WINTER BALL
WINTERBALL Ein artist-in-residence-Projekt des Kulturzentrums Seefelder Mühle am 27. Januar 2018 im Dorfgemeinschaftshaus Seefeld ÜBERRASCHUNGEN AM LFD. BAND! Schneewalzer mit dem Chor der Seefelder Mühle Schwitzen mit der Zumba-Gruppe des Seefelder Turnvereins, Schnell-Tanzkurs und Folkloretanz zu Popmusik Sektbar und Tombola Seefeldfilme aus den 1950ern und 70ern mit Musik des Spielmannszugs Schlägerei und Feuerwehreinsatz Spiegeleier in der Seefelder Mühle u.v.m.
FESTREDE Guten Abend! Am liebsten würden wir Euch alle persönlich ansprechen. Stattdessen: Liebe Leute, liebe Versammelte! Liebe Einheimische, liebe Angereiste, liebe Enthusiasten, liebe Ballgänger*innen, liebe Kopf-in-den-Sand-steckende, wir befinden uns in einem Raum, der schon viele Funktionen eingenommen hat. Er war Festsaal einer Gaststätte, aber auch Turnhalle. In diesem Saal hat sich Seefeld von seiner Eigenständigkeit verabschiedet und ist Stadland beigetreten. Jetzt übt hier der Spielmannszug und die Landfrauen laden zu Lesungen ein. Der Saal trägt seine Aufgabe heute im Namen: Dorfgemeinschaftshaus. Auch heute Abend hat sich wieder eine Gemeinschaft versammelt. Viele von euch kennen sich schon lange – das trifft aber nicht auf alle zu. Uns kennt ihr z.B. noch nicht so gut. Und doch stehen wir hier vorne und sprechen zu euch. Die Höflichkeit gebietet es, dass ihr uns zuhört und vielleicht stellt ihr euch schon gedanklich auf eine lange Rede ein… Gut so! Der Anlass, der insbesondere zu unserer heutigen Versammlung hier geführt hat, ist das 30 jährige Jubiläum des Kulturzentrums Seefelder Mühle. Sie gehört inzwischen zu Seefeld wie die Tide zur Nordsee. Um dieses Jubiläum mit einem Fest für Seefeld zu begehen, hat die Mühle uns im letzten Jahr eingeladen. Wir waren neu hier und neugierig, was es hier so gibt. Also haben wir euch besucht und uns davon erzählen lassen, wie hier gefeiert wird. Ein Wort, das ihr so ganz selbstverständlich benutzt, ist bei uns hängen geblieben: Ball. Turnerball, Ernteball, Klotschießerball, Feuerwehrball, Jägerball oder Holzschuhball. Manche feiert man heute nicht mehr, andere werden immer grö-
ßer. Einer der Gründe dafür ist, dass sich das Tanzen verändert hat – genauso wie das Leben im Ort. Dennoch sind die Bälle weiterhin wichtig: Sie schaffen Momente, in denen die Gemeinschaft zusammenfindet und neue Leute in diese Gemeinschaft eintreten können. So wie z.B. beim Silvesterball 1993, zu dem die Neuseefelderin Gisela Boelen mit ihrem Mann völlig overdressed erschien. Ihr Wissen über die übliche Bekleidung bei Partys auf dem Land hatte sie bis dato nur aus Fernsehdokus – und das stellte sich als unzutreffend heraus. Es war aber nicht schlimm, dass sie damals mit lauter Fremden am Tisch saß. Im Gegenteil: Es war eine der schönsten Silvesterfeiern, die sie je erlebt hat, denn sie war wie vom Donner gerührt, als ein junger Mann sie zum Tanzen aufforderte. Dass Alt und Jung abseits von Familienfesten so zusammen feiern, finden wir außergewöhnlich. Micha und ich sind fast ausschließlich mit Menschen in ähnlichem Alter und mit gleichen Interessen zusammen. Da wäre es höchst auffällig, wenn jemand über 60 mit uns die Tanzfläche unsicher machen würde. Deshalb standen zwei Fragen im Zentrum unserer Vorbereitungen für den heutigen Abend: In welche Gemeinschaften begeben wir uns eigentlich? Und „Die Zugehörigkeit zum Dorf [wird] oftmals mit der Mitgliedschaft in einem Verein gleich- was bedeutet es für Seegesetzt. Das ist insofern erstaunlich, da die feld, wenn sich die Art Vereine letztlich ausdifferenzierte und somit des gemeinschaftlichen partielle soziale Netwerke darstellen und es nicht „den einen“ Verein gibt. [...] Darüber Zusammenkommens hinaus fungieren Vereine als symbolhafte verändert? Zeichen für die Aufsplitterung der ländlichen Bevölkerung, die sich in Mitgliedschaft und Nicht-Mitgliedschaft ausdrückt.“ (F. Liebl & C. Nicolai)
Wir haben gefragt, was ein Ball braucht und bekamen unzählige Episoden zu besonderen Ball-Erlebnissen erzählt: Vom ersten Ballkleid und dem Ärger, wenn jemand genau
das gleiche trug. Von dem Moment, als das Licht gedimmt wurde und alle enger zusammenrückten. Von zwei Bällen gleichzeitig während des Schützenfests. Von den prüfenden Blicken der Älteren, wer da mit wem gut zusammen passte. Von Theaterstücken, Sportvorführungen und Siegerehrungen. Von sehr viel Schnaps, Koteletts und Buletten. Vom Geschmack der Spiegeleier früh am Morgen. Was uns als Theatermacher besonders faszinierte war das Abend-Programm. Zu Ostern das große Vorturnen an Barren, Reck und am Pferd. Hier mitten im Festsaal und drum herum saßen die Gäste in feinen Kleidern an ihren Tischen. Es brauchte viel Anlauf, also lief man schon im Vorsaal los, um genug Schwung zu bekommen. Hinterher wechselte man schnell die Turn- gegen die Ballkleider und kehrte in den Saal zurück. Mädchen und Jungs saßen an getrennten Tischen und man hielt sich nicht so lange an der Bar auf. Aber sobald die Musik losging, wurde durch den Raum gesaust und zum Tanzen aufgefordert. Was braucht ein Ball? Eine Tombola! Eine Sektbar! Eine Rauferei?! Was muss unbedingt dabei sein? Und wo beginnt die Romantisierung? Übertüncht man den harten Alltag in der Landwirtschaft, wenn man nur von der lustigen Ausnahme, den Bällen, spricht? Vergisst man die schwierige Situation von Frauen, wenn man zu oft von tollen Petticoats und Damenwahl erzählt? Hat jemand an familiäre Kontrolle gedacht, wenn die Alten und Jungen zusammen feiern? Was braucht ein Ball? Ein Theaterstück! Eine Siegerehrung! Ein gemeinsames Ritual?! Oder ist der Ball schon das Ritual, das zusammenführt und zusammenschweißt? Einige junge Leute, die wir getroffen haben, finden Dorffeste viel schöner als in Discos zu fahren. Man kann nach Hause gehen, wann man will und kommt mit
Leuten zusammen, mit denen man sonst nicht so viel zu tun hat. Weil man mit den Nachbarn an der Theke steht oder weil zu bestimmten Schlagern alle Altersklassen auf die Tanzfläche stürmen. Auch wenn man sich vorher nicht viel unterhalten hat: Beim Tanzen versteht man sich. Was braucht ein Ball? Eine Kapelle! Ein DJ Programm! Einen Chor und einen Spielmannszug! Mitte des letzten Jahrhunderts wandelte sich mit dem Einzug von Pop und Rock ’n Roll in die Wohnzimmerradios auch die Tanzmusik auf den Bällen. Elvis kam nach Friedberg, die Beatles „Die geographische und wahrgenommene nach Hamburg. Über- Nähe der Dorfgemeinschaft [macht es] für die all hier in der Gegend Bewohner notwendig, sich zu entscheiden, sie ihr soziales Gefüge ausgestalten: wo gründeten junge Leu- wie und wem sie sich zugehörig fühlen, mit wem te Bands und lernten sie eine Gesinnungsgemeinschaft eingehen. die Songs aus der Hit- Dabei sind diese Vergemeinschaftungsformen aber im wahrsten Sinne „posttraditional“, denn parade selber zu spie- sie greifen oftmals auf die tradierte Hülle von len, denn dazu wollten organisierten Vereinen und Vereinigungen zuVeränderung- und Ausdifferenzierungsalle auf den Bällen alle rück. prozesse der Vereinslandschaft auf dem Land tanzen. machen gleichermaßen Individualisierung Zeitgleich begann sich und Tribalisierung, Integration wie Distinktion, Kontinuität und Wandel möglich.“ auch die Reichwei- (F. Liebl & C. Nicolai) te und Mobilität der Menschen zu verändern. Heute ist es nicht die Regel, dass Arbeitsort und Wohnort übereinstimmen. Das verändert auch das soziale Gefüge eines Dorfes. Es sind nicht mehr selbstverständlich dieselben Personen, die beruflich und privat das Leben vor Ort prägen. Dadurch verändern sich auch die sozialen Gruppen, in denen wir zusammenkommen, und die gesellschaftlichen Anlässe, bei denen wir uns begegnen.
In einer sich immer weiter verbindenden Welt sind eben nicht nur die Städte, sondern auch die Dörfer einer ständigen Neuordnung unterworfen. Sie sind eingebunden in Ströme von Wissen, Menschen und Waren, die sie mit weit entfernten Orten verbinden. Aber diese Austauschbewegungen gehören schon immer dazu: Schaut man auf die Geschichte der Tanzkultur, findet man zum Beispiel fahrende Musiker. Die reisten von Ort zu Ort und spielten zum Tanz auf. Viele Gegenden und sogar einzelne Dörfer hatten damals ihre eigenen Tänze, die von den Musikern mitgenommen und so verbreitet wurden. Neue „Den ländlichen Räumen wird durch Schrittfolgen verschmolzen den Wanderungssog der Städte Bevölmit bekannten, und neue kerung entzogen, für die zuwandernde in den Städten müssen Tänze entstanden. Sie wur- Bevölkerung Wohngebiete, Gewerbe-, Verkehrs- und den auch in den Städten be- Erholungsflächen bereitgestellt werkannt, vermischten sich mit den – Flächen, die dem Land verloren gehen. Beides schwächt auch die den bürgerlichen Varianten Landbearbeitung und die Beiträge ländvon höfischer Tanzkultur licher Räume für Ernährung und Klima. hinaus vermindert die Migratiund flossen wieder zurück Darüber on auch den Aufbau von diversifizierten aufs Land. Und so ist es im- Wirtschaftsstrukturen in den ländlichen mer noch. In Seefeld haben Räumen, so dass die Abhängigkeit vom Agrarsektor nicht vermindert wird.“ wir Menschen mit Leiden- (U. Hahne) schaft für Tango, Charleston oder südafrikanische Tänze getroffen. Und wenn wir gleich beim Zumba schwitzen, dann verdanken wir das einem Mix aus Aerobic und lateinamerikanischen Tänzen, der in Kolumbien erfunden wurde. Wenn auch die Bälle über die Zeit weniger geworden sind, so bleibt eines doch sicher: Es wird getanzt. Denn Tanzen stiftet Gemeinschaft auf Zeit. Mal mit anderen Vereinsmitgliedern, mal mit anderen Helene Fischer-Fans. Mit Menschen, deren Sprache wir nicht
kennen oder deren Weltbild wir nicht teilen. Wie und mit wem wir beim Tanzen zusammenkommen, hat sich über die Zeit geändert. Jede Gesellschaft erfindet dafür ihre eigenen Formen – auch deshalb, weil in jeder Gesellschaft Gemeinschaft anders funktioniert. Hier im europäischen Westen wurde man über viele Jahrhunderte in seinen Stand geboren. Die Ge- „In einer Zeit, in der die Städte meinschaft war die Gemeinschaft ökonomisch immer mächtiger (...), entstand in den des Dorfes, und alle hatten ihren wurden Städten zunehmend auch ein schicksalhaften Platz darin. Mit eigenes kulturelles Gepräge. der Industrialisierung veränder- Die oberen Schichten des Bürgertums, insbesondere die te sich die soziale Zusammenset- Patrizier, orientierten sich deutzung der gesamten Gesellschaft lich an der Kultur des Adels, die unteren Schichten und Gemeinschaft musste neu während sich vornehmlich an bäuerorganisiert werden. licher Tradition ausrichteten. In den Städten entstanden daher verschiedene Mischformen zwischen diesen beiden Kulturen, die zum einen Grundlagen für die Entfaltung eigener kultureller Formen boten, andererseits auch das Leben auf dem Lande wieder bereicherten.“ (F. Krafeld)
Deshalb entstand das Vereinswesen: Es war eine neue Form der Vergemeinschaftung – nicht mehr als Schicksal, sondern als Wahlmöglichkeit. Auch wenn die Reitvereine eher reichen Landbesitzern vorbehalten blieben, so konnte man sonst recht frei wählen, ob man zum Schützen oder zur Turnerin wurde, ob man zur Feuerwehr ging oder zum Spielmannszug. Identität wurde wählbar. Gleichzeitig stabilisierten die Vereine den Zusammenhalt. Heute suchen die Menschen stärker als bisher nach unverbindlichen Gemeinschaften auf Zeit mit denen, die den eigenen Neigungen und Interessen möglichst exakt entsprechen. Auch dieser Ball ist so ein zeitlich begrenztes Format der Zusammenkunft – und dafür werden sogar größere Strecken zurückgelegt. Die Menschen leben heute in weitläufigeren Zusammenhängen. Ihre Suche nach Gemein-
schaft lässt sie nicht nur auf die nächstgelegenen Dörfer blicken, sondern in die gesamte Region, auch über die Landkreisgrenzen hinaus. Diese Effekte werden in Zukunft noch stärker werden und dieses Dorf, wie alle Dörfer, ein weiteres Mal verändern. Als Künstler*innen begreifen wir es als unsere Aufgabe, an der Manipulation von Bildern zu arbeiten – an sichtbaren genauso wie gedanklichen Bildern. Wir werden die Bälle von früher nicht zurückholen können und das wollen wir auch gar nicht. Dieser Ball ist ein Mix eurer Erzählungen, interpretiert von fremden Menschen – dadurch wird alles ein bisschen anders. Wenn es denn eine Essenz dieses Abends geben könnte, ist das unsere: Wir werden von euch eingeladen und hören euch zu. Wir veranstalten aus dem Erlebten einen Ball und laden euch ein. Wir lassen uns auf die unbekannten Gemeinschaften ein, die man noch nicht kennt. Lernen, welchen Regeln sie folgen und spielen mit ihren Regeln. Denn das Gemeinsame überdauert gerade dann, wenn die Gemeinschaft darum herum immer wieder um neue Mitglieder erweitert wird. Um Mitglieder, die das Gemeinsame wertschätzen und mit Eigenem bereichern. Da, wo man durch einen neuen Blick anders auf sich selbst blicken kann, beginnt auch die Zukunft eines Dorfes sich neu zu entfalten.
„Da kommen die Mädchen aus dem Moor Mit Hütchen auf und Seidenflor Und tanzen mit Geschick Bei Hartmann auf dem Hühnerrick“ (Volksmund)
DOPPELTES LOTTCHEN
Mit 16 Jahren durfte ich mir endlich meine Zöpfe abschneiden. Viele machten sich dann modische Dauerwellen. Ich bekam mein erstes Festkleid und ging voller Stolz zum Reiterball. Nur um dort festzustellen, dass dort eine genau das gleiche Kleid anhatte. GRÜPPCHENWEISE
Man war pünktlich um acht da – herausgeputzt! Und für den Verlauf des Abends saß man mit den gleichen Leuten am Tisch. Heute stehen ja viele die ganze Zeit an der Bar, das gab es früher nicht. Man bestellte gemeinsam und zahlte gemeinsam. Aber wehe, wenn einer verschwunden war. Da ist man aber am nächsten Tag hingegangen und hat Bescheid gesagt. SINGFREUDEN
Auf den Bällen wurde immer sehr viel gesungen. „Warum ist es am Rhein so schön?“ Einer fing an und alle stiegen ein. Das war eine Zeit, wo man in der Schule viele Volkslieder gelernt hat. Die Kapellen leiteten das oft an. Die hatten damals noch sehr viel Kontakt zum Publikum.
AUFS MAUL
Wenn man zu Bällen in andere Dörfer fuhr, war das natürlich auch ein Heiratsmarkt. Aber es passte nicht allen Männern, wenn Frauen aus ihrem Dorf mit jemandem aus einem anderen Dorf anbandelten. Das waren meist die gleichen, die das anfingen. Wenn die da waren, wusste man schon, dass wieder was passieren würde. Es gab eigentlich keinen Ball ohne Streit. Die ließen sich volllaufen und dann ging’s los. Wenn die sich bei Hartmanns in die Wolle kriegten, dann flog auch mal einer die Treppe runter. SPIEGELEIER
Am Ende war immer eine Gruppe von Leuten übrig, die den Saal ausfegten. Und danach ging man noch zu jemandem nach Hause und aß gemeinsam Spiegeleier. Die Bälle gingen oft bis fünf, sechs Uhr. Wenn man dann nach Hause kam, standen manchmal gerade die Kinder auf, um zur Schule zu gehen.
DER FAHRRADSTAND
Anfang der 1950er gab es noch bei jedem Ball jemanden, der die Fahrräder bewachte, denn die wurden unwahrscheinlich viel geklaut. Und das, obwohl kaum ein neues dabei war – fast alle waren aus verschiedenen Teilen zusammengebaut. Damals hatte man nur sein Rad und so blieb der Radius klein. Wer kam schon bis Oldenburg? PFERDESTÄRKEN
Kurz nach dem Krieg sah man auf den Straßen eine seltsame Kutsche: Ein kaputter Opel Blitz war so umgebaut worden, dass man ein Pferd davor spannen konnte. Und damit ging es dann los nach Brake zum Schützenball. DIE KAPELLE IM DORF
Nach Kriegsende hatte jedes Dorf seine feste Kapelle. Meistens bestand sie aus Akkordeon, Schlagzeug und Geige. Anfang der 1970er wurde das alles etwas professioneller. Die Gruppen hatten mehr technische Ausstattung, das Keyboard verbreitete sich und die Reichweite der Gruppen wurde größer – die Dorfkapelle verschwand.
FLEI OHWEI, FLAMINGO
Mein Vater spielte in einer Combo, die über die Dörfer zog und zum Tanzen aufspielte. Alle hatten sich ihre Instrumente selbst beigebracht und spielten nach Gehör. Oft spielten sie bis weit nach Mitternacht und ließen sich dann vom Gastgeber überreden, für ein Extrahonorar noch ein, zwei Stunden dranzuhängen. Das war ein richtiges Familienunternehmen: Meine Mutter war fast immer dabei und arbeitete im Service. Und auch wir Kinder waren beteiligt, denn damals lief die „Hitparade“ im Fernsehen und natürlich wollten die Leute immer die Lieder hören, die dort gerade ganz oben waren. Also hatten wir die Aufgabe, die Musik mit unserem Kassettenrekorder aufzunehmen. Der hatte nur ein ganz kleines eingebautes Mikrofon, sodass man ihn direkt vor den Fernseher halten musste. Wenn die Top 3 liefen, durfte keiner nur ein Wort sagen oder im Zimmer herum laufen. Anschließend haben wir die Texte aufgeschrieben und unser Vater hat die Lieder mit seinen Kollegen nach Gehör einstudiert. Allerdings hatten die nie Englisch gelernt und darum so einige Probleme mit der Aussprache. Ich weiß noch, wie wir vergeblich versucht haben, ihnen die Aussprache von „Fly away flamingo“ von Fernando Express beizubringen. Sie sangen immer nur: „Flei ohwei“ Das ist bis heute ein interner Witz für meine Schwester und mich.
GEWINNE, GEWINNE
Um Mitternacht gab es oft ein Highlight: Die Tombola! Mal hatten die Leute selbstgemachte Dinge gespendet, mal gab es ausschließlich Blumen zu gewinnen – aber je besser es wirtschaftlich ging, desto größer wurden die Gewinne. Vier Tage Costa Brava, ein Fahrrad, ein Rundflug, eine Gartenbank. Ein Los kostete eine Mark und die Gewinne waren in den Wochen zuvor bei den Händlern in der Gegend zusammengetragen worden, die oft großzügige Rabatte gaben. Manchmal gewann man aber auch nur eine Dose Brechbohnen.
MIT DEM GEIGENSTAB
Das Tanzen haben wir von einem Tanzlehrer aus Varel gelernt. Ein Typ wie Lehrer Lämpel. Er spielte die verschiedenen Tänze auf der Geige vor und wenn man nicht korrekt war, kriegte man auch mal was mit dem Stab auf die Backe. Er hatte immer zwei, drei dabei, die das schon besser konnten und vortanzten. Denn er musste ja Geige spielen. Den Tanzkurs machte man mit 14 Jahren zum Ende der Volksschule. Die meisten gingen dann in Stellung und arbeiteten in der Landwirtschaft, denn es gab nicht für alle einen Lehrberuf. TANZKARTE
Beim Abschluss des Tanzkurses kam die Tanzkarte zum Einsatz. Darauf hat man sich vorher in der Tanzschule bei den anderen eingetragen. Beim Ball hat dann die Band immer drei Tänze gespielt, die man mit einem Partner getanzt hat. Die Musik machte danach immer eine Pause. Das war auch gut, denn wenn der Partner nicht gut tanzen konnte, war man froh, ihn wieder loszuwerden! In diesen Trinkpausen ging man dann an die Theke oder nach draußen, da stand jemand mit einem Wagen, bei dem man Würstchen vom Grill essen konnte.
TUSCHELBÖRSEN
Die Bälle im Dorf, wo ich aufwuchs, kenne ich nur aus den Erzählungen meiner Eltern. Diese Bälle waren richtige Volksvergnügen und dauerten bis spät in die Nacht. Das war ein großes Gemeinschaftserlebnis, bei dem ordentlich gepichelt wurde. Und natürlich beobachtete man auch, wer da mit wem… Es war schon so eine Art Tuschelbörse. Denn Bälle sind auch Austauschzentren gewesen. Man ging da hin, weil man Neuigkeiten ausgetauscht hat. Telefone hatte man ja erst sehr spät. Und die Bälle waren auch ein Heraus aus dem Alltag der harten körperlichen Arbeit. Das ländliche Leben war zu dieser Zeit noch sehr begrenzt auf den Raum des Dorfes. Es gab keine öffentlichen Verkehrsmittel. Für Frauen war das Dorf der Ort ihres Lebens. Das ganze Leben fand hier statt. Alles, was man brauchte zum Leben, fand man auch im Dorf. In der Stadt spürte ich, dass man nicht so sehr im Visier der anderen war. Man konnte mal raus aus den gewohnten Bahnen. Und es gab die ersten Selbstbedienungsmärkte, da ging man schon mal gucken! „Insgesamt hat sich die Polarisierung von Stadt und Land aufgelöst, und es hat sich ein Stadt-Land-Kontinuum entwickelt. Das überkommene Bild einer ‚homogenen‘ Dorfgemeinschaft ist obsolet." (R. Grothues)
SPERRSTUNDE
Zum größten Hindernis für die Bälle wurde die Sperrstunde nach dem Krieg: „Wer sich zwischen 22.30, später 23.30, und 6.00 Uhr draußen aufhielt, wurde festgenommen. Das war natürlich – besonders für die jungen Leute – bitter [...] Man wollte sich amüsieren und tanzen. Ein Raum bot sich dazu in einer Scheune in Augustgroden an und später in Reitlanderzoll. Dort standen unmittelbar vor dem Deich einige Wehrmachtsbaracken, von denen eine zum Tanzsaal umfunktioniert wurde. Als Beleuchtungskörper dienten Plexiglasstücke, die angezündet und einfach in eine Fuge gesteckt wurden. Brände sind nie entstanden! Musik gab es auch, nämlich ‚Quetschkommode‘ (Schifferklavier) und Teufelsgeige, später Schlagzeug. Das einzige Hemmnis war die verflixte Sperrstunde. Sobald eine Kontrolle nahte, löschte man das Licht und die Baracke war in Sekundenschnelle geräumt. Man ging nach allen Seiten in Deckung und es konnte in der Dunkelheit passieren, daß man in einem frischen Kuhfladen ‚landete‘.“ (aus: Hugo Ahlhorn - Die Geschichte Seefelds)
SCHWINGBODEN
Wenn das Wort auf „die Teddys“ kommt, seufzen manche noch heute verträumt. Die Gruppe hatte eine ganz besondere Verbindung zu ihren Gästen. Aber sie waren auch den Wirtsleuten loyal: Der Boden im Schützenhof Reitland war nicht mehr der beste. Er fing schnell an zu schwingen, wenn sich mehrere anfassten und gemeinsam sprangen. Immer größere Schwingungen, immer mehr, der Boden drohte zu brechen. Dann gab man von der Theke ein Zeichen und die Musik hörte sofort auf. PROVOKATION
Zu meinem ersten Ball gingen wir aus Protest nicht aufgebrezelt, sondern in Cordhose und Jeans. Ich weiß noch, wie ich mit meiner Mutter diskutiert habe, ob man da in Hosen auftauchen darf. Heute sieht man, dass die jungen Frauen mit viel Geld beim Friseur gewesen sind. Teures Make Up, Hochsteckfrisuren und dazu rauschende Ballkleider. Vielleicht auch wieder als Gegenbewegung zu den Hosen meiner Generation.
JUGENDBALL
In der Friedeburg in Nordenham gab es die Jugendbälle. Das waren absolute Ereignisse! Man war aufgeregt. Man wollte möglichst gut aussehen. Man wollte einen tollen Partner haben, mit dem man da hinging, oder mal gucken, ob man wen findet. Das Ganze nannte sich zwar noch Ball, aber es war nicht mehr so konventionell. Da lief unsere Musik, aus unserer Zeit. In der Musik wollten wir uns selbst finden. Freunde von uns spielten in einer Beatles-Coverband und die hatte auch bei dem Jugendball einen Auftritt, bei dem ich meinen Mann kennenlernte. Auch an diesem Abend gab es wieder den Moment, als sich der Raum verdunkelte und die Discokugel zu strahlen begann. Da wurde es ganz still im Raum! Alles eng umschlungen. Denn das wurde natürlich sofort ausgenutzt für Annäherungsversuche. Man konnte mal etwas probieren, was sonst in der Öffentlichkeit nicht möglich war. Man muss sich schließlich klarmachen, was das für eine Zeit war: Als meine Freundin mal mit ihrem Freund in der Innenstadt spazieren ging, wurde das am nächsten Tag in der Schule sofort von den Lehrern thematisiert.
Hausecken-Katarrh, der: Quittung fürs Knutschen in dunklen Nischen
VERGEMEINSCHAFTUNG
Ich muss sagen, ich find Dorffeste total geil. Ich geh da lieber hin als in die Disco. Erstens kann ich nach Hause gehen, wenn ich keinen Bock mehr habe. Wenn du in die Disco willst, brauchst du einen Fahrer, der nichts trinkt und bist eine dreiviertel Stunde unterwegs. Und zweitens kennst du die Leute. Ich feiere nicht, um mich zu betrinken, sondern weil man dadurch mit Leuten zusammenkommt, mit denen man sonst nicht so viel zu tun hat. In einem Freundeskreis hat man ja auch nicht mit allen gleich viel zu tun. Durchs Feiern hat man eine gemeinsame Basis, auf der man sich begegnet. Das gilt auch für das Dorf. Ich finde es cool, wie sich da die Altersgruppen mischen. Dass man mit dem Nachbarn an der Theke steht und sich unterhält. Oder wenn alle auf die Tanzfläche stürmen – mein Freundeskreis, der meiner Mutter und der unserer Nachbarn – und dann tanzt man einfach zusammen. Mit der Freundin eines Freunds meines Vaters hab ich mal zu „Cotton Eye Joe“ getanzt. Auch wenn man sich vorher nicht viel unterhalten hat: Durchs Tanzen ist man wieder auf einer Ebene. ALTERNATIV
Ich war nie auf Bällen, ich war auf Demos.
SITZFLEISCH
Vor vielen Vereinsbällen wurde ein plattdeutsches Theaterstück aufgeführt. Die Leute im Saal hatten wahnsinnig viel Spaß und die Leute hinterm Tresen, die das Stück schon gesehen hatten, lachten über die Leute, die da gelacht haben. Dazu gab es Koteletts mit Salat und die jungen Leute aßen davon meist zwei oder drei. Dann war es etwa 22 Uhr und alles wurde zur Seite gestellt. Einer ging mit dem Saalpulver rum und dann ging es richtig zur Sache. Alle haben ja drauf gelauert, dass endlich die erste Musik kam. Sie hatten ja schon zwei Stunden gesessen.
ATOMAUSSTIEG
Hängt das Verschwinden der Gaststätten in Seefeld mit dem Bau des Kernkraftwerks Unterweser zusammen? Plötzlich hatte die Gemeinde Geld, um allen Vereinen moderne Heime zu bauen. Dort war nicht nur die Einrichtung auf dem neuesten Stand, sondern vor allem die Preise viel niedriger. Von der Gaststättenkultur, wo jede Gruppe in Seefeld ihre Kneipe fand, ist nur noch das Schaart übrig. Es hat sich auf Hochzeiten und Familienfeiern spezialisiert und zieht überregionales Publikum an. Die Formen der Vergemeinschaftung müssen sich zwangsläufig verändern.
„At a time of globalisation, spaces are dealing with constant reconfiguration, one of its main expressions being the intensification of movement that simultaneously affects both rural and urban places. (…)This process relies on close interdependence between rural and urban areas, resulting in the metamorphosis rather than the disappearance of rural areas.“ (C. Hedberg & R.M. do Carmo) „Welche Qualitäten muss ein Ort haben, damit er sich als Treffpunkt etablieren kann und auch von den Individuen so wahrgenommen, „gelesen“ und verstanden wird?“ (F. Liebl & C. Nicolai)
LITERATUR
Gothe, Kerstin (2011): Raumbilder für das Land. In: Der Bürger im Staat (1-2/2011), S. 4–7. Grothues, Rudolf (2006): Lebensverhältnisse und Lebensstile im urbanisierten ländlichen Raum. Analyse anhand ausgewählter Ortsteile im münsterländischen Kreis Steinfurt. Münster: Geographische Kommission für Westfalen (Westfälische geographische Studien, 55). Hahne, Ulf (2011): Neue Ländlichkeit? Landleben im Wandel. In: Der Bürger im Staat (1-2/2011), S. 12–18. Hedberg, Charlotta; Carmo, Renato Miguel do (Hg.) (2012): Translocal ruralism. Mobility and connectivity in European rural spaces. Dordrecht: Springer (The GeoJournal library, 103). Krafeld, Franz Josef (1985): Wir tanzen nicht nach eurer Pfeife. Zur Sozialgeschichte von Volkstanz und Volkstanzpflege in Deutschland. Bremen: Eres-Verl. Liebl, Franz; Nicolai, Claudia (2009): Posttraditionale Gemeinschaften in ländlichen Gebieten. In: Ronald Hitzler, Anne Honer und Michaela Pfadenhauer (Hg.): Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen. Wiesbaden: VS Verlag (Erlebniswelten, 14), S. 251–267.
Dieses Projekt wäre nicht möglich gewesen ohne die große Unterstützung durch alle, die uns ihre Geschichten erzählt haben. Ganz besonders danken möchten wir Heike Barre, Dagmar Barten, Gisela Boelen, Reiner und Winfriede Böning, Familie Bruns, Anke Coldewey, Familie Diekmann, Familie Dollerschell, Thilo Eymers, Wolfgang und Ilona Fritz, Anne Grabhorn, Edda Harms, Regina Hartmann, Klaus Heidemann, Stephan Hennings, Bärbel Hinrichs, Meike und Walter Janßen, Familie Kaemena, Niklas Köhne, Hermann König, Susanne Koschel, Reimer Linnemann, Gisela Malkeit, Familie Meinen, Renate Schröder, Heike Tetz, Lena Wiggers und dem Frauenkreis der ev. Kirchengemeinde Seefeld. VON UND MIT Micha Kranixfeld, Manu Pracht, Marleen Wolter, Felix Worpenberg SOWIE Chor der Seefelder Mühle, Zumba-Gruppe des Seefelder Turnvereins, Roberto Hoffmann, Fanfaren- und Spielmannzug Seefeld e.V., Frauke Kewer, Theatergruppe der Seefelder Mühle, Freiwillige Feuerwehr Seefeld PROJEKTLEITUNG Gesche Gloystein, Mariska Stuijt MUSIK Evelyn Kryger, Hopfen & Malz CATERING Mühlencafé TEAM DER SEEFELDER MÜHLE Anke Eymers, Cornelia Iber-Rebentisch, Adriana Vrhel GEFÖRDERT DURCH