheater in einem echten Traditionshaus anschauen will, der ist wohl im Millowitsch-Theater an der Aachener Straße (nah am Rudolfplatz) am besten aufgehoben. Auch weit über die Grenzen Kölns hinaus ist es durch Willy Millowitsch bekannt geworden, der in diesem Jahr übrigens 100 Jahre alt geworden wäre. Doch nicht nur Volkstheater bekommt man hier zu sehen: im Mai sind zum Beispiel die Wise Guys da. Das Theater Tiefrot in der Dagobertstraße (in der Nähe der Musikhochschule) ist mit seinen 60-80 Plätzen eine der kleinsten Bühnen der Kölner Theaterszene und noch sehr jung: erst 2002 wurde es eröffnet. Im Tiefrot gibt es sowohl Eigenproduktionen als auch Gastspiele zu sehen. Bei der Auswahl der Stücke geht es dem Ensemble um die literarische Qualität des Textes, seine gesellschaftliche Relevanz und die Möglichkeit einer unkonventionellen Umsetzung. Studenten bezahlen 11 Euro pro Karte, der normale Preis beträgt 16 Euro. Zuletzt muss natürlich auch noch die Studiobühne erwähnt werden: als ältestes deutsches Universitätstheater besteht sein Publikum zum Großteil aus Studenten. Neben Eigenproduktionen werden auch Gäste eingeladen, sowie viele Gruppen aus dem Ausland, wodurch die Studiobühne den Ruf genießt, den Blick auf die freie internationale Theaterszene zu weiten. Studenten kommen schon für 6,50 Euro statt für 13 Euro rein. Also: nichts wie los! – auch wenn der nächste Welt-Theatertag in weiter Ferne ist. Dennis Große-Plankermann

Interessante Spielstätten in Kürze: Schauspiel Köln (Schauspielhaus, Offenbachplatz): www.schauspielkoeln.de, Karten für Studenten: 6 Euro. Studiobühne Köln (Universitätsstraße 16a): www.studiobuehne.eu, Karten für Studenten: 6,50 Euro. Theater Tiefrot (Dagobertstraße 32): www.theater-tiefrot.com, Karten für Studenten: 11 Euro. Einen guten Überblick über die gesamte Theaterszene bekommt man im Internet unter www.theaterszene-koeln.de und www.koeln.de/koeln/kultur/theater


38

ZeitGeist

ZeitGeist

39


Köln, Musikhochschule, 10. Januar 2009. Er ist tatsächlich da. Lange Zeit war nicht sicher, ob er kommen würde. Ja, nein, ja, nein. Doch jetzt sitzt Clueso in Raum 114, in dem sonst Tanz- und Bewegungsseminare stattfinden, auf einem schwarzen Ledersofa, neben ihm sein Gitarrist Christoph Bernewitz und im Saal verteilt etwa 50 Studenten der Hochschule, auch Cluesos Manager Marcus Welther ist anwesend. Einige bedienen sich am studentenpartymäßigen kalten Buffet und sind noch damit beschäftigt, ihre Pappteller auf den Knien zu balancieren, als Clueso völlig unspek-takulär seinen Song „Barfuß“ ansagt. Dann wird es still im Raum, man ist sich dem Privileg bewusst, ein kleines Privatkonzert zu bekommen. „Immer wenn ich was Neues ausprobier’“, singt er, „lauf ich wie barfuß über Glas“. Und genau das tut er eigentlich auch gerade jetzt; es ist sein erster Besuch dieser Art in einer Musikhochschule, so richtig weiß er nicht, was ihn erwartet. Und so richtig wissen das die Studenten nicht. Es ist ein fast improvisiertes Treffen, einen strikten Ablaufplan gibt es nicht. „Wie Musik entsteht“ galt es im vergangenen Semester für die Teilnehmer des gleichnamigen Seminars herauszufinden. Diese bewusst unkonkrete Fragestellung ermöglichte es, sich der Antwort auf unterschiedlichen Wegen zu nähern: von klassischen Kompositionstheorien über autobiografische Verarbeitungsstrategien bis hin zu Vermarktungsprozessen in der Werbemusik hat das Seminar die Frage zu beantworten versucht - am heutigen Tag steht ein Treffen mit einem der momentan bekanntesten deutschen Sänger auf dem Plan. Clueso ist nicht als Star hier, der ein paar Songs singt, ein paar Autogramme schreibt, sich fotografieren lässt und wieder geht. Und so spielen er und Christoph zwar noch einen weiteren Song, danach ist aber erstmal Zeit für viele, viele Fragen. Clueso erzählt von seiner Anfangszeit, als er 1996 in Erfurt mit dem EFP `96 (Erfurt Projekt `96) erste musikalische Gehversuche machte – ein Name, der zugegebenermaßen wohl eher nach einem Thüringer Sportverein klingt. Irgendwann zieht es Clueso weg aus Erfurt und an den Rhein – in die Kölner Severinstraße. Dort arbeitet er an ersten Demos und knüpft Kontakte mit dem Label

40

ZeitGeist

fourmusic, das ihn unter Vertrag nimmt und dem er bis heute treu ist. So entsteht in Köln das noch sehr raplastige Album „Text und Ton“. Über seine Kölner Zeit erzählt er nur Gutes: „ich mag die Stadt sehr“, erklärt er auf irgendwie glaubwürdigere Weise als viele Popstars mit ihren klischeehaften Beteuerungen, sie würden genau diejenige Stadt besonders lieben, in der sie gerade spielen. „Wir haben hier sogar manchmal in der Mensa gegessen, die Studios waren ganz in der Nähe“, erzählt er schmunzelnd. Auch Gigs gab es für ihn in Köln. Und während er in 2008 das Palladium mit 4000 Zuschauern zweimal komplett ausverkaufte, macht er hier ganz deutlich, dass auch er klein angefangen hat. „Im MTC auf der Zülpicher Straße“, sagt er, „haben wir damals vor vier Leuten gespielt“. Ein enormer Sprung: heute füllt er große Hallen, verkauft Unmengen CDs, gewinnt die Eins Live Krone als bester Künstler. Doch wie fühlt sich diese Entwicklung an? „Das raffst du nicht, manchmal geht einem sogar alles auf die Nerven. Aber als Musiker musst du schon ein bisschen größenwahnsinnig sein und ab und zu denken wir, wir müssten noch bekannter werden. Es ist ein schizophrenes Gefühl“, erklärt er und sein Bandkollege Christoph fügt hinzu: „wir sind meistens ganz froh, dass er sein Gesicht in die Kamera hält und nicht wir“. Als es 2002 für den noch relativ unbekannten Clueso zurück nach Erfurt geht, gründet er dort eine neue Band und zieht in den Zughafen, einen ehemaligen Güterbahnhof: in einen „Hafen, der nicht am Meer liegt und keine Züge empfängt“, wie die Band ihn selbst nennt. Die Erzählungen über das Leben im Zughafen, dem Wohnund Arbeitsplatz der Band, vermitteln den

Eindruck einer WG. „Ich fühle mich da safe“, sagt er, „es ist meine Familie“. 2004 entsteht dort das Album „Gute Musik“, das zumindest in der deutschen HipHop-Szene schon einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht. Mit der zweiten Singleauskopplung „Kein Bock zu gehn“ nimmt er für Thüringen am Bundesvision Songcontest teil und landet auf Platz 7. 2007 wird er mit dem Album „Weit weg“ schließlich Voract von Herbert Grönemeyer auf dessen großer Deutschlandtour – der Durchbruch im deutschen Popbusiness. Und so hat sich auch die Musik im Laufe der Zeit immer weiter weg bewegt vom Rap, hin zum Gesang, von beatlastigen Tracks hin zu harmonischmelodisch orientierten Songs; Clueso wird von nun an als Songwriter wahrgenommen und anerkannt. So wundert es nicht, dass er auf die Frage nach seinem Vorbild antwortet, er sei vor Kurzem in einer absoluten Bob-DylanPhase gewesen. Er habe das so richtig ausgelebt, mit Hut und allem. Aber man könne etwas nur tun, wenn es zu einem passt und nicht, weil man es bei anderen cool findet - und vor allem müsse man sich auch wieder von seinen Vorbildern abwenden: „Man muss seine Idole töten können“, sagt er vielleicht auch als Rat zu dem ein oder anderen Songwriter unter den Studenten im Saal. Dann gibt Clueso ein paar konkrete Einblicke in seine Arbeit: er hat verschiedene Versionen seiner aktuellen Single „Gewinner“ mitgebracht. Stationen des „Songwerdungsprozesses“, wenn man so will. Auch für die Popmusiker im Raum ist es erstaunlich, wie unterschiedlich der Song klingen kann. „Es ist sehr schwer, neue Versionen von einem Song auszuprobieren, weil man an die alte so sehr gewöhnt ist. Es ist überhaupt schwer, eine Version zu finden, die jedem gefällt“, sagt er und fügt über seinen bisher vielleicht

bekanntesten Song „Kein Zentimeter“ hinzu: „Wir hätten ihn fast kaputt gemacht. Er war irgendwann einfach nicht mehr spürbar, obwohl er jetzt so leicht und selbstverständlich klingt.“ Der vielleicht größte Unterschied zwischen ihm und dem Rest des Saals ist die Art der musikalischen Bildung: Clueso ist Autodidakt und beabsichtigte nie eine akademische Karriere. Um die Möglichkeit zu haben, etwas Kreatives zu tun, begann er nach seinem Hauptschulabschluss eine Frisörlehre, die ihr Ende durch eine nicht bestandene Theorieprüfung fand, wie er unumwunden zugibt. Er hat ja trotzdem alles erreicht, was er wollte, könnte man meinen. Er ist ein erfolgreicher Musiker geworden, obwohl er nie Noten lesen gelernt hat. Ein Umstand, der für viele im Raum, die sich neben ihrer künstlerischen Arbeit mit den kompliziertesten Details der Musiktheorie beschäftigen, so ziemlich unvorstellbar ist. „Früher dachte ich immer, es gibt nur eine Möglichkeit, Musik zu machen. Heute weiß ich: es gibt tausende“, ist Cluesos Statement und damit hat er wohl Recht. Als ein Austausch zwischen Menschen, die sich, auf welche Weise auch immer, mit Musik auseinander setzen, geht diese Begegnung zu Ende und bestätigt die Zeilen aus „Barfuß“: „Immer wenn ich was Neues ausprobier, lauf ich wie barfuß über Glas; doch ich fühl mich federleicht, weil es sich fast immer lohnt.“ Dennis Grosse-Plankermann

Diskographie 2001 Text und Ton 2004 Gute Musik 2006 Weit weg 2008 So sehr dabei 2009 So sehr dabei live

Nächster Gig in NRW 07.08.2009 Bonn, Museumsmeile

ZeitGeist

41


Transskripte einer unzarten Liebe

NOZART FESTIVAL XIII Felix Grosser

Was kam dabei raus als zwei nette Herren namens Der Präsident und Dr. Borg, ihres Zeichen Begründer des Köln ImproUrgesteins Jaruzelski, zusammen mit befreundeten Künstlern im Jahre 1996 im Basement unter der Christuskirche eine wilde Orgie feierten? Richtig, das NoZart Festival.

Ursprünglich als einmalige Veranstaltung zur Bespielung eines außergewöhnlichen Ortes angedacht, wuchs die teuflische Brut unter alljährlichem Lärm zu einem wahren Wonneproppen heran und feierte dieses Jahr am Freitag den dreizehnten März bereits ihren dreizehnten Geburtstag. Die Einzelheiten im Folgenden. 1. Tag Der Opener The Ililta Band legt gleich fröhlich los und gibt den diesjährigen Mini-Ethnotrend vor. Mehr aussereuropäisches Klanggut, booyah! Die drei Äthiopier fabrizieren auf der einsaitigen Violine, der Masinqo, den Kebero (Trommeln) sowie dem elektrisch verstärkten Krar, einer Art Lyra, ein absolut infektiöses Gebräu. Mal folkig fiedelnd, mal regelrecht bluesrockend und immer unterlegt mit gnadenlosen Arschwackelbeats. Dazu werden Gesang, der an einen zum Gebet rufenden Muezzin gemahnt, und gelegentliche wampenschwabbelnde Tanzeinlagen vom Drummer kredenzt. Vorzüglich! Lediglich die Versuche, per Call and Response das Publikum einzubinden wollen nicht so recht fruchten. Kein Wunder, handelt es sich dabei doch vornehmlich um Intellektuelle jenseits der Vierzig, die es offensichtlich bevorzugen rein mental abzumoshen während sie äußerlich unberührt vor der Bühne auf Stühlen Platz nehmen. Ein paar verwegene Gestalten lassen sich das Tanzvergnügen trotzdem nicht nehmen und bereichern die Performance durch ausdrucksstarke Gyrationen zwischen Action-Yoga und Babyswim. Danach SchrabbelDiSchrabbelDiSchrubb. So in etwa klingt‘s nämlich, wenn der gute, von den lieben Äuglein einmal abgesehen, optisch an einen englischen Hooligan gemahnende, Olaf Rupp seine gigantischen Wurstfinger in immerwährenden Kreisbewegungen über die Saiten seiner geradezu mickrig und zerbrechlich wirkenden Akustikklampfe rollt. Sein Spiel entbehrt nicht einer gewissen Brachialität, zeichnet sich jedoch gleichzeitig durch ungeheure Präzizsion aus. Verrenkungen, bei denen jeder andere sich die Finger brechen würde jagen mit einer Selbstverständlichkeit das Griffbrett hoch und runter als wär‘s das normalste auf der Welt. Dann machts auf einmal „Quäk!“ und ein

ZeitGeist

renitenter Riegel aus quengelndem Sopransax schiebt sich dazwischen, hält, während der sprudelnde Gitarrenstrom schlagartig zum erliegen kommt, einen idiosynkratischen Monolog, nur um sogleich mit stotternd und fragend wieder einsetzenden Phrasen gezupfter Saiten ins Zwiegespräch zu treten und sich im nächsten Moment todeswütig in einem einzigen Klangstrudel in die Hölle zu stürzen. Lol Coxhill spielt trotz sichtbaren Alters und Krückstock absolut auf Augenhöhe mit seinem musikalischen Partner. Wer seine Vita liest weiß warum. Der Mann hat im Laufe seiner langen Karriere kein süßes Gift ausgelassen: BeBop, FreeJazz, Punk, Ska, Elektroakustische Absonderlichkeiten - you name it. Dann der Schock. Violine sagt das Programm. „Vorsicht! Äußerste Noodle-Gefahr!“ schrillen die Alarmglocken. Glücklicherweise lässt sich bald Entwarnung gegeben. Die Tschechin Lenka Zupkova, nicht nur auf der ImproBühne sondern auch als Komponistin in Gefilden zeitgenössischer Kunstmusik zu Hause, versteht ihr Handwerk und liefert unter verschärftem Delay Einsatz und Violinenfolter mit allerlei artfremden Gegenständen eine absolut intensive, konzentrierte Performance ab. Kein Ton zu viel, Spannung bis zum Schluss. Mein Blick fällt auf die kläglichen Rosshaarüberreste am Geigenbogen. Wie gut, das militante Tierschützer keinen Geschmack haben, denn das hat selbst der werte Spender noch gespürt. Zum Abschluss werden die Stühle vor der Bühne entfernt. Ladies and Gentlemen, it‘s Pogo time. Nur ein paar besonders Unerschrockene bestehen weiterhin auf ihrem Sitzplatz. Darunter die nette alte Dame, die jedes Jahr selbst bei den krassesten Grindcore Attacken grinsend in der ersten Reihe Contenance bewahrt. Entweder taub oder härter als Chuck Norris und Mister T zusammen. In jedem Fall: Respekt! Leider zahlt sich ihr Steh- bzw. Sitzvermögen angesicht des Headliners The Ex nicht aus. Nun kann man per se ja absolut nichts Schlechtes sagen über die verdienten Punx und Punkerinnen aus Käseland. Seit dreißig Jahren dabei, immer engagiert und bis vor kurzem sogar noch in Originalbesetzung. Doch nach dem Trip des heutigen Abends können sie trotz dreifacher Gitarrenwand nichts mehr reißen. Was ihre Art von konventionellem Stop and Go Postpunk angeht, haben Gang of Four vor dreißig Jahren schon alles Nötige gesagt, nur funkiger. Zudem können sich ihre zahlreich erschienenen Fans nicht so recht benehmen und fallen bereits bei den ruhigen Passagen der vorherigen Acts durch viel zu lautes Geplapper auf.

2. Tag Ja, die Ösis. Eigentlich sind sie die besseren Deutschen und allein dafür muss man sie schon gern haben. Machen sie dann auch noch gute Musik hat man sie sogar noch lieber. So auch die Herren Seppo Gründler und Josef Klammer, welche heute unter dem Kampfnamen Klammer/Gründler Duo als erstes in den Ring steigen. Das Ergebnis ihrer gut gelaunten Bemühungen unter Zuhilfenahme von elektrischer Gitarre, Schlagzeug und Live-Elektronik ist dann zwar kein K.O. in der ersten Runde, aber ein klarer Sieg nach Punkten schon. Von hyperaktivem Gelärme über hyperaktives Rumgeklapper mit allerlei Kleinkram über entspanntere Passagen zurück zum hyperakitven Gelärme weiß jeder Einzelteil ihrer Performance für sich zu überzeugen. Nur zusammengenommen will kein so ganz perfekter Spannungsbogen gelingen. Beim folgenden Act wiederum schon. Der aus Marseille stammende Gitarrist Jean-Marc Montera gehört seit Jahren praktisch zum NoZart Mobiliar. Dieses mal hat er sich mit dem Kölner Tubisten Karl-Ludwig Hübsch und dem Pianisten Philip Zoubek zusammengetan. Das Ergebins ihrer ménage a trois kann sich hören und sehen lassen. Da wird die E- Gitarre mit Ketten gepeitscht, die als Tieftöner missbrauchte Tuba von Blechdosen penetriert und beherzt in den bloßliegenden Innereien des Piano gerührt, dass es eine wahre Freude ist. Das dreiköpfige Ungetüm steigert sich, nachdem es aus seinem dronegeschwängerten Halbschlaf erwacht ist in eine wahre Fuzzfrenzy, auf deren Höhepunkt ein übelst laut eingesampeltes Hardrockriff das Publikum vor Schreck fast ins Nirvana schickt. Der Übeltäter Montera kommt aus dem Grinsen kaum wieder raus. Schließlich lässt er einen Miniverstärker von der Spitze seiner Gitarre ins Backstage baumeln, bis einer der dort verweilenden seinem dissonanten Gegniedel durch einen beherzten Zug am Kabel ein Ende bereitet. Reinste Poesie! Es folgt, womit trotz allem keiner gerechnet hat. Zwei Weltenvernichter betreten die Bühne. Im normalen Leben auch bekannt als Thomas Lehn und Markus Schmickler, schmeißen sie hier, der erste wild gestikulierend am Analogsynth, der zweite eher unterkühlt kopfnickend hin und wieder am digitalen Pendant Knöpfchen drückend, mit abstürzenden Flugzeugen um sich. In Originallautstärke. Das ist keine Musik mehr, das ist eine Maschine, die die Raumzeit zum Bersten bringt. Ich geb‘s unumwunden zu: Aus diesem Stoff sind die feuchtesten meiner feuchten Träume. Dementsprechend: persönliches Highlight eines an Highlights nicht armen NoZart Numero 13.

Wer nach einem solchen Inferno auf die Bühne muss kann natürlich nur noch verlieren. Die Amerikaner von Gutbucket sind dann auch durchaus sympathisch und mühen sich redlich ab mit ihrem instrumentalen PunkJazz, doch ihr Saxophonist und Frontmann trifft‘s schon ganz gut als er gleich in der ersten Ansage sinngemäß meint: „Normalerweise ernten wir auf Rockkonzerten schiefe Blicke weil unser Sound zu weird ist. Hier sind wir wohl die Normalos, mit Melodie und Struktur und so.“

3. Tag Sonntag‘s geht‘s in die Kirche. Nee kein Witz. NoZart erstmals in der dritten Runde und zur Feier des Tages in den heiligen Betonhallen der Christuskirche. War man bei deren eher tristem äußerem Anblick ja bisher noch etwas erstaunt ob der Proteste gegen den geplanten Abriss, so muss man dann doch gestehen, dass der nach dem Krieg hochgezogene Behelfsbau ungeahnte innere Werte offenbart. Spätestens seit Ando ist Waschbeton einfach wieder verdammt sexuell. Zum sakralen Ambiente passend musikalisch etwas besinnlicher: Hosoo & Transmongolia. Traditionelles mongolisches Liedgut, Pferdekopfgeige und Kehlkopfgesang. Sowas hört man nicht alle Tage, schon erstaunlich zu welchen Verrenkungen die menschliche Stimme fähig ist. Merke: Hast du einen Mongolen zur Hand, kannst du dir den Vocoder sparen. Zwar wirken die Stücke, von der ungewohnten Vokalisierung abgesehen, durchaus westlichen Klangidealen gemäß bearbeitet (und es würde mich nicht wundern zu erfahren, dass die fünf Jungs allesamt eine klassische europäische Ausbildung genossen haben) trotzdem macht sich eine äußerst einzigartige Stimmung breit. Emotional lange keine Keule von derartiger Wirkkraft mehr vor den Latz geknallt bekommen. Manch gestandener Mann wischt sich wiederholt die Tränen aus den Augen. Bei Bohren & der Club of Gore wiederum kommen die einem höchstens aus Langeweile. Wo die Band ihren Kultstatus her hat muss mir erst mal einer erklären. Andererseits haben den ja auch Filme von Tarantino und noch wesentlich ärmeres Zeug. Also vielleicht doch verdient. Lahmes Kaufhaustoilettengedudel, das angeblich irgendwie düster und gruselig sein soll. Hab ich nix von gehört. James Last ist definitiv mehr Horrorjazz für‘s Geld. Wir fassen zusammen: Sieben mal Bombe, zweimal na ja, ganz nett, einmal nein danke. Headlinerwahl gewohnt exzentrisch, dieses mal jedoch sub Par. Das ging in den letzten Jahren schon aufregender. Dafür davor kein Ausfall. Irgendwie also doch alles beim alten. Baby, ich liebe es, wenn Du so NoZart zu mir bist!

ZeitGeist


Sonderschule der Ästhetik V: Killerspiel Na herrlich, da versucht sich schon wieder ein offensichtlich minderbemittelter Milchbubi als Nachwuchsrambo und ballert eine nicht geringe Menge vor allem seiner Schulkameradinnen über den Haufen. An und für sich ja schon unschön genug. Was danach geschieht sollte allerdings nun wirklich dazu gereichen, angehende Nachahmungstäter künftig zumindest auf eine vorbeugende, gewissenhafte Prüfung der medienästhetischen Folgen ihrer Missetaten zu verpflichten. Und ich meine jetzt noch nicht mal das ganze teuflische Gebräu aus kleingeistigem, naturwissenschaftlich forciertem und medial verbreitetem Ursachenfetischismus und Berechnungswahn. So à la 500 Gramm Probleme mit Mädchen, eine Prise Hänseleien der Mitschüler und als besonderes Schmankerl obenauf noch eine cremige Mousse aus Vattern im Schützenverein und Counterstrike-Zocken ergibt eine ganz exquisite Portion Amoklauf. Nein, ich meine die erneute Allgegenwart des dümmlichen Neologismus „Killerspiel“. Nun ist es zwar nichts neues, dass sich der Boulevard gerne durch die Kreation solcherlei Monstrositäten hervortut. Ebenso wenig, dass die Politik, als Ausdruck größtmöglicher intellektueller Nähe zum Wählervolk, nur zu gerne auf eben diese zurückgreift. Nicht wahr, Herr Seehofer? Was dann aber doch überrascht, ist, dass selbst diejenigen zu deren Berufsbild es doch eigentlich gehört vorzugeben, sie wüssten es besser, offensichtlich jedes Schamgefühl verloren und dem fiesen Wörtchen zur Salonfähigkeit verholfen haben. Nicht wahr, die Damen und Herren Redakteure sogenannter seriöser, überregionaler Zeitungen und öffentlichrechtlicher Informationsprogramme in Bild und Ton? Halten wir doch der Einfachheit halber hier noch einmal fest, was jedem halbwegs intelligenten Leben in diesem Universum eigentlich klar sein sollte.

ZeitGeist

a) Videospiele an sich haben, sehen wir mal von tragischen Fällen der Nahrungsverweigerung aufgrund akuter Spielsucht ab, bisher noch niemanden umgebracht. b) Die Anzahl der Killer, ob nun professionell oder gelegenheitsmäßig, welche sich an Videospielen der betreffenden Art erfreuen, dürfte statistisch kaum relevant genug sein, um deren Titulierung in obiger Weise zu rechtfertigen. c) Wer hingegen behauptet, der Spieler übernähme die Rolle eines Killers, beweist entweder, dass er vom Gegenstand seiner Kritik nicht die geringste Ahnung hat oder muss künftig konsequenterweise auch Polizisten, Soldaten und Geheimagenten als Killer bezeichnen. d) Die These, dass Videospiele der entsprechenden Art zum Mörder machen, steht angesichts der Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit ihrer Konsumenten bisher keiner Fliege ein Haar gekrümmt hat, trotz das Gegenteil behauptender, sogenannter wissenschaftlicher Untersuchungen, auf äußerst wackeligen Beinchen. Im Übrigen müssten ihre Verfechter folgerichtig eher das mindestens ebenso fragwürdige Wort „Killermachspiel“ verwenden.

Gehen wir nun mal davon aus, dass sie den genannten Irrtümern nicht aufsitzen, so stellt sich unweigerlich die Frage: was mag die gescheiten Herrschaften denn nur verleitet haben den grotesken Passus zu propagieren? Unterschätzung des Publikums? Doch nur die üblichen Verdächtigen aus dem deutschen Feuilleton, Kulturpessimismus und Technologiefeindlichkeit? Oder haben wir es mit einer völlig neuen Erscheinung zu tun: einem unterbewussten, journalistischen Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit? Welch fantastische Vorteile böte ein derartiger Kennzeichnungsdrang gerade in evolutionärer Hinsicht! Jedweder Medienschaffende der künftig das Unwort vom „Killerspiel“ im Munde oder auf der Feder führt, legt Zeugnis von seiner eigenen Verzichtbarkeit ab. Die Menschheit hat es wahrlich noch weit auf ihrem Weg zur intelligenten Spezies, doch das ist definitiv ein Schritt in die richtige Richtung. Felix Grosser

Einmal Großstadtrevier, bitte: Das King Georg. Es ist ein lauer Abend im vergangen Sommer. Wir stehen am Sudermannplatz - zu unserer Linken ist da dieses leerstehende Nachtlokal, von dem wir einstimmig beschließen: „Daraus müsste man etwas machen… “ Nur ein kleiner Eingang mit Klingel und ein Schaukasten mit einem vergilbten Foto der Inneneinrichtung geben Aufschluss darüber, was sich hinter der fensterlosen und dunklen Holzfassade verbirgt. Die Bilder erinnern ein bisschen an die Spelunken, in denen sich die Ganoven der Norddeutschen ARD-Krimis aus den Neunzigern verstecken.

Auch der Name passt; in mittelalterlichen Lettern prangt die Leuchtreklame des „King Georg“ über der Tür. Einen Monat später. Jemand hat uns erhört, ein Kneipengott? Fast, in diesem Fall Andre X., auch als Wirt der „Stadt Venlo“ bekannt. Es herrscht Aufruhr, der „King“ wurde „erleuchtet“! Und man munkelt weiter vom Skandal in der Nordstadt; rosafarbene Plakate kündigen Burlesque-Parties an. Keiner will sich das entgehen lassen, das „King Georg“ avanciert in kürzester Zeit vom Kneipendinosaurier zum Geheimtipp der Kölner Nachtszene, sein Publikum sind alle Arten von Nachtfaltern: Disko-Touristen

vom Ring, die sich gegenseitig die Info stecken, dass zu dem Klub noch eine „Art“ Schlafzimmer gehört, Musikliebhaber, die hier Experimentelles aus den Staaten serviert bekommen und alte Stammkunden, die sich wundern, woher die jungen Leute, die teuren Getränkepreise und die komische Musik kommen. Das „King Georg“ wird zur Attraktion. Denn wer noch nicht mit einer Schachtel Zigaretten und einer Apfelschorle an der bequemsten Theke Kölns saß und feststellen muss, dass es schon vier Uhr morgens ist, der hat ein Stück Kneipenkultur verpasst. Maximiliane Koschyk

„Plopp. Zisch. Ahhh!“ Hach, liebe Freunde und Freundinnen der Kunst, was ist das doch für eine Wohltat, dass gerade jetzt, wo so langsam der Frühling Einzug hält, mehr und mehr Kölner Qualitätskneipen auch Qualitätsbier tschechischer, friesischer oder badischer Provenienz ins Programm nehmen. Denn seien wir doch bitte mal ehrlich: dieses süßliche, abgestandene Zeug, dass man sich sonst hier die Kehle runtergießt, das kann doch kein Mensch mehr sehen, geschweige denn trinken. Wahre Männer lieben‘s herb, alle anderen sind Lokalpatrioten. Felix Grosser

ZeitGeist


Feinsinn lacht..


Lachen...

Johanna Regenhard Sarah Ang’asa (sarah.angasa@gmx.net)

mal philosophisch

SMS2: Hab im Moment echt nix zu lachen. Gehst du mit mir raus, Leute angucken?

Wann lachen wir? Typischerweise wenn wir uns freuen, glücklich sind oder etwas Lustiges erleben. In der Regel lachen wir nicht für uns allein: Das Lachen ist eine der ersten Formen der Kommunikation, die sich bei Säuglingen entwickelt. Wenig überraschend, dass sich im Laufe der Zeit so viele Philosophen mit dieser wunderlichen Eigenart des Menschen auseinandergesetzt haben. In der Antike verband Platon das Lachen mit einer eher ernsten Angelegenheit: der Moral. Er schreibt über die Komödie, dass sie genauso zwiespältig sein könne wie die Tragödie: „Wenn wir also über die lächerlichen Seiten unserer Freunde lachen, so mischen wir demnach Lust mit Neid, und somit Lust mit Unlust“. Dichtungen, in denen erwachsene Männer oder sogar Götter vom Lachen überwältigt werden, hielt er für verwerflich: „Man darf es also schon nicht hingehen lassen, wenn ein Dichter bedeutende Menschen sich maßlos der Lachlust hingeben lässt, noch viel weniger aber, wenn Götter.“ Überhaupt hielt er es mehr mit der Mäßigung: „Worauf es hier also ankommt, ist dies: man soll sich übermäßigen Lachens und Weinens enthalten...“ Den Stoikern war hingegen selbst das gemäßigte Lachen zu viel. Epiktet schreibt: „Lache nicht viel, und nicht über vieles, und nicht ausgelassen.“

Cicero stellte die Kontrastthese des Lachens auf: Man erwartet etwas, doch etwas ganz anderes tritt ein – und der Mensch lacht. Diese Theorie findet sich in fast allen späteren Abhandlungen über das Lachen wieder, z.B. definiert Kant das Lachen als „Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts“. „Wer glaubt, durch Wort oder Tat sich vor anderen ausgezeichnet zu haben, neigt zum Lachen. ... Allgemein ist das Lachen das plötzliche Gefühl der eigenen Überlegenheit angesichts fremder Fehler,“ schrieb Thomas Hobbes. Er hielt das Lachen für eine der schlechtesten Angewohnheiten. Es gehe dem Menschen doch nur darum, sich vor anderen überlegen zu zeigen – und mit dem Lachen letztendlich seinen Hass und seine Verachtung anderen gegenüber auszudrücken. Hegel hat als einer der ersten auch die körperliche Seite des Lachens in die Diskussion eingebracht: Das Lachen ist, wie er es ausdrückt, eine „Verleiblichung“ eines inneren Gefühls. Das Lachen betrachtet er aber nicht nur als eine Gefühlsäußerung, sondern auch als eine Möglichkeit des Individuums zur Selbsterfahrung: Ihm zufolge kann man es nutzen, um zwischen dem Gefühl und dem Ich zu unterscheiden und zu lernen, sich von ungewollten Zuständen zu befreien. Henri Bergson veröffentlichte 1900 seine Abhandlung „Le Rire“ („Das Lachen“) – bis heute ein Standardwerk aller

FeinSinn

„Lachphilosophen“. Seine These: Lachen kann man nur, wenn man andere Gefühle ausblendet. Es reduziert das Gefühl der Lebendigkeit auf einen mechanischen, körperlichen Vorgang. Und der deutsche Philosoph und Anthropologe Helmuth Plessner meint, das Lachen ist etwas, das den Menschen „überfällt“ und ihm die Beherrschung über seinen Körper raubt. Eine Art inneres Gleichgewicht geht ihm verloren – und dadurch, dass der Lachende es hinterher wieder findet, triumphiert er über das ausgelöste innere Chaos. Im Grunde benutzt der Mensch das Lachen also, um sich Sicherheit zu verschaffen.

er: fahrkeit a t n Ma lich ir um n Wirk en m d S1: z n M i e S ab un r tzchse wa Das h hotte i r F c t ie Sagr Ostfr ndine! r, der St. e o r e l D e B rikan erklä ein r Ame sche de r Deut de

SMS3: Hallo! Bin noch in der KVB. Es ist so voll, dass die Leute Tetris miteinander spielen können: Oh, eine dicke Tasche, das ist ein L, das passt in die Nische.

Biologen kommen da übrigens zu einem ganz ähnlichen Urteil: Sie meinen, dass Menschen mit dem Lachen Entlastung oder das Vorübergehen einer Gefahr signalisieren – das erklärt z.B., warum Menschen in Achterbahnen in den „gefährlichsten“ Kurven am meisten Lachen. Bei Affen hat man übrigens herausgefunden, dass sie in ähnlichen Situationen lachen wie Menschen – allerdings gibt es beim Affen nur sehr geringe Unterschiede zwischen dem freudigen Lachen und dem aggressiven „Zähne zeigen“. Nur durch kleine Unterschiede in der Lippenstellung kann man zwischen diesen beiden Zuständen differenzieren – wie alle philosophischen Eindrücke vom Lachen ist das nur ein weiterer Hinweis, dass oft mehr hinter einem Lachen steckt, als man auf den ersten Blick vermutet. Sarah Ang’asa

Johanna Regenhard johannaluzie@hotmail.com FeinSinn

49


N2O Marko hatte sich gerade noch einmal in seinem Bett herum gedreht, als er zufällig die Augen aufschlug und sein Blick auf den Wecker fiel. Zehn Uhr. Er hatte schon vor zwei Stunden bei der Arbeit erscheinen sollen. Das war jetzt aber nicht so gut. Er hatte seiner Chefin erst letzte Woche versprechen müssen, dass so was nicht wieder passieren würde. Sie tendierte dazu, solche Abmachungen ernst zu nehmen. Na ja. Jetzt war da sowieso nur noch wenig zu machen. Marko saß auf der Bettkante und hielt sich den Schädel. Er fühlte sich etwas schwummrig, was ihn wunderte, schließlich war er gestern dann doch nicht mehr mit Mario und Daniel in den Toten Papagei gegangen. Etwas unsicher stand er auf, zog die Vorhänge zurück und öffnete das Fenster. Er blinzelte in die Sonne, die schon hoch am Himmel stand. Im Innenhof hallte vielstimmiges Gezwitscher wider, die Zweige der Birke warfen tanzende Schattenspiele an die Hauswände. Marko nahm einen tiefen Atemzug, seine Kopfschmerzen waren gleich wie verflogen. Die frische Luft tat gut. Sie war warm und es lag eine Ahnung von Sommer darin. Unwillkürlich musste er lächeln. Was für ein schöner Tag. Das war ein Tag, wie aus den Bilderbüchern seiner Kindheit, wie in den Ferien auf dem Bauernhof, den er mit seinen Eltern mal gemacht hatte. An so einem Tag konnte einfach nichts Schlimmes passieren. Man konnte sich glücklich schätzen, wenn man an so einem Tag aufwachen durfte. Irgendwie kam ihm dabei der gestrige Abend wieder in den Sinn. Weswegen war er eigentlich nicht mehr mit den anderen mitgegangen? Nadja. Richtig. Nadja hatte Schluss gemacht. Danach war ihm nicht mehr nach Kneipe zumute gewesen. Es war recht hässlich geworden und sie hatte ihn einen verbohrten Schlappschwanz genannt. Das hatte sehr weh getan, wo er sie doch immer noch so liebte. Aber jetzt war ein neuer Tag und die Ereignisse der letzten Nacht schienen

schon nicht mehr ganz so schlimm. Er würde ihr seine Liebe wohl am besten zeigen, wenn er sie ziehen ließ. Er konnte dem sogar gute Seiten abgewinnen. Jetzt konnte er sich wieder voller Elan auf den Markt werfen, außerdem musste er nie wieder auf ihren kleinen Neffen aufpassen. Das war etwas Positives. Vergangen ist vergangen, dachte er, heute ist ein neuer Tag. Und was für einer. Nein, heute würde ihm absolut nichts die Stimmung vermiesen können. Nach dem Duschen traf er Tim, der gerade den Filter der Kaffeemaschine befüllte und die Titelmelodie einer 80erZeichentrickserie pfiff. Spontan fiel Marko mit ein und gemeinsam entwickelten sie aus der Melodie ein komplexes, vielstimmiges Arrangement. Staunend nickten sie sich ob ihre ungeahnten Talente zu. „Hey, damit könnten wir sogar auf die Bühne gehen!“ meinte Tim, offensichtlich beseelt von dieser Idee. Marko war da mit ihm völlig einer Meinung, vor allem, weil er ja jetzt wieder viel Zeit hatte um sich auszuprobieren. Stolz erzählte er Tim von seinem frischgebackenen Single-Status. „Nadja hat dich abgeschossen?“ rief Tim begeistert und klopfte Marko anerkennend auf die Schulter, „Na super, bin froh dass du die los bist, konnte die Schreckschraube auf den Tod nicht ab. Den anderen geht’s da genauso. Was meinst du, was wir manchmal gelästert haben wenn sie hier war…“ Marko war froh, dass er seinen Mitbewohnern das in Zukunft ersparen konnte. Da kam Silke laut lachend in die Küche, in der rechten Hand wedelte sie mit einem Brief. „Hey Jungs, das müsst ihr euch ansehen“, prustete sie, „der Vermieter will eine Nachzahlung für die letzten sechs Monate, guckt mal auf den Betrag!“ Tim sah auf den Brief und fiel in Silkes Lachen ein. „Das ist ja viel zu viel! Spinnt der denn?“ japste er zwischen zwei Lachsalven und gab den Brief an Marko weiter. Als der die vierstellige Zahl sah, konnte er auch nicht mehr an sich halten. „Glaubt der im Ernst, wir könnten das zahlen?“ kicherte er, während er staunend den Kopf schüttelte angesichts dieser Unverschämtheit. „Wo wir doch immer noch den Strom von letztem Jahr abstottern.“ Silke musste sich an den

Türrahmen lehnen und hielt sich den Bauch. Markos Telefon klingelte. Ein paar Tränen aus den Augen wischend, wartete bis er wieder atmen konnte, dann meldete er sich beschwingt: „Marko Becker von Becker Entertainment, was liegt an?“ - „Herr Becker? Kreuzmann hier“ die Stimme seiner Chefin schrillte durch den Hörer. „Wo bleiben sie denn wieder? Ich bin wirklich enttäuscht von ihnen, wir haben doch erst kürzlich darüber gesprochen…“ „Nein!“ fiel ihr Marko ins Wort, „da täuschen sie sich. Im Übrigen bin ich froh dass sie angerufen haben, so können wir einmal in Ruhe die Konditionen meiner Stellung besprechen. Ganz auf Augenhöhe, sie verstehen schon.“ „Wovon reden sie bitte? Sind sie etwa betrunken?“ schnappte Frau Kreuzmann. „Oh nein, so etwas muss ich doch weit von mir weisen. Wissen sie, ein Mann mit meinen Talenten ist einfach nicht in so ein starres Zeitkorsett zu zwängen, Dinge wie Pünktlichkeit sind mir zu kleinlich. Ich brauche Freiräume, damit meine Energien fließen und dabei habe ich noch nicht einmal angefangen, über die Höhe meines Lohns zu sprechen…“ „Das brauchen sie auch nicht“ wehte es kühl aus dem Hörer. „Ich betrachte unser Arbeitsverhältnis hiermit als beendet. Guten Tag, Herr Becker.“ Es klickte. Marko konnte sein Glück kaum fassen. Jetzt musste er überhaupt nicht mehr zur Arbeit gehen und konnte tun, wonach ihm zumute war. Der Tag wurde immer besser. Er hatte eine großartige Idee. Sie würden sich ihre Räder schnappen, zu dem Baggersee am Stadtrand fahren und dort die Grillsaison eröffnen. Anfang April war es höchste Zeit dafür. Er ging seine Mitbewohner suchen, um ihnen seinen Vorschlag zu unterbreiten und fand sie vor Tims Computer. Sie waren gerade dabei, eine Antwort an ihren Vermieter zu schreiben und gaben sich Mühe, dessen humoristisches Niveau zu halten. „…Und deswegen, mein liebes Vermieterchen, müssen sie anstandslos zugeben, dass vielmehr Sie UNS 1062,30 € schulden…“ las Silke noch einmal vor. Marko legte den beiden seinen Plan da und sie waren sofort Feuer und Flamme. Im Schwunge der Begeisterung erklärte er

sich auch bereit, für sämtliche benötigten Lebensmittel aufzukommen. Federnden Schrittes lief Marko die Treppe hinunter, bis er im zweiten Stock auf Dr. Gagidis traf, der mit einem verstörten Gesichtsausdruck in der Tür seiner Zahnarztpraxis stand. „Herr Becker, haben sie eine Ahnung was heute los ist? Die Leute benehmen sich alle, als wären sie meschugge…“ „Das sind die Zahnteufelchen, lieber Doktor“ sang Marko und küsste ihn auf die Glatze. „Ach, sie können meinen Termin heute Nachmittag übrigens streichen!“ Fröhlich summend hüpfte er ins Erdgeschoss und zur Haustür hinaus. Auf dem Weg zum Supermarkt war es nicht zu übersehen, dass eine gewisse Heiterkeit in der Luft lag. Auf dem Spielplatz veranstalteten ein paar Mütter ein Wettrennen mit ihren Kinderwagen, die kleinen Piloten glucksend vor Vergnügen. Der Pfarrer der nahen Kirche hatte den Gottesdienst kurzerhand nach draußen verlegt, wo er vor einer entzückten Gemeinde das Himmelreich ausrief. Von überall hörte man fröhliches Lachen, die Menschen strahlten einander an und Marko war ganz ergriffen von der allgegenwärtigen Ausgelassenheit. „Sieh dir das mal an. Es geht doch. Es braucht nur ein bisschen Sonnenschein und schon sind die Menschen nett zueinander. Warum kann es nicht immer so sein?“ dachte er laut nach. „Hm? Hey, ich hab dich was gefragt“, er stieß die Hyäne im Hawaiihemd an, die neben ihm an der Ampel lehnte. Die Hyäne räusperte sich. „Nun ich würde sagen, das liegt daran, dass das hier gerade eine Ausnahmesituation darstellt, zu deren Zustandekommen es verschiedener Faktoren bedurfte, die alle zufällig zur gleichen Zeit erfüllt waren. Ich denke hier an Dinge wie Tageszeit, Wetterlage und Windrichtung. Das Ganze ist somit ein spontanes und einzigartiges Ereignis, das jederzeit vorbei sein kann und sein wird, früher oder später. Wahrscheinlich früher, wenn ich mir die Brüder in Grün da drüben ansehe. So, jetzt muss ich aber weiter, einen schönen Tag noch.“ Die Hyäne tippte sich zum Gruß an die Stirn und ging über die Straße. Marko blinzelte. Tatsächlich hatte sich auf der anderen Straßenseite ein Trupp Polizisten in Schutzanzügen versammelt, die

mit großen Rollen Absperrband hantierten. Markos Neugier war geweckt, aber bevor er die Straße überqueren konnte, musste er noch den Feuerlöschzug vorbeilassen, der mit heulender Sirene an ihm vorbeidonnerte. „Heda, Büttel“, sprach er den nächststehenden Beamten an, als er auf die Gruppe zuschlenderte, „Was treibet er hier für einen Unfug? Und warum verdeckt er sein Antlitz mit diesem lächerlichen Lappen?“ Die Stimme des Polizisten klang dumpf unter seiner Atemmaske „Bleiben sie bitte wo sie sind und warten sie auf die Sanitäter. Im Chemiewerk hat es einen Unfall gegeben, eine Pipeline ist heute Morgen geborsten. Das ganze Viertel ist mit Lachgas geflutet. Wir haben die Situation aber inzwischen unter Kontrolle, die Kollegen von der Feuerwehr sind unterwegs, den Schaden zu beheben. Sie können bald wieder in ihre Wohnung.“ Marko blinzelte noch einmal. In dem Nebel seines Bewusstseins ließ er den Vormittag angesichts dieser neuen Informationen noch einmal Revue passieren. Schließlich blitzte ein Funken in den trüben Schwaden. „Das kannst du nicht zulassen“, flehte das Eichhörnchen mit der Fliegerbrille zu seinen Füßen. Marko ballte die Fäuste. Jetzt war keine Zeit zum Nachdenken, Taten waren angesagt. Er entriss einer verdatterten alten Frau das Fahrrad, tauchte unter dem Absperrband weg und fuhr davon, ohne auf die protestierenden Polizisten zu achten. Er trat so fest er konnte in die Pedale, als er versuchte zu dem Löschzug aufzuschließen. Irgendjemand musste sie ja aufhalten. Hoffentlich kam er nicht zu spät.

Christopher Dröge

50

FeinSinn

FeinSinn

51


FeinSinn lacht

Fotos von Fabian St端rtz | fabian-stuertz.de

FeinSinn

FeinSinn


FeinSinn

FeinSinn


1. Travis: The Last Laugh Of The Laughter 2. Wham! – Wake Me Up Before You Go-go 3. Wind – Lass die Sonne in dein Herz

Impressum

4. Mickey 3D - Tu Vas Pas Mourir De Rire 5. Die Ärzte – Der lustige Astronaut 6. Funny van Dannen – Reizüberflutung 7. Guns’N’Roses - Don’t Cry 8. Gerhard Polt & Biermösl Blosn - Trucker Horst 9. Depeche Mode – Just Can’t Get Enough 10. Die Vamummtn – Krocha Hymne

Playlist

56

FeinSinn

Johanna Regenhard

Herausgeber:

Verein zur Förderung studentischen Journalismus Köln e.V. www.vfsjk.de

ViSdP

Niels Walker

Chefredaktion:

Niels Walker

Art Direction:

Sebastian Herscheid

Bildredaktion:

Hannah Gärtner

Redaktion/Autoren:

Sarah Ang'asa, Simeon Buß, Veronika Czerniewicz, Jasmin Dienstel, Marcel Doganci, Christopher Dröge, Dennis Große-Plankermann, Felix Grosser, Eva Helm, Janina Heuser, Ivanka Klein, Maximiliane Koschyk, Annika Kruse, Thomas Leßke, Christiane Mehling, Kathrin Mohr, Johanna Regenhard, Holger Reinermann, Jennifer Schmitz, Anne Wellmann, Christine Willen

Gestaltung/Layout:

Sara Copray, Kerstin Fuderholz, Elisa Hapke, Sebastian Herscheid, Nina Schäfer, Christian Wansing, Elisabeth Weinzetl

Internet:

Henrik Greger, Christian Klassen

Fotografie:

Sven Albrecht, Alexander Graeff, Maiko Henning, Corinna Kern, Fabian Stürtz

Ausbildung:

Kathrin Mohr

Website:

www.meins-magazin.de

Erscheinungsweise:

monatlich

Impressum

57


StaatsKunst


Die Europawahlen

2009 Warum soll ich wählen gehen?

Vom 4. bis zum 7. Juni 2009 werden die Abgeordneten für das Europäische Parlament in Brüssel und Straßburg gewählt. Doch was bringt mir persönlich die Europawahl und warum ist es wichtig zu wählen? Brüssel scheint so weit weg, die Europäische Union undurchsichtig, zumindest wenn es um die politischen Entscheidungen geht. Dadurch lässt sich auch die kontinuierlich gesunkene Wahlbeteiligung erklären. Bei der letzen Europawahl, im Jahr 2004, lag diese in Deutschland nur bei 43 Prozent, im europäischen Durchschnitt nur wenig höher. Kaum einer blickt durch, bei all den EU-Verordnungen und Nachrichten, die

60

StaatsKunst

tagtäglich über uns hereinbrechen. Da stellt sich vielen die Frage, warum man überhaupt wählen gehen soll. 2009 ist Superwahljahr. Es werden Landtags-, Bundestags-, und Europawahlen sowie die Wahl des Bundespräsidenten stattfinden. Wir sind in diesem Jahr stärker als sonst gefordert, mit unserer Stimmabgabe die Weichen für die zukünftige Politik in Deutschland und Europa zu stellen. Dem gegenüber stehen die allgemeine Politikverdrossenheit und ein Gefühl der Machtlosigkeit angesichts der Wirtschaftskrise und all der schlechten Nachrichten, die uns jeden Tag präsentiert werden. Doch wer nicht wählt und die Gelegenheit nicht nutzt, der darf sich

auch später nicht beschweren. Zunächst sollte man sich daher dazu entscheiden, überhaupt wählen zu gehen. Denn der Grundsatz: „Wer nichts macht, macht auch nichts falsch“, gilt hier nicht. Um dann auch noch das Kreuzchen an der (für sich) richtigen Stelle auf dem Wahlzettel zu machen und damit Einfluss auf die Entscheidungen in Brüssel und Straßburg zu nehmen, gilt es sich zu informieren. Das Internet bietet dazu vielfältige Möglichkeiten. Übrigens, ein Auslandsaufenthalt ist keine Ausrede, nicht wählen zu gehen. Wie auch bei der Bundestagswahl besteht die Möglichkeit zur Briefwahl. Den entsprechenden Antrag bekommt man mit der Wahlbenachrichtigung zugesandt.

In Deutschland werden die Abgeordneten für das Europäische Parlament am Sonntag den 7. Juni gewählt. An der kommenden Wahl nehmen erstmals alle 27 EUMitgliedsstaaten teil. Dabei handelt es sich um rund 375 Millionen Wahlberechtigte. Von den 736 Sitzen werden die meisten, nämlich 99 Sitze, an deutsche Abgeordnete vergeben. Diese Zahl klingt zunächst sehr hoch, doch im Gegensatz zu kleineren Ländern ist Deutschland im Europäischen Parlament unterproportional repräsentiert. Und trotzdem haben wir, als bevölkerungsstärkstes Land der EU, entscheidenden und direkten Einfluss auf die europäische Politik. Und diese Chance sollte man nutzen. Und je mehr

Unionsbürger den Gang zur Wahlurne antreten, desto breiter ist die Basis, auf der sich das Europäische Parlament legitimiert. Da das Europäische Parlament das einzige Organ der Europäischen Union ist, das von uns, den Bürgern Europas, direkt gewählt wird, können wir durch unsere Stimmabgabe unseren Einfluss auf die europäische Politik geltend machen. Wir wählen die Abgeordneten, die unsere Interessen auf europäischer Ebene vertreten sollen, ebenso wie wir die Abgeordneten für den Bundestag wählen. Die Abgeordneten des Europaparlaments sind unsere Interessenvertreter auf europäischer Ebene. Es ist ein Trugschluss zu glauben, Europa ginge uns nichts an. Bereits jetzt basieren über 70 Prozent der deutschen Gesetze auf

Vorgaben aus Brüssel und Straßburg. Auch die zukünftige Erweiterung der Europäischen Union und die Bestimmung ihrer Grenzen liegen in den Händen der EU-Parlamentarier. Ihnen obliegt das Zustimmungs-recht zu völkerrechtlichen Verträgen, damit diese in Kraft treten können. Das Parlament bestimmt auch über den Abschluss von Beitrittsverhandlungen sowie über die Aufnahme neuer Verhandlungen mit Beitrittskandidaten. Somit bestimmen wir als Wähler mit darüber, ob und wann die Türkei, Kroatien oder die ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien der Europäischen Union beitreten dürfen. Das Europäische Parlament wacht nicht nur über die die EU-Mittel und wie sie verteilt werden, es hat auch direkten Einfluss auf die

StaatsKunst

61


Wahl des EU-Kommissionspräsidenten. Ein von den Mitgliedsstaaten nominierter Kandidat muss sich zunächst einer Anhörung im EP stellen und bedarf, ebenso wie die gesamte EU-Kommission, der Zustimmung des Parlaments. Zudem unterliegt die Kommission nach ihrem Amtsantritt ständiger parlamentarischer Kontrolle, die, im Falle eines Missbrauchs ihrer Kompetenzen, zum Rücktritt des gesamten Kollegiums oder einzelner Mitglieder bewegt werden kann. Die Mehrheit im EP bestimmt die zukünftige Richtung europäischer Politik. Wie auch bei den Bundes- oder Landtagswahlen zählt dabei jede Stimme. Dabei geht es um ganz alltägliche Dinge, wie beispielsweise die Lebensmittel, die wir kaufen, den Preis der Waren, die Qualität des Wassers und der Luft in unserer Stadt, unsere Auslandsreisen

StaatsKunst

oder das Telefonieren im Ausland, welches auf eine Entscheidung der EU hin im vergangenen Jahr billiger geworden ist. Auch das Fliegen ist in den letzten Jahren günstiger geworden, da die EU nationale Monopole abgeschafft und Wettbewerb zugelassen hat. Die EU hat also in den unterschiedlichsten Bereichen Einfluss auf unser Leben, daher sollte man sich immer der Möglichkeit bewusst sein, durch seine Wahl auch seine eigene Zukunft mit zu bestimmen. Ein konkretes Beispiel, das gerade uns als Studenten oder Absolventen interessieren dürfte, ist der Bereich Bildung. Wir alle wissen, wie wichtig Aus-, oder Weiterbildung im Ausland sind, dass man dadurch seinen Horizont erweitern und seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern kann. Ganz gleich, ob es um ein Praktikum, ein Austauschsemester oder einen Sommer-

sprachkurs geht. Die EU unterstützt den Bildungsbereich mit verschiedenen Programmen. Eine Anerkennung im Ausland erbrachter Studienleistungen und somit eine Mobilität brachte das Erasmus-Programm. Allein im Jahr 2005 gab es rund 145 000 Erasmus-Studierende. Partneruniversitäten gibt es dabei nicht nur in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, sondern auch in solchen, die es zukünftig werden möchten, wie beispielsweise der Türkei. Die Zusammenarbeit in der europäischen Bildungspolitik spielte dabei eine wichtige Rolle. Wie viele EU-Mittel also zukünftig beispielsweise für den Bildungsbereich zur Verfügung gestellt werden, hängt auch von den EU-Parlamentariern ab, die wir wählen werden. Deshalb, nicht vergessen: am 7. Juni ist Europawahl. Jasmin Dienstel

Auch Bayern hat die Qual der Wahl

Bonn oder das Nichts nebenan

Kampf um Berlin

Für die einen ist es das beste Bundesland der Welt, für die anderen das Tor zur politischen Hölle: Bayern. Sechzigprozentige Quoten für eine konservative Volkspartei, die es nur dort gibt. Hörte ich davon aus einem anderen Bundesland, ich würde an meinem Verstand zweifeln. Warum mich in Bayern so etwas nicht beunruhigt? Nicht etwa, weil die CSU „nur“ eine Schwesterpartei der CDU ist. Nicht etwa, weil sich Bayern nach über 50 Jahren daran gewöhnt hat. Sondern, weil daran nichts so extrem ist, wie es hier im entfernten Rheinland manchmal wahrgenommen wird. Trotz CSU-Monopol kann Bayern als Exempel des deutschen Parteipluralismus gelten. Fünf Jahrzehnte christlich-sozialer Kurs zeugen nicht etwa von rechtspopulistischen Beständen aus der Vorkriegszeit, wie das Magazin „Cicero“ erst im April zeigte: Bayern, so katholisch wie konservativ wählte weiterhin die SPD und das Zentrum, ein Zuwachs an NSDAPWählern war die Folge einer rasant gestiegenen Wahlbeteiligung. Und so konservativ Bayern sein mag, so wenig mag es sich mit Altlasten aus dem NSRegime abfinden. Das zeigt die Arbeit des von Neonazis attackierten Polizeichefs in Passau, der wie in anderen Städten Bayerns jährlich die Aufmärsche von Rechtsextremen mit den „Bunt statt Braun“-Kampagnen verhindert. Das zeigen langjährig SPDregierte Städte wie München und Nürnberg, die als ehemalige Reichsparteitagsstadt ebenfalls als „Nazi-Nest“ verschrien gelten. Auch mit einer schwarz-gelben Koalition will sich der Wähler nicht an das Blaue vom CSU-Himmel versprechen lassen. Eine starke Opposition aus Grünen, Freien Wählern und SPD tragen Sorge, dass großspuriges Gehabe in der CSU nicht auch auf die Landes- und Kommunalpolitik übergreifen. Dass damit allerdings überschüssige Energien bei Ministerpräsident Seehofer auftreten, zeigt sich allein darin, wie er derzeit in Berlin „granteln“ geht.

Ich bin in Bonn geboren und dort kurz aufgewachsen. Meine beste Freundin studiert in Bonn. Das sind zwei gute Gründe, um nach Bonn zu ziehen. Ich habe aber meinen Studienplatz in Bonn abgelehnt: Ich finde Bonn langweilig. Warum nur? Bonn besaß doch alles, was eine Stadt aufregend macht: Macht, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft, Geschichte und einen Fluss. Eine gute Stadt braucht einen Fluss, um die eigene Stadtgeschichte durch Siedlungen aus der Zeit der Germanen, Römer oder des Mittelalters aufzuwerten. So auch in Bonn, also alles beste Voraussetzungen. Was macht diese Stadt dann so unspektakulär? Liegt es wirklich daran, dass die Bundespolitik zurück nach Berlin gezogen ist? Leider nein, Zeitzeugengespräche mit meinen Eltern haben mich erfahren lassen, dass Bonn schon zu ihrer wilden Studienzeit verschlafen war. Proteste, Kommunen und Aktivismus gab es in Berlin, Hamburg, oder nebenan in Köln – aber Bonn? Nein, das wäre ihnen dort nie zu Ohren gekommen. Woran liegt es also? Bonn hatte wirklich alles, aber das war zu viel. Es ist eine Kleinstadt, die mit dem Silberlöffel einer Großstadt aufgezogen wurde. Aber Politik, Wirtschaft und Medien füttern das Königskind nicht mehr. Allein ein akademisches Urgestein an Universität und ein Beethoven-Kult ist Bonn geblieben. Viel ist das nicht, aber Bonn macht das Beste daraus. Rheinkultur, Beethoven-Jahr und eine Top-Universität. Die Studenten in Bonn haben, wovon Kölner Studierende nur träumen. Mehr Platz, mehr Geld und mehr Möglichkeiten zu leben und lernen. Und sie haben uns Kölner: jeck, städterisch und angeberisch. Zu uns kommen sie am Wochenende, tanzen mit uns und schnuppern unsere Großstadtluft. Aber im Gegensatz zu uns, fahren sie nachts nach Hause und wachen morgens ohne Erbrochenes auf der Straße, sondern mit Blick auf Rhein und Hofgarten auf. Da könnte man direkt neidisch werden. Könnte…

Petition für eine „Stille Ecke“ im Bundestag. Ich habe mich oft gewundert, warum „Kindergarten“ ein so beliebtes und bekanntes Wort in der Englischen Sprache ist. Seit kurzem weiß ich es: „Kindergarten“ ist der Begriff mit dem sich derzeit die Politik der „Volksparteien“ repräsentiert. Zumal der Begriff „Volkspartei“ am wenigsten das Verhalten von SPD sowie der Union aus CDU und CSU wiedergibt. Denn eine „Volkspartei“ streitet sich nicht um Gesetzesänderungen wie um Bauklötze und beschuldigt den anderen, alles kaputt gemacht zu haben. Allerdings gibt es im Kindergarten für so ein Gezanke eine Lösung, im Bundestag aktuell noch nicht. Im Kindergarten gibt es eine Kindergärtnerin, die jedes ungezogene Kind – egal ob Bauklotzdieb oder Rambo am Knettisch – ermahnt und notfalls in die „Stille Ecke“ schickt. Obwohl die Bundeskanzlerin Angela Merkel sich derzeit aus dem Gezeter heraushält, macht sie das noch lange nicht zur Kindergärtnerin, sondern eher zur Eigenbrötlerin, die anfängt zu weinen, wenn man ihr den Lieblingsbuntstift wegnimmt. Auch die kleinen Parteien halten sich aus dem Streit heraus; als ob sie nur darauf warten, dass die Bürger bei der Wahl im Herbst ein Machtwort sprechen und SPD oder Unionsschwestern aus der BauklotzEcke verbannen. Im Herbst ist es dafür aber zu spät, dann hat die Wirtschaftskrise in Deutschland nicht nur Banken, sondern auch Staat und Bürger „notleidend“ gemacht. Es braucht eine Kanzlerin, die als Kindergärtnerin agiert. Die sich nicht aus dem Streit heraushält, sondern der Wahlkampfstimmung zum Trotz eingreift und notfalls alle Streithähne in die „Stille Ecke“ schickt. Maximiliane Koschyk

StaatsKunst


KรถrperKultur


Kneipensport -

Besetzte

Zone

wie früher auf dem Schulhof Es gibt in Köln eine Neuerung im Kneipensport: Die Tischtennisplatte hat ihren Platz zwischen den zahlreichen Dartscheiben, Kicker- und Billardtischen gefunden. In der in kurzer Zeit zur SzeneBar avancierten „Wohngemeinschaft“ wird jeden Abend Rundlauf gespielt wie früher auf dem Schulhof. Im Kölner Nachtleben gibt es seit kurzem eine Tischtennisplatte Die Platte befindet sich im hintersten Raum der Bar, dicht gedrängt um sie herum stehen hauptsächlich Jungs in den Zwanzigern und warten darauf, dass wieder das Kommando „Anstellen!“ von einem ihrer Mitspieler ertönt. Zu Beginn jeder Partie schlendern einige noch lässig mit ihrem Kölschglas um die Platte, aber sobald die ersten ausgeschieden sind, weil sie den Ball ihres jeweiligen Gegenübers nicht mehr erwischt haben, bricht Hektik in dem kleinen Raum aus. Nun gilt es die Spreu vom Weizen zu trennen und der bierseligen Kneipengemeinschaft zu zeigen, wer ein richtiger Tischtennisprofi ist. Die Ehrgeizigen unter den Kneipensportlern Die wahren Kneipenzocker zeichnen sich dadurch aus, dass sie stets einen Alkoholpegel halten, der ihr Können nicht beeinflusst - sie wollen gewinnen, egal ob beim Dart, Kickern oder eben Tischtennis. Der Rest will einfach nur einen netten Abend in Gesellschaft verbringen, denn die gemeinsame Aktion verbindet. Selbst die Schüchternen und Arroganten kommen in einer hippen Bar ins Gespräch, wenn sie nebeneinander am Kickertisch stehen. Körperkontakt und ein erstes Gesprächsthema sind inklusive. Die Zocker hingegen suchen ein Publikum und nicht den Kontakt. Nur gezwungenermaßen spielen sie im Team, wenn eine lustige Mädelsrunde anrückt, der der Gesprächsstoff ausgegangen ist und die nun ihre EinEuro-Stücke am Rande der Billiardplatte parkt, denn nur zuschauen ist für den

KörperKultur

Profikneipensportler schlimmer als sich im Team aufzustellen. Am Rande des Geschehens wird er nervös und erteilt den gerade Spielenden Ratschläge: „Schneller!“, „Nein, halt den Pfeil gerade!“ oder „Du darfst die Gelbe nicht direkt anspielen!“ Muss der Profi im Team spielen, werden die Anweisungen bei einer misslungenen Ausführung durch Kraftausdrücke ergänzt. Die Ehrgeizigen unter den Kneipensportlern nehmen sogar an Wettkämpfen teil, um ihrer Leidenschaft zu frönen – so findet ihnen zu Liebe im April und Mai in Köln der „Sion Kicker Cup Cologne 2009“ statt. Ein unterhaltsamer Kneipenbesuch mit Freunden Diejenigen, die am Kickertisch einfach nur ihre Männchen nach dem Zufallsprinzip drehen und schieben, werden wahrscheinlich nicht beim Kicker Cup dabei sein, denn für sie zählt eher der unterhaltsame Abend mit Freunden, die gemeinsame spontane Aktivität in einer Bar. Zur Fraktion der spontanen Kneipensportler gehören – wie klischeehaft – auch die Frauen, die sich, meistens von ihren männlichen Begleitern, zu einer Runde an der Tischtennisplatte überreden lassen. Einmal dabei, sind auch sie nicht mehr zu bremsen, doch kann man des Öfteren eine gewisse Scheu beobachten, sich den Herausforderungen eines ordentlichen Tischtennismatches zu stellen. Wobei hier natürlich auch das Outfit eine Rolle spielt, denn mit High Heels ist die Frau beim Rundlauf ganz offensichtlich den zumeist Turnschuhe tragenden Männern kleidungstechnisch unterlegen. Zu viele

Armreifen und eine Handtasche können hingegen beim Kickern hinderlich sein. Trotzdem, sollte das die Frauen nicht am Mitmachen hindern, denn genau wie bei den männlichen spontanen Kneipensportlern, dienen doch Dart, Kickern und Billiard einfach nur der abendlichen Belustigung.

Es gibt viele Bereiche, die nur einem Geschlecht zugeordnet werden. Das beginnt bei biologischen Grundbedingungen wie schwanger werden und zieht sich dann durch bis zu Charaktereigenschaften wie Einfühlungsvermögen, Einparkvermögen, Geldvermögen und Kinder mögen. Im Verlauf der sagenumwobenen Emanzipation kommt es in den genannten Bereichen zu Durchlässigkeiten und zur Grenzaufweichung. Vertreter des jeweils anderen Geschlechts eignen sich auf einmal Eigenschaften an, die seit Ewigkeiten nur dem einen bzw. anderen Geschlecht vorbehalten waren. Frauen wollen auch Karriere machen, Männer wollen auch Weinen und so weiter.

Eins schien jedoch davon mit Sicherheit bis ans Ende aller Tage von diesem ganzen Aufgeweiche ausgeschlossen: die Problemzone. Das Lieblingsgesprächsthema der Frauen, ihr ein und alles, höher noch in der Prestigeliste als ein fähiger Ernährer oder die Lieblingssoap. Jetzt scheint die Weltrevolution gekommen, denn bahnbrechende Erkenntnisse gelangen ans Licht: Auch Männer haben Problemzonen! Sie können sogar eine ganze Liste davon aufweisen, von Analbehaarung bis Zehnagelverkrümmung. Dazwischen tummeln sich genüsslich Bindegewebsschwäche, Babyspeck und Beinasymmetrie.

Liebe Männer, ihr macht uns Frauen damit zwar die letzte Rückzugsbastion zunichte, aber es gibt auch eine gute Nachricht: Da wir Frauen ja seit Jahrhunderten eigentlich nur über dieses Thema reden, hat sich in unserem Kollektivbewusstsein ein großer Erfahrungsschatz angesammelt. Und weil wir bekanntlich eher solidarisch als einzelkämpferisch veranlagt sind, lassen wir euch natürlich gerne an diesen Weisheiten teilhaben und sind bereit, euch beim Gespräch zu begleiten. Wir stellen fest: weniger Differenzen als gedacht!

Johanna Regenhard

Am Ende des Abends In der Wohngemeinschaft platzt der kleine Raum mit der Tischtennisplatte am Ende fast jeden Wochentages aus allen Nähten. Zwar sind die Wenigsten noch nüchtern – bis auf ein paar Querulanten, die immer auf die korrekte Einhaltung der Spielregeln achten – aber dafür kennen sich nach einem gelungenen Abend alle mit Namen und haben sich nach einem gerade noch erreichten Ball in den Armen gelegen. Vielleicht haben sie sich auch beschimpft, aber dafür hat man auch erfahren, dass der Mitspieler im Internat war und deswegen genug Zeit hatte zu lernen, wie man den Ball so richtig schön fies andreht. „Da kann ich nicht mithalten, ich hatte immer nur die Fünfminutenpause zum Üben“, denkt man sich, und geht leicht verschwitzt, glücklich und beseelt nach Hause. Kathrin Mohr

Info: Tischtennis: die wohngemeinschaft, Richard-Wagner-Straße 39 Billiard: Low Budget, Aachener Straße 47 Kicker: Grünfeld, Brüsseler Straße 47 Dart: Shamrock, Zülpicher Straße 34

Dos and Don'ts Schwimmbad

+ − − − − −

Vorher duschen für Frauen: Rasieren für Männer: gucken, ob die Badehose von vor 3 Jahren noch passt Badeschlappen und frische Unterwäsche mitnehmen die eigene Bahn einhalten und damit das Revier markieren im Spaßbad: auf die Rutsche gehen

− − − − −

an den Fußpilz und die Viren denken vorher essen im Brustschwimmtempo die Schwimmerbahn blockieren ins Becken pinkeln im Spaßbad: den Kindern die Reifen wegnehmen

-

KörperKultur


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.