Neubad Magazin
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Kuration vs. Koordination Eine kuratierte Ausgabe des 041 – das Kulturmagazin? Urs, was hast du mir da aufgebrummt: Kuration empfinde ich als eine schreckliche Aufgabe! Als Vormund, Bewahrer oder Aufsichtsbehörde von Inhalten sehe ich mich überhaupt nicht. Ich möchte nicht definieren müssen, was gut, schlecht, wert voll, nur lesbar oder gar minderwertig ist. Spannender empfin de ich es, der Vielseitigkeit der Kulturen und Menschen Raum einzugestehen. Ergo ist diese Ausgabe nicht «kuratiert» sondern lediglich «koordiniert». Matthias Bürgin erläutert einleitend die Entwicklung, den Begriff und die Wirkungen von Zwischennutzungen – ein theoretischer Einstieg sozusagen. Danach: Aller guten Dinge sind drei – Robyn Muffler stellt die drei neuen Zwischen nutzungen auf Luzerns Brachen vor. Es folgt eine Auswahl von Kolumnen – Eindrücke und Geschichten aus dem Mikrokos Und Pirmin Bossart macht sich Gedanken über mos Neubad. In der Mitte des Magazins wird die Leser Professionalität. schaft auf eine Reise zu «Orten der Ambition» geschickt und die ABL reist in die Vergangenheit und wieder zurück in die Im Anschluss gestalten zwei Herren der Universität Zukunft. und Stuttgart die Zukunft des Neubad schon mal um Orpheo Carcano bietet einen Kommentar zu Leerstand und Besetzungen. Claudio Naef hat einen tollen Comic gemalt und die autonome Schule zeigt mit einer nachdenklich-stim Ein menden Geschichte die Notwendigkeit von Freiraum auf. buntes Neubad Magazin in schwarz-weiss. Dieses Neubad Magazin ist Bestandteil eines gemein samen Projektes mit dem 041 – das Kulturmagazin, welches auch die Dokumentation «Schwimmen ohne Wasser» von Laura Ritzenfeld und Christian Felber beinhaltet. Ich danke allen Autorinnen und Autoren sowie dem Neubad- und dem 041-Team für die Komplizenschaft. Einen ausserordentlichen Dank möchte ich an Erich Brechbühl, Loana Boppart und Melanie Schaper für die Gestaltung dieser Ausgabe richten. Und dem Neubad- Grafikpool für die in Rekord-Zeit erstellten Illustrationen. Ich wünsche der Leserschaft gute Unterhaltung mit dem Neubad Magazin. Dominic Chenaux medien@neubad.org → S. 5
→ S. 12
→ S. 18
→ S. 25
→ Beilage
→ S. 29
→ S. 33
→ S. 40
→ S. 44
→ S. 46
2012
Auf den folgenden Seiten findest du an dieser Stelle die Chronik des Neubads
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Schön gesagt…
Freiraum ist halt einfach streng und braucht Zeit. Silvan Glanzmann, Vorstand Verein Kultur Brache (KuBra)
Aufgelistet Meistgehörte Fragen und heimlich gedachte Antworten aus dem Neubad-Büro: Wo geht’s zum Pool? (Signalisation – kennsch?) Wie lange könnt ihr jetzt eigentlich noch bleiben? (Wir sind nicht gekommen, um zu bleiben, sondern um wieder zu gehen.) Wollt ihr nicht den Südpol übernehmen? (Nein!! … also gut.) Wie viele Leute haben im Keller Platz? (Öppe genau 150) Was war dein bisheriges Programm-Highlight? (Furzgurken-Battle) Wo geht’s in den Keller? (Sicher nicht die Treppe hoch!) Ich habe keine Bestätigung für meine Flohmarkt-Reservation erhalten? (Read the fucking Manual!) Wieso sind eure Plakate unleserlich? (Kunst ist gäng ein Risiko.) Dürfen wir uns die Ateliers anschauen? (Aber sicher, einfach niemanden streicheln.) Funktioniert dein Internet auch nicht? (Swisscom sucks.) Ist das hier das Neubad-Betriebsbüro? (Kann man denn nicht mal in Ruhe arbeiten!)
06.03.2012 Ausschreibung Zwischennutzung Hallenbad Biregg
05.04.2012 Erste Besichtigung und Sitzung mit 70 Interessierten aus der Luzerner Kultur- und Kreativszene
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Guten Tag Guten Tag, Ex-Vorstandsmitglieder Ihr Worthülsen-Akroba ten, Schreibtischtäter und Profilie rungsneurotiker habt in den letzten Jahren einige Kulturinstitutionen beinahe an die Wand gefahren. Nebst Mut, Empathie und dem nö tigen Sachverstand fehlte es euch vor allem an Praxiserfahrung. Ein Kulturhaus funktioniert nicht nur
Guten Tag, Stubenhocker Früher sahen wir dich regelmässig an Konzerten in schummrigen Keller-Lokalen. Du warst neugierig und aufmerksam. Man spürte deinen Hunger auf Kultur. Nach einem guten Konzert haben deine Augen geleuchtet. Du bist bis spät geblieben, hast getrunken, diskutiert, wirktest zufrieden. Dann haben wir uns aus den Augen verloren oder genauer gesagt, du bist von der Bildfläche verschwunden. Wir vermuten, du bist entweder Netflix-süchtig oder Vater geworden. Deine Bedürfnis se und Prioritäten haben sich auf jeden Fall verschoben. Vor unserem inneren Auge blätterst du beiläufig im Kulturkalender und bist mit all den neuen Bandnamen überfordert. Du vertraust Spotify inzwischen mehr als den Empfehlungen der lokalen Kulturjournalisten. Dein Geschmack hat sich verändert, du schwimmst mit dem Strom, weil da gegen schwimmen zu anstrengend ist. Eigentlich bist du hoffnungslos verloren. Aber wir geben dich nicht mit Monstersitzungen und Protokol auf. Löse dich von den digitalen len. Vielleicht mal an einer Veran und familiären Versuchungen und staltung mitarbeiten? Vielleicht mal Verpflichtungen und steige wieder nachts um fünf beim Aufräumen mal in einen Keller. Nein, nicht in helfen? Vielleicht mal Bier zapfen? deinen Weinkeller. Zum Beispiel in Vielleicht versuchen, herauszufin die Katakomben im Neubad. Ab den, wie der Laden wirklich tickt? September gibt es dort wieder viele Vielleicht nachfragen, wie’s den Veranstaltungen, die deine Augen Mitarbeitenden so geht? Vielleicht zum Leuchten bringen werden. So die aktuellen Konzepte lesen? wie früher. Vielleicht bescheiden und geduldig Voll Underground, Das Neubad bleiben? Vielleicht mal Verantwor Magazin tung übernehmen? Sich vielleicht vorher überlegen, ob man tatsäch lich genug Erfahrung mitbringt und sich nicht einfach nur wählen lassen, weil Kultur lässig und wichtig ist? Sich vielleicht einfach mal grundsätzlich selber infrage stellen? Fraglich, Das Neubad Magazin
Guten Tag, Michael Städelin Was haben Zwischennutzende und die Verwaltungen im Kanton Luzern gemeinsam? Genau, fehlende Ressourcen! Umso er staunlicher, dass du als Projektleiter Objektmanagement bei der Stadt Luzern bei deiner alltäglichen Arbeit ausserordentliches Engagement, Verständnis, Hilfeleistung und Fleiss einbringst! Du eignest dir Wissen an, recherchierst, tauschst dich aus, zeigst wahres Interesse und vermit telst zwischen den verschiedenen Direktionen und Behörden. Kurz: Du suchst nach schlanken, pragmati schen und vernünftigen Lösungen im dichten amtlichen Paragrafend schungel. Wir fühlen uns als Partner und nicht als Bittsteller – und weil man ja weiss, dass Behörden auch anders können, hast du einen gan zen Bund von Rosen verdient! Anti-Amtsschimmel, Das Neubad Magazin Illustrationen: Keibo Ratvür (Sam Steiner, Wanja Manzardo)
29.05.2012 Neubad-Website geht online
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05.06.2012 Präsentation des Konzepts Neubad im Paulusheim
15.06.2012 Einreichung des Konzepts Neubad bei der Stadt
01.07.2012 Schliessung Hallenbad Biregg Luzern
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Von der Zwischennutzung zum Provisorium – und zurück! Text: Matthias Bürgin, Illustrationen: Alan Romano
Temporäre Nutzungen von brachliegenden Räumen und Flächen gab es schon immer. Der Begriff Zwischennutzung kam auf mit dem Diskurs über Freiräume im Rahmen der 68er-Bewegung, noch konkreter dann mit den Jugendunruhen der 80er-Jahre. Dieser Artikel zeigt 30 Jahre Entwicklung auf: Im Laufe der Jahre wurden Besetzungen von Kooperationen mit Eigentümern abgelöst. Später vereinnahmt und verwässert die Immobilienbranche die positiven Errungenschaften von Zwischennutzungen, während Städte und Gemeinden zögerlich bleiben. Es ist nun Zeit für eine Umkehr. Im Mai 1980 genehmigte der Zürcher Stadtrat 60 Millionen Franken für die Renovation des Opernhauses. Gleichzeitig lehnte er die Forderungen nach einem autonomen Jugendzentrum ab. Dies war der Auslöser für die sogenann ten Opernhauskrawalle Ende Mai 1980, die Bewegung griff bald auch auf andere Städte in der Schweiz über. Zentrale Forderung waren selbstverwaltete kulturelle Freiräume. Die Bewegten kämpften mit unkonventionellen Mitteln wie Sprach witz und neuen ästhetischen Gestaltungsmitteln für mehr kulturelle Autonomie. Sie thematisierten auch sozialpolitische Anliegen wie Wohnungsnot, Drogenelend oder den Überwachungsstaat. Freiraum ist Möglichkeitsraum Der Begriff Freiraum ist mehrfach besetzt. Einerseits ist er im Kontext der Landschafts- und Raum planung ein technischer Sammelbegriff für die nicht bebauten Flächen. Abgeleitet von den Forderungen der Jugendunruhen ist er ein inhaltlich aufgeladener Begriff, der Flächen und Räume meint, welche weniger Re gulierungen aufweisen, möglichst freien Zugang bieten und kulturelle, gesellschaftliche, individuelle und wirt schaftliche Innovation ermöglichen sollen. Heute werden solche Räume auch als Möglichkeitsräume bezeichnet: «Der Begriff verweist darauf, dass Nutzungen nicht eindeutig definiert sind, dass im Gegenteil Aktivitäten und Praktiken ausgeübt und angewandt werden können, welche ein zukunftsgerichtetes Ausprobieren von Inno vationen des Alltags beinhalten. Möglichkeitsräume sind Freiräume im engsten Sinn, die aber auch als Bühne für bestehende und bekannte Nutzungen dienen, welche trotz gesellschaftlicher Legitimation im übrigen Sied lungsraum keine Bleibe finden respektive sich bei der Nutzungskonkurrenz an einem Ort nicht durchsetzen kön nen. Solche Räume sind nach formeller Planungsrhetorik oft unfertige Orte; sie spielen aber eine wichtige Rolle bei der Selbstentfaltung, bei einer selbstbestimmten Nutzung und für eine verantwortungsvolle Teilhabe an der Stadtproduktion.» (Quelle: Mayer, Schwehr, Bürgin: Nachhaltige Quartiersentwicklung, 2010)
30.08.2012 Erste Medienmitteilung zum Projekt
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Zwischennutzung als Freiraum Die Forderung nach Freiraum konnte vielerorts in brachliegenden Indus trie- und Gewerbearealen befriedigt werden. In Zürich dominierten solche Nutzun gen in Zürich-West, in den Stadtkreisen 4 und 5. Als Leitnutzungen dieser Bewe gungen hatte Bern sein Zaffaraya, Genf die Squatter-Szene und das Artamis, Basel die Alte Stadtgärtnerei. Die unzähligen temporären Räume vor allem für Kultur, Kreativwirtschaft und Clubs in Zürich waren weniger eigentliche Projekte, aber sie haben durch ihre Dichte und Intensität einen Boom ausgelöst, den die Immobili enbranche aufgegriffen und mit dem Nimbus der sogenannt «lebendigen Stadt» bis heute einen neuen Stadtteil auf der Basis der Verwertungslogik entwickelt hat. Verträge statt Besetzungen Besonders in Basel entwickelte sich nach der Räumung der Stadtgärt nerei eine Reihe von Zwischennutzungen, die im Kollektiv von der Basis her ent wickelt worden sind. Die Rolle von Eigentümern und Behörden beschränkte sich auf das Tolerieren und Bewilligen. Trotzdem – oder gerade deshalb – hatten sie eine grosse Ausstrahlung auf das städtische Leben. Dazu gehören das Raumschiff Schlotterbeck, welches –schweizweit erstmalig – mit einem befristeten Mietver trag geregelt wurde, weiter die Stückfärberei, Frobenius, Bell, Kiosk AG und die Villa Epoque. Der Werkraum Warteck und das Unternehmen Mitte waren von Anfang an darauf angelegt, permanente Nutzungen zu realisieren, allerdings im Geist der Zwischennutzung. Ausstrahlung in den Stadtraum Alle diese Zwischennutzungen in Basel waren Projekte. Es waren Bot tom-up-Projekte, und sie waren kulturell und gesellschaftlich ausgerichtet. Mit dem Zwischennutzungsprojekt nt/areal auf dem ehemaligen Güterbahnhof der Deutschen Bahn öffneten die Initianten eine neue Dimension: Sie deklarierten Zwischennutzung als Standortentwicklung und postulierten damit, dass Zwi schennutzung nicht mehr nur Selbstzweck von kreativen Minderheiten sei, son dern dass damit auch Quartier- und Stadtentwicklung betrieben werden kann, indem frühzeitig urbane Qualitäten erreicht werden können, die sich bei her kömmlichen Arealentwicklungen erst viel später, wenn überhaupt, einstellen. Vie le Zwischennutzungen weltweit waren Nährboden für kulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Innovationen, welche auch Einfluss auf die nähere oder wei tere Umgebung hatten und einen Austausch pflegten; damit nahmen sie einen positiven Einfluss auf die Standortqualität.
28.09.2012 Jury wählt Neubad als Gewinnerprojekt für die Zwischennutzung Hallenbad Biregg
22.10.2012 Erste Open Pool Austauschveranstaltung mit dem Netzwerk
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Zwei Grundtypen temporärer Nutzungen Weder Raumtyp noch Dauer noch Nutzungsart allein sagen etwas aus über die Bedeutung temporärer Nutzungen für das Gemeinwesen. Bezüglich der Typisierung temporärer Nutzungen von Räumen und Aussenflä chen sind zwei extreme Pole zu unterscheiden: das introvertierte Provisorium und die extrovertierte Zwischennutzung. Eigenschaften Temporäre Nutzungen von Räumen und Flächen können geplant oder zufällig die nachstehenden Ei genschaften innehaben, mit jeweils mehr oder weniger Ausprägung auf die linke oder die rechte Seite der Ge gensatzpaare. Für jede temporäre Nutzung lässt sich also ein individuelles Profil zwischen introvertiert und ext rovertiert darstellen.
Introvertiert → Extrovertiert → Provisorium Zwischennutzung
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vermietungsorientiert programmatisch Steuerung extern
Steuerung intern
Delegation Selbstverantwortung indivuduumsorientiert gemeinschaftsorientiert bestandesorientiert innovationsorientiert indifferent/gleichgültig identitätsstiftend Erhalt Status Quo
Nutzungsentwicklung
Bewirtschaftung Bespielung Raumbedürfnisse Entwicklungsbedürfnisse eher kurzfristig
eher langfristig
verwalten gestalten Administration Selbstorganisation top down
bottom up
Zusammenfassung introvertiert extrovertiert Wirkungen Die Wirkungen oder Vorteile von temporären Nutzungen können aus dem jeweiligen Profil abgeleitet werden: Je mehr die Merkmale einer temporären Nutzung in ihrer Ausprägung Richtung introvertiertes Provi sorium tendieren (linke Seite), umso eher werden sie nur die aufgeführten Basisnutzen auslösen. Je mehr die Eigenschaften Richtung extrovertierte Zwischennutzung gehen (rechte Seite), umso mehr können sie auch die aufgelisteten Zusatznutzen bewirken.
21.11.2012 Gründungsversammlung Verein Netzwerk Neubad
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Basisnutzen — Ertragsverbesserung gegenüber Leerstand (je nach Vertrag) — Mehr Mittel für Planung — Bestandessicherung durch Pflegefunktion — Vorbeugen gegen Vandalismus und Littering — Sicherung/Ersatz von Arbeitsplätzen — Befriedigung lokaler Raumbedürfnisse
Zusatznutzen Für Standort: — Aufwertung — Adressbildung — Imageaufbesserung — Neue Vermarktungsargumente — Höhere Grundstückspreise — Wegbereitung für Umnutzungen — Reduktion des Handlungsdrucks Für Stadt/Gemeinde/Quartier: — Schaffung von Öffentlichkeit und Identität — Bessere Lebensqualität im Umfeld — Vernetzung mit Nachbarquartieren — Belebung Für Ökonomie: — Nährboden für Start-ups — Stabilisierung und Unterstützung der lokalen Ökonomie — Chance für Solidarökonomie Für die Kultur: — Nischen für kulturelle Entfaltung — Stätten für Produktion und Darbietung — Potenzial für neue kulturelle Trends Gesellschaft: — Chancen für Experimente und Innovation — Förderung der Selbstorganisation — Stärkung des Sozialkapitals — Raumproduktion statt Raumkonsum — Netzwerkbildung — Demokratisierung der lokalen Entwicklung — Mitwirkung statt Partizipation — Erhalt soziale Artenvielfalt
Die Darstellung ermöglicht es, jede temporäre Nutzung bezüglich ihrer Wirkung zu charakterisieren und auch den beabsichtigten oder tatsächlichen Beitrag an die Stadt-, Gemeinde- oder Quartierentwicklung zu benennen.
2013
15.01.2013 Informationsveranstaltung für Anwohnende
21.01.2013 Unterzeichnung Nutzungsvereinbarung mit Stadt Luzern
ab 25.01.2013 Wöchentliches Vereinsbeizli jeweils am Freitagabend
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Fokus reduziert auf Imagepflege und Adressbildung Ab ca. 2010 erhielt die öffentlichkeitswirksame Komponente von Zwi schennutzungen bei Behörden und in der Immobilienbranche mehr Beachtung. Den Behörden ging es einerseits um die Bereitstellung von preisgünstigem Raum für Kultur und Kreativwirtschaft, andererseits um Imagepflege und Stadtmarketing: Viele extrovertierte Zwischennutzungsprojekte lieferten positive Argumente für die Akquisition von Neuzuzügern und Touristen. Immobilieneigentümer setzten mit temporärer Vermietung vermehrt auf die Vermeidung zusätzlicher Kosten, ebenso diente diese als Mittel gegen Hausbesetzungen. Grosse Immobilienunternehmen und Projektentwickler akzentuieren entweder die kurzlebigen und trendigen Aspek te temporärer Nutzungen oder sie integrieren Zwischennutzungen erst dann, wenn die Einzelheiten einer Umnutzung schon feststehen. Somit entfällt der Aspekt des Ausprobierens und der Wegbereitung für die geeignete ortsrelevante Umnutzung. Quartierfreundliche Leuchttürme In den letzten zehn Jahren haben vor allem bei Objekten von privaten oder institutionellen Eigentümern extrovertierte Zwischennutzungen tendenziell abgenommen. Mehr Objekte haben in letzter Zeit hingegen städtische Immobili enabteilungen oder die SBB für quartierdienliche und stadtrelevante Entwicklung zugänglich gemacht, davon haben sich einige zu Leuchtturmprojekten in Sachen Stärkung des Quartierlebens entwickelt – zum Beispiel Neubad Luzern, Alte Feuerwehrkaserne Viktoria Bern oder Lattich St. Gallen. Unten entwickelt – oben angekommen Was auch deutlich wird: Zwischennutzungen müssen sich immer mehr auch dem Trend der «Null-Fehler-Kultur» beugen, was ihrem Wesen eigentlich zu tiefst widerspricht. Genügten Ende des letzten Jahrhunderts noch ein paar per sönliche Gespräche zum Abschluss eines Mietvertrags für eine Zwischennutzung, so sind heute aufwendige Konzepte und Businesspläne erforderlich, was die Kre ativität und Experimentierlust oft im Keim erstickt. Zudem ergeben sich aus der Professionalisierung der öffentlichen Verwaltung weitaus höhere Anforderungen in Sachen Bewilligungen. Und mittlerweile sind es die Stadtoberen, welche sich um das Gelingen von Zwischennutzungen kümmern – gerade erlebt anfangs Ap ril 2018, als der Stadtpräsident und der Finanzvorsteher in Schaffhausen die Zwi schennutzung Kammgarn-West einweihten. Aussenräume neu im Visier Während in den 90er-Jahren Zwischennutzungen sich mehrheitlich in Ge bäuden abgespielt haben, sind in den letzten 15 Jahren vermehrt auch Projekte auf Aussenflächen dazugekommen. Die meisten dienen der besseren Versorgung von Quartieren und Nachbarschaften mit Grünraum, der nicht nur ökologische Zwecke erfüllt, sondern auch viele gemeinschaftliche Aktions- und Gestaltungsmöglichkei ten bietet. Es entsteht also echter Freiraum, der sonst in vielen Siedlungen fehlt. Sol che Projekte finden nur auf Grundstücken statt, die sich im E igentum von Kommu nen befinden. Wichtige Beispiele sind: Stadionbrache Z ürich, Guggachbrache Zürich, Wunderkammer Opfikon, Warmbächli Bern, Terrain Gurzelen Biel, Klybeckquai Basel. Zweifelhafte Vermittler Ebenfalls im Trend sind intermediäre Akteure, die zwischen Angebot und Nachfrage vermitteln, also zwischen Leerstand und Raumbedürfnissen. Sol che Institutionen sind in Deutschland seit Langem als Zwischennutzungsagen turen bekannt; sie betreiben nebst Administration und Vermittlung auch pro grammatische Entwicklung und Betreuung. Daraus ergeben sich Mehrwerte für die Gesellschaft. In der Schweiz allerdings agieren solche Institutionen meist als rein kommerzielle Vermittler mit einem neuen Geschäftsmodell (NZZ, 1.9.2014), das andere Medien kritisch thematisieren (u. a. Beobachter, 20.8.2013). Es han delt sich also um spezialisierte Immobilienverwaltungen, die keinen gesellschaft lichen Mehrwert erzeugen, jedoch mit dem positiv besetzten Begriff Zwischen nutzung operieren und ihn daher malträtieren. Es sind parallel dazu einige kleine und sporadisch agierende Vereine tätig, die nicht nur vermitteln, sondern auch extrovertierte Aspekte integrieren, unter anderen Verein Zitrone Zürich, Verein INzwischen Winterthur, Verein Kombo Zürich. 24.02.2013 Neubad-WG zieht ein
11.03.2013 Neubad lanciert eigenes Crowdfunding
16.–24.03.2013 Fumetto im Neubad
26.03.2013 Vereinsgründung Neugarten Luzern
01.04.2013 Baustart
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(Zu) viele Provisorien Als Folge der vielen Leerstände bei unterschiedlichen Liegenschaftsty pen ist die temporäre Vergabe von Räumen salonfähig geworden. Dazu hat ei nerseits das Wissen um den Basisnutzen eine Rolle gespielt, andererseits erleich tern die Dienstleistungsangebote der intermediären Akteure die Umsetzung. Die Immobilienberatungsfirma Wüest & Partner (W&P) widmete im Immomonitoring 2017|2 dem Thema ein ausführliches Kapitel, worin unter anderem auch eine Aus wertung von 1030 Immobilien-Inseraten erfolgt, die 2015 und 2016 mit dem Kri terium «temporäre Vermietung» gefunden wurden. Allein für Zürich fand W&P in diesen zwei Jahren 417 Angebote für temporäre Nutzungen. Allerdings dürfte es sich dabei nur in den wenigsten Fällen um Zwischennutzungen im extrovertierten Sinn gehandelt haben, sondern eben um Provisorien. Fälschlicherweise betitelte der Tagesanzeiger diese Situation mit «Zwischennutzungen boomen» (20.5.2017). Generell ist festzustellen, dass Medienschaffende mit dem Begriff Zwischennut zung doch eher unpräzise umgehen. Nachholbedarf in der Schweiz Eine unveröffentlichte Studie zur Praxis von 16 Schweizer Städten, wie man verwaltungsintern Zwischennutzung behandelt, ergab 2014 folgendes Bild: Es bestehen grosse Wissenslücken hinsichtlich des Potenzials von Zwischennut zungen sowie von möglichen Förderinstrumenten. Es gibt kaum eine nachvoll ziehbare Förderung von Zwischennutzungen. Die Initiative zur Verbesserung von Zwischennutzungen kam selten seitens Verwaltung oder Exekutive, sondern war häufig das Resultat parlamentarischer Vorstösse. Gelegentlich wird eine Praxis des Ermöglichens angewendet und im Bewilligungsverfahren werden Ermessens spielräume zugunsten von Zwischennutzungen ausgelegt; beispielsweise hat der Kanton Basel-Stadt ein Formular geschaffen, in dem Gesuchstellende das öffent liche Interesse an einer Zwischennutzung geltend machen können, und die Stadt Luzern hat eine Erleichterung zur Zonenkonformität geschaffen. Allgemein wird Zwischennutzung aber eher noch als Marketinginstrument verstanden denn als wirkungsvoller Ansatz zur Stadt- oder Quartierentwicklung.
02.05.2013 Fitness-Veranstaltung «Fit im Schritt» zu Videos von Jane Fonda
13.05.2013 Neubad sammelt 37’605 CHF bei Crowdfunding-Aktion
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Positive Zeichen Es gibt aber auch positive Zeichen: In einigen grossen Städten wurden in den letzten Jahren verwaltungsinterne Stellen geschaffen, die sich mit Zwi schennutzungen beschäftigen: Basel hat eine Anlaufstelle Zwischennutzung im Präsidialdepartment, Bern eine Koordinationsstelle Zwischennutzung bei der Im mobilienverwaltung und Zürich hat mit der Raumbörse bei den Sozialen Diensten eine Dienststelle, die aktiv Zwischennutzungen anbietet und bewirtschaftet. Die se drei Institutionen tauschen sich auch in unregelmässigen Abständen gegensei tig aus, jeweils mit Einladung von weiteren Städtevertreter/innen und externen Fachleuten. Einige Beispiele zeigen zudem, dass auch Projektentwickler und kleine Gemeinden Zwischennutzung extrovertiert und proaktiv einsetzen: In Attisholz kooperiert der Bau- und Immobiliendienstleister Halter AG als Eigentümer der gi gantischen ehemaligen Zellulosefabrik mit dem regional verankerten und kultu rell orientierten Verein BTS, um als Einstieg in die Arealentwicklung schrittweise Öffentlichkeit zu schaffen. Die kleine Gemeinde Lichtensteig im Toggenburg be klagt eine Entleerung der historischen Altstadt. Eine der Massnahmen zur Wieder belebung ist die demnächst startende extrovertierte Zwischennutzung des Rat hauses mit Kultur und Kreativwirtschaft. Oder die Aargauer Gemeinde Suhr: In Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Nordwestschweiz werden diverse kleine Liegenschaften zwischengenutzt, um eine gemeinwohlorientierte Quartierent wicklung zu sichern. Auf der Informationsebene waren oder sind der Bund und EspaceSuisse aktiv: Das Bundesamt für Umwelt hat schon 2010 einen umfassenden Leitfaden Zwischennutzung online gestellt. Und EspaceSuisse, der Schweizer Verband für Raumplanung, dem alle Kantone und die Hälfte der Gemeinden angehören, hat innert Jahresfrist in seiner Zeitschrift «Inforaum» drei Beiträge zur Zwischennut zung publiziert, darunter einen über die leidige Bewilligungsproblematik. Auch auf der Ende Juni 2018 eröffneten neuen Info-Plattform densipedia.ch behandelt EspaceSuisse das Thema ausführlich. Somit ist klar: Das Wissen über das Wesen und die Chancen von extrovertierter Zwischennutzung, über alle Einzelheiten, wie eine Zwischennutzung erfolgreich initiiert und gemanagt werden kann, ist allge mein zugänglich. Wieder mehr Zwischennutzung statt Provisorium Dass weiterhin Austausch- und Handlungsbedarf besteht, belegen die Zwischennutzungstage im Neubad und in der Romandie. Es geht darum, die Ak teure von extrovertierten Zwischennutzungen noch stärker zu vernetzen und de ren Aktivitäten als beispielhaft und nachahmenswert bekannt zu machen. Weite re Städte, Gemeinden, Eigentümer und Projektentwickler sollen den hohen Wert für die Zivilgesellschaft und die Siedlungsentwicklung erkennen und ihre Zurück haltung ablegen können. Es gilt, allen Playern verstärkt und mit geeigneten Mit teln aufzuzeigen, dass extrovertierte Zwischennutzungen mehr bringen als intro vertierte Provisorien. Und es gilt, all jenen Menschen, die ihre Lebensumgebung mit zukunftsweisenden Ideen aktiv mitgestalten möchten, Mut zu machen und den Weg zu ebnen, ihnen Mitgestaltung statt nur Partizipation zu ermöglichen. Matthias Bürgin ist Geograf und Raumplaner, halb freiberuflich, halb an der Hochschule Luzern. Er kennt Zwischennutzung seit 25 Jahren aktiv als Journalist, Mieter, Verwalter, Projektinitiant, Forscher, Berater und Autor. www.zwischennutzung.ch, www.densipedia.ch
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«Freiraum ist streng!» Text: Robyn Muffler, Illustrationen: Peter Bräm
KuBra, Eisenplatz und Platzhalter: Unter diesen Namen werden in Luzern bald drei Brachen genutzt, bespielt und belebt. Was sind ihre Absichten und an wen richten sie sich? Begegnen die Projekte denselben Herausforderungen? Kann eine Zwischennutzung Dauerhaftes versprechen? Vertreterinnen und Vertreter der drei Vereine tauschen sich am runden Tisch im Neubad aus. In Luzern staut sich die Hitze, wer kann, begibt sich in Wassernähe. Das dürfte sich bald ändern – in vielerlei Hinsicht, denn unter glühender Sonne liegen in der Stadt und in Emmen drei Flächen brach, denen Leben eingehaucht wer den soll: Beim Verkehrsknotenpunkt Seetalplatz sind es zwei riesige Baufel der, die im Moment noch als Hitzespeicher und Unort die Landschaft zieren. Die Brache beim Eichwäldli hat soeben einen erfolgreichen WM-Start hinter sich – ein Glücksfall, denn eine Schlechtwetteralternative gab es nicht. In der Industriestrasse geht’s bereits los mit Hühnern und Kinderbaustelle. CH:
Catherine Huth Kulturschaffende und Projektleiterin, Produktionsleiterin EichenbergerSzenografie; Im Vorstand Verein Platzhalter (Seetalplatz) NH: Noemi Hess Ab-und-zu-Lehrerin, Projektmitgestal terin; Im Vorstand Verein Eisenplatz (Industriestrasse) SG: Silvan Glanzmann Grafiker, Erwachsenenbildner, Projekt leiter; Im Vorstand Verein Brache Eichwäldli (KuBra) RM: Drei höchst diverse Projekte – sowohl in ihrer Organisationsstruktur als auch im Grössenumfang und in der Zielsetzung. Wie kam es dazu und was ist da am Entstehen? SG Wir, eine Gruppe von Nachbarn, haben die Idee gehabt, auf der Brache beim Eichwäldli ein Public Viewing der WM-Spiele zu veranstalten. Daraus
wurde dann eine grössere Sache – mit einer Kiste lauwarmem Bier und einer Leinwand ist es noch nicht gemacht. CH: Euer primäres Anliegen ist es, aus dem Quartier heraus den Leerplatz zu bespielen? SG: Grundsätzlich ja. Vielleicht kennt ihr das Konzept der Gemein schaftszentren, der sogenannten «GZs», in Zürich? Das sind von Stiftun gen im Auftrag der Stadt ermöglichte Quartiertreffpunkte, wo es Werkstätten hat oder Kleintiere gehalten werden, die Kinder aus dem Quartier pflegen. Von diesem Konzept bin ich fasziniert – und aus meiner Sicht wäre es schön, wenn es bei der KuBra in diese Richtung ginge. NH: Bei uns gibt es Hühner, die von einer Gruppe von 20 Leuten abwechselnd gefüttert und gepflegt wer den. Das funktioniert super! RM: Das Projekt Eisenplatz ist angelaufen, im Gegensatz zu den beiden andern Zwischennutzungen, die noch in der Startphase stecken. Was sind bereits für externe Projektanfragen bei euch eingegeben worden? NH: Schon so einiges. Da kam die Idee, Container aufzustellen und dar aus Ateliers zu machen, einen Foodtruck aufzufahren, eine Kinderbaustelle zu bauen, eine Wind- und Wasserwerk statt – die Garten- und eben auch die Hühnergruppe. CH: Wir haben eine andere Geschichte. Während sich bei euch die Zwi schennutzung aus dem Quartier heraus gebildet hat, kam bei uns der Ans toss für das Projekt von oben. Es gab
24.08.2013 Neubad-Benefiz in der Schüür
01.–07.09.2013 Neubad Start Eröffnungswoche
10.09.2013 Erste Teamsitzung Neubad-Betriebsteam
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Kubra Eichwäldli, 6005 Luzern, www.kubra.ch Unter dem Namen KuBra fand auf der Brache während der WM 2018 in Russland ein beschauliches Public Viewing statt. Bald war die Brache als Ort des gemütlichen, ungezwungenen Beisammenseins bekannt und wurde von Fussball fans sowie Familien rege besucht und genutzt. Eine weitere Phase der Zwischen nutzung bis Ende 2018 ist mit der Stadt Luzern ausgehandelt. Bis Ende Jahr soll mit der Stadt Luzern und allen Beteiligten zudem ein neues Nutzungskonzept für die nächsten Jahre ausgearbeitet werden.
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Eisenplatz Industriestrasse, 6005 Luzern, www.eisenplatz.ch Im Mai 2018 startete das Zwischennutzungsprojekt an der Industrie strasse: Beete wurden aufgeschüttet, es wurde angepflanzt und es wird ein To matenhaus aus alten Fenstern gebaut. Ein Gemeinschaftsgarten entsteht und das flexible Rundzelt am Eingang des Platzes steht. Die ersten Veranstaltungen wurden durchgeführt und bald soll ein Vereins-Bau-Wagen sowie eine Kinderbau stelle noch mehr Leute auf den Eisenplatz locken.
05.12.2013 Erstes Nutzertreffen
11.12.2013 Vereinsversammlung Netzwerk Neubad
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einen Ideenwettbewerb von Emmen zusammen mit dem Kanton Luzern, bei dem die Eingaben von EichenbergerSzenografie und diejenige des B-Sides überzeugten. Gemeinsam haben wir dann im Auftrag des Kantons ein Kon zept für die Zwischennutzung entwi ckeln dürfen und uns inzwischen zu einem Verein zusammengeschlossen. Aber die Überlegungen sind natürlich dieselben wie bei euch: Was ist sinnvoll für den Ort, für die Emmener Bevöl kerung, für das zukünftige Quartier. RM: Um eine Geschäftsstelle zu finanzieren, müsst ihr natürlich zu einem bestimmten Grad kommerziell funktionieren? CH: Klar, wir arbeiten nach einem Geschäftsmodell. Wir haben Container, die uns vom Kanton zur Verfügung gestellt werden. Für diese zahlen wir Miete, und diese Miete müssen wir wieder reinbringen. Für das Gastrono mieangebot arbeiten wir mit einem Partner zusammen. Ein weiterer Teil der Finanzierung soll über Projekte und Partnerinnen und Partner laufen. Es ist aber überhaupt nicht der Sinn, mit dieser Zwischennutzung gross zu verdienen. NH: Wir versuchen, finanziell unabhängig zu bleiben. Wir wollen keinen Konsumzwang – nichts muss, so gesagt, rentieren. Das ist nur möglich, weil sich alle freiwillig engagieren und die meisten benötigten Materialien in der Nachbarschaft ausgeliehen werden können. SG: Geld aufzutreiben braucht halt immer enorm Ressourcen! Ehrlich gesagt – bei unserem WM-Public-Vie wing haben wir einfach mal gemacht. Das war vielleicht etwas blauäugig. Wäre das Wetter oft schlecht gewesen, hätten wir bereits rote Zahlen. RM: Das Gelingen eurer Projekte hängt also nicht primär von den Finanzen ab, sondern von den Menschen, die sich und ihre Ideen mit einbringen und solche Plätze aktiv nutzen wollen. CH: Das ist ein Thema von uns al len. Man sucht nach Leuten, die bereit sind, zu investieren, finanziell oder ideell. Investieren in die Zukunft, auch wenn eine Zwischennutzung selbst, wie es der Wortlaut schon andeutet, so direkt nie etwas total Zukunftsträchtiges ist, aber die Chance bietet, etwas zu verändern. NH: Wir haben gemerkt, dass gerade dort auch die Schwierigkeiten beginnen. Das Bedürfnis nach Platz
2014
14.01.2014 Medienorientierung «fehlende Liquidität»
wird in Luzern immer wieder geäussert, und wenn er dann da ist, kommen all diese Ideen … Aber das dann wirklich von A bis Z durchzudenken und umzu setzen – daran kann es scheitern. SG: Oft ist es so: Solange den Leuten nichts geboten wird, sind sie eher überfordert mit einem öden, leeren Platz. NH: Genau. Zudem verlangen solche Projekte Ausdauer. Sicherlich ist es noch etwas anderes bei einem Engagement auf freiwilliger Basis, als wenn man etwas tut, wo Leute Geld reinste cken und Geld verdienen wollen. SG: Es ist nicht einfach wie eine Buvette, wo man zum Apéro hingeht. Natürlich gibt’s Veranstaltungen, wo es ein Publikum braucht, das konsumiert. Aber so ein Platz soll vor allem dazu anregen, in die Rolle des aktiven Machens zu wechseln. Und dazu stellen wir Infrastruktur und einen Rahmen zur Verfügung. CH: Hier stellt sich bei uns die ganz besondere Herausforderung: Wir wollen nicht einfach was Cooles ein richten und dann kommen die Leute. Wir müssen zuerst die Leute aus Em men für den Ort begeistern können, damit sie diesen einnehmen, ihn sich aneignen und dann auch nutzen und beleben. RM: Wie macht man den Leuten einen Unort wie den Seetalplatz schmackhaft? CH: Viel telefonieren, viele Gespräche führen! Wir sind im Moment stark auf der Suche nach Menschen aus Em men und Emmener Vereinen, die etwas auf dem Platz realisieren, präsent sein oder etwas ausprobieren möchten. Das Potenzial ist eigentlich riesig! RM: Und ist hierbei die Idee des Temporären nicht hinderlich? CH: Das Temporäre ist halt ein fach Voraussetzung. Man muss relativ schnell starten, nicht abwarten. Es ist aber ein Rahmen, der anspornt, der sagt, hopp, es muss was passieren! NH: Es ist eher so, dass man gerade deshalb Lust hat, das vorhan dene Potenzial voll auszuschöpfen. Und das Ziel ist, dass unsere Ideen in die Nachfolgeprojekte miteinfliessen. Dass sie merken, hey, so ein Hühnerstall ist etwas Belebendes, das wollen wir einbinden in unsere Quartierplanung. Insofern ist eine Zwischennutzung, zumindest ideell betrachtet, gar nicht so temporär. Sie trägt aktiv zur Stadtund Quartierentwicklung bei. 06.02.2014 Benefiz in der Schüür Luzern
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Zudem – ich weiss ja auch SG: nicht, was ich in fünf Jahren machen werde. CH: Unser Ziel ist es, dass Visio nen entstehen, wie der Seetalplatz mal aussehen, was dort mal stattfinden soll. Oder möchte man einfach einen weiteren Ort mit fünf Bänken und drei Bäumen, wo mittags kurz ein Sandwich verzehrt werden kann inmitten von Hochhäusern? RM: Welchen Langzeiteffekt haben denn solche Zwischennutzungen? NH: Sie sind Räume, die es ganz konkret ermöglichen, an der Zukunft herumzudenken und diese mitzugestalten. SG: Ich finde es schon lustig. Kaum ist der letzte Match fertig, ist bei uns kaum mehr jemand auf dem Platz. Die Idee von Privatgrundstück, von Besitz, ist bei uns so tief in den Köpfen drin, und man ist gehemmt, wenn es mal nicht nach diesen Regeln funktioniert. NH: In Luzern ist eine Zwischen nutzungskultur noch nicht angekom men. Es fehlt schlichtweg der Mut, sich Raum anzueignen. Dieser muss geweckt werden. CH: Und nun stellen sich all die Fragen: Was sind die Vorstellungen von Freiraum? Was ist dieser Schrei nach Freiraum? Und wie nützen die Emmener diesen neuen Ort? NH: Offenbar kämpfen wir alle mit dem Gleichen. Nämlich: dass Freiraum ein Bedürfnis ist, es dann aber schwierig ist, die Leute abzuholen. SG: Freiraum ist halt einfach streng und braucht Zeit. Und Zeit ist auch immer eine Ressourcenfrage. RM: Frei-Raum – ein Wort mit (zu) grossen Versprechungen? Wird nicht automatisch selektioniert, weil Menschen mit bisweilen mehreren Jobs sich die Zeit schlicht nicht nehmen können? CH: Wir versuchen sehr, solchen Dynamiken entgegenzuwirken, indem wir uns an eine sehr breit gefächerte Nutzerschaft richten und auch die Möglichkeiten und Aktivitäten auf unserem Platz höchst divers gestalten. Auch wer keine Zeit hat, Eigenes dort zu verwirklichen, soll beispielsweise mit den Kindern auf den Spielplatz kom men können. SG: Über die eigenen Kreise hinauszudenken ist wohl immer eine Schwierigkeit. Bei der KuBra ist jedoch eine sehr heterogene Gruppe vertre ten: Kulturschaffende, Handwerker, Sozialpädagoginnen, Landschaftsgärt
ner, Leute aus der Gastronomie … Auch altersmässig variiert es, die meisten sind zwischen 25 und 45 Jahre alt. NH: Schwierig ist sicher, dass man durch das Annehmen von Projekten auch Projekte ablehnen muss und dadurch die Gefahr besteht, gewisse Kreise auszuschliessen. Natürlich möchten wir das nicht, man kann aber nicht wirklich verhindern, dass durch die Zusammensetzung des Vorstands und der Vereinsmitglieder eine ge meinsame Ideologie entsteht. Schön wäre es, wenn Menschen, die sich nicht so angesprochen fühlen, jedoch das Bedürfnis nach Platz haben, sich bei uns einbringen und dadurch das Ganze auflockern. SG: Exklusivität zu vermeiden ist tatsächlich nicht ganz einfach. Aber ja, warum nicht ein Buurezmorge mit der SVP? (Lacht) Ich finde wichtig, dass die Menschen wieder mehr miteinander ins Gespräch kommen, diskutieren, strei ten, einander zuhören. Viele offene Fragen. Wir blei ben noch eine Weile sitzen, plaudern weiter über Raum, Zeit und die Welt der Möglichkeiten. Es stimmt schon. Raum – aber was dann? Ein Raum alleine tut, bewegt, ändert nichts. Aber wenn der Bedarf da ist, kann er eine Ort schaft umstülpen. Was sich in diesem Gespräch herausgestellt hat: Eine Zwischennut zung ist immer auch Zukunft. Ein Platz, der nicht spröde vor sich hindümpelt, sondern zum lebendigen Quartiertreff punkt wird, wo Menschen miteinander in Kontakt kommen, gerne Zeit ver bringen und Ideen umsetzen, verändert etwas in den Köpfen. Wer dann, nach der Zwischennutzung, einen lieblosen grauen Block an derselben Stelle zu pflanzen beabsichtigt, sollte es schwe rer haben.
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Platzhalter Seetalplatz, 6020 Emmen, www.platzhalter.lu Bevor am Seetalplatz in Emmen das «Zentrale Verwaltungsgebäude» des Kantons Luzern gebaut wird, stellt die Dienstelle Immobilien des Kantons Lu zern einen Teil der Areale für eine Zwischennutzung zur Verfügung. Die Planung und Umsetzung übernimmt der Verein Platzhalter. Eröffnung ist im Herbst. Die Bevölkerung und Vereine sind vorgängig eingeladen, Ideen einzubringen. Platz sucht Halter/Halterin Ich, offen, (fast) unberührt, attraktiv, urban und aufgeräumt bin interessiert an deiner temporären, aber ernst gemeinten Gesellschaft für ganz kurz oder längstens für drei Jahre. Ich überlasse dir in unserer Partnerschaft gerne viel Raum: Auf 9000 m2 und in 40 klimatisierten Containern mit Flächen zwischen 13 und 42 m2 findest du bestimmt den richtigen Platz für eine Veranstaltung, einen Pop-up-Laden; Aktionen, ein Atelier oder ein Büro, für Ausstellungen oder deine ganz einmalige Idee. Und: Ich warte nicht etwa irgendwo vergessen auf dem Land auf dich, sondern im Zentrum der Vorstadt Emmen, direkt am neuen Bahnhofsplatz in Emmenbrücke. Wenn du mit mir ganz Grosses vorhast, ich bin dabei! Dann gehen wir gleich nebenan auf den neuen Seetalplatz: Dort hast du für deinen Auftritt sogar 5000 m2 zur Verfügung. Bevor ich bebaut werde, möchte ich bespielt, belebt, genutzt, ent wickelt, beflügelt und beseelt werden. Also melde dich! Wenn du zögerst und noch mehr über mich wissen willst, dann schau doch bei platzhalter.lu vorbei. Oder melde dich auf hallo@platzhalter.lu. Ich freue mich auf dich.
22.05.2014 Vereinsversammlung Netzwerk Neubad
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Innensicht Die Neubad-Kolumne Illustrationen: Angela Kronenberg
Die Neubad-Kolumne auf der Vorderseite des Monatsprogramms hat sich zu einer schönen Tradition entwickelt. Schreiben dürfen alle, ob Praktikant oder Chef: Wer was zu sagen hat, haut in die Tasten. In den letzten fünf Jahren ist so eine Sammlung von persönlichen Eindrücken und Geschichten aus dem Mikrokosmos Neubad entstanden, von denen wir Ihnen hier eine kleine Auswahl präsentieren. April 2014 Gelegentlich klingelt es, das Telefon im Bademeisterhäuschen. Dort drin hat aber schon länger niemand mehr in Badehosen gesessen. Wäre auch vollkommen lächerlich, sich den täglichen Aufgaben eines Kulturbe triebs in Adiletten und mit blutten Beinen zu stellen. Aber: Gewissen ist dieses Makeover des Hallenbads nicht bewusst, wenn sie bei uns anrufen. Da hilft auch das betonte «Schelbert, Netzwerk Neubad?» am Anfang des Gesprächs nichts. Ganz so schnell lässt
sowieso, vom Badekleider-Geschäft», meinte die Dame. Der Groschen war gefallen. Sofort erklärte ich die Sache freundlich und routiniert mit den folgenden Stichworten: altes Hallen bad, Neubad, neuer Kulturbetrieb, alte Nummer. Neues Hallenbad, Zihlm attweg, neue Nummer. Eine weitere Anekdote entstand, als Frau Helmi von Radio i-fach anrief. Sie hätte gerne den Geschäftsführer Stefan Schlatter gesprochen. Erst dachte ich, etwas verpasst zu haben. Schliesslich wissen die Medien immer alles als Erste. Dann besann ich mich: Mit Herrn Schlatter hatte ich bisher nur eine Unterhaltung – über hochwertige Duschköpfe, die er im Neubad abmontieren lassen möchte. Jara Helmi wollte zu Recherchezwecken einen Aqua-t-Kurs besuchen. Fand ich lustig. Zum Glück haben wir die alte Hallenbad-Telefonnummer behalten. Kim Schelbert Ehemalige Praktikantin
September 2014 Nun bin ich in Luzern angekommen. Neue Stadt, neue Menschen, neue Szenen, neuer Gossip und eine neue herausfordernde Aufgabe: Neubad. Als Fremder und Auswärtiger sich ein Mensch nämlich nicht beirren. in eine lebendige Kulturszene einzu Ungewöhnliche Anfragen sind daher treten, empfinde ich grundsätzlich als keine Seltenheit. Eine Dame rief an und grossen Vorteil. Unbefangen kann ich verlangte Frau sowieso vom Laden im meine Aufgabe aufnehmen und ohne EG. Anfangs dachte ich sofort an das Vorurteile neue Kontakte zu Einzelnen Garn und die hölzernen Stricknadeln im und Szenen angehen und aufbauen. Shop von Anna + Juan, erkundigte mich Und dennoch, die Gerüchte, Meinungen sicherheitshalber jedoch erneut. «Frau und Ansichten dringen zu mir durch.
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Die einen sprechen über das Neubad als eine äusserst erfolgreiche Zwischennutzung. Die anderen beklagen die Nutzungsmöglichkeiten aufgrund hoher Betriebskosten und stark einschränkender Bedingungen. Es stimmt wohl bei des! Diese unterschiedlichen Meinungen wirken sehr stark auf mich ein. Sie helfen mir, meine eigene Rolle im Neubad-Team zu finden und meine Aufgabe, nebst der betriebswirtschaft lichen Leitung, deutlicher zu definieren. Dabei gilt es, das Neubad für alle Parteien nutzbar zu machen und den unterschiedlichen Anforderungen und Erwartungen gerecht zu werden: Während die einen einen möglichst kostengünstigen und autonomen Raum
— Die Château Gütsch Immobilien AG möchte im Bistro ein 4-SterneRestaurant lancieren. — Kulturchefin Rosie Bitterli wird neue Vereinspräsidentin des Netzwerks Neubad. — Das Lieblingsessen von Hauswart «Bibu der Boxer» ist Birchermüesli. — Die Stadt Luzern hat die AsbestHütte Neubad absichtlich zur kulturel len Zwischennutzung freigegeben, damit in zehn Jahren ein paar Kultur leute weniger nach Geld schreien. — Es gibt einen Raum im Neubad, den seit zwanzig Jahren niemand mehr betreten hat. — Das erste im Neubad gezeugte Kind ist bereits auf der Welt – es heisst Paul. — Unsere Köche spielen während der Arbeit gerne «Rüebli+GurkenBuben-Spiele». benötigen, erwarten die anderen ein — Ton-Techniker Pablo Stalder fehlen möglichst hohes Mass an Dienstleis bloss 20 Zentimeter zum neuen Mister tung, Service und Professionalität. Mei- Schweiz. ne Rolle sehe ich dabei als Koordina— Die städtische SVP verleiht uns tor und Vermittler zwischen diesen ver- dieses Jahr einen Anerkennungspreis. schiedenen Interessen: Es muss allen — Thom Yorke spielt im April ein aktuellen und künftigen Nutzenden klar geheimes Solo-Konzert im Pool. sein, dass eine solche Co-Existenz der — Im Herbst eröffnen wir eine Neubadverschiedenen Interessen nur durch Zweigstelle im Hotel Steghof. Akzeptanz, Toleranz, Kompromiss und — Es gibt Nachbarn, die ein lachendes Dialog funktioniert – und dass diese Kind auf dem Vorplatz als Zumutung Zwischennutzung von Leidenschaft empfinden. lebt. Ich hoffe, möglichst viele Nutzen — Es wird auch in zwei Jahren de und Interessierte mit dieser Leiden niemand wissen, wie lange dieses Haus schaft anstecken und für das Neubad noch steht. begeistern zu können. — Veranstaltungsleiter Urs Emmeneg Dominic Chenaux ger tanzt am liebsten Tango. Geschäftsführung — Der Verein Neugarten betreibt im Keller eine illegale Hanfplantage. April 2015 — Alle sind ein bisschen in Michelle Vermutungen + Gerüchte verliebt. — In der Neubad-Sauna finden jeweils — Die pinke Neubad-Spendensau ist am Sonntagabend Swinger-Partys gar nicht schwul. statt. — Die Viva-Con-Agua-Mitarbeitenden — Im Keller wurde beim Umbau verse trinken heimlich Evian-Wasser. hentlich der ehemalige Bademeister Urs Emmenegger eingemauert. Leitung Veranstaltungen 05./06.09.2014 Oh Yeah! und Oh là là! – 1 Jahr Neubad
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Mai 2015 «Besch du höt Obig de Süleyman?» Mit diesen Worten begrüss te mich ein Stammgast, als ich als Tür steherin im Einsatz war und dem Herrn auf dem Weg ins Neubad charmant die Türe öffnete. «Jo. Beziehigswiis d’Süleyfrau», antwortete ich spontan und gendergerecht. Einige Tage später erzählte ich bei einem Feierabend
und Nachbarn wegen. Ich erzählte in dieser Bierrunde also auch vom anfangs erwähnten Dialog. Dieser zeigt meiner Meinung nach auf, dass sich Süleyman als Türsteher und Sicherheitsmann im Neubad bestens etabliert hat und von unseren Gästen als Person sehr ge schätzt und respektiert wird. Dann die Frage aus der grossen, biertrinkenden Runde auf dem Neubad-Vorplatz: «Also heisst de Süleyman Süleyman, well er emmer a de Süüle schtoht?» Nein, Süleyman heisst Süleyman, weil er so heisst. Aber Süleyman ist auch unser Säulenmann. Und ich war für einen Abend seine Säulenfrau. Corinne Küng Ehemalige Praktikantin
September 2016 Jetzt ist schon wieder etwas passiert. Diesmal im Keller. Während der Sommerpause wurden Wände eingerissen. Dabei kamen Räume zum Vorschein, die seit dreissig Jahren von keiner Menschenseele betreten wurden. Wir fanden darin eine Treppe, die zu einem weitläufigen unterirdischen Schachtsystem führte. Mit Taschenlam pen und einer gehörigen Portion Angst ausgerüstet, machten wir uns auf den Weg ins Ungewisse. Leider passie ren solche Geschichten nur in Krimis und Schüleraufsätzen. Bei uns waren hinter den Wänden weder Leichen noch andere Kuriositäten versteckt, da war nur Leere und abgestandene Luft. Aber wir können den neu gewonnenen Raum gut gebrauchen, füllen ihn mit Kultur und Atmosphäre. Das ganze Haus wurde über den Sommer von einer kleinen Helfer-Armee «aufgehübscht und aufgemischelt»: Renovationsarbeiten bier meinen Neubadfreunden und hüben wie drüben und im Keller die ers freundinnen von meinen durchwegs ten groben Umbaugeschichten. Wenn positiven Erfahrungen als Türsteherin. alles rund läuft, werden Mitte Oktober Positiv, weil die Mehrheit der Gäste die ersten Veranstaltungen im Unter grosses Verständnis für die schwer um- grund durchgeführt. Das wird cool und zusetzende Auflage der Stadt Luzern aber auch sexy. Ansonsten herrscht hat: Nach 23.00 Uhr dürfen keine Ge- ein ständiges Kommen und Gehen. Neue tränke mehr auf dem Vorplatz konsu Gesichter, neue Namen. Sehr geschätzmiert werden. Mit dieser Massnahme te Mitarbeitende, die andere Wege sollen die Lärmemissionen verringert gehen. Frische, junge Leute voller Tatenund die Schlafqualität unserer Nachba drang. Hier bleibt alles im Fluss. Wir rinnen und Nachbarn verbessert wer freuen uns auf eine neue Saison mit den. Positiv auch, weil sich viele Gäste Kulturperlen aus nah und fern. Auf auf einen kurzen Schwatz einliessen ein neugieriges Publikum und auf gute und mir damit die Schicht auf ange Geschichten. nehme Art verkürzten. Selbstverständ Urs Emmenegger lich fanden diese Gespräche in einer Leitung Veranstaltungen angemessenen Lautstärke statt – der Schlafqualität unserer Nachbarinnen
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und Fischen im Hafenareal verboten ist, dort, wo man bitte duschen muss vor dem Schwimmen, dort, wo man nicht vom Beckenrand springen darf, dort ist es vielleicht auch nicht besser ... aber eben nur vielleicht. Als Kurzpraktikantin bin ich gekommen, als Direktorin der Luft- und Lichtspiele gehe ich. Beim Abschied sag’ ich leise Servus. Danke. Laura Ritzenfeld Ehemalige Praktikantin
Oktober 2016 ... und jetzt trifft wieder Herbstsonne auf bunte Blätter. Das Licht ist so ganz anders im Herbst, viel wärmer, obwohl die Luft kühler wird. Ich habe doch nur kurz die Augen geschlossen und schon ist die Zeit an mir vorbeigeronnen. Als ich mich vor einer gefühlten Ewigkeit aus Wien verabschiedete, um den Sommer im schönen Luzern zu verbringen, landete eine Karte bei mir: Woanders ist es auch nicht besser – danke Mama. Angekommen. Die Sonne scheint mir auf den Rücken und in den Bauch. Es duftet nach Kaffee und Kultur. Neugierde, Aufregung, Unent decktes, Vorfreude. «Sie haben mich ins kalte Wasser geschmissen.» – «Was, du besch no ned mol sälber gumpet?» Ge sprungen bin ich dann doch noch und so kalt war das Wasser gar nicht. Mit viel Herz entsteht Grossartiges, von den Süsskartoffelpommes bis zum Gesang aus dem Pool und Bohrmaschinen aus dem Keller. Dort, wo Baden
14.11.2014 STK14 – Storytelling Konferenz
April 2017 Mit runzliger Stirn in den Spiegel schauend, wippe ich den Kopf hin und her und greife erneut zur Kom mode. Noch den roten Schal perfekt zu den Socken kombinieren und meine Tageserscheinung ist komponiert. Ich gebe zu, das passiert selten. Dafür
bin ich zu ungeduldig. Oft überspringe ich auch bei der Arbeit wichtige Schritte. Dies ist eine selbstkritische Innensicht. Das Geheimnis liegt darin, wirklich zu beginnen. Eins nach dem ande ren sauber abschliessen. Die Dinge vorbereitet angehen. Auf Details achten, aber auch mal über etwas hin wegsehen können. Weniger Druck auf mich selbst aufbauen, das lenkt nur vom Wesentlichen ab. Ich möchte auch als unbeschwerter Gast durch die Räume schweben können, wenn sich unser Haus wie gerade jetzt in einen regelrechten Kunstpalast verwandelt. Nachdem wir uns lange dem betrieblichen Skelett sowie der innenar chitektonischen Kleidung des Hauses gewidmet haben, sollten wir uns wieder auf das Fleisch am Knochen konzent rieren. Hauptsache das Essen ist lecker, das Personal steckt Freude und Liebe in die Arbeit und unser Programm ist gespickt mit Höhepunkten. Ob der Schal nun also zu den Socken passt, scheint 17.12.2014 Hilferuf fehlende Liquidität
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bei mir doch nicht so viel mit Ungeduld zu tun zu haben. Style ist für mich nicht mehr als eine schöne Nebensache. Mein liebes Neubad. Bleib so bunt wie du bist. Lass den Zufall zu und verbreite weiterhin das Gefühl wahrhafti gen Lebens. Laurin Schwob Co-Leitung Gastronomie Mai 2017 «Wow, Ihre sinnliche Seite beginnt zu leuchten!» Blablablabla. Nach x Horoskop-geschwängerten Zugfahrten mit rasch und zu häufig konsumiertem Gratiszeitungs-Gebrüll in meinem eige nen Bermuda-Dreieck BadenLuzern-St.Gallen ist Ankunft etwas sehr Schönes. Von Horoskopen habe ich in
dieser kurzen und intensiven Zeit zwar leider nichts gelernt (jo wa?!), dafür umso mehr im Neubad. (Ich gebe zu, der Vergleich hinkt bizeli ...). Alles hat seinen Ort im koordinierten Chaos, das Neubad lebt und pulsiert. Mit zwei feucht-lachenden Augen blinzle ich auf ein knappes Jahr zurück, vollgepackt mit feinen Erlebnissen und Emotionen. Irgendwie un fassbar, weder in knappe Worte noch in greifbare Gefühle, zumindest für den ersten Moment – gut fühlt es sich an. Lobreden auf die wundervollen Menschen hier kann ich nicht schwin gen, drum lass ich’s lieber gleich. Ihr wisst ja schon. Alle diese Erlebnisse, von gesitteten Beamer-Präsentatio nen, schnellen und unglaublich trägen Häppchen-Feiern bis hin zu wilden, wogenden und pulsierenden Nächten in einem liebevollen Loch fühlen sich so an wie der diffuse und helle Rauch aus einer frisch geöffneten Bügelflasche Dinkelbier: schimmernd, tief und voller (Vor-)Freude. Das Neubad ist die Al
2015
ternative und deshalb kann man dort auch diese sonst so häufig fehlende Tiefe finden. Merci, mega fest. Fabian Mösch Ehemaliger Praktikant September 2017 Thema Keller: Ja, wir haben gesündigt. Mea culpa. Wir haben aber nicht vor, uns die ganze Zeit im «Schä mi-Ecke» zu verstecken, wo kämen wir denn da hin. Deshalb wird schon bald wieder unter Tage gearbeitet, bis der Keller allen Ansprüchen genügt. Wir freuen uns auf eine neuerliche Titelgeschichte im Chäsblatt: «Neubad entwickelt sich zum Vorzeigebetrieb» oder «LZ-Weihnachtsaktion für das Neubad» wären dann mögliche Headlines. Bis es so weit ist, versuchen wir Haltung zu wahren, eine Balance zwischen Reumütigkeit, Zuversicht und Professionalität zu finden und bissigen Enthüllungsjournalistinnen freundlich zu begegnen. Aber angesichts der schiefen Kantons- und Weltlage relativieren sich unsere Alltagssorgen sowieso spätestens beim Feierabend bier. Hauptsächlich fokussieren wir uns derzeit auf das Herbst-Programm, das vollgepackt ist mit Inhalten und Aufgaben, die uns wichtig sind. Der Diskurs beispielsweise mit Zwischen nutzern aus der ganzen Schweiz im Rahmen der Temporär-Zwischennut zungstage. Oder die Rolle als Gastgeber, Veranstalter und Raumentleiher für so unterschiedliche Angebote wie Deutsch-Sprachkurse, Yoga, GlücksSymposium, Filmfestival, Fotoausstel lung, Poster-Kunst, Flohmarkt, PoetrySlam, Kinderkonzert, Improlesung, Plattentaufen, Repair-Café, Kitchen Battle und noch einiges mehr. Als «tolles» Projekt hat die LZ unser Haus
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während der Sommerloch-Kampagne bezeichnet. Das ist toll. Aber irgend wie auch ignorant und oberflächlich. Vielmehr ist das Neubad ein starker Ort, der die Luzerner Stadtentwicklung für die nächsten Jahre entscheidend mitprägen wird. Mindestens das und noch viel mehr. Urs Emmenegger Leitung Veranstaltungen November 2017 Birnen-Ingwer-Tarte mit Häubchen Das unterste Stück der Tarte darf gerne etwas rustikal und dunkel sein. Es gibt der sonst luftigen und verspielten Tarte etwas Knusprig-Knacki ges, was sie noch interessanter macht. Der Boden ist süss, jedoch nicht sanft oder lieblich. Er hat eine gewisse Schär fe, die in Erinnerung bleibt! Weiter oben wird’s verspielter. Hier darf man sich
entscheiden, in welche Richtung es ge hen soll. Saisonal angehaucht – dieses Mal jedoch nicht vegan (sorry) – mit feinen Zutaten und kühler Frische kann sich jeder sein Lieblingsding aussuchen. Mein Rezept ist nur ein Vorschlag. Nun aber kommt das Häubchen. Das ist wichtig. Es imponiert und zieht das Auge an. Für den Wiedererkennungswert also ein Muss. Ein Kuss – ein Baiser! – in Weiss und Schwarz gehalten. Teig: 150 g flüssige Butter, 200 g Mehl, 90 g Zucker, Prise Salz + eine grosse geriebene Ingwerknolle vermischen. Wer möchte, darf auch einen Shot Ingwerlikör dazugeben. Die Streusel in eine Springform drücken, bis der Boden bedeckt ist und ein kleiner Rand entstanden ist. Dann 15–20 Min. bei 170°C vorbacken. Füllung: 3–4 Birnen in dünne Schnitze schneiden und auf den gebackenen Boden vertei len. 2 Eier, 200 g Quark, 90 g Zucker,
60 g gemahlene Mandeln + wer mag ein Schluck Weizenbier – aber nicht zu viel! verrühren. Das Weizenbier darf mit einem Schlückli Weisswein ersetzt oder ganz weggelassen werden. Die Masse über die Birnen giessen und ca. 10 Min. weiterbacken. Häubchen: 4 Eiweisse + eine Prise Salz zu Eischnee schlagen. 40 g gesiebter Puderzucker + 2 EL Mohnsamen dazugeben. Die Masse nochmals gut durchmischen und auf der Tarte verteilen. Weitere 10 Min. fertig backen. Laura Röösli Co-Leitung Gastronomie Co-Leitung Küche Dezember 2017 Das Neubad ist gross. Klar, war ja auch mal ein Hallenbad. Wie gross, das sagt dir neuerdings unser Wimmelbild, gleich wenn du rein kommst links. Du befindest dich im wohl bekanntesten Bereich der Zwischennutzung – unserem Bistro –, wo du jetzt gerade mit knurrendem Magen auf dein Essen wartest. Läufst du aber noch weiter Richtung Ateliers und biegst nach dem Zigi-Automaten links in die Tür rein (bitte nach und nicht vor, sonst finden wir uns unversehens in der Männer Toilette wieder), dann kommen wir schon in unbekanntere Gefilde der Zwischennutzung. Treppe hoch, einmal links, einmal rechts, Tür auf und schon sind wir im Co-Working-Bereich! Was viele nicht wissen: Der Co-Work ist nicht nur Arbeitsplatz und Entstehungsort mancher fantastischer Ideen, die in naher oder aber ferner Zukunft für Aufsehen und Staunen sorgen werden, sondern beherbergt auch das sagenumwo bene Auffangbecken der Rutschbahn, das heute als «Pfusiecke» dient. Ein Nutzender meinte mal, ich würde gar nicht wissen wollen, was da alles schon vor sich ging. Jaaa wohl eher nicht. Es ist also unmöglich, stets zu wissen, was sich alles in diesem Gebäude abspielt. Um das zu ändern, haben wir uns als Betriebsteam eine Wichtel-Aufgabe der besonderen Art gestellt: Jede und jeder muss der ihm zugelosten Person eine Schnitzeljagd durchs Haus organisieren, an deren Ende mindestens etwas mit Schokolade und ein Samichlaus in irgendeiner Form vorzufinden ist. So soll einerseits die Orientierung durchs Haus und andererseits der Wissens stand bezüglich dem, was hier alles vor sich geht, auf dem neusten Stand bleiben. Nun gut, die Schnitzeljagd ist geflunkert, wichteln tun wir auch nicht – 01.04.2015 Vereinsversammlung Netzwerk Neubad
02.04.2015 Liquiditätsengpass überwunden
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wo würde das hinführen. Aber eine Reise durchs Haus lohnt sich immer wieder. Öffentliche Führungen – immer am letzten Dienstag des Monats. Janine Bürkli Ehemalige Leitung Netzwerkarbeit Mai 2018 Alltägliche Fragen aus dem Neu bad-Soziotop: — Weshalb streicheln Männer während Free-Jazz-Konzerten den Rücken ihrer Partnerin? — Wenn der Platz für diese Kolumne leer bliebe, gäbe es Reklamationen? — Von wem, ausser vom Chef? — Wann soll ich nur all die Musik hören, die in meinem Posteingang landet? — Im Schlaf? — Führt eine latente Arbeitsüberfor-de rung zu Altersfalten oder Altersmilde? — Bin ich ein Kulturjunkie, und wenn ja, würde es mir nicht gut tun, zwei Wochen oder mehr nichts Kulturelles zu konsumieren? — Will ich das bzw. geht das überhaupt? — Wer ist der Mann, der fast jeden Tag Prosecco im Bistro trinkt? — Wie könnte ich ihn ansprechen? — Was hat das Neubad aus mir ge macht? — Hinterlässt meine Arbeit Spuren oder macht sie jemanden glücklich? — Weshalb reagiere ich auf schlechte Musik mit Schweissausbrüchen? — Wer sagt denn, was schlechte und was gute Musik ist? 10.04.2015 Start Food-Safe
— Dieter Bohlen? — Ist das Neubad auch noch in zehn Jahren Stadtgespräch? — Überschätzen wir uns und unsere Arbeit? — Wann lerne ich endlich, MikrofonKabel richtig aufzurollen? — Ist das wichtig? — Wie schaffe ich es, am Telefon so freundlich zu klingen wie meine Mitar beitenden? — Wieso gehe ich am Montagabend nie ins Yoga im Pool? — Bin ich ein fauler Mensch? — Wieso glaubt mir niemand, dass ich Fussballfan bin? — Wird die Schweiz Fussball-Welt meister? — Wenn ja, haben wir genügend Bier da? — Stelle ich zu viele Fragen? — Möchten Sie mir eine Frage stellen? — Ja? – veranstaltungen@neubad.org Urs Emmenegger Leitung Veranstaltungen
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The Best of kollektiv und professionell Text: Pirmin Bossart, Illustration: Benjamin Hermann
Das Neubad ist eine Zwischennutzung, die mindestens so erfolgreich funktioniert wie manches etablierte Kulturhaus. Mit seiner soziokulturellen und quartierbezogenen Offenheit hat es bessere Karten als eine rein künstlerisch ausgerichtete Institution. Wie ist das Haus organisiert? Hat der Erfolg auch etwas mit dem Betriebsmodell zu tun? Ein ödes Thema. Strukturen. Betriebsorganisation, Vorstände, die kom men und gehen (müssen). Hickhack zwischen operativ und strategisch. Hüllen und Inhalte, das endlose Palaver. Zum Glück steigt gelegentlich mal wieder ein kleiner Phoenix aus der Asche oder entzünden sich neue Ideen. In den letzten Jahren waren es vor allem Zwischennutzungen, welche die Luzerner Kulturszene beflügelten: vom kreativen Exploit des Himmelrichs (abl) über die Gundula-Mi krospots bis zum Neubad. Das ehemalige Hallenbad der Stadt ist eine Mischung aus Kulturhaus, Quartierzentrum und soziokulturellem Projektlabor. Anders als etwa der Südpol ist das Neubad aus einer Initiative von unten entstanden, die das frei gewordene Hallenbad kulturell nutzen wollte. Die Stadt bot Hand, wenn auch mit einem hohen Pfand (100’000 Franken Nebenkosten sind jährlich zu bewältigen). Trotzdem rauften sich Kulturaktivisten, Leute aus der Kreativszene, der Gastronomie und der Hochschule Luzern zusammen, um einen unkomplizierten Kulturbetrieb mit breiten Interessen zu etablieren. 2013 fand die erste Versammlung statt, wo die Ideen kunterbunt und kollektiv diskutiert wurden und sich alsbald eine erste Gruppierung bildete. Sie nahm den Betrieb in die Hän de, machte sich mit den Bedürfnissen vertraut, veranstaltete und improvisierte, hatte mit Schwierigkeiten und Überforderungen zu kämpfen, aber hielt das Haus am Laufen. Eine echte Pioniertruppe. Kollektivleistung eines Teams Dass aus den eher chaotischen Anfängen innert fünf Jahren ein stattli cher Betrieb wachsen konnte, gehört zu den erstaunlichen Ereignissen der Luzer ner Kulturszene. Ein Betrieb, der sich stetig am Optimieren ist, der sein Netzwerk und die Aktivitäten erweitert und inzwischen 45 Mitarbeitende auf der Lohnliste hat. Rund 23 Vollzeitstellen werden im Neubad angeboten, die Lohnsumme beläuft sich auf 1,15 Millionen Franken. 2017 wurde ein Umsatz von 2,25 Millionen Franken erzielt. Mit Veranstaltungen wurden im letzten Geschäftsjahr 250’000 Franken ein genommen. 1,6 Millionen Franken erwirtschaftete der Gastro-Bereich. Das sind Zahlen, die für ein als «Zwischennutzung» angelegtes Projekt bemerkenswert sind. Wie ist – abgesehen von der Lage und der Einmaligkeit der Location – eine solche Entwicklung möglich geworden? Das hat zu einem guten Teil mit den Leuten zu tun, die den Betrieb organisieren. Es ist die Kollektivleistung eines mo tivierten Teams, das sich clever organisiert hat und bereit ist, mehr als das Er wartete zu leisten. Die beiden Köpfe, die am stärksten nach aussen wirken und gewisse Leitplanken setzen, sind Co-Geschäftsleiter Dominic Chenaux und Urs Emmenegger, Leiter Veranstaltungen. Beide haben im Sommer 2014 ihre Arbeit aufgenommen und jene Strukturen aufgebaut, die inzwischen ein funktionstüch tig-flexibles Fundament bilden. Für die souveräne Abwicklung des Personalwe sens und der Finanzen ist Co-Geschäftsleiterin Michelle Grob verantwortlich. 06.06.2015 Eröffnung Vorplatz nach Neugestaltung
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«Alle Verantwortlichen denken über ihre Bereiche hinaus, hinterfra gen ihre Arbeit, denken mit, diskutieren und nehmen laufend Veränderungen vor, wo es nötig ist», sagt Dominic Chenaux. Als Co-Geschäftsleiter hält er die Leine locker, doch sein Blick bleibt scharf. Man müsse sich manchmal zurücknehmen, Verzicht üben und Sachen tolerieren können, die man selber anders anpacken würde, sagt Chenaux. «Eigentlich sehe ich mich als Wächter. Ich greife dann ein, wenn die Leitlinien des Betriebs nicht mehr eingehalten werden.» Bei der Neu bad-Gründung seien zahlreiche Menschen und ihre Interessen involviert gewesen. «Wir sind es ihnen schuldig, dass wir nicht nur Selbstverwirklichung betreiben, sondern den Auftrag ernst nehmen.» Dazu gehörten auch Themen aus Bildung und Forschung, soziale Schwerpunkte oder Veranstaltungen zu neuen kulturellen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen. Boa – Südpol – Neubad Betrieblich-strukturell steht das Neubad irgendwo zwischen Boa und Südpol. Die Boa war basisdemokratisch organisiert, der Südpol ist ein sogenannt professioneller Betrieb. «Professionell» ist ein hässliches Wort, für viele Kulturin teressierte ist es ein Killerbegriff. Er klingt nach Bürokratie, Verwaltung, Kultur management minus Herzblut und kündet vom Untergang dessen, was gemeinhin mit Kreativität, Spontaneität, Experimentierfreude verbunden wird. Tatsächlich stehen die Bedingungen einer Professionalität oft quer zu einem lebendigen Kul tur-Engagement, das schnell reagieren, experimentieren und auch provozieren will. Aber in der durchökonomisierten Kultur-Wirklichkeit von heute haben solche Haltungen einen schweren Stand. Autonom und niederschwellig organisierte Kul turhäuser werden im besten Fall geduldet und eher belächelt denn als mögliches Korrektiv geschätzt. In Luzern stand die Boa für ein solches Kulturhaus. Die Frage sei erlaubt: Wer würde heute noch konkret für eine Boa kämpfen, sich dort engagieren? «Bei uns hatten alle den gleichen Lohn, vom Reinigungspersonal bis zum Finanz- oder Programmverantwortlichen», sagt der ehemalige Boa-Musikverantwortliche Eu gen Scheuch. An regelmässigen Sitzungen wurden die anstehenden Aktivitäten diskutiert. Jedes Mitglied der rund 20-köpfigen Betriebsgruppe hatte eine Stim me. Von daher blieb die Idee, in der vergleichsweise mondänen Hülle des Südpols einen Boa-Ersatz anzubieten – von Anfang an ein frommer Wunsch. Im Südpol nis tete sich ein anderes Kulturverständnis ein. Neben einem betrieblich-administra tiven Leiter gibt es einen künstlerischen Leiter, der wie ein Intendant funktioniert und die Ausrichtung des Hauses prägen kann. Der Betrieb ist technisch aufwen dig und hierarchisch gegliedert. Im Vergleich dazu mutete die Boa wie eine anar chische Spielwiese an, was – um ehrlich zu bleiben – den Besuchenden auch nicht immer nur Glücksmomente bescherte. Das Neubad lässt sich weder mit der Boa noch mit dem Südpol ver gleichen. Trotzdem scheint es betrieblich als eine glückliche Mischung irgendwo zwischen den beiden Modellen zu funktionieren. Emmenegger relativiert. «Die letzten Jahre der Boa werden für mein Empfinden heute eher etwas verklärt. Die Boa war ein hervorragendes Konzerthaus. Weltklasse. Aber wahnsinnig viel mehr ist dort auch nicht passiert. Und es war nicht ganz einfach, sich einzubringen.» Das Neubad habe aus den Umständen der Boa gelernt. «Wir wollten von Anfang an auch ins Quartier ausstrahlen und ein durchlässiges Haus sein. Ein Haus der offenen Kultur.» Bei aller Veranstaltungskultur nimmt das Neubad soziokulturelle Auf gaben wahr, ermöglicht Begegnungen und Diskussionen, lädt zu Vorträgen, Kur sen und Workshops und spielt auch eine Rolle als Quartierzentrum für Anwohner und Familien. Das Haus probiert, eine breite Basis aufzubauen und ganz verschie dene Players aus Kunst, Kultur, Hochschule und Kreativwirtschaft ins Haus zu ho len. Chenaux, der explizit einen sehr offenen Kulturbegriff vertritt, freut sich an diesem breiten Spektrum. «Das geht von der Autonomen Schule bis zum Lucerne Festival, die bei uns Veranstaltungen machen. Von allen können wir etwas lernen. Diese Offenheit für unterschiedlichste Zielgruppen bringt auch Auseinanderset zungen und Konflikte mit sich. Aber wir erfahren viel Gunst und Akzeptanz.»
12.08.2015 Gründung NeubadKinderklub
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Leidenschaft und Strukturen Was allgemein für Kulturhäuser gilt, trifft das Neubad im Besonderen: Es ist nicht mit einem «Nine to five»-Job zu betreiben. Abgebrühte Kulturmana ger wären schnell desillusioniert. Die Verantwortlichen investieren viel Herzblut. Alle denken mit, man zieht gemeinsam am Strick. Dass auch die Buchhalterin ein persönliches Interesse an Kultur hat oder die Herren des Leitungsteams auch mal in der Küche mitanpacken, gehört zum Selbstverständnis des Neubad-Spi rits. Im rund zehnköpfigen Betriebsteam haben beinahe alle die gleichen Löhne (Netto-Einheitslöhne). «Ziel ist, dass wir die Löhne aller Mitarbeitenden einander angleichen können. Auch die Praktikantenlöhne wollen wir anheben», sagt Em menegger. Immerhin: Die Praktikantinnen und Praktikanten können im Neubad gratis konsumieren. Vor allem haben sie die Gelegenheit, sich ebenbürtig einzu bringen und selbstständig ihre Themen und Projekte zu bearbeiten. So wird das Neubad zu einem begehrten Sprungbrett. «Die allermeisten unsere Praktikantin nen und Praktikanten haben bis jetzt immer einen top Job gefunden.» Eine Prise Basisdemokratie zeigt sich im Neubad an der guten Diskus sionskultur, den flachen Hierarchien, den Partizipationsmöglichkeiten aller In volvierten, dem transparenten Netzwerk und der Offenheit, dass sich ganz ver schiedene Players einbringen und Verantwortung übernehmen können. Trotzdem gibt es Grenzen. «Bei uns wird nicht alles endlos debattiert. Es braucht auch mal klare Entscheide, sonst wird unnötig Energie verpufft», sagt Chenaux. Der Co-Geschäftsleiter hat feststellen müssen, dass dies auch gewünscht wird. «Es gibt Momente, da wollen die Leute, dass etwas entschieden wird und sie selber nicht mehr gefragt sind.» Chenaux, immer offen für Experimente, hatte mal vor geschlagen, das Neubad führungslos zu betreiben oder eine Rotation zu machen. «Das wurde vom Team abgelehnt.»
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Das Neubad hat in den letzten Jahren lernen müssen, dass einige kla re Strukturen unabdingbar sind, um einen guten Betrieb zu garantieren. «Auch wir haben eine gewisse Professionalisierungsentwicklung durchgemacht, Orga nigramme und Checklisten eingeführt», sagt Emmenegger. Trotzdem ist daraus kein kühl funktionierender Apparat geworden, in dem die Angestellten bloss ihre Pflicht erfüllen. Die Hierarchien sind sehr flach geblieben und der Betrieb versinkt nicht in bürokratischer Schwerfälligkeit. Im Neubad könne man in relativ kurzer Zeit etwas ausprobieren oder eine Veranstaltung durchführen, sagen die Verant wortlichen. «Wir sind noch immer recht niederschwellig.» Herausforderung: die Frische behalten Wie die Neubad-Gruppe des ersten Betriebsjahres, hat das aktuelle Team viel Pionierarbeit geleistet. Auch Dispute mit dem Vorstand gehörten dazu, heikle Entscheidungen, Wagemut, Rückschläge, Ernüchterungen. Mittlerweile ist der Betrieb so gut aufgestellt, dass die Verantwortlichen auch finanziell gelassen in die Zukunft blicken können. Mit dem neu ausgebauten Keller kommt eine wei tere Lokalität hinzu, die für eine weitere Attraktivierung sorgen wird. Gleichzeitig zeichnet sich ab, dass sich die Zwischennutzung noch einige Jahre länger als ur sprünglich geplant fortführen lässt. Das alles hat Konsequenzen – auch für die Verantwortlichen. Die Grund frage lautet: Wie lässt sich die Frische erhalten? Wie kann man sich immer wieder neu erfinden? Urs Emmenegger: «Grundsätzlich geht es darum, eine Balance zu finden zwischen Geldverdienen und Löhnezahlen und dem Anspruch, auch für un konventionelle Anfragen, die nur noch ideell sind und keine Einkünfte bringen, fle xibel zu bleiben.» Wie kann diese Offenheit, bei Berücksichtigung verschiedenster Zielgruppen, mit Energie und Freude aufrechterhalten werden? Das ist schon mal Stoff für eine Retraite des Teams. Für Chenaux sind Professionalität und Langfristigkeit jene zwei Haupt kriterien, die seinen Vorstellungen eines Kulturhauses entgegenlaufen. «Es gibt viel mehr kulturelle und künstlerische Ausdrucksformen als jene professionellen Produktionen, die wir gemeinhin als Kunst und Kultur verstehen. Viele davon wer den ausgeschlossen, weil sie den Definitionen nicht genügen. Von daher habe ich das Neubad immer als eine sehr gute Ergänzung verstanden.» Ihn fasziniert gera de der Status der permanenten Veränderung, die ein solches Haus erfordert. «Die Statik ist unser grosser Feind. Wir müssen uns permanent hinterfragen, auspro bieren, für Veränderungen offen sein. Auch eine Professionalisierung wäre der Tod für die Neubad-Idee, wie ich sie verstehe.» Loslassen und weiterziehen Angesichts der weiteren Verlängerung, die dem Neubad ins Haus steht, ist für den Co-Geschäftsleiter klar: «Wechsel im Betriebsteam und der Leitung sind nötig, damit wieder neue Inputs kommen. Es muss wieder eine neue Genera tion die Möglichkeit erhalten, das Haus nach ihren Vorstellungen zu nutzen. Sonst fährt man fest und wird bequem.» Es ist eine Konsequenz, die auch den andern Neubad-Verantwortlichen nicht fremd ist. Emmenegger: «Bei uns haben alle die se Haltung. Niemand ist ein Sesselkleber.» Als Zwischennutzer habe man immer das Befristete vor Augen. «Das motiviert, in dieser Zeit möglichst viel herauszuho len. Deswegen haben wir auch viel generiert. Aber man kann diese Energie nicht endlos aufrechterhalten.» Das alles ist nachvollziehbar, nur: Damit wird auch Know-how ver schenkt, das über Jahre aufgebaut wurde. Wohin damit? «Wir könnten mit der Infrastruktur, die dem Verein gehört, und unseren Ideen einfach weiterziehen und anderswo ein Neubad aufbauen. Das wäre eine Traumvorstellung», sagt Emme negger. Oder den Südpol übernehmen? Chenaux grinst. «Ich hatte mal die Idee, dass Südpol und Neubad ein Jahr lang tauschen würden. Das Team des Südpols hätte das Neubad geführt und wir den Südpol. Das hätte ich spannend gefunden. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür.» Auch er würde lieber mit dem ganzen Team weiterziehen, um an einem anderen Ort zu wirken. «Ich könnte mir auch vorstellen, mit den Leuten etwas ganz anderes zu machen, und so wieder Neues lernen. Zum Beispiel einen Kinderhort zu führen.»
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Zwischendurch ist mittendrin Text: Christine Weber, Illustrationen: Anja Wicki
Die abl stellt leer stehende Räumlichkeiten immer wieder für Zwischennutzungen zur Verfügung. Davon profitieren Kulturschaffende genauso wie die jeweiligen Quartiere. Und auch die Baugenossenschaft hat viel davon. Rund 11’500 Genossenschafterinnen und Genossenschafter gehören der allgemeinen baugenossenschaft luzern abl an, die heute rund 2000 Wohnungen be sitzt, in denen gegen 4500 Menschen le ben. Diese Grösse fordert einen entspre chend verantwortungsvollen Umgang mit dem Thema Wohnen und Leben. An gestrebt wird bei bestehenden abl-Sied lungen genauso wie bei Neu- oder Um bauprojekten eine gute Durchmischung der Bewohnenden, adäquate Mieten und eine gute Anbindung an das jeweili ge Quartier. Mitsprache und Mitgestal tung ist der abl wichtig und dafür setzt sie seit Jahren ein sinnvolles Instrument ein: Zwischennutzungen. Wenn immer möglich über brückt die Genossenschaft die Zeit bis zum Bau- oder Umbaubeginn so, dass Räumlichkeiten nicht leer stehen, son dern darin zumindest für kurze Zeit experimentiert und getüftelt werden kann. Vorwiegend die flexible Kreativs zene nutzt diese Möglichkeiten für ihre Ideen, doch auch die jeweiligen Quartier bewohner profitieren: Die temporären Aktivitäten bringen neuen Schwung, es gibt Austausch und Begegnungen und fast immer sind die Zwischennutzungen mit öffentlichen Veranstaltungen verbunden. Apropos profitieren: Nicht nur die tem porären Bewohnenden und die Bevölkerung haben einen Nutzen davon, sondern auch die abl selber: «Für uns sind das gute Gelegenheiten, herauszufinden, wie ein Quartier tickt und was für Bedürfnisse und Anliegen die Leute haben», sagt Benno Zgraggen, abl-Kommunikationsleiter, und schiebt lachend nach: «Und na türlich machen uns sowohl die künstlerischen Experimente wie auch die soziokul turellen Aktivitäten gehörig Spass.» Spätestens seit dem Projekt Zwischenrich ist klar: Die Zwischennutzungen bringen der abl viel Goodwill aus der Bevölkerung und eine grosse Publizität für die entsprechenden Bauprojekte. «Es ist ein Geben und Nehmen – alle haben etwas davon», bringt es Zgraggen auf den Punkt. Aktu ell gibt es drei abl-Areale, auf der bis zu den geplanten Bauarbeiten Zwischennut zungen stattfinden: an der oberen Bernstrasse, wo das Bauprojekt Forever Young entstehen wird, im alten Druckereigebäude an der Sagenmattstrasse 7 und beim Himmelrich, wo im Herbst 2019 die zweite Bauetappe starten wird.
2016
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TAT-ORT Bernstrasse 94 Start: 2013 voraussichtliches Ende: 2019. Bereits seit fünf Jahren ist das ehemalige Gallati-Haus an der Bernstrasse 94 in der Hand von Künstlerinnen und Künstlern: Der Verein Tat-Ort Bernstrasse nutzt das Gewerbegebäude als Atelierhaus mit dazugehörendem Ausstellungs raum. Der Mix funktioniert gut: Neun Ateliers werden aktuell von kreativen Leuten genutzt. Darunter sind Fotografen, bildende Künstlerinnen und Autoren. Im Ausstellungsraum finden jährlich zwischen acht und zwölf Aktionen und Ausstellungen statt und auf dem Gelände hinter dem Haus gibt es ein Urban-Gardening-Projekt. «Hier sind wir gut eingespielt, die Stimmung im Tatort ist familiär und viele sind produktiv an ihren Arbeiten dran», fasst der Tatörtler Lukas Geisseler die Atmosphäre zusammen. Dass die Zwischennutzung so lange dauern wird, hätte beim Einzug des Krea tiv-Labors niemand gedacht: Eigentlich hätten die Bauarbeiten bereits 2017 beginnen und das Gallati-Haus der neuen Siedlung an der oberen Bernstrasse weichen sollen – umso besser für die aktuelle Belegschaft, dass jetzt noch mehr Zeit für das kreative Schaf fen bleibt. Projektwohnungen Bernstrasse 62, 78 Start: 2018 voraussichtliches Ende: 2019. Zurückversetzt von der Bernstrasse gibt es ein kleines Paradies: Das rosarote Haus Nummer 78 hat viel Charme, drei Stöcke und einen schö nen Garten. Bis zu seinem Abriss steht hier eine Wohnung mit vier möblier ten Zimmern temporären Gästen zur Verfügung. Der Bedarf ist vor allem bei Festivals gross, das Angebot kommt entsprechend gut an: Sowohl das Lucerne Festival wie Fumetto und Weltformat quartierten hier während ihrer Festivals bereits auswärtige Kulturschaffende ein. Offen steht das Angebot aber für Gäste aus unter schiedlichen Sparten. «Es gibt auch andere Anlässe, die während eines bestimmten Zeitraums Unterbringungsmöglichkeiten suchen – die sind sehr willkommen in den Projektwoh nungen», sagt abl-Kommunikations leiter Benno Zgraggen. Wohnung und
Zimmer sind für private Gäste kosten pflichtig, bei überzeugenden Projekten stellt die abl die temporären Unterkünfte gratis als Sponsorin zur Verfügung. Be62 Bernstrasse 62 Start: 2017 voraussichtliches Ende: 2019. Ebenfalls an der Bernstrasse ist im leer stehenden Ladenlokal des Bärenhauses Nummer 62 ein Treffpunkt entstanden, in dem vielseitige Aktivitäten vorwiegend aus dem soziokulturellen Bereich stattfinden: Die Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers sind ein geladen, sich mit eigenen Ideen einzu bringen und das Lokal mit kunterbunten Aktionen zu beleben. So bereits geschehen mit der Neugestaltung der witzig aufge peppten Bushaltestelle Kanonenstrasse, die direkt vor dem Be62 steht, oder mit einem Flohmarkt. Unterschlupf hat hier auch das Schulhaus Grenzhof, das aus Platzmangel seinen Religionsunterricht in den Gemeinschaftsraum verlegt hat. Das Be62 hilft der abl, um dem Quartier den Puls zu fühlen: Was sind die Anliegen der Bewohnenden, wo drückt der Schuh und wie sehen die Visionen für eine gute Quartiergestaltung aus? Solchen Fragen geht die moderierte Veranstaltungs reihe Talk im Untergrund nach, die monatlich mit abwechselnden Gästen ab September 2018 stattfindet und das Quartier aus unterschiedlichen Blick winkeln beleuchtet.
16.03.2016 Vereinsversammlung Netzwerk Neubad
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sung gefunden war, zogen schrittweise Kulturschaffende in die bereits leer stehenden Wohnungen ein. Während rund zwei Monaten brodelte hier ein Kultur-Labor, wie es in Luzern schon lange nicht mehr gesehen wurde. Den Abschluss machte ein Happening, das in die Geschichte eingehen wird: Die halbe Stadt besuchte ein letztes Mal die fünf Häuserzeilen mit 70 Wohnungen, die während vier Tagen von gegen 200 Kulturschaffenden bespielt wurden – und zwar vom Feinsten! Zwischenrich, das ist eine Zwischennutzung, die es so nie wieder geben wird. Gut also, dass es dazu ein dickes Buch mit tollen Bildern und Texten gibt. Wohnwandgeschichtsschreib-, Tüftel- und Malwerkstatt (Arbeitstitel) Claridenstrasse Start: Herbst 2019 Druckereigebäude (1–2 Monate) Bächler-Sidler Vor der zweiten Bauetappe Sagenmattstrasse 7 im Himmelrich 3 realisiert die abl eine Start: 2016, weitere Zwischennutzung. Nein: Es wird voraussichtliches Ende: 2025. keine Kopie des Projekts Zwischenrich Weniger bekannt, aber voll sein! Aber in einem etwas kleineren ausgelastet ist die Zwischennutzung an Rahmen sollen die kreativen Kräfte aus der Sagenmattstrasse 7, die bereits dem Zwischenrich ins Wohnlabor an vor zwei Jahren begonnen hat: Das der Claridenstrasse transformiert und ehemalige Druckereigebäude wird die Ideen aus der Bevölkerung integriert nächsten Jahre von verschiedensten werden. Mitmachen können alle, die eine Akteuren genutzt. Einquartiert sind nicht gute Idee haben (siehe nächste Seite). nur Proberäume von Musikerinnen, Musikern und Bands, sondern auch die Pädagogische Hochschule Luzern und diverse andere Mieter. Die Palette der Zwischennutzenden beschränkt sich hier nicht auf die Kreativszene, sondern ist sehr gemischt. Und oben auf dem Dach gibt es sogar einen Tennis platz. Zwischenrich Himmelrich Start: 2015, Ende: 2015 (2 Monate). Das Himmelrich 3 in der Neustadt ist das grösste Bauprojekt in der Stadt Luzern: Etappenweise wurden und werden die bestehenden Häuser entlang der Bundesstrasse und jene an der Claridenstrasse durch eine neue Siedlung ersetzt. Bevor der Spatenstich 2015 für die erste Abrissphase gemacht wurde, setzte die abl einen legendären Pflock bezüglich Zwischennutzung: Sie lancierte das Projekt Zwischenrich. Bis für alle Mietenden eine Anschlusslö 21.05.2016 Neubad Schau – Tag der offenen Tür
32 Text: Benno Zgraggen, Kim Schelbert
Gesucht: Kochinsulaner, Mitesser, Couch-Diver! WG-Dompteure und Badewannensynchronschwimmer. TumblerorchesterDirigentinnnen? Generationen-Übergreifer, KühlschrankfachVerwalterinnen, Haushaltsbudgetiere, Zentrifugen-hypnotiseure! Buffet-Abstauber, Reklamateure, Nachbar-schreckinnen … Decken-Klopfer, Trampeltier-Pfleger, Teppich- und Tür-Rammler! Fruchtfliegenzüchter, Küchenschaben, Wohnwandgeschichtsschreiber? Lifttherapeutinnen? Kammermusikjägerinnen! Toilettenterrarium-Designerinnen. Waschmaschinen-Masseurinnen, Besen-Stylisten, Gefrierfachkartografen, Wohnlaborantinnen … Zimtschnecken-Renndirektoren, Wasserhennen-im-Korb, Tupperware-Party-DJ, Grillpläuschler, Rüstmesser-Werfer, Abfalltrenn-Anwälte. Foodwaste-Detektive, Lebensformer und -performer! Wohngemeinschafter, Ämtliplanwirtschafter, Täuscher und Täuschler, Väterchen-bofrosts, Kartoffelhelden, NationalGartisten. Kühlschrankmagnet-Poetinnen, Tapeten-Scribbler, Selbstverseelsorger, Flat-Artisten, Treppenhausduftsprayer … Er: (schreit) «Da oben im Haus 13 liegt ein echter Baum in der Wohnung!» Sie: «Was hast du gesagt? Ich verstehe dich nicht!» Im überfüll ten Radio-3fach-Konzertkeller an der Bundesstrasse 16 wummern die Bässe. Er: (noch lauter) «Ein Ba-aa-u-u-u-m-m, voll krass!» Sie: «Ach so! Ja! Hast du die Guru-Wohnung gesehen? Echt gru selig ... » (wumm-tss, wumm-tss, wumm-tss) «Verdammt eng hier! Komm, lass uns was essen gehen.» Er: «Gute Idee, habe gehört, dass man in einer der Wohnungen gratis Essen im Tausch gegen etwas anderes bekommt.» Sie: «Au ja, dann kannst du ja was zeichnen und ich rezitiere den Erlkönig. Mal schauen, ob das klappt.» Er: «Und nachher gehen wir noch runter auf einen Schlummer becher ins meyerbarbeshoudini. Los geht’s!»
Erinnerst du dich? Vor rund drei Jahren war das Projekt «Zwischenrich» in aller Munde. An vier intensiven Tagen voller Kunst, Kultur und Kulinarik brachten 200 Mitwirkende und zigtausend Gäste das Luzerner Himmelrich so richtig zum Beben. Was bleibt, ist die Erinnerung an eine unglaubliche Zeit – und Lust auf mehr? Das Zwischenrich war einzigartig, es wird in der Art kein zweites geben können. Die abl plant im Sommer/Herbst 2019 dennoch ein kleines Comeback. In einem kleineren Rahmen, viel leicht ein bisschen ähnlich – und doch ganz anders, mit alten und neuen Kräften und Ideen. Vor dem Bau der zweiten Etappe, sprich vor dem Rückbau der Häuser an der Clari denstrasse, wird erneut ein Teil der Wohnungen für ein Kulturprojekt nutzbar sein. Doch wie? Deine Ideen sind gefragt. Ob als Kammermusikjägerin oder Gefrierfachkartograf, Lifttherapeu tin oder Couch-Diver, Kochinsulane rin oder Mitesser ... Fest steht: Die
abl will die Inhalte gemeinsam im Austausch entwickeln. Hast du Ideen, welche Form die Zwischen nutzung an der Claridenstrasse annehmen könnte, welche Projekte es beinhalten sollte, welchen Fragestellungen nachgegangen werden muss, um genauso kraftvoll (und eben: doch anders) zu wirken? Und hast du Lust, deine Gedanken mit anderen in einem lockeren Work shop zu teilen und zu diskutieren? Dann melde dich an und schreib uns, was dir spontan in den Sinn kommt, an kultur@abl.ch.
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Die Tyrannei der Intimität Text: Amir Tabatabaei & Johnny J.Y. Kim, Illustration: Rebecca Metz
«Kaum jemand würde heutzutage behaupten, sein Seelenleben sei unabhängig von gesellschaftlichen Bedingungen und Einflüssen aus der Umgebung. Gleichwohl gilt es als so kostbar und zerbrechlich, dass es nur gedeihen kann, wenn es geschützt und isoliert wird. Jedem Einzelnen ist das eigene Selbst zur Hauptbürde geworden.» aus «Verfall und Ende des öffentlichen Lebens» von Richard Sennett
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«Unkonventionelle und nicht klar definierte Räume bedingen Kommunikation …» aus dem Jahresbericht Netzwerk Neubad
Wir fragen uns, ob die Architektur nicht dazu instrumentalisiert werden kann, ein bestimmtes zwischenmenschliches Benehmen und eine Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Geschehen zu aktivieren und darüber hinaus zu intensivieren. Die harte Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre soll dabei aufgelöst werden. Wir glauben daran, dass wir als Architekten Räume kreieren müssen, die informelle Begegnungen ermöglichen, aus denen Beziehungen und Verbindlich keiten in der Gesellschaft erwachsen können. Denn sie sind der Keim für soziale, politische und künstlerische Handlungen. Das Luzerner Neubad ist ein grosser und beliebter Begegnungsraum der Stadt Luzern. Der Ort, welcher Ateliers und Co-Working-Arbeitsplätze, allgemein zugängliche Labors und Werkstätten, einen Veranstaltungsort im ehemaligen Schwimmbecken und einen Gastronomiebereich umfasst, steht einer Vielfalt von internen und externen Nutzenden offen. Im Zentrum stehen die Förderung von In terdisziplinarität und die Schaffung von Netzwerken, die in Kombination mit dem Raum Kreativität und damit auch Innovation fördern sollen. Für Luzern und die Zentralschweiz und wahrscheinlich auch überregional ist dieser Ansatz neu und einzigartig. Nun soll das Neubad im Zuge der neuen Stadtplanung Luzern für ge meinnützige Wohnungen abgerissen werden. Wir haben uns die Aufgabe gestellt, die beiden Konträren – die bestehende Idee des Neubads und die erwünschte Wohngemeinde – in einem Entwurf zusammenzuführen. Dabei stand für uns nicht der Erhalt einer baulichen Struktur, sondern der einer Idee im Vordergrund. Das Luzerner Neubad liegt im Steghofquartier im Süden der Stadt zwi schen der Biregg- und der Kleinmattstrasse. Die Hauptfassade mit einem kleinen Vorplatz richtet sich auf die alten Bahngleise des Luzerner Bahnhofs mit der Rigi im Hintergrund. Entlang der Südfassade verläuft die Kleinmattstrasse, die direkt zum Kirchturm der Pauluskirche führt. Entlang dieser Strasse eröffnet sich ein idyl lisches Wohngebiet, dessen unterschiedliche Farbnuancen der Fassaden eine fein fühlig einfühlsame Farbpalette für den Kontext unseres Baugrundstücks bilden. Das Neubad liegt also genau zwischen dem öffentlichen Vorplatz des Steghof quartiers und dem dahinter liegenden heimeligen Privatleben der Luzerner. Das neue Erschliessungskonzept durchbricht die trennenden Stockwer ke und löst nicht nur das übliche Treppenhaus, sondern auch die Kubatur im Inne ren des Gebäudes. Der Gesamtkomplex besteht aus privaten Wohnungen und der öffentlichen Kultur. Diese zwei zunächst Konträren werden verbunden und glei chermassen getrennt durch verschachtelte Zwischenräume in Form einer ausge dehnten Treppenanlage.
27.09.2016 Nevercrew malt den Wal fisch an die Wand – Neubad erhält neuen Anstrich
29.09.2016 Erster Beitrag der öffentlichen Hand, Stadt Luzern KUS
08.10.2016 Der Keller öffnet seine Tore
31.10.2016 Restaurant Red gewinnt Kitchen Battle Luzern
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Konventionelle Blockrandbebauung
Ateliers
Integration der öffentlichen Kultur
Co-Working Food Safe
Galerie Kinderspielplatz Eventpool
Neugarten Bistro
Vorplatz
Öffnungen für interaktive Begegnungsräume
Öffentlich 11.11.2016 Werkbeitrag Kanton Luzern
Privat
Kellerbar
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«Die Schwelle liefert den Schlüssel zum Übergang von Bereichen mit unterschiedlichem territorialem Anspruch und deren Verbindung; als Raum per se bildet sie die wichtigste räumliche Voraussetzung (conditio) für die Begegnung und den Dialog von Bereichen unterschiedlicher Ordnung. Die Bedeutung des Begriffs wird am deutlichsten in der eigentlichen Schwelle, dem Eingang zu einem Haus. Hier handelt es sich um die Begegnung und Versöhnung von Strasse und Privatbereich.» Herman Hertzberger
2017
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09.03.2017 Stephan Eicher spielt im Neubad-Pool
29.03.2017 Vereinsversammlung Netzwerk Neubad
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13.04.2017 Vorstand Netzwerk Neubad tritt geschlossen zurück
Neubad-Betriebsteam über nimmt als Interim-Vorstand bis Vereinsversammlung 2018
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23.06.2017 Carvelo 2go kommt ins Neubad
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Zwischen Nutzungen und Zwischen Besetzungen Text: Orpheo Carcano, Illustrationen: Wolfgang Wiler
Seit gebaut wird, gibt es wohl auch Leerstand. Dies ist weiter kein Problem, solange es deutlich mehr Behausungen als Behausungssuchende gibt. Erst wenn Häuser leer stehen, die eigentlich dringend für Wohnende oder Arbeitende gebraucht würden, wird der Leerstand zum Missstand. Dieser wiederum kann sich erst ausbreiten, seit die Landflucht wirkt und immer mehr Menschen in urbane Zentren drängen. Und seit parallel dazu Mietobjekte zur Spekulation missbraucht werden und zu reiche Menschen nicht mehr wissen, was sie mit ihren zu vielen Häusern anstellen sollen. An diesem Punkt sind wir in Luzern und den meisten andern Schweizer Städten längst ange kommen. Früher wie auch heute wurde dem Missstand des Leerstandes gerne und regelmässig mit Besetzungen entgegengewirkt. Dieses Vorgehen hat den Nach teil, dass es in der herrschenden Gesetzgebung illegal ist und zu Problemen mit Polizeigewalt und Strafen führen kann. Es hat jedoch gleich zeitig den Vorteil, dass man den Staat auf seine eigene Kom munikationsebene der Tat herüberholt und daher sozusagen einen Heimvorteil besitzt. Beim im Vergleich hierzu viel neu eren Phänomen der Zwischennutzung verhält es sich genau umgekehrt. Da werden Aktivistinnen und Aktivisten vom Staat auf seine Kommunikationsebene der Bürokratie und der Verträge herübergebeten. Lässt man sich darauf ein, be findet man sich also gleich zu Beginn aus meist mangelnder Erfahrung in dieser Materie am kürzeren Hebel. An sich ist es ja auch etwas Gutes, dass Zwischen nutzungen derart in Mode gekommen sind. Dies zeigt, dass der Staat verstanden hat, dass Leerstand im heutigen urba nen Raum wahrhaft ein Missstand ist. Und er hilft dabei bis weilen, den zu reichen Spekulanten zur gleichen Einsicht zu verhelfen. Zwei Probleme bleiben jedoch bestehen. Erstens wird etwas als gut verkauft und wofür man dankbar sein müsste, was eigent lich selbstverständlich ist. Und zweitens wird man als Bürgerin und Bürger mit kleinem Budget auf eine befristete Lösung reduziert. Man wird also toleriert, je doch nur so lange, bis die richtige unbefristete Nutzung kommt. Danach hat man meist sprichwörtlich das Weite zu suchen. Beispiele aus Luzern Zwei aktuelle Beispiele in Luzern zeigen, dass auf beiden Ebenen Proble me in den Verhandlungen entstehen können. Die als Eichwäldli bekannte ehema lige Soldatenstube wird seit mehr als zehn Jahren bewohnt. Vor rund zwei Jahren hat sich infolge von Grabarbeiten eine Hausecke dieses Holzbaus gesenkt. Statt etwas dagegen zu tun, liess die Stadt Luzern als Hauseigentümerin eine aufwen dige Studie anfertigen, die zum Schluss kam, dass das Haus einsturzgefährdet sei und so bald als möglich abgebrochen werden müsse. Unabhängige Fachkräfte wie Holzbauer, Architekten und Bauingenieu re, die sowohl die Studie als auch das Haus untersucht haben, sehen dies ganz an ders und sind sich einig, dass das Haus sich mit geringem finanziellem Aufwand erhalten liesse – mindestens für weitere zwölf Jahre bis zum Ablauf des Freihal 01./02.09.2017 Temporär – Zwischen nutzungstage Luzern
07.09.2017 Co-Work ist fertig umgestaltet
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tevertrags für den Südzubringer. Die bisher von der Stadt eingesetzten Mittel für den Zustandsbericht und die bis heute andauernden Messungen hätten ausge reicht, die Schäden einfach umgehend zu beheben. Die Bewohnenden und Freunde des Hauses, die sich nicht nur in Statik und Holzbau, sondern auch mit Wohnbaugenossenschaften auskennen, haben der Stadt diverse attraktive Angebote gemacht, welche jedoch allesamt abge lehnt wurden. Weder der Stadtpräsident noch die Baudirektorin sind bereit, sich mit den Menschen, die das Haus retten wollen, zumindest an einen Tisch zu set zen. Obwohl sie mit dieser Liegenschaft ohne grossen Aufwand einen kleinen Bei trag an die vom Volk gestellte Aufgabe der Erhöhung des genossenschaftlichen Wohnbaus (Wohnrauminitiative 2013) leisten könnten. Das Haus befindet sich zudem im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (ISOS) und wurde auch von der Kantonalen Denkmalpflege als schützenswert eingestuft, ein Befund, der seit Ende 2017 für die Stadt Luzern auf Gemeindeebene rechtskräftig ist. Dennoch hat die Stadt als Eigentümerin eine Abbruchbewilligung beantragt. Mehr lässt sich dazu zurzeit nicht sagen, da das Verfahren noch am Laufen ist.
ab 03.10.2017 Karls Kraut kocht im Neubad
28.10.2017 Schweizer Reperaturtag – 1500 Gegenstände CH (Neubad 83 Objekte)
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06.11.2017 Restaurant Red gewinnt Kitchen Battle – schon wieder
04.12.2017 Zentralschweizer FĂśrderpreis Migros Kulturprozent
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Die Bodum-Liegenschaften Die beiden für kurze Zeit zwischenbesetzten Vil len an der Obergrundstrasse befinden sich ebenfalls im ISOS und sind zudem in der städtischen BZO in der Ortsschutz bildzone B eingezont. Erst die Besetzung zeigte der breiten Öffentlichkeit auf, dass Häuserbesitzer Jørgen Bodum die beiden Liegenschaften verlottern lässt, um sie abreissen und neu bauen zu können, und dass die Stadt Luzern auch ihm trotz des hohen Schutzstatus der Häuser eine Abbruchbewil ligung in Aussicht stellte. Das als Gundula bekannt gewordene Haus an der Obergrundstrasse 99 wurde 2016 wiederbelebt und nach ei ner Räumungsandrohung fristgerecht friedlich verlassen. Dennoch hielt Bodum an der Strafanzeige gegen die Beset zerinnen und Besetzer wegen Hausfriedensbruchs fest. Ein massives Polizeiaufgebot beendete in einem unverhältnis mässigen Einsatz dann ein Jahr später nach kürzester Zeit den zweiten Versuch, die benachbarte Villa zu nutzen. Es gab damals keinen praktikablen Plan, was die nächsten Mo nate und Jahre mit den beiden Häusern geschehen soll. Die Staatsanwaltschaft erliess danach Straf befehle gegen eine Gruppe von Menschen, die versuchten, offensichtlich leer stehende und somit also nicht gebrauch te Häuser zu beleben. Einsprachen gegen den Strafbefehl wurden von der Staatsanwaltschaft vor Gericht angeklagt. Nebst über 20 Verurteilungen zu Geldstrafen und Bussen gab es in dieser Sache mittlerweile immerhin zwei Freisprü che. Das Vorgehen des Häuserbesitzers, der diesen Miss stand überhaupt erst verursacht hat, wurde zwar öffentlich sehr kritisch beurteilt, doch vor Gericht hat er sich nicht zu verantworten. Die Bundesverfassung garantiert schliesslich das freie Eigentums recht, welches auch erlaubt, eine Liegenschaft schlecht zu unterhalten. Die Häu ser wurden kurz darauf verbarrikadiert und stehen weiterhin leer. Letzten Monat erst konnte Bodum der Stadt die erste Projektskizze für die beiden Villen vorlegen. Das Vorgehen der zuständigen Behörden ist bei diesen Häusern wie bei vielen andern Fällen demokratisch bedenklich und lässt Zweifel aufkommen an der Gerechtigkeit unserer Rechtsprechung. Besetzenden wird ja oft vorgeworfen, dass ihr Handeln illegal sei, was an sich in einem Rechtsstaat nicht akzeptabel sei. Es stellt sich aber die Frage, ob es in der heutigen Anwendung der Gesetze überhaupt um die Suche nach Gerechtigkeit geht, oder vielmehr um die Wahrung von Interessen und Machterhaltung. Polizeigewalt gegen Menschen bei Einsätzen wie Räumungen wird grundsätzlich nicht verurteilt – gegen Aktivistinnen und Ak tivisten wird jedoch oft sehr willkürlich mit dürftiger Beweislage vorgegangen. So ist es eigentlich nicht weiter verwunderlich, wenn die Unlust steigt, sich an auf diese Weise interpretierte Gesetze zu halten. Letztlich ist es vielleicht gar nicht so relevant, auf welcher der beiden Ebenen ein Haus belebt und genutzt werden kann. Es stellt sich vielmehr die Fra ge, ob denn im Staat überhaupt ein verlässlicher Verhandlungspartner vorhanden ist.
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25.04.2018 Vereinsversammlung Netzwerk Neubad
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Hirngespinste Text: Amine Gasser, Illustration: Niels Blaesi
Mit vier Jahren bist du sicher gross genug, um mit der Situation klarzukommen. Ist auch alles ganz einfach: Du hast keine Zukunft in der Schweiz. Punkt. Aus, fertig, Schluss. Keine Diskussion. Ist halt so. Vielleicht ist die Pflegefamilie ja ganz nett. Vielleicht haben sie einen Garten mit Spielplatz, oder einen Hund, oder an dere Kinder, mit denen du spielen kannst. Liebes Kind, du bist illegal. Die Schweiz hat keine Lust auf dich. Geh und schleck dein Glace an einem anderen Ort. Deine Mutter ist im Gefängnis, weil ihr keine Bewilligung habt, hier zu sein. Denkst du wirklich, du hättest eine Berechtigung, hier zu sein, nur weil du im Kantonsspital Luzern geboren wurdest, an diesem heissen Augusttag vor vier Jahren? Hast du tatsächlich geglaubt, dass du die gleichen Rechte hast wie die Kinder, mit denen du in der Kita bist? Du bist naiv, liebes Kind. Wenn deine Mutter wieder aus dem Gefängnis kommt, packt sie hoffentlich endlich euer Zeug. Viel wird es nicht sein, mit euren zehn Franken am Tag kommt wohl nicht so viel zusammen. Dann müsst ihr nicht viel tragen, ist doch praktisch. Wohin soll die Reise schon wieder gehen? Ah, genau. Zurück an den Ort, von dem deine Mutter immer noch Alpträume hat. An den Ort, an den deine Mutter entschieden hat, nie mehr zu gehen, koste es, was es wolle. Lieber lebt sie seit Jahren illegalisiert in der Schweiz, lässt sich jede Woche auf dem Amt für Migration demütigen, versucht irgendwie durchzukom men ohne Arbeitsbewilligung, ohne Privatsphäre in der Unterkunft der Nothilfe. Oder taucht unter und landet im Knast. Lieber das, als zurück an diesen Ort. Aber irgendeinen Grund wird es sicher geben, der dein Schicksal rechtfertigt. Die Be hördenleute werden schon wissen, was sie tun, in der Schweiz geht es mit rechten Dingen zu und her. Die Gesetze sind schliesslich nicht einfach so da. Klar, die direkte Demokratie funktioniert vielleicht nur bedingt, wenn rund ein Viertel der Bevölkerung nicht abstimmen darf, weil sie «Ausländerinnen» oder «Ausländer» sind. Oder wenn Wahlkampagnen von Firmen finanziert wer den, sodass gar nicht mehr klar ist, welche Meinung wir jetzt tatsächlich haben und welche wir einfach durch Plakate eingetrichtert bekommen. Aber Gesetz ist Gesetz, illegal ist illegal. Punkt. Das wäre doch unvernünftig, sich gegen etwas zu wehren, was gesetzlich geregelt ist. Es will schliesslich niemand Probleme ha ben mit der Polizei. Du kennst das bestimmt, dich haben sie wahrscheinlich auch abgeholt, als sie deine Mutter ins Gefängnis brachten. Oder waren da noch Sozi alarbeitende dabei? Hast du geweint? Keine Sorge, das vergisst du sicher schnell wieder, wie sie am Morgen früh in euer Zimmer platzten und deine Mutter in Handschellen in das Auto abführten. Du bist ja erst vier. Die Polizei macht auch nur ihren Job. Eine reelle Chance, etwas zu ändern, hätte man sowieso nicht. Was bringt es, etwas zu wagen, wenn es sowieso zum Scheitern verurteilt ist? Schei tern ist peinlich. Genauso peinlich wie diese unbewilligten Demonstrationen, wo lächerliche dreissig Leute durch die Strassen ziehen. Das ist zum Fremdschämen. Da werden so viele SMS herumgeschickt zur Mobilisierung, und dann kommt viel leicht niemand; diese Ungewissheit ist sicher unbequem. Und wenn es dann hart auf hart kommt, gibt es Strafbefehle und Bussen. Einträge im Strafregister min dern die Jobchancen. Das wissen doch alle. Du, Kind, bist es vielleicht gewohnt, dass man nicht arbeiten kann, so ohne Papiere. Aber andere haben etwas zu ver lieren, schliesslich macht man nicht jahrelange Ausbildungen, investiert Geld und Zeit in eine Ich-Konzentration, damit man nachher Probleme mit der Justiz be kommt. Dann will man erst mal Geld verdienen und sich all die schönen Dinge leisten, die der Wohlstand der Schweiz verspricht. Endlich Privilegien in ein span nendes Leben umwandeln. Und endlich die Anerkennung ernten, die einem zu steht, wenn man so lange an einer Karriere gearbeitet hat. Diese Leute, die sich dem widersetzen: lächerlich. Die glauben tatsächlich, dass Solidarität mehr ist
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28.08.2018 Magazin-Taufe der 041 – Das Kulturmagazin Neubad-Ausgabe
07.09.2018 WiedererĂśffnung Keller
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als eine leere Floskel aus den Songtexten der 80er-Jahre. Die haben das Gefühl, es sei sinnvoll, gemeinsam über die Welt zu diskutieren. Wollen etwas tun gegen ihre Gefühle von Ohnmacht, Scham, Wut, Selbstzweifel und Depression, die das Nach denken über die Welt in ihnen hervorruft. Die Welt, die sie so ungerecht finden. Sie reden von Mut und von Widerstand, besetzen Häuser und machen Demos. Die wollen einfach nicht einsehen, dass die Welt schon in Ordnung ist, so wie sie ist, sonst würde sich bestimmt schon lange etwas ändern. Wenn die Schweiz tat sächlich ihren Wohlstand aufgrund von Ausbeutung des globalen Südens erhalten würde, wenn Menschen in die Schweiz flüchten würden, weil sie in ihrer Heimat tatsächlich keine Perspektive mehr hätten, wenn sich das Klima tatsächlich ver ändern würde, wenn die Schweiz ihre Waffen tatsächlich in Kriegsgebiete expor tieren würde, wenn das Mittelmeer tatsächlich zum Massengrab werden würde, dann würden die Leute in der Politik sicher etwas dagegen machen. Nein, nein – in der Schweiz gibt es keinen Grund, sich zu beschweren. Dass es Leute gibt, die sich damit nicht zufrieden geben, ist unverständlich. Die wollen Freiraum, um sich selber zu organisieren. Als würden tatsächlich Leute selber Verantwortung über nehmen wollen. Das ist doch Blödsinn. Für etwas gibt es Hierarchien, wir sind uns gewohnt, dass es eine Chefin gibt, ein Alphatier, einen Leitwolf. Ein Organ, das vorschreibt, wer in welcher Position was macht. Warum sollten wir uns davon lö sen? Damit nicht nur Einzelne Anerkennung und Wertschätzung bekommen? Da mit sich alle Gedanken machen und auf Augenhöhe miteinander reden können? Damit alle sich trauen können, ihre Meinung zu sagen und diese ernst genom men wird? Hirngespinste. Die können das nicht ernst meinen. In andern Punkten sind sie ja auch immer so Anti. Antirassistisch, antisexistisch, antikapitalistisch. Anti-dies, Anti-das. So viel Negativität. Als wäre der Normalzustand in unserem Alltag diskriminierend, als wären die Strukturen unserer Gesellschaft ausschlies send. Die wollen eine «autonome Schule» machen, als bräuchte es in Luzern ei nen Treffpunkt, der auch für Leute ohne geklärten Aufenthaltsstatus offen ist. Es gibt genügend Orte, an denen man sich in Luzern treffen kann. Und einen Kaffee oder eine Cola werden sich noch alle leisten können. Oder glaubst du tatsächlich, dass dein Alltag auch nur ein kleines bisschen besser wäre mit so einem Ort? Aber was rede ich da eigentlich. Du bist ja nur ein Kind. Ein kleines, papierloses Kind ohne Perspektive. Beschäftigen wir uns doch mit etwas anderem. Zu diesem Text: Die erwähnte Frau befindet sich seit einiger Zeit im Gefängnis Grosshof und deren Kind bei einer Pflegefamilie in Luzern. Dies, weil ihnen kein legaler Status gewährt wird. Die Autorin, welche zu den Privilegierten dieser Gesellschaft zählt, will sich nicht mit der Situation dieser Welt abfinden. Sie versteht diesen Text und die damit verbundene Wut als Aufruf zu kritischem Hinterfragen und non-konformem Handeln. Und als Aufruf dazu, Hirngespinste ernst zu nehmen.
Impressum Redaktion: Dominic Chenaux, medien@neubad.org Lektorat: Jonas Wydler Korrektorat: Petra Meyer Grafik: Erich Brechbühl, www.erichbrechbuhl.ch Loana Boppart und Melanie Schaper, www.studiolametta.ch Herausgeber: 041 – Das Kulturmagazin, Netzwerk Neubad Verlag: 041 – Das Kulturmagazin/IG Kultur Luzern, Bruchstrasse 53, Postfach, 6000 Luzern 7 Druck: UD Medien AG, Luzern Auflage: 4000 Ex.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Ausgabe: Alan Romano, Amine Gasser, Amir Tabatabaei, Angela Kronenberg, Anja Wicki, Benjamin Hermann, Benno Zraggen, Christine Weber, Claudio Näf, Corinne Küng, Dominika Jarotta, Fabian Mösch, Janine Bürkli, Johnny J.Y. Kim, Kim Schelbert, Laura Ritzenfeld, Laura Röösli, Laurin Schwob, Mario Stübi, Matthias Bürgin, Nils Blaesi, Orpheo Carcano, Peter Bräm, Pirmin Bossart, Rebecca Metz, Robyn Muffler, Urs Emmenegger, Sam Steiner, Wanja Manzardo, Wolfgang Wiler © Netzwerk Neubad, Luzern, September 2018
12.10.2018 Fünf Jahre Neubad – Jubiläums-Fest
Achtung. Fertig. Wohnen! himmelrich 3.ch Bewerben ab 15. September 2018 Bezug ab Juni 2019
allgemeine baugenossenschaft luzern Claridenstrasse 1 Postfach 2131 6002 Luzern T 041 227 29 29 info@abl.ch www.abl.ch