Fahrphysik im Motorsport Physikalische Zusammenh채nge eines Rennfahrzeugs sind ein komplexes Thema, bei dem das Gesamtfahrzeug als ein System betrachtet wird, das statischen und dynamischen Krafteinwirkungen auf seine Komponenten ausgesetzt ist. Diese Reihe lenkt den Blick auf einige Detailaspekte, beginnend mit der Aerodynamik. Text: Hans Fiedler, Joachim Wenzkus
Aerodynamik
N
eben Glück und fahrerischem
Talent ist ein solides Verständnis der technischen Zusammenhänge
am Fahrzeug notwendig, um erfolgreich Motorsport zu betreiben. Auch dem interessierten Zuschauer erschließt sich durch die Kenntnis der wichtigsten physikalischen Abhängigkeiten eine zusätzliche Facette dieses faszinierenden Sports. Ziel der mit diesem Artikel beginnenden Serie soll es sein, dem Leser diese Zusammenhänge vorzustellen. Der Autor will Mut machen, sich intensiver mit den physikalischen Gegebenheiten auseinander zu setzen und gegebenenfalls auch selbst mit verschiedenen technischen Lösungen zu experimentieren. Eine der größten technischen Herausforderungen des Motorsports ist die Beherrschung der hohen Geschwindigkeit. Die Geschwindigkeit hat direkten Einfluss auf die Kräfte, die auf Fahrzeug und Fahrer wirken. Diese Kräfte sind im Wesentlichen der Rollwiderstand, der Beschleunigungswiderstand und natürlich der aerodynamische Widerstand. Speziell dem aerodynamischen Anteil kommt eine besondere Bedeutung zu, denn dieser steigt mit der Geschwindigkeit quadratisch an. Deutlicher wird dieser Einfluss an einem einfachen Beispiel: Beträgt der Anteil der Aerodynamik am Gesamtfahrwiderstand bei einer Geschwindigkeit von 60 km/h nur etwa 10 %, so sind es bei einer Geschwindigkeit von 200 km/h bereits etwa 60 %. Die Geschwindigkeitsabhängigkeit der Aerodynamik ist somit die Ursache, warum diesem technischen Aspekt gerade im Motorsport eine sehr hohe Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Ausgehend von den Zusammenhängen der Aerodynamik sollen in dieser Artikelserie die Abhängigkeiten zu weiteren technischen Aspekten, wie beispielsweise der Fahrwerksauslegung, aufgezeigt werden. Es gilt unter anderem diese Fragen zu klären: • Wie genau entsteht der aerodynamische Widerstand? • Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen aerodynamischem Auf- bzw. Abtrieb und dem Fahrverhalten des Fahrzeugs? • Wie stark ist der Einfluss von Kühlluftöffnungen und Anbauteilen wie Flügel oder Splitterplatten auf die Performance des Fahrzeugs? Der vorliegende einführende Artikel gibt einen ersten Überblick über den Bereich der
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Aerodynamik
motorsport-guide
Motorsportaerodynamik, verweist auf Abhängigkeiten zu anderen Teilaspekten wie Motor
A
und Fahrwerk und spannt allgemein den Rahmen auf, der dann in den folgenden vier Artikeln im Detail ausgeleuchtet wird. Grundlagen der Aerodynamik im Motorsport
W
Der Begriff Aerodynamik setzt sich aus den
S
Teilbegriffen Aero (Luft) und Dynamik (Bewegung unter dem Einfluss von Kräften) zusam-
A = aerodynamischer Auftrieb W = aerodynamischer Widerstand Y = aerodynamische Seitenkraft V = Anströmgeschwindigkeit
men. Die Aerodynamik ist Teil der Fluiddynamik und betrachtet speziell das Verhalten von Körpern, die sich durch die Luft bewegen
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oder von der Luft umströmt werden. Die Vorhersage der an dem jeweiligen Körper angreifenden Kräfte ist ein wesentlicher Untersu-
Abb. 1 Kraftkomponenten an einem Fahrzeug
chungsschwerpunkt dieser Wissenschaft.
Als Erstes zu nennen sind hier der aerodyna-
Dazu ist es das Ziel, die Bewegung der Luft-
mische Widerstand, der Auftrieb und die
partikel beim Umströmen des Körpers mög-
aerodynamische Seitenkraft.
schnittsfläche des Fahrzeugs (F) und Geschwindigkeit (v) bezogen.
lichst exakt zu beschreiben. 1/ ·ρ·v ·c ·F 2 2 W 1/ ·ρ·v ·c ·F 2 2 A 1/ ·ρ·v ·c ·F 2 2 Y
W
=
Wenn soeben von angreifenden Kräften
A
=
gesprochen wurde, so muss dies etwas präzi-
S
=
eine Luftkraft R1, welche aus den sich einstel-
A
= Aerodynamische Auftriebskraft (N)
die anliegende aerodynamische Widerstands-
lenden Druckverhältnissen am Körper resul-
W
= Aerodynamischer Widerstand (N)
(Auftriebs-, Seiten-)kraft berechnen möchte,
tiert. Die bekannten aerodynamischen Größen
S
= Aerodynamische Seitenkraft (N)
muss der im Windkanal ermittelte Beiwert
Auftrieb (A) und Widerstand (W) sind wie
ρ
= Luftdichte
(kg/m3)
nur mit dem dann herrschenden Luftdruck,
auch die Seitenkraft Komponenten dieser
v
= Strömungsgeschwindigkeit (m/s)
der interessierenden Geschwindigkeit und der
resultierenden Luftkraft R1, parallel, senkrecht
cA
= Auftriebsbeiwert (dimensionslose
Bezugsfläche multipliziert werden (siehe
F1.1 F1.2 F1.3
siert werden. Genau genommen gibt es nur
2·W ρ·v2·F
F1.5
F1.1).
Größe) cW
= Widerstandsbeiwert (dimensionslose
cY
= Seitenkraftbeiwert (dimensionslose
Die sich einstellende Luftkraft R1 hängt in
Doch wie entsteht nun eigentlich die ange-
Größe)
tern des Körpers und auch der umströmenden Luft ab. So üben beispielsweise die Geometrie
=
Wenn man dann später (an der Rennstrecke)
und quer zur Bewegungsrichtung des Körpers.
komplexer Weise von verschiedenen Parame-
cW
Größe) F
= Bezugsfläche
des Körpers und auch seine Oberflächenbe-
sprochene Luftkraft R1? Dies lässt sich am besten mit Hilfe der sogenannten Bernoulli-
(m2),
häufig die Quer-
schen Gleichung erläutern.
schnittsfläche des Fahrzeugs g
= pstat+1/2·ρ·v2
nen auch als Staudruck oder dynamischer
g
= Gesamtdruck
Druck (pdyn) bezeichnet und beinhaltet neben
pstat = statischer Druck
der Dichte das Quadrat der Geschwindigkeit.
1/ ·ρ·v2 = 2
schaffenheit einen Einfluss aus. Gleichzeitig sind verschiedene Eigenschaften der Luft, wie
Der erste Teil der Formeln wird im Allgemei-
die Temperatur oder die Dichte, mitbestimmend für die auftretenden Kräfte.
F1.6
dynamischer Druck (Staudruck)
Sogenannte Kompressibilitätseffekte der Luft, die auftreten, wenn am Fahrzeug lokale Über-
pdyn =
1/ ·ρ·v2 2
F1.4
geschwindigkeiten ab etwa 360 km/h erreicht
Sie stellt einen Zusammenhang zwischen den Größen Druck (pstat) und Geschwindigkeit
werden, können vorerst vernachlässigt wer-
Um final auf eine Kraft zu kommen, muss
(v) her und besagt, dass entlang einer Strom-
den. Nur in bestimmten Sonderfällen oder
dieser Druck noch mit einer Fläche (F) und
linie die Summe aus statischem Druck und
beispielsweise bei der Betrachtung von
dem so genannten Beiwert (cW, cA, cY) multi-
dynamischem Druck (Staudruck) konstant
Geschwindigkeitsrekordfahrzeugen muss die-
pliziert werden.
und gleich dem Gesamtdruck bleibt. In Berei-
ser Aspekt berücksichtigt werden.
chen des Fahrzeugs, wo eine hohe lokale StröDie Beiwerte müssen vorab beispielsweise in
mungsgeschwindigkeit vorliegt, herrscht ein
Für die Beschreibung und Vorhersage der sich
Windkanalversuchen individuell für jedes
geringer statischer Druck und umgekehrt.
ergebenden Luftkraft(-komponenten) und
Fahrzeug (bzw. jede Fahrzeugkonfiguration)
Strömungsverhältnisse nutzt die Aerodynamik
bestimmt werden. Hierfür werden die Kraft-
Es gibt Bereiche des Fahrzeugs, wie beispiels-
viele verschiedene Kennzahlen und Formeln.
komponenten (Auftrieb, Widerstand und Sei-
weise die Fahrzeugfront, an welchen die Strö-
Im Rahmen dieser Artikelserie wollen wir uns
tenkraft) über die Windkanalwaagen gemes-
mungsgeschwindigkeit auf Null abfällt. An
auf die wichtigsten und wesentlichen Größen
sen. Diese gemessenen Kräfte werden dann
diesen sogenannten Staupunkten ist der stati-
konzentrieren.
auf die bekannten Größen Staudruck, Quer-
sche Druck gleich dem Gesamtdruck (gleich
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Aerodynamik
hierbei ist die Anpresskraft, mit welcher die Räder auf die Fahrbahn gepresst werden. Neben dem Fahrzeuggewicht ist hier der beschriebene aerodynamische Auftrieb des Fahrzeugs von entscheidender Bedeutung. Zusätzlich zu diesen offensichtlichen Kopplungen zwischen Aerodynamik und Antrieb bzw. Fahrwerk existieren noch weitere Abhängigkeiten. Bedingt durch den Wirkungsgrad des Verbrennungsmotors entsteht neben der Antriebsleistung auch ein sehr hoher Anteil an Verlustwärme, die im Renn- und Fahrbetrieb abgeführt werden muss. Neben Wärmestrahlung und Wärmeleitung ist die Konvektion eine wichtige Komponente, die zur Kühlung beiträgt. Konvektion ist nichts anderes Ein wesentliches Ziel im Motorsport ist es
als der Übertrag der thermischen Energie auf
allerdings, genau dies zu verhindern. Das
ein Fluid (z. B. Luft). Die richtige Positionie-
Fahrzeug soll mit einer hohen Kraft auf die
rung und ausreichende Dimensionierung von
dem Ruhedruck der Umgebung), welcher
Fahrbahn gepresst werden, um hohe Kurven-
Kühlluftöffnungen ist somit ein wesentlicher
gleichzeitig den maximal erreichbaren Druck
geschwindigkeiten zu ermöglichen. Aus die-
Aspekt der Aerodynamik von Rennfahrzeu-
darstellt (siehe F1.5 mit v=0 km/h).
sem Grund versucht man mit Splitterplatten
gen. Hierbei spielt beispielsweise die bespro-
im Frontbereich, Diffusoren, Heckflügeln und
chene Druckverteilung um das Fahrzeug eine
verschiedenen anderen technischen Lösungen
Schlüsselrolle. Idealerweise sind Kühlluftein-
Abb. 2 Druckverteilung an einem Fahrzeug
Aufgrund der Fahrzeuggeometrie ergeben sich allerdings auch
eine möglichst hohe, nach
tritte an der Außenhaut des Fahrzeugs so zu
Bereiche, an
Unten gerichtete Kraft zu
positionieren, dass sie sich in Bereichen eines
erzeugen.
hohen statischen Drucks befinden (dies
welchen sehr hohe Strömungsgeschwindigkeiten auftreten. Der dynamische
Richtige Positionierung und Dimensionierung von Kühlluftöffnungen ist ein wesentlicher Aspekt der Aerodynamik von Rennfahrzeugen
erleichtert das Einströmen). Kühlluftauslässe Es kann also folgendes
hingegen sollten so positioniert und gestaltet
zusammengefasst werden:
werden, dass sie eher einen niedrigen stati-
Aufgrund der Fahrzeugform
schen Druck aufweisen (dies erleichtert das
stellt sich eine gewisse
Ausströmen).
Druckverteilung um das
Druckanteil wird somit sehr groß, was dazu führt, dass
Fahrzeug herum ein, welche zu einer resultie-
Wie sich zeigt, ergeben sich vielfältige Abhän-
der statische Druck an der Fahrzeugoberfläche
renden Luftkraft R1 führt, die wiederum in
gigkeiten und technische Zusammenhänge,
niedriger wird, als der statische Druck der
einzelne Komponenten (Widerstand, Auftrieb,
die sukzessiv in den nächsten Artikeln dieser
freien Anströmung. (man spricht dann auch
Seitenkraft) aufgeteilt werden kann.
Serie dargestellt und ausführlich erläutert werden. Im nächsten Heft werden wir uns
von einem Unterdruck). Die Aerodynamikabteilungen der Automobil-
ausführlich dem Thema Widerstand widmen
Der statische Druck ist immer senkrecht zu
hersteller oder auch die Rennsportabteilungen
und neben dem aerodynamischen Anteil auch
der Fläche gerichtet, auf welcher er wirkt
setzen seit vielen Jahren neben den Wind-
Aspekte des Rollwiderstands und des
(siehe Abb. 2). Wenn also von einem Unter-
kanaluntersuchungen zusätzlich auch auf die
Beschleunigungswiderstands beleuchten.
druck gesprochen wird, dann bedeutet dies
Möglichkeiten der numerischen Strömungs-
nichts anderes, als dass der Druck nicht senk-
simulation (CFD). Mittels Simulationspro-
Möglicherweise erschließen sich dem Leser
recht auf die Oberfläche »drückt«, sondern an
grammen wird versucht, ein realistisches Bild
dann beim nächsten Besuch an der Renn-
ihr »saugt«.
der Druckverteilung um ein Fahrzeug zu
strecke oder bei der nächsten Übertragung im
erzeugen. Ziel ist es, die aerodynamischen
Fernsehen schon Details des Motorsports, die
Am Beispiel des Auftriebs kann nun sehr ein-
Kräfteverhältnisse am jeweiligen Fahrzeug
ihm zuvor nicht aufgefallen sind.
fach verdeutlicht werden, wie aus dem Druck
möglichst genau vorherzusagen und zu
eine Kraft entsteht. Die in Abb. 2 dargestellte
beschreiben. Dies ist eine wesentliche Voraus-
Joachim Wenzkus ist Eigentümer, Hans Fiedler
Druckverteilung zeigt, dass die Drücke auf der
setzung für die optimale Abstimmung aller
Mitarbeiter der Firma aem-GmbH, die Schu-
Oberseite des Fahrzeugs sehr viel kleiner sind
Fahrzeugkomponenten. Nur so kann beispiels-
lung und Dienstleistungen für aerodynamische
als auf der Unterseite. Das Fahrzeug wird also
weise eine optimale Abstimmung zwischen
Entwicklung anbietet.
nach Oben gesaugt. Dieser »saugende« Diffe-
Fahrwiderständen und Antriebsleistung erar-
renzdruck zwischen Fahrzeugober- und
beitet werden.
-unterseite wird mit der Fläche auf welcher er
Ausblick auf die weiteren Themen: Teil 2: Fahrwiderstände
wirkt multipliziert (Druck x Fläche = Kraft).
Die Antriebsleistung muss natürlich auch
Teil 3: Abtrieb, Balance und Fahrverhalten
Es ergibt sich eine Kraft, welche nach Oben
über Fahrwerk und Räder auf die Straße
Teil 4: Anbauteile und Kühlung
gerichtet ist.
gebracht werden. Ein wesentlicher Aspekt
Teil 5: Versuchs- und Messtechnik
[•]