Textbuch (dt.)
BRIEFE VON RUTH
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
(RUTH MAIER)
Ein Kammermusical von
GISLE KVERNDOKK (Musik & Libretto) und
AKSEL-OTTO BULL (Libretto)
Basierend auf „Es wartet doch so viel auf mich…“
Ruth Maiers Tagebücher und Briefe Wien 1933-Oslo 1942. (Herausgegeben von Jan Erik Vold, Mandelbaum Verlag, Wien 2020).
Deutsche Fassung von ELISABETH SIKORA
Bühnenvertrieb:
Musik und Bühne Verlagsgesellschaft mbH
Bahnhofstraße 44-46 | 65185 Wiesbaden
e-mail: post@musikundbuehne.de Internet: www.musikundbuehne.de
im Auftrag von STÜCKEKONTOR
MB/JW GbR
Alle Rechte vorbehalten.
Hierzu zählen insbesondere das Recht der Übersetzung, Verfilmung und Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und sonstige Medien, der mechanischen Vervielfältigung und der Vertonung (Neuvertonung), die Verwendung zu Bühnenzwecken, Vorlesungen und Aufführungen, gleich ob von Amateur- oder Profibühnen sowie anderen Interessenten.
NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
Text, Komposition sowie Text- und Musikmaterial des Bühnenwerks werden Bühnen / Veranstaltern ausschließlich für Zwecke der Aufführung nach Maßgabe des jeweiligen Aufführungsvertrags zur Verfügung gestellt. Jede darüber hinausgehende Verwertung von Text und /oder Musikmaterial des Bühnenwerks bedarf der ausdrücklichen vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für dessen Vervielfältigung, Verbreitung, elektronische Verarbeitung, Übermittlung an Dritte und Speicherung über die Laufzeit des Aufführungsvertrags hinaus. Die vorstehenden Sätze gelten entsprechend, wenn Bühnen / Veranstaltern der Text oder das Musikmaterial des Bühnenwerks ohne vorherigen Abschluss eines Aufführungsvertrages zur Ansicht zur Verfügung gestellt wird. Weitere Einzelheiten richten sich nach den zwischen Bühnen / Veranstaltern und Verlag getroffenen Vereinbarungen.
Dieser Text und die damit verbundene Komposition gilt bis zum Tag der Uraufführung / deutschsprachigen Erstaufführung / bis zur Erstübersetzung / der Neuübersetzung als nicht veröffentlicht im Sinne des Urheberrechtsgesetzes. Es ist nicht gestattet, vor diesem Zeitpunkt das Werk oder einzelne Teile daraus zu beschreiben oder seinen Inhalt in sonstiger Weise öffentlich mitzuteilen oder sich öffentlich mit ihm auseinanderzusetzen.
Nicht vom Verlag genehmigte Verwertungen verletzen das Urheberrecht und können zivilrechtliche und ggf. auch strafrechtliche Folgen nach sich ziehen.
NURZUR ANSICHT
Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Dieses Material darf weder verkauft, noch verliehen, noch sonst irgendwie weitergegeben werden.
Wird das Stück nicht zur Aufführung angenommen, so ist das Manuskript umgehend zurückzusenden an:
Musik und Bühne Verlagsgesellschaft mbH Bahnhofstraße 44-46 | 65185 Wiesbaden
e-mail: post@musikundbuehne.de Internet: www.musikundbuehne.de
Rollenverzeichnis
BRIEFE VON RUTH kann mit einem Ensemble von mindestens 9 Personen gespielt werden –6 Frauen und 3 Männer – oder 5 Frauen und 4 Männer.
Idealbesetzung wäre ein Ensemble von 11 Personen: 8 Frauen und 3 Männern. Es gibt viele Möglichkeiten für Mehrfachbesetzungen (Vorschläge siehe nächste Seite).
Ruth Maier – ca. 20 Jahre – Mezzo/Sopran
Gunvor Hofmo – ca. 20 Jahre – Mezzo
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
Judith, Ruth Maiers Schwester – ca. 17 Jahre – Sopran
Mutter – ca. 45 Jahre – Mezzo
Professor Williger – Ruths Lateinlehrer – ca. 50–60 Jahre – Bariton
Hermann Thimig – Burgschauspieler – ca. 45 Jahre – Tenor
Herr Ström – ca. 45 Jahre – Tenor
Gustav Vigeland – ca. 70 Jahre – Bariton
Ensemble:
Ein Redakteur – Sprechrolle
Ein Schulkamerad – Tenor
Ein Mann (Ordner) am Bahnhof – Sprechrolle
2 deutsche SS-Männer – stumme Rollen
Ein junger jüdischer Mann – stumme Rolle
Patientin 1 – Mezzo
Patientin 2 – Sopran
Patientin 3 – Sopran
Schüler 1 (Per), in Oslo – Sprechrolle
Schülerin/Schüler 2, in Oslo – Sprechrolle
Ein junger aufdringlicher Bursche – Tenor
Ein finnischer Soldat – Tenor
Begleiter des finnischen Soldaten – Sprechrolle
Björg, eine Freundin – stumme Rolle
Eine Radiostimme – Sprechrolle
Eine Stimme (Fragebogen für Juden in Norwegen) – Sprechrolle
Frau Ström – stumme Rolle
Eine Frau in der Synagoge – stumme Rolle
2 norwegische Polizisten – stumme Rollen
Frauen im Arbeitslager in Biri, Männerchor in der Synagoge, Frauen/Freundinnen, Schulkameradinnen und -kameraden, Leute auf der Straße in Wien, deutsche Soldaten, norwegische Frauen u.a
Das Buch „Es wartet doch so viel auf mich…“ (Ruth Maiers Tagebücher und Briefe) ist eine Auswahl aus ihren erhaltenen Tagebüchern, Briefen und Notizen aus den Jahren 1933 bis 1942. Ihre Texte wurden mit Rücksicht auf die Unantastbarkeit des Privatlebens redigiert, um ein einheitliches literarisches Werk zu schaffen. Die redaktionelle Arbeit von Jan Erik Vold und die Texte von Ruth Maier sind untrennbar miteinander verwoben. Die Urheberrechte für die internationalen Ausgaben des Werks teilen sich Judith Suschitzky, die Schwester von Ruth Maier, und Jan Erik Vold. Judith Suschitzky hat ihre Urheberrechtseinnahmen an Amnesty International gespendet.
Vorschlag zur Rolleneinteilung (8 Frauen und 3 Männer)
Sopran/Mezzo: Ruth Maier
Mezzo: Gunvor
1. Sopran: Judith, Ensemble
2. Sopran: Frau Ström, 2. Patientin, Frau im Arbeitslager in Biri, Frau in der Synagoge, eine der Freundinnen/Frauen, Ensemble
3. Sopran: 3. Patientin, eine der Freundinnen/Frauen, Ensemble
1. Mezzo: 1. Patientin, eine der Freundinnen/Frauen, Ensemble
2. Mezzo: Mutter, Ensemble
Alt: Schülerin 2, Björg, Frau im Arbeitslager in Biri, eine der Freundinnen/Frauen, Ensemble
NURZUR ANSICHT
1.Tenor: Hermann Thimig, Herr Ström, ein Redakteur, ein deutscher SS-Mann, ein finnischer Soldat, Ensemble
2.Tenor: Ein Schulkamerad, ein junger jüdischer Mann, Schüler 1 (Per), ein junger aufdringlicher Bursche, Begleiter des finnischen Soldaten, ein Mann (Ordner) am Bahnsteig, ein norwegischer Polizist, Ensemble
Bariton: Professor Williger, Gustav Vigeland, eine Radiostimme, ein deutscher SSMann, Eine Stimme (Fragebogen für Juden in Norwegen) ein norwegischer Polizist, Ensemble
Rollenverteilung bei der Uraufführung, Musical Frühling Gmunden, Österreich, 31. März 2023 (5 Frauen und 4 Männer)
Sopran/Mezzo: Ruth Maier
Mezzo: Gunvor Hofmo
1. Sopran: Judith, eine der Freundinnen/Frauen, Ensemble
2. Sopran: Frau Ström, 2. Patientin, eine der Freundinnen/Frauen, Frau im Arbeitslager in Biri, Frau in der Synagoge, Ensemble
Mezzo: Die Mutter, 3. Patient, eine der Freundinnen/Frauen, Frau im Arbeitslager in Biri, Ensemble
NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
1. Tenor: Hermann Thimig, Herr Ström, Gustav Vigeland, eine Stimme – Fragebogen für Juden, ein norwegischer Polizist, Ensemble
2. Tenor: Ein Junge, ein junger aufdringlicher Bursche, ein norwegischer Polizist, ein deutscher SS-Mann, Begleiter des finnischen Soldaten, Ensemble
Baritenor: Ein Redakteur, ein junger jüdischer Mann, ein Mann (Ordner) am Bahnsteig, Schüler 1 (Per), eine Radiostimme, ein finnischer Soldat, Ensemble
Bariton: Professor Williger, 1. Patient (Falsett), Ensemble
In dieser Version wurde die Rolle der Patientin 1 (Szene 5, Akt 2) als Transperson gespielt, gesungen von einer männlichen Stimme im Falsett. Die Zeilen der Mutter in dieser Szene (Szene 5, Akt 2) wurden von Ruth vorgetragen. Björg war in dieser Szene nicht zu sehen, auf sie wurde nur verwiesen.
Der Beginn von Szene 6, Akt 2 (der Dialog zwischen der Mutter und Judith) wurde offstage aufgeführt. Alle Frauen des Ensembles waren im „Tramperlied“ (Szene 6, Akt 2).
In Szene 7, Akt 1 wurde einer der beiden SS-Männer von einem Bühnentechniker gespielt.
PROLOG
(1953: Wir sehen einen männlichen Verlagsredakteur, der sich dem Publikum zuwendet. Er gibt Gunvor Hofmo ein Buch oder einige Bücher und andere Dinge. Gunvor steht mit dem Rücken zum Publikum. Gunvor nimmt die Tagebücher an sich.)
REDAKTEUR
NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
Nein, Gunvor Hofmo, wir können die Tagebücher Ihrer ... (er zögert) Freundin nicht veröffentlichen. Dafür ist dieses Material zu privat. Konzentrieren Sie sich lieber auf Ihr eigenes Schreiben. Sie sind eine sehr begabte Dichterin!
NURZUR ANSICHT
´
(Redakteur verschwindet. Musik beginnt. Gunvor wendet sich an das Publikum. Wir sehen das Bild vom Akershus Pier, im Jahr 1942, wo Gunvor Hofmo, rechts außen , mit einer Gruppe von Menschen steht, die zusehen, wie das Schiff SS DONAU ablegt. Nach einer Weile beginnt das Bild zu leben. Gunvor bleibt allein zurück. Wir hören die STIMME VON RUTH)
RUTHS STIMME
Ich glaube, dass es gut so ist, wie es gekommen ist. Warum sollen wir nicht leiden, wenn so viel Leid ist? Sorg dich nicht um mich. Ich möchte vielleicht nicht mit dir tauschen.
GUNVOR
In dieser regennassen Dämmerung weißt du es tief in dir drin: die jüdische Freundin, ermordet, ohne jeglichen greifbaren Sinn. Verbrannt, zusammen mit tausend anderen.
Szene 1
( GUNVOR öffnet das Tagebuch und liest. Sie bleibt während des ersten Aktes auf der Bühne und erzählt, bis sie in Szene 16 in die Handlung eintritt. )
GUNVOR
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
Wien, 16. Oktober 1934.
Die Welt ist nicht schlecht, denn wenn sie schlecht wäre, würde man fragen: Wie kommt das Gute in die Welt?
( Schließlich mischt sich RUTHs Stimme ein und übernimmt.)
GUNVOR/RUTH
Ich möcht' berühmt werden. Ich möcht' nicht tot abfallen, wie eine Schraube von einer Maschine.
RUTH ( i soliert im Licht)
Leute verschwinden. Ich möchte leben! Ich möchte etwas hinterlassen, ein Dokument, dass ich da war. Ein großes, schönes Werk!
Szene 2
GUNVOR Wien, Jänner 1936.
(Die Bühne wird zu einem Klassenzimmer in Wien. RUTH MAIER sitzt auf einer Schulbank und schreibt eifrig in ihr Tagebuch. I hre SCHULKAMERAD :INNEN spazieren umher. Ruth schreibt.)
RUTH
SCHREIB’ ICH HINEIN IN MEIN TAGEBUCH, DANN IST MIR SO LEICHT. ALS WÄR’ MEIN TAGEBUCH WIE EIN FREUND, UND NICHT NUR EINFACH PAPIER.
(Plötzlich nimmt ein SCHULKAMERAD RUTH das Tagebuch weg. Viel Lärm und Tumult. Der SCHULKAMERAD liest laut aus RUTHs Tagebuch vor – spottet.)
SCHULKAMERAD
HÖRT EUCH DAS AN! (liest) DA WILL ETWAS HERAUS AUS MIR: ICH WEISS NUR NICHT WAS. ICH WILL SCHREIBEN: THEATERSTÜCKE; ETWAS DAS ICH SELBST ERLEBT HAB NEIN! EINEN ROMAN!
(Ruth schafft es, das Tagebuch wieder an sich zu reißen und stürzt weinend hinaus.)
RUTH (alleine)
ICH BIN WIRKLICH SEHR UNGLÜCKLICH. ICH FRAG’ MICH: WARUM NUR? MANCHMAL GLAUB' ICH, ES KANN JA NICHTS AUS MIR WERDEN. DOCH KÖNNT’ ICH BESTIMMT SCHAUSPIELERIN WERDEN. ABER POETIN, ACH, DAS WÄR'S. DANACH SEHNT SICH ALLES IN MIR. ICH ZWEIFEL ABER SEHR DARAN. UND DANN KOMMT ES EINFACH ÜBER MICH. ICH WEISS NICHT MAL SELBST, WAS ICH SCHREIBE! ICH LIEBE DIREKT DIE LIZZY KANTOR! IM TRAUM HABEN WIR UNS SCHON EINMAL GEKÜSST: ACH! ICH BIN SO NEUGIERIG AUF DIE LIEBE.
(JUDITH kommt herein.)
JUDITH
Ruth! Mama möchte mit dir reden. (sie zögert.) Was ist los mit dir?
RUTH
DITA, ALLERLIEBSTE SCHWESTER. ES IST ETWAS KOMISCHES UM DIESE LIEBE; UND ZWAR NICHT NUR ZWISCHEN FRAU’N UND MÄNNERN; OH NEIN, AUCH ZWISCHEN MÄDCHEN.
JUDITH
Zwischen Mädchen?
RUTH
ICH HÄTT’ GERNE EINE FESTE FREUNDIN. LIZZY KANTOR! ROSA SCHALL... ICH BIN SO VOLL VON FRAGEN, SO VOLL VON LIEBE UND NOCH MEHR. ICH LIEBE DIREKT DIE LIZZY KANTOR!
JUDITH
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
Willst du nicht heiraten?
RUTH
Doch. Jemanden wie Papa.
JUDITH (lacht)
Und wie soll'n die Kinder heißen?
RUTH
MEIN ERSTES KIND, ES WIRD EIN LUDWIG, WIE PAPA.
JUDITH Wie Papa?
RUTH
HEUT’ NACHT HAB’ ICH GETRÄUMT VON PAPA. ER HAT MICH UMARMT UND GESAGT: "WEINE NICHT!" NIEMALS WERD’ ICH IHN VERGESSEN. MEIN KIND SOLL LUDWIG HEISSEN, WIE PAPA.
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
JUDITH
ICH WÜNSCHT’ MIR, PAPA WÜRD’ NOCH LEBEN.
RUTH
VOR DIR WAR DER TOD, HINTER DIR WIRD DER TOD SEIN. DU ALLEIN BIST LEBEN. LEB’ HERRLICH, DITA!
ICH BIN SO VOLL VON FRAGEN, SO VOLL VON LIEBE UND NOCH MEHR. ICH LIEBE DIREKT DIE LIZZY KANTOR!
Szene 3
(Die MUTTER kommt herein in einem wunderschönen gepunkteten Kleid. – Bezug auf "Eine Erinnerung" AKT 2/letzte Szene – Judith umarmt ihre Mutter.)
JUDITH
MAMA! DU BIST SO SCHÖN!
RUTH (während JUDITH ihre MUTTER umarmt)
MUTTI... MUTTI
SIE HAT MICH GANZ VERGESSEN!
Gestern hat sie mir kein Gutenachtbussi gegeben. KÜSS MICH! MUTTI!
SIE TRAUERT JETZT AUCH GAR NICHT MEHR UM DEN PAPA. MUTTI IST JETZT SELBSTÄNDIG UND SEHR KOMISCH.
SIE GEHT AUS, FAST JEDE NACHT.
MUTTI... MUTTI
SIE HAT MICH GANZ VERGESSEN!
(Das Telefon läutet, die MUTTER geht ran.)
MUTTER Hallo Liebling!
RUTH
„Hallo, Liebling...!“ Ich bin ihm schon auf der Spur.
MUTTER
Ich treffe dich bei der Oper um halb fünf (legt auf)
RUTH (nachäffend) „Ich treffe dich bei der Oper um halb fünf.“ ICH HASSE MUTTI!
MUTTER
Was hast du, Liebling?
RUTH (grenzenlos wütend)
Sag’ nicht Liebling zu mir!
NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
(Die MUTTER zuckt zusammen.)
NURZUR ANSICHT
RUTH
SAG’ JA NICHT LIEBLING ZU MIR!
(Mutter dreht sich betroffen weg.)
RUTH
MUTTI KANN MICH NICHT TRÖSTEN ICH BIN JETZT GROß UND ALLEINE. BIN JETZT GROß UND GANZ ALLEINE. ICH TRÄUME JEDE NACHT, DASS ICH EINE ALTE FRAU BIN UND DASS ICH STERB’.
BEI MIR AM BETT STEHT MUTTI. SIE WEINT SEHR: "SO JUNG, UND SCHON MUSS SIE VON UNS GEH’N." ICH LEG’ MEINE HAND DANN AUF MUTTIS STIRN. „ICH SEGNE DICH, MEIN KIND.“
MUTTER
Du hast im Schlaf geweint. Hast du schlecht geträumt? (Sie gibt RUTH einen Kuss .)
RUTH
MUTTI BRAUCHT MICH. ICH VERSTEHE SIE JETZT, KLEINE MUSCH. IN DEN HANS HAB’ ICH MICH VERSCHAUT. DAS IST LÄCHERLICH, JA SO IST DAS. ACH, ICH FÜHL MICH ZU SO VIELEN HINGEZOGEN. LIZZY! LIZZY KANTOR! SIE IST KLUG, NICHT SEHR HÜBSCH, DOCH GLÄNZEN DIE AUGEN SEHR TIEF. ICH DENKE OFT, SIE IST SEHR EINSAM. ACH! ÜBER DIE SEELE JUNGER MÄDCHEN SCHREIB’ ICH ROMANE.
GUNVOR (liest)
Wien, Samstag, 14.März 1936.
RUTH
Heut Abend geh’ ich ins Burgtheater und schau mir ‘König Lear’ an. Mit Hermann Thimig als Narr Ich bin ganz verrückt nach ihm!
(Thimig kommt als Narr, ‘ König Lear ’ : Akt 3, Szene 2)
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
THIMIG
"WENN PRIESTER BLOSS WORTE, NICHT TATEN VERMEHREN, WENN BRAUER MIT WASSER IHR MALZ VERSEHREN. WENN WUCH’RER IHR GOLD IM FELDE BESCHAU’N, UND HUREN UND KUPPLER KIRCHEN BAU’N, DANN KOMMT JENE ZEIT, WER’S ERLEBT, WIRD’S SEH’N, DA WENN MAN MIT FÜSSEN PFLEGT ZU GEH’N.”
RUTH
ICH TRÄUM’ JETZT ÖFTER VON HERMANN THIMIG, UND WÜNSCH’ MIR, DASS ICH SEINE WEISSEN HÄNDE KÜSSE.
(Thimig wird auf Ruth aufmerksam. Er geht zu ihr.)
THIMIG
UND WER BIST DENN DU? PRINZESSIN SONNENSCHEIN?
RUTH
ICH HEISSE KUNIGUNDE, DOCH SIE NENNEN MICH NUR UNDE.
THIMIG
UND WO WOHNST DU, PRINZESSIN UNDE?
RUTH
ICH WOHN’ IM GOLDBLAUEN LANDE, WO ALLES GLÄNZT IN GOLD UND IN BLAU. ICH MUNT’RE DIE MENSCHEN AUF, WENN SIE WEINEN.
THIMIG
DOCH NUN SAG’ MIR, WIE ALT DU BIST, DU SONNENKIND AUS GOLDBLAULAND.
RUTH
ICH BIN BLOß SO ALT WIE DIE WELT IST!
THIMIG
BLOß SO ALT WIE DIE WELT IST? KUNIGUNDE...
RUTH
SIE NENNEN MICH NUR UNDE...
THIMIG
BLOß SO ALT WIE DIE WELT IST!
RUTH
UND DU? WER BIST DENN DU?
NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
Szene 5
NURZUR ANSICHT
(Professor Williger kommt und reicht Ruth seine Hand. Die Szene mit Thimig löst sich auf.)
GUNVOR (liest)
Ich habe einen neuen Menschen kennengelernt. Sein Name ist...
(Ruth und Williger geben einander die Hand.)
WILLIGER
PROFESSOR HERBERT WILLIGER!
GUNVOR ...und ich hab’ ihn gern.
RUTH (zum Publikum)
WIE EINEN VATER HAB’ ICH IHN LIEB.
WILLIGER
SECHZEHN JAHRE, KIND, MIT SECHZEHN JAHR’N, DA BEGINNT DOCH ERST DAS LEBEN.
GUNVOR (liest)
Ich war in Latein wackelig, infolgedessen schaffte mir Mama eine Nachhilfe an. Herr Dr. Brauchbar erzählte mir, was für ein Genie, was für eine Gescheitheit, was für eine Leuchte dieser Williger sei.
WILLIGER
FRAG MICH ALLES, WAS DU WISSEN WILLST. PLATONS DIALOGE WERDEN WIR LESEN, DU UND ICH.
RUTH (zum Publikum)
ER IST EIN ALTER MANN. ER IST WIRKLICH EINSAM. FÜR IHN BIN ICH ETWAS RICHTIG SCHÖNES
WILLIGER
RUTH, ICH HAB’ MIT BLUMEN DEN TISCH DEKORIERT.
RUTH JA.
NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
WILLIGER
SAG’ DOCH BITTE WAS LIEBES ZU MIR.
NURZUR ANSICHT
RUTH (zum Publikum)
DER HERR PROFESSOR KAM DANN ZU UNS HEIM. DAS WAR EK’LIG! SO EK’LIG WIE EINE KRÖTE! DANN GAB ER UNS SCHOKOLADE. UND KÜSSTE MEINE HAND GANZ HEIMLICH.
MUTTER
RUTH, VERGISS’ NICHT, PROFESSOR WILLIGER IST EIN MANN.
RUTH
DAS WÄRE WIRKLICH GRAUENHAFT SEINE FRAU ZU WERDEN– UND WIE!
WILLIGER
RUTH, WEISST DU DENN NICHT, DASS ICH DICH MAG? DU BIST DIE EINZIGE FRAU, RUTH, DIE WEISS, WIE MAN MICH GUT BEHANDELT. WEISST DU, RUTH, DASS EINEN DIE FRAU’N SO WENIG VERSTEH’N, DESHALB LEIDE ICH.
ICH HABE DAS VOR DIR NOCH KEINEM MENSCHEN GESAGT.
GUNVOR
Ich weiß, dass er mir Gutes will.
RUTH
ICH WEISS, DASS ER MIR GUTES WILL.
GUNVOR
Ein Mensch, der mir nur Gutes will.
WILLIGER (hält einen Bleistift hoch)
Ruth, du hast den hier vergessen. Du hast an ihm gebissen. ( z eigt) Da! Den will ich behalten. Schau weg, Ruth!
SCHAUST DU MICH SO AN, KANN ICH NICHT MEHR DENKEN.
RUTH
„SCHAUST DU MICH SO AN, KANN ICH NICHT MEHR DENKEN.“
WILLIGER
SCHAUST DU MICH SO AN, KANN ICH NICHT MEHR DENKEN.
Szene 6
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
GUNVOR (liest) Wien, Sonntag, 14.November 1937. Ich finde es ganz unnatürlich, dass das Leben nur so lange dauert, wie es dauert. Eines Tages werd’ ich Künstlerin sein...
RUTH
EINES TAGES WERD’ ICH KÜNSTLERIN SEIN. ICH WERD’ SPIELEN, ODER SCHREIBEN! EINFACH GLÜCKLICH LEBEN ODER AUCH MALEN. BILDER VON HIMMEL UND ERDE, VON WIESEN, VON FELDERN, VOM MEER.
GUNVOR (liest)
Vielleicht wird jemand nach meinem Tod das lesen?
RUTH
Ich wünsch’ ihm Glück.
GUNVOR (Liest)
Warum ich so viel an den Tod denke? Vielleicht weil ich fürchte, dass ich nichts getan haben werde. Komisch, hm?
RUTH
ICH MÖCHT’ EINMAL EIN KIND GEBÄR’N. DEN DRANG ZU SCHREIBEN SPÜR’ ICH IN MIR, UND ICH MÖCHT’ MALEN.
ICH HAB’ KEINE ANGST VOR’M TOD, DENN ICH WILL KÄMPFEN, BIS DIE WELT GUT IST.
GUNVOR (liest)
Morgen geh’ ich ins Burgtheater. Thimig wird den Waldschrat spielen. Ich freue mich sehr.
Ich hab’ den Thimig sehr gern.
(Thimig kommt als Waldschrat. Er tanzt mit Ruth.)
THIMIG
GUTES DRINGT IN DIE MENSCHEN, WENN WIR FÜR SIE SPIEL’N IM THEATER, MIT GESCHMINKTEN LIPPEN GESCHICHTEN ERZÄHLEN! GUTES KOMMT, WENN SIE GEDICHTE UND BILDER KREIER’N. GUTES KOMMT, WENN SIE MIT DER GEIGE SANFT AM KINN LIEDER KREIER’N.
RUTH
ICH WILL KÄMPFEN, BIS DIE WELT GUT IST.
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
Szene 7
(Ein Jude, jung, gut gekleidet, kommt um die Ecke. Er trägt einen Geigenkasten. Zwei SSMänner tauchen auf. Zuerst der eine, dann der andere, geben dem Juden eine Ohrfeige. Der taumelt, fällt, hält sich den Kopf... geht weiter.)
RUTH
ICH, RUTH MAIER, STELL’ ALS MENSCH DIE FRAGE AN DIESE WELT: WARUM DARF DAS SEIN? SAGT GOTT, WENN ES IHN GIBT: DIESE OHRFEIGE MUSS GESÜHNT SEIN MIT BLUT.
GUNVOR (liest aus dem Tagebuch)
Im Jahre 1938 war es sehr dunkel auf der Erde!
(Judith kommt und ist bei Ruth.)
CHOR
ROT IST AUCH DER JUD’, WENN ER BLUTET.
RUTH
UND DIE JUDEN LIEBE ICH. ICH LIEBE SIE, WEIL SIE SO LEIDEN. ICH BIN JÜDIN. SOLL’N SIE MIR FUSSTRITTE GEBEN, SPUCKEN AUF MICH. ICH BIN JÜDIN. SCHNEIDET MIR MEINE ADERN AUF, LASST JUDENBLUT AUS MIR FLIESSEN. ICH BIN JÜDIN.
CHOR
ROT IST AUCH DER JUD', WENN ER BLUTET.
(RUTH und JUDITH stehen eng beisammen. D IE MUTTER kommt. Alle drei stehen dicht beieinander. Es ist still.)
GUNVOR (liest aus dem Tagebuch)
Wien, Freitag, 11. November 1938.
RUTH
Gestern, mein 18. Geburtstag, war der schrecklichste Tag, den ich je erlebt habe. Ich weiß jetzt, was Menschen tun können, Menschen, die Ebenbilder Gottes. (Wi r hören ein e Violine, wir sehen einen jungen jüdischen Mann Geige spielen.)
RUTH
Nebenan spielt gerade ein Jude Geige. Trotz alledem, also trotz Pogromen und Prügel, wird der Jude nebenan Geige spielen.
THIMIG
GUTES DRINGT IN DIE MENSCHEN, WENN WIR FÜR SIE SPIEL'N IM
THEATER,
GUTES KOMMT, WENN SIE MIT DER GEIGE SANFT AM KINN LIEDER KREIER’N. LIEDER KREIER’N
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
RUTH ICH WILL KÄMPFEN BIS DIE WELT KÄMPFEN BIS DIE WELT GUT IST.
Szene 8
(Judith reist ab.)
GUNVOR (liest)
Wien, Freitag, 9. Dezember 1938.
Dita fährt morgen weg. Nach England.
In ein Lager für jüdische Flüchtlingskinder: weg von hier. Weg von mir.
(Am Bahnhof Hütteldorf)
RUTH
Dita! Ich werde dich vermissen! Dich vermissen! Dich vermissen! (Judith und ihre Mutter umarmen einander fest. Ruth sieht zu und umarmt dann beide.)
EIN MANN (ruft)
Nr. 258!
MUTTER (antwortet)
Ja! Hier!
RUTH (zu JUDITH)
Siehst du, jetzt bist du nur mehr eine Nummer.
JUDITH
Oh nein, ich bin noch immer die Judith Maier. (Sie geht, dreht sich um und sagt) Mama!
(Die Mutter will zu Judith laufen, aber DER MANN stoppt sie)
DER MANN
Machen Sie sich’s net schwerer!
NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
RUTH (Ruft ) Leb’ herrlich, Dita! Du allein bist Leben!
NURZUR ANSICHT
JUDITH (ruft zurück)
Leb’ herrlich, Ruth!
GUNVOR (liest)
Sonntag, 11. Dezember. Es ist scheußlich, ein Tagebuch zu führen. Grauenhaft. Da, auf der vorigen Seite, da steht noch Dita fährt morgen weg. Und heute:
RUTH
DITA IST WEG, MAMA WEINT SEHR. DITA IST WEG. SCHEIDEN! SCHEIDEN! SCHEIDEN! WER HAT NUR DAS SCHEIDEN ERDACHT? ICH HAB’ HEUT VON PAPA GETRÄUMT. DAS LEBEN KÖNNTE GUT SEIN. DAS LEBEN KÖNNTE GUT SEIN. SO GUT. SO GUT.
(Ruth spaziert durch die Straßen, Weihnachtsabend , 1938. )
GUNVOR (liest)
Also, Weihnachten.
Bin durch die Straßen gegangen... Schnee... Die Straßen leer.
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
Gegenüber blinken die eingeschlagenen Fenster vom jüdischen Geschäft.
Auf dem Geschäft steht "Jud". Nichts sonst.
Auf einem anderen: "Fort nach Dachau mit dir, Satan." Im Fenster oben leuchten Weihnachtskerzen... Weihnachten in Hitlerdeutschland.
RUTH
DAS LEBEN KÖNNTE GUT SEIN. DAS LEBEN KÖNNTE GUT SEIN. SO GUT. SO GUT.
JUDEN, SIE WANDERN. SIE WANDERN. WANN HAT DAS EIN END'?
DITA IST WEG.
Lizzy Kantor ist in der Schweiz.
GUNVOR (liest)
Durch meine ganze Schulzeit hindurch hab' ich Lizzy geliebt.
RUTH
Lizzy hat nie drum gewusst. JETZT IST LIZZY WEG. PAPA IST TOT. NEIN, KEINEN WILLIGER WÜRD' ICH BRAUCHEN, HÄTTE ICH MEINEN PAPA. WILLIGER IST AUCH SCHON FORT. HAB‘ ICH VON IHM ERFAHR’N. UND ICH?
DAS LEBEN KÖNNTE GUT SEIN.
GUNVOR (liest, es ist der erste Brief an Judith)
Wien, Donnerstag, 19. Jänner 1939. Liebe Dita!
RUTH
WEISST DU, ICH BIN HEUT’ VOLLER GLÜCK. BALD WERD' ICH IN NORWEGEN SEIN!
NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
HERR STRÖM
NURZUR ANSICHT
VISUM GEORDNET! DIE FAHRKARTEN MIT BRIEF GESCHICKT!
RUTH
DITA, ICH BIN SO FROH, SO FROH! ICH WERD’ EINZIEHEN BEI DEN STRÖMS. GAR NICHT SO WEIT WEG VON OSLO. DER HERR STRÖM KENNT PAPA NOCH VON FRÜHER. DITTL, ICH WILL DICH GERN WIEDER EIN BISSEL SEH’N. AUCH WENN’S NOCH DAUERN WIRD, DU, DIE ZEIT VERGEHT EH SO SCHNELL. ZU SCHNELL, DAS GLAUB’ ICH. SCHON DIESE WOCHE FAHR’ ICH IN DEN NORDEN.
(Wir sehen Ruth ihre Mutter umarmen. Sie verabschieden sich. Ruth reist nach Norwegen. – Ruth, die Mutter und Judith allein in verschiedenen Lichtkegeln)
DAS ENSEMBLE
( s ingt "Impressionistischen Bild" – Gedicht von Ruth Maier) GRAUE HÄUSER GEH'N WIE ALTE FRAUEN VORBEI. MENSCHEN SIND PUPPEN MIT HARTEM, VERSCHLOSSENEM ANTLITZ. EINE ROSE GLÜHT ROT IM ZERBROCHENEN FENSTER
UND WINKT AM HIMMEL, DER ERDRÜCKT WIE EIN HAUS AUS BLAUEM KRISTALL.
(Ruth kommt am Bahnhof in Oslo an und wird von Frau und Herrn Ström empfangen.)
(Ruth in ihrem Zimmer in Lilleström, sie schreibt einen Brief an Judith.)
GUNVOR (liest)
Lilleström, Mittwoch, 1. Februar 1939.
JUDITH (liest)
NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
Liebste Dita!
Ich bin zwar erst den zweiten Tag hier, aber mir kommt vor, als wäre ich jetzt schon einen Monat in Norwegen.
NURZUR ANSICHT
Ja, Dittl, ich kann dir zum Beispiel Herrn Ström nicht beschreiben. Er ist seeeeehr nett.
Raucht Pfeife und spricht deutsch mit mir.
Gestern hat er bei Radiomusik sogar einen Walzer mit mir getanzt. Nett?
Frau Dagmar ist auch sehr lieb.
Mein Zimmer ist ganz schmal und eng.
Durch mein Fenster schaut ein kleines Stück Norwegen herein. Ich lerne Norwegisch, das ist meine einzige reale Beschäftigung.
RUTH
HERR STRÖM IST SO LIEB. VIELLEICHT, DU, ICH ERZÄHL’S NUR DIR, KÖNNT‘ ER MIR EINEN MANN ERSETZEN.
(Judith lacht.)
RUTH
DITA, LACH JETZT NICHT. DITTL, DU WIRST SECHZEHN HEUT.
WILLIGER
SECHZEHN JAHRE, KIND, MIT SECHZEHN JAHR’N, DA BEGINNT DOCH ERST DAS LEBEN.
JUDITH (liest)
Übrigens, glaub’ nicht, dass ich nur ein kleines bissel mehr an den Williger denke. Per Brief könnt’ ich Dir’s doch sagen.
RUTH FINIS AMORIS. MIR IST DER HERR STRÖM TAUSEND MALE LIEBER. DITA, ICH FÜHLE MICH WIE EINE ALTE JUNGFER, MIT DEM GESCHMUSE, DAS ICH DA SCHREIBE. ES HÖRT NIEMALS AUF!
(Wir hören Herrn Ström offstage singen.)
HERR STRÖM (offstage)
LA LA LA LA LA ...
RUTH
Ein Mann im Haus! Du, das ist gar nicht zu unterschätzen.
(Herr Ström kommt mit einem Staubsauger.)
RUTH
So betörend!
NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
(Ström ist ulkig und schneidet Grimassen. Ruth lacht sich kaputt. Ström pfeift. Ruth nimmt ihm den Staubsauger aus der Hand. Ström schaut Ruth erlöst an.)
NURZUR ANSICHT
HERR STRÖM
Morgen fahren wir nach Uschlu!
RUTH Oslo?!
HERR STRÖM Usch-lu!
RUTH Usch-lu!
HERR STRÖM (applaudiert)
Flott, Rüth!
Dein Norwegisch ist sehr gut geworden. Jetzt kannst du studieren gehen!
RUTH
Ich würd’ hier gern meine Matura machen.
HERR STRÖM
Dann melden wir dich in der Schule an.
RUTH
Was ist mit meinem Visum?
HERR STRÖM
Wir werden es verlängern. Ja. Das werden wir machen –Morgen! In...
RUTH und HERR STRÖM Uschlu!
HERR STRÖM
Flott Rüth!
RUTH Ruth!
(Er streichelt Ruth übers Haar. Frau Dagmar Str ö m tritt ein. Herr Str ö m geht, Frau Str ö m folgt ihm.)
RUTH
ER STREICHELT MICH WIE EINEN HUND. ICH FÜHLE...
Du, ich glaub’, das kommt von meinem ungestillten, chronischen Liebesbedürfnis.
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
(Judith lacht.)
NEIN, DITA! LACH’ JETZT NICHT! BALD WIRST DU SIEBZEHN SEIN. UND PUNKT. NEIN BESSER, SIEBZEHN, DOPPELPUNKT: DER JUNGEN LIEBE BLÜTEZEIT, DIE SEXUELLE REIFEZEIT. DER ERSTE ECHTE KUSS. DIE ERSTE SEHNSUCHT.
JUDITH & RUTH
LIEBER MOND, DU GEHST SO STILLE. UND ICH SEH IHN, UND DU SIEHST IHN, DU UND ICH, WIR SEH’N DEN MOND.
(Sie vermissen einander .)
RUTH (schreibt)
Liebe, Dittl, wenn ich dir was wünschen soll, etwas Anständiges, Solides, das kann ich wirklich nicht. Etwas Solides wäre, dir zu wünschen, dass das ganze Deutschland, Hitler und Konsorten, auf einmal irgendwie explodieren! PENG! Darauf besteht aber jetzt nicht viel Aussicht!
(Herr Ström klopft an Ruths Tür.)
HERR STRÖM
Rüth, schläfst du schon? Es ist nämlich Nordlicht...
(Ruth schlüpft aus dem Bett. Sie gehen zum Fenster und schauen gemeinsam das Nordlicht an. Herr Ström bringt eine Decke und legt sie auf Ruths Schultern.)
JUDITH
UND ICH SEH IHN, UND DU SIEHST IHN, DU UND ICH, WIR SEH’N DEN MOND.
GUNVOR (liest)
Im August geh’ ich in die Schule und mache im Juni 1940 meine Matura.
RUTH
Ich weiß nicht, was besser ist. In Norwegen zu bleiben, oder nach England zu fahren.
NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
NURZUR ANSICHT
(Ruth ist in der Schule. Eine laute Diskussion im Klassenzimmer, Ruth möchte etwas sagen, wird aber unterbrochen. Die Mitschüler : innen verlassen das Klassenzimmer. Ruth bleibt und möchte in ihr Tagebuch schreiben, findet aber keinen Stift.)
RUTH (zu einer Schülerin)
Borgst du mir bitte einen Bleistift?
SCHÜLERIN
Warum hast du dir keinen mitgebracht?
SCHÜLER
Jeder muss die Klasse in der Pause verlassen.
SCHÜLERIN (zu Ruth)
Du bist ein Sonderling.
GUNVOR (liest)
Ich schleiche mich runter zu den Toiletten, anstatt alleine herumzulaufen.
RUTH
ICH HAB’ STETS EIN BUCH BEI MIR. DITA! (hält ein Buch hoch) TROTZKI, WEISST DU, DITA, TROTZKI!
GUNVOR (liest)
Die Gefahr ist, dass man auch zu stolz sein kann. Vielleicht lässt du niemanden an dich heran.
Szene 13 (Herr Ström kommt)
HERR STRÖM
Komm, Rüth, gehen wir spazieren.
RUTH (erpicht)
Hast du Trotzki gelesen? Trotzki ist Sozialist. Du, mit einem Glauben an die Weltrevolution... Und dann führt er eine Feder! Über jeden Satz freust du dich wie ein Kind. Über den Wohlklang, über den Witz, über den Geist.
HERR STRÖM
Aber was ist mit Stalin?
RUTH
Ich glaube, dass Stalin ihn verbannt hat, ist schon Grund genug, um ihn hochzuschätzen. Du musst Trotzki lesen!
(Herr Ström küsst Ruth.)
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
GUNVOR (liest)
Wenn ich jetzt dran zurückdenk’, war’s ganz schön. Aber damals!
Ich bin übergeschnappt. Wollt’ davonrennen. Weißt du, dass ich einen Sessel in der Nacht vor die Tür gestellt hab’ und eine Schere zu meinem Bett gelegt hab’? Ich hab’ eine krampfartige Angst vor Herrn Ströms Händen, Beinen, überhaupt vor seinem ganzen Körper gehabt.
HERR STRÖM
RÜTH, VERZEIH’ MIR, DAS WOLLT’ ICH NICHT. WEI DUMM VON MIR, SO ETWAS DARF NIE MEHR GESCHEH’N. ICH VERSICH’RE DIR, RÜTH, ICH BIN NICHT SCHLECHT, BIN DEIN FREUND.
GUNVOR (liest)
Aus mit Spaziergängen im Sonnenschein und Schluss mit Küssen auf die Wange und über die Haare Streicheln...
RUTH
MICH ZU STREICHELN WIE EINEN HUND. LIEBE DITA, DIE EINE GROßE LIEBE, DIE GIBT ES PRINZIPIELL FÜR MICH NICHT. DOCH HÄTT’ ICH SCHON, SEHR GERNE SO EIN MANNSBILD, MIT DEN SCHÖNSTEN KÖRPERFORMEN, UND EIN KIND SO BALD ALS MÖGLICH.
Dittl, da gibt es noch mehr als hochsinnige Gedanken über Sozialismus und Judenverfolgung...
Kapiert? Es gibt was, und das ist Dein Körper.
(Ruth sitzt auf einer Bank. PER , S CHÜLER I , aus ihrer Klasse, steht da und starrt sie an. Stille Spannung entsteht, dann sagt er)
PER Juden sind hier nicht erlaubt.
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
RUTH
DITA, ICH BIN ALLEINE, FAST SCHON EIN GANZES JAHR. UND ICH MEIN’ ALLEINE.
NIEMAND IST DA FÜR MICH, IST MIR GANZ NAH.
(Wir sehen Judith und die Mutter einander umarmen in England. Ruth läuft auf sie zu, aber sie erreicht sie nicht. Die beiden können sie nicht sehen. Gleichzeitig liest Gunvor aus dem Tagebuch.)
GUNVOR
Weißt du, Dittl, in letzter Zeit hab‘ ich mich unsinnig nach euch gesehnt! Wenn ich nur an die Hände von Musch gedacht hab’, hätt‘ ich weinen können. Du, ich freu mich riesig auf unser Wiedersehen... Weißt du wie das sein wird?!
– Drei winzige Menschen werden auf einen winzigen Menschen zu gerannt kommen.
RUTH
DITA, WAS WIRD DIESES JAHR UNS BRINGEN? ICH FINDE NEUNZEHNVIERZIG, DAS KLINGT SO... GRAUSAM. Dass ich nach Norwegen bin, war die größte Dummheit des Jahrhunderts.
Szene 15
GUNVOR (liest)
Lilleström, 9. April, 1940.
RUTH
Deutsche sind wieder über mir!
FRAUENENSEMBLE (um Ruth) ("Frühlingsnacht" – Gedicht von Ruth Maier) LANGE MÄNNER SCHLENDERN DAUERND IN DER FRÜHLINGSHELLEN NACHT. ZWISCHEN IHREN FINGERN LEUCHTEN HEIMLICH ZIGARETTEN WIE ERSEHNTES GLÜCK.
ENG STREIFEN SIE VORBEI AN DEN MÄDCHEN, DIE IN LEUCHTENDEN KLEIDERN, MIT HELLEM ANTLITZ, AN DER ECKE STEHEN. WENN SIE LACHEN, KLINGT ES AUF ZUM HIMMEL WIE DIE MUTIGE BITTE UM FREUDE.
(Ein Bursche kommt auf Ruth zu.)
BURSCHE
Woll’n wir im Wald spazieren geh’n, Fräulein?
RUTH
Nein, danke!
BURSCHE (lächelnd)
Hast du keine Lust oder was...?
RUTH
Ich habe keine Lust! (w ill gehen)
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
BURSCHE (h ält sie zurück)
Hm! Du hast wohl auch eine Fotze?
RUTH
Ich weiß nicht, was das ist.
BURSCHE (lächelt)
Wann hattest du das letzte Mal deine Menstruation?
RUTH (irritiert)
Halt’ die Klappe!
(Ruth läuft weg)
BURSCHE (ruft ihr nach, als würde er es gut meinen)
Fräulein! Ich will dir doch nur einen Gefallen tun! Es ist die letzte Chance, die du hast!
ES IST DIE LETZTE CHANCE, DIE DU HAST.
RUTH (alleine)
ACH! WARUM DENN NICHT?
SCHLIESSLICH BIN ICH AUCH NUR EIN MENSCH. ICH MÖCHT’ GERNE... ICH MÖCHT’ GERNE... EIN KIND GEBÄR’N. ICH HASSE LILLESTRÖM! ICH HASSE NORWEGEN. ICH WILL REISEN... REISEN! SCHRECKLICH IST DER FRÜHLING, WENN MAN SO ALLEIN IST. UND WENN DIESE NÄCHTE SO HELL SIND.
DAS WIRD KEIN GUTES ENDE NEHMEN. DAS WIRD KEIN GUTES ENDE NEHMEN.
Szene 16 / Finale 1. Akt
"An eine Freundin" (Ruth Maier) / "Schön ist die Erde" (Dänisches Weihnachtslied)
RADIOSTIMME
„Allen norwegischen Frauen, älter als 14 1/2 Jahre, die wegkönnen, wird dringend geraten, in diesem Jahr an einem freiwilligen Arbeitsdienstlager teilzunehmen.
Das Land erwartet Ihren Beitrag. Die Essensversorgung muss wieder gesteigert werden, doch den Bauern fehlen Arbeitskräfte. Darum richten wir uns an all jene, die ihre Zeit dem freiwilligen Arbeitsdienst widmen können!
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
Den Teilnehmerinnen wird die Reise erstattet, sowie Kost und Logis unter Dach, sowie Kleidung, Kopftücher und Decken zur Verfügung gestellt.
Sollten Sie einen Schlafsack besitzen, bringen Sie ihn mit!“
(Weihnachten 1940, im Arbeitslager für FRAUEN in Biri, Norwegen.)
EINE FRAU
.Und deshalb lasst uns heute Nacht, an diesem Weihnachtsabend, hier in Biri, im Jahr 1940, die Hymne anstimmen, die wir alle lieben: "Schön ist die Erde".
ANDERE FRAU
Nein! Wie können wir hier und jetzt so ein Lied singen? Wenn Krieg herrscht und so viel Böses in der Welt ist?
RUTH
Nein! Die Welt ist nicht schlecht!
Denn wenn sie schlecht wäre, würde man fragen: Wie kommt das Gute in die Welt? Menschen sind beides, schlecht und gut.
Gutes dringt in die Menschen, wenn wir für sie spiel’n im Theater, mit geschminkten Lippen Geschichten erzählen! Gutes kommt, wenn sie Gedichte und Bilder kreier’n. Gutes kommt, wenn sie mit der Geige sanft am Kinn Lieder kreier’n. Menschen sind schlecht, wenn sie einander töten.
Heute heulen die Deutschen wie die Tiere ihren Führer an. Aber später.... später.... wird ein neuer Goethe unter ihnen sein. Hört, was Goethe sagt:
"Und dann wurden meine Augen geöffnet für das Heilige und die allmächtige Natur, und ich umarmte all dies mit meinem pochenden Herzen."
Die Welt ist schön! Schaut euch Norwegen an!
Die Fjorde, das Meer, die Berge, der Schnee, die Wasserfälle, der Himmel... Manchmal ist es wirklich schön, am Leben zu sein.
(DIE FRAU, die "Schön ist die Erde" zuerst nicht singen wollte, stimmt das Lied nun an und die anderen setzen nach und nach ein. Während Ruths Monolog betritt Gunvor die Situation und sieht Ruth zum ersten Mal. Ruth merkt das. )
CHOR
SCHÖN IST DIE ERDE, PRÄCHTIG IST DER HIMMEL. SINGEND PILGERN WIR HIMMELWÄRTS.
( f rei nach dem Gedicht von Ruth Maier "An eine Freundin")
GUNVOR
ALS ICH DICH ZUM ERSTEN MAL SAH, BANNTE MICH DEIN BLICK. ES WAR KEIN ERSTES MAL.
RUTH
ALS ICH DICH ZUM ERSTEN MAL SAH, BANNTE MICH DEIN BLICK. ES WAR KEIN ERSTES MAL. NEIN! EIN WIEDERSEHEN.
GUNVOR & RUTH EINMALIG HERRLICH! WAR ES MIR DOCH, ALS WÄREN WIR VOR ZEITEN, SO LANGE OHNE ENDE, HAND IN HAND GEWANDERT AUF HELLEN WEGEN. SO EINS WAR’N WIR, DASS WIR GAR NICHT WUSSTEN UM DIES "DU".
GUNVOR DU WARST ICH
RUTH UND ICH,
GUNVOR & RUTH ICH WAR DU CHOR
ZEITEN SOLL’N KOMMEN ZEITEN SOLLEN GEHEN KINDER SOLL’N KOMMEN, WO VÄTER GEH’N.
NIEMALS VERSTUMMT DER HIMMLISCHE KLANG DER SEELE FROHEN PILGERFAHRT
GUNVOR
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
RUTH
ALS ICH DICH ZUM ERSTEN MAL SAH BANNTE MICH DEIN BLICK ES WAR KEIN ERSTES MAL, NEIN EIN WIEDERSEHEN.
ALS ICH DICH ZUM ERSTEN MAL SAH BANNTE MICH DEIN BLICK ES WAR KEIN ERSTES MAL
ES WAR KEIN ERSTES MAL EIN WIEDERSEHEN.
RUTH & GUNVOR
EINMALIG HERRLICH! WAR ES MIR DOCH, ALS WÄREN WIR VOR ZEITEN, SO LANGE OHNE ENDE, HAND IN HAND GEWANDERT AUF HELLEN WEGEN.
RUTH
SO EINS WAR’N WIR, DASS WIR GAR NICHT WUSSTEN UM DIES "DU", DASS WIR GAR NICHT WUSSTEN UM DIES "DU"
CHOR FRIEDEN AUF ERDEN! FREUT EUCH IHR MENSCHEN! DER RETTER IST GEBOREN!
RUTH & GUNVOR DU, WARST ICH DU, WARST ICH UND ICH WAR DU.
GUNVOR
SO EINS WAR’N WIR, DASS GAR NICHT WUSSTEN UM DIES „DU“
DASS WIR GAR NICHT WUSSTEN UM DIES "DU"
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
ENDE 1.
A KT
AKT 2
"All die Tage werden hell"
Szene 1
(Im Arbeitsdienstlager in Biri)
RUTH
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
ALL DIE TAGE WERDEN HELL, FINDEST DU DIE LIEBE. ICH KANN GAR NICHT SAGEN, WIE MIR WARM WIRD ZUSAMMEN MIT GUNVOR.
ICH LIEBE IHRE TIEFEN AUGEN, ICH LIEBE WIE SIE VERHALTEN DINGE ANSPRICHT UND LÄCHELT; EIN WERTVOLLER MENSCH.
ICH WILL FÜR IHR GLÜCK ALLES, WAS ICH HABE, OPFERN, UND NOCH MEHR. ALL DIE TAGE WERDEN HELL, FINDEST DU DIE LIEBE.
(Brief an England. Wir sehen Judith in einem separaten Licht. Sie liest den Brief von Ruth.)
JUDITH (liest)
Liebes Ditterle, ich bin im freiwilligen Arbeitsdienst in Biri. Nördlich von Oslo an einem See, den ihr bestimmt auf der Landkarte findet. Wir sind Hausgehilfinnen auf umliegenden Bauernhöfen. Die Mädels sind sehr nett. Ein Mädel liebe ich sehr... So wie einmal Lizzy Kantor.
(Ruth steht isoliert in eine m eigenen Licht. Gunvor in einem anderen.)
RUTH
GUNVORS AUGEN SIND DUNKELBLAU, OHNE ENDE TIEF. NIEMAND, DEN ICH KENNE, IST SO GUT WIE SIE. ALL DIE TAGE WERDEN HELL, FINDEST DU DIE LIEBE.
(Gunvor wendet sich Ruth zu)
GUNVOR Ruth, kommst du mit uns ins Café?
RUTH (tut so, als ob es ihr gleichgültig wäre) Ich weiß nicht.
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
GUNVOR Komm, geh’ mit.
RUTH Gut – oder, nein, doch nicht. Ich denke nicht.
GUNVOR Warum nicht?
RUTH Was meinst du?
GUNVOR Was ist denn los mit dir?
RUTH (zum Publikum) ICH SUCHTE RACHE FÜR DIE VIERTELSTUNDEN, DIE SIE MIR GERAUBT HAT, WEIL SIE MIT ANDEREN AUS IST.
GUNVOR Kommst du mit?
RUTH Nein, ich denke nicht.
(GUNVOR geht und RUTH beginnt zu weinen.)
RUTH DABEI SEHN’ ICH MICH SO, MIT IHR ZU SPRECHEN. ICH LIEBE GUNVOR, WEIL ICH DEN MENSCHEN IN IHR VOLLKOMMEN LIEB’, SO WIE BEI WILLIGER.
(GUNVOR steht in separatem Licht)
RUTH
GUNVORS AUGEN SIND DUNKELBLAU. OHNE ENDE TIEF.
NIEMAND DEN ICH KENNE IST SO GUT WIE SIE. ALL DIE TAGE WERDEN HELL, FINDEST DU DIE LIEBE.
(Gunvor wendet sich Ruth zu)
RUTH
Ich will dich zeichnen!
Szene 3
(Ruth zeichnet Gunvor)
GUNVOR
Meine Familie ist verrückt.
Die Geschwister meiner Mutter sind bis auf ein Mädchen alle wahnsinnig geworden.
Meine Mutter sei ein uneheliches Kind, hat man mir gesagt.
Aber ich weiß es nicht genau.
Es tut mir gut mit dir zu sprechen, ich kann mit dir offen sein.. Nicht wie mit Reidar.
Ich liebe ihn nicht mehr... Er denkt, dass wir heiraten.
Soll ich mit ihm Schluss machen?
RUTH
Ja!
GUNVOR (Kurze pause.) Ich bin ein Idiot, dass ich erzähle.
Du darfst ein anderes Mal nicht darüber sprechen... Nie.
(Ruth schweigt)
GUNVOR
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
Man muss Forderungen stellen an ein "Verhältnis". Man muss einander lieben – bedingungslos.
RUTH
Ich will jemanden, der mir das Onanieren erspart. C’est tout!
(Sie lachen laut auf und während sie lachen, singt Ruth)
RUTH
MAN MUSS EINANDER LIEBEN – BEDINGUNGSLOS... ALL DIE TAGE WERDEN HELL, FINDEST DU DIE LIEBE.
(Ruth steht in separatem Licht und hat einen Nervenzusammenbruch. Sie hält ihren Kopf so fest, als wolle sie schreien. Dann Stille.)
RUTH
Gunvor hat mir geholfen, als ich krank wurde. Ich werde ihr das nicht vergessen. Zusammen mit ihr war ich beim Arzt.
Das hat mich nicht überrascht. Der Grund war irgendeine Krankheit im Sinn. DEBILITAS NERVOSA
Das hat man davon, wenn man auf die Lateinlinie geht.
ES KOMMT MIR VOR, ICH GING‘ AM RANDE EINES ABGRUNDS. UNERHÖRT TIEF...
UND ICH MUSS BALANCIER’N, UM NICHT HINEINZUFALLEN. Ich werde übermorgen in ein Krankenhaus fahren.
(Gunvor kommt und umarmt Ruth)
RUTH
NUN FÜHL’ ICH MICH WOHL.
RUTH (zum Publikum)
Zum Schluss war es so, dass ich Mut genug hatte, um ihr meine Liebe zu zeigen.
(Sie geh e n zusammen ins Bett. Ruth streichelt Gunvors Hand.)
RUTH
ALLE MENSCHEN SOLL’N ZU DIR SO GUT SEIN, WIE ICH ES BIN. ALLE MENSCHEN SOLLEN JEMANDEN SO LIEBEN WIE ICH DICH LIEB’, SO LIEBEN WIE ICH DICH.
GUNVOR
Wieviel Uhr ist es?
RUTH
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
Pscht. Frag’ nicht. (Z um Publikum) ES WAR NACHT, UND NUR VON GUNVOR KAM EIN LICHT.
(Ruth verlässt Gunvor und schlüpft in die Hospitalskleidung, während Gunvor singt.)
GUNVOR
ALLE MENSCHEN SOLL’N ZU DIR SO GUT SEIN, WIE ICH ES BIN. ALLE MENSCHEN SOLLEN JEMANDEN SO LIEBEN WIE ICH DICH LIEB’, SO LIEBEN WIE ICH DICH.
Szene 5
NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
(Ruth ist Patientin in der psychiatrischen Abteilung /6.Station, im Ulleval Spital. Sie liegt im Bett und zeichnet immerfort. Eine Patientin kommt herein un d singt.)
NURZUR ANSICHT
PATIENTIN 1
EINMAL WARST DU EIN KIND, SAßT AUF MUTTERS SCHOß, DIE TAGE DER ZUKUNFT, DIE TRÄUMST DU BLOß. HALLELUJAH, HALLELUJAH, HALLELUJAH.
RUTH (hat aufgehört zu zeichnen) WARUM IST ES SO KOMPLIZIERT ZU LEBEN?
MEIN LEBEN SCHEINT BEDEUTUNGSLOS. AUSSER ICH MACH’ SKIZZEN ODER DENKE AN GUNVOR – DANN GEHT’S MIR GUT.
(Ruth zeichnet weiter. Eine andere Patientin tritt ein.)
PATIENTIN 2
ICH LIEGE SCHON ZU VIELE NÄCHTE HELLWACH. ICH HALTE DAS NICHT MEHR AUS.
(Patientin 1 starrt in die Luft und weint. Ruth geht zu ihr und umarmt sie. Eine weitere Patientin kommt.)
PATIENTIN 3
SIE HAT UNS BEFOHL’N, DASS WIR SIE MUTTER NENNEN SOLL’N. DA HAB’ ICH GEDACHT ICH MUSS RENNEN!
(Die Situation verändert sich. Ruth sitzt im Bett und schreibt an ihre Mutter & ihre Schwester. Judith liest den Brief.)
JUDITH
LIEBE DITTL UND MUSCH! WIE IHR JA WISST, BIN ICH IM ARBEITSDIENST FÜR FRAU’N, IN BIRI. HIER MAG ICH’S WIRKLICH SEHR. UND WIE IHR WISST, HAB’ ICH JEMANDEN KENNENGELERNT – GUNVOR. EINE FREUNDIN.
RUTH
Ja, Dittl. Du hast Recht, das hat mir so gefehlt. Ihr müsst entschuldigen, wenn ich von ihr schreibe. Sie bedeutet mir so viel.
JUDITH
LIEBSTE DITZGERLE UND LIEBSTE MUSCH, SCHNELL VERGEHT DIE ZEIT.
ICH BIN GLÜCKLICH, WENN ICH WEIß, ES GEHT EUCH GUT. Dittl, es freut mich sehr, dass du Van Gogh liebhast Du solltest ABSOLUT seine Briefe an seinen Bruder lesen.
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
(Gunvor kommt herein. Gunvor und Ruth sehen einander an. Ruth freut sich... Dann sieht sie, dass Gunvor nicht allein ist. Björg ist auch dabei, eine der anderen Mädchen aus dem Arbeitsdienstlager.)
GUNVOR
Du, es tut mir leid, dass ich nicht alleine komme, wie wir es vereinbart haben. Ich habe Björg am Weg hierher getroffen.
(Sie setzen sich. Sie scheinen distanziert zueinander. Betrachten einander sorgfältig. Dann kommt Patientin 1 und singt.)
PATIENTIN 1
EINMAL WARST DU EIN KIND, SAßT AUF MUTTERS SCHOß, DIE TAGE DER ZUKUNFT, DIE TRÄUMST DU BLOß.
HALLELUJAH, HALLELUJAH, HALLELUJAH.
(Gunvor und Björg gehen hinaus, gefolgt von der Patientin.)
RUTH
WIR HABEN UNS DOCH LIEB. DESHALB HÄTTE MEHR SEIN SOLLEN, DESHALB SOLLTE DOCH VIEL MEHR SEIN. ES WAR NICHT GENUG.
(PATIENTIN 2 kommt herein.)
PATIENTIN 2
ICH HASSE DIE HELLEN NÄCHTE HIER. ICH WARTE, WARTE AUF DASS ES DUNKEL WIRD. ACH, DIE SONNE SCHEINT SO HELL HIER!
(Sie läuft ab .)
RUTH
IMMER WENN DIE SONNE SCHEINT, DENKE ICH AN GUNVOR. OHNE GUNVOR WÄRE DAS LEBEN GANZ UNERTRÄGLICH.
(Gunvor kommt herein. Alleine. Sie umarmen einander. PATIENTIN 1 kommt herein.)
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
PATIENTIN 1
EINMAL WARST DU EIN KIND, SAßT AUF MUTTERS SCHOß, DIE TAGE DER ZUKUNFT, DIE TRÄUMST DU BLOß. HALLELUJAH, HALLELUJAH, HALLELUJAH.
GUNVOR
Ich reise wieder hinauf nach Biri.
RUTH
Nein! Bleib hier bei mir!
GUNVOR
Ruth, du darfst nicht verzweifeln.
RUTH
ICH BIN OFT SEHR VERZWEIFELT. VOR MIR STEHT DAS LEBEN, G’RAD WIE EIN UNHEIMLICHES UNGEHEUER, GEGEN DAS SICH ZU WEHREN LÄCHERLICH IST. ODER NEIN. WIE DIE SCHWARZE NACHT... UND ICH HABE KEIN LICHT.
(Gunvor umarmt Ruth, die sich in "unaussprechlicher Trauer" an sie klammert. PATIENTIN 3 kommt herein mit schleppendem Schritt. PATIENTIN 2 kommt ihr nach. Sie stehen und beobachten Gunvor und Ruth, die die Umarmung lösen.)
PATIENTIN 3 MIT KINDERBEKOMMEN IST’S JETZT GANZ VORBEI.
GUNVOR (hat es ein bisschen eilig) Ich werde dir schreiben.
Und dann gehen wir im Frühling auf Wanderschaft, wir werden trampen!
(Sie trennen sich. PATIENTIN 2 und 3 folgen Gunvor hinaus. PATIENTIN 2 SUMMT ihr Thema.)
PATIENTIN 2
AH – AH – AH...
( Wenn möglich : Wir sehen Judith und die Mutter im separaten Licht im Hintergrund. Ruth liegt im Bett und schreibt an ihren Bri ef an sie, die Mutter liest ihn, oder Ruth liest dies beim Schreiben.)
MUTTER /RUTH
Liebste Musch, wenn du mich liebhast, musst du darum auch Gunvor liebhaben.
(Ruth setzt sich auf und zeichnet, zieht sich an. Dann stoppt sie.)
RUTH
Morgen kommt Herr Ström, um mich abzuholen.
Nach Lilleström.
NURZUR ANSICHT
Das Gemeine ist, dass ich mir ein Leben außerhalb der psychiatrischen Abteilung nicht mehr vorstellen kann.
RUTH
DINGE, SIE KOMMEN JETZT NÄHER, ZU NAH. BÄUME. MENSCHEN.
DINGE, SIE KOMMEN VIEL ZU NAH. EIN BRENNEN.
(Sie zeichnet. S toppt.)
RUTH
WAS ICH WILL, MIT DEM MALEN, IST DIE BEFRIEDIGUNG DES DRANGES IN MIR. DER DRANG ZU KREIEREN. ACH, FRÜHER WOLLT’ ICH AM THEATER SPIELEN, JA, UND ICH WOLLT’ SCHREIBEN ICH WOLLTE ZEIGEN, WER ICH BIN, WOLLTE ALL DEN RUHM. HEUTE WILL ICH DAS NICHT MEHR.
(Ruth malt. Stoppt. Sie packt ihre Koffer.)
RUTH
ICH WEISS, DASS GUNVOR DAS VERHÄLTNIS NICHT SO TIEF FÜHLT WIE ICH. DOCH DAS MACHT MIR NICHTS. ÄRZTE ERKLÄR’N, ES SEI UNNATRÜRLICHE LIEBE.
NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
DOCH ICH WEISS, DAS STIMMT SO NICHT, ICH LIEB’ SIE GANZ NATÜRLICH. ICH FÜHL’ MICH, ALS WÄR’N UNS’RE SEELEN VERBUNDEN. JA, ICH LIEBE GUNVOR BEDINGUNGSLOS.
(Die 3 PATIENTINNEN kommen, sie sehen, dass Ruth packt.)
ALLE 3 PATIENTINNEN EINMAL WARST DU EIN KIND, SAßT AUF MUTTERS SCHOß, DIE TAGE DER ZUKUNFT, DIE TRÄUMST DU BLOß. HALLELUJAH, HALLELUJAH, HALLELUJAH.
( Ruth verabschiedet sich von den Patienten. Ruth ist reiseklar und wartet auf Herrn Str ö m.)
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
RUTH WAS WIRD DA DRAUSSEN SEIN? WAS WIRD DA DRAUSSEN SEIN?
(Herr Ström kommt)
RUTH
ICH WILL NUR KEINE BÜRDE MEHR SEIN. IN LILLESTRÖM HABE ICH NUR BÜCHER ALS FREUNDE. DINGE, SIE KOMMEN JETZT NÄHER, ZU NAH. BÄUME, MENSCHEN. DINGE, SIE KOMMEN VIEL ZU NAH. EIN BRENNEN.
RUTH (zu Herrn Ström) Was muss ich tun, um aus Norwegen wegzukommen?
HERR STRÖM
Du musst warten.
ENSEMBLE singt ("Impressionistisches Bild"/Reminiszenz) GRAUE HÄUSER GEH’N VORBEI, WIE ALTE FRAUEN. MENSCHEN SIND WIE PUPPEN MIT HARTEM VERSCHLOSSENEM ANTLITZ.
(Die MUTTER liest einen Brief von RUTH und JUDITH schaut ihr dabei über die Schulter.)
MUTTER
Liebste Dita und allerliebste Muscherle!
Dieses Lilleström hängt mir gelinde gesagt zum Hals heraus.
JUDITH (übernimmt)
Es ist eine hässliche Stadt.
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
MUTTER (liest weiter)
Auch Ström und Frau bedeute ich nichts mehr.
Wie es so gekommen ist? Na, man nennt es: "Auseinandergleiten".
JUDITH (liest)
Morgen gehen Gunvor und ich trampen, mit ein paar anderen Mädchen... (S chaut die MUTTER fragend an) Was bedeutet das, Mama?
Tramperlied
(Ruth und ihre Freunde singen das „Tramperlied“)
RUTH
Erster Tag, Straßenbahnhaltestelle Sinsen, 9. Juni. Wir versuchen zu trampen!
RUTH UND GUNVOR , PLUS FRAUEN
GENAU UM FÜNF, GENAU UM FÜNF
DA FAHREN VIELE AUTOS, FAHREN VIELE AUTOS, FAHREN VIELE AUTOS. DOCH ALLE FAHR’N AN UNS VORBEI, ALS WÄR’N SIE HIER DIE MAUT LOS, WÄR’N SIE HIER DIE MAUT LOS, WÄR’N SIE HIER DIE MAUT LOS. TRA LA LA LA...
RUTH
Nächster Tag, Vinstra. Wir übernachten in einer Scheune!!!
RUTH UND GUNVOR, PLUS FRAUEN
ES SURRT UND KNURRT, WIR FÜRCHTEN UNS VOR LAUTEN NACHTGERÄUSCHEN, LAUTEN NACHTGERÄUSCHEN, LAUTEN NACHTGERÄUSCHEN. DOCH SELTSAM, DIESES KNURREN KOMMT AUS UNSER’N LEEREN BÄUCHEN, UNSER’N LEEREN BÄUCHEN, UNSER’N LEEREN BÄUCHEN.
TRA LA LA LA...
RUTH
Nächster Tag: Kartoffelpüree am Ufer des Lagen-Flusses!
RUTH UND GUNVOR, PLUS FRAUEN
WIR TRAMPEN UND WIR TRAMPEN, SO BALD WIRD'S KEIN ENDE GEBEN, WIRD’S KEIN ENDE GEBEN, WIRD’S KEIN ENDE GEBEN.
DENN DUMM, ES SCHEINT WIR GEHEN NUR IM KREIS AUF UNSER’N WEGEN, KREIS AUF UNSER’N WEGEN, KREIS AUF UNSER’N WEGEN. KREIS AUF UNSER’N WEGEN.
TRALA LA LA LA…
NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
(Sie halten ihre Daumen hoch, damit jemand stoppt, aber es hält niemand an.)
RUTH UND GUNVOR, PLUS FRAUEN
NURZUR ANSICHT
WIR WEINEN UND WIR WEINEN, SCHLIESSLICH HÄLT EIN LASTER AN, HÄLT EIN LASTER AN, HÄLT EIN LASTER AN, HÄLT EIN LASTER AN.
DAS GUTE WAR, WIR DURFTEN MIT UND KAMEN ENDLICH AN, KAMEN ENDLICH AN, KAMEN ENDLICH AN, KAMEN ENDLICH AN. TRA LA LA LA LA...
RUTH
Nächster Tag:
GUNVOR UND RUTH
Trondheim: Endlich! Ja! Wir haben Arbeit! Zwei Kronen pro Tag.
(Gunvor und Ruth verlassen die Mädels .)
GUNVOR UND RUTH UND ZIEH’N IN EIN PENSIONAT!
Szene 7
(Ruth und Gunvor sind in ihrem Zimmer.)
RUTH
Plötzlich, wie über Nacht, ist der Herbst gekommen. Die Nächte sind schon dunkel. Und ich sehe Gunvor nicht in der Nacht, wenn sie wie ein kleines Kind an meiner Seite liegt. Jetzt fühle ich nur ihren Mund und ihre zarte Haut und höre sie sagen:
GUNVOR
Komm!
Das ist so herrlich, dass du neben mir liegst. So behütet.
RUTH (Zum Publikum)
SO SCHWER UND TRAURIG SIEHT MICH GUNVOR AN, WIE EIN KIND, UNERGRÜNDLICH SCHMERZVOLL. ICH MÖCHT’ SIE DANN TRÖSTEN
(Ruth dreht sich zu Gunvor, streichelt ihre Stirn und küsst sie. Sie sitzt am Bett, oder steigt zu Gunvor ins Bett: )
GUNVOR
ALLE MENSCHEN SOLL’N ZU DIR SO GUT SEIN WIE ICH ES BIN.
ALLE MENSCHEN SOLLEN JEMANDEN.
SO LIEBEN WIE ICH DICH LIEB. SO LIEBEN WIE ICH DICH.
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
RUTH
ALLE MENSCHEN SOLL’N ZU DIR SO GUT SEIN WIE ICH ES BIN.
ALLE MENSCHEN SOLLEN JEMANDEN SO LIEBEN WIE ICH DICH LIEB SO LIEBEN WIE ICH DICH.
Szene 8
(Ruth ist alleine, zurück in Lilleström)
RUTH
Lange ist es her, seit ich das letzte Mal ins Tagebuch geschrieben habe, seit Gunvor und ich zusammen in Trondheim wohnten. Vergebens versuchte ich, sie zu überzeugen, wie idiotisch es von uns ist, zu reisen, unser "Heim" zu verlassen.
Jetzt fahre ich jeden Tag nach Oslo und lerne Maschineschreiben, norwegische, deutsche Stenografie, zusammen mit Gunvor.
GUNVOR LIEBE ICH SEHR.
ICH KANN MIR DAS LEBEN NICHT DENKEN OHNE GUNVOR. WÄR‘ DA NICHT DIESE MELANCHOLIE.
Szene 8b (Gunvor kommt)
GUNVOR (plötzlich)
Heute ist der letzte Tag, an dem ich mit dir durch die Stadt laufe.
RUTH (erschrocken, aber versucht es zu überspielen) Was? Das meinst du doch nicht im Ernst?
GUNVOR
Du bist mir fremd wie irgendwer, und du bist mir egal, ganz egal.
RUTH (erblasst)
Und wie ist denn das gekommen? Ganz plötzlich?
GUNVOR
Nein, es ist schon eine Weile her.
RUTH
Eine Weile? Wie meinst du das? Dann ist es jetzt vorbei?
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
GUNVOR Ja.
RUTH
Und du meinst das ernst?
GUNVOR
Ja. Ich mein es ernst.
RUTH (rot und blass zugleich)
Ich muss gehen. Gehen!
(Ruth möchte gehen, aber Gunvor hält sie zurück. Ruth reißt sich los und läuft weg. Sie bleibt stehen und hört, ob ihr jemand folgt. Nichts. Stille.)
RUTH
NICHTS EXISTIERT, AUSSER DIESER LEERE, DIE HÄMMERT UND POCHT IN DER BRUST.
ACH, WOHIN SIND DENN ALL DIE GROSSEN WORTE, DIE DU MIR GABST?
KANN SIE DENN NICHT VERSTEH’N, DASS ICH SIE BRAUCHE? SIE, DIE MICH ZÄRTLICH LIEBKOSTE ICH WEISS, SIE LIEBTE MICH.
(Flashback nach Trondheim : )
RUTH
Trondheim, ich erinnere mich gut. Wir waren missmutig.
Ein schreckliches Herbstwetter war auch damals. Es regnete in einem fort, der Himmel bloß grau.
Auf einem Bauernhof in Söberg, außerhalb der Stadt, war ein unmöbliertes Zimmer zu vermieten. Ich schlug zu, versprach, einzuziehen... Wir saßen in einem Kaffee, Gunvor erklärte mir feierlich, dass sie zurück nach Oslo fährt. Mir wurde so weh und wund.
(Ruth steht auf, als wollte sie gehen, Gunvor hält sie auf.)
GUNVOR
Also mal im Ernst.
Ruth, du musst verstehen. Wir können nicht mehr hierbleiben Die Arbeit am Hof führt zu nichts.
RUTH (zischend)
Halt’s Maul!
GUNVOR
Hör mir zu! Komm mit mir nach Oslo!
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
RUTH
Halt’s Maul!
GUNVOR
Dort können wir studieren, vielleicht finden wir ein Zimmer für uns zwei.
(Stille, dann Ruth zum Publikum)
RUTH
Wenn sie nicht sprach, sehnte ich mich danach, sie sprechen zu hören, wenn auch nur, um ihr ins Gesicht schleudern zu können:
GUNVOR
Ruth, hör mich an!
RUTH
Halt’s Maul!
GUNVOR Ruth RUTH
Halt’s Maul!
( P lötzlich reißt sie die Wut, es steigt ihr "rot und dunkel" auf und sie zischt noch mehr "Halt ‘ s Maul" ; sie fährt ihr an die Gurgel und würgt sie. Dann lässt Ruth davo n ab und wendet sich zum Publikum, währe nd sie sich auf eine Bank setzt )
ICH SAß DA AUF EINER ALTEN PARKBANK IN TRONDHEIM, IN DER ERLING SKAKKE STRAßE UND SCHLUCHZTE GANZ TIEF.
(Gunvor kommt und setzt sich zu Ruth.)
GUNVOR
Wann fährst du denn zu dem Bauernhof nach Söberg, außerhalb der Stadt?
RUTH (versucht abweisend zu sein) Morgen, das weißt du doch genau.
(Stille wieder. Beide lächeln.)
GUNVOR ( s chelmisch ) Sagen Sie, Fräulein... (lächelt breit) ist es gestattet, Sie zu begleiten?
(Alles jauchzt in Ruth – beide lachen auf. Gunvor geht von Ruth weg, beide in separatem Licht.)
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
RUTH (alleine) NICHTS EXISTIERT AUSSER DIESER LEERE, DIE HÄMMERT UND POCHT IN DER BRUST. DAMALS HIEß ES IMMER: RUTH UND GUNVOR, GUNVOR UND RUTH, NIEMALS NUR RUTH, NIEMALS NUR GUNVOR ALLEINE.
SIE, DIE MICH ZÄRTLICH LIEBKOSTE. ICH WEIß, SIE LIEBTE MICH.
( RUTH sieht aus dem Fenster. Mondlich t Gunvor verschwindet. JUDITH – Ruths Schwester – kommt, steht in separatem Licht.)
JUDITH & RUTH UND ICH SEH’ IHN UND DU SIEHST IHN DU UND ICH, WIR SEH’N DEN MOND.
( RUTH ist in Gustav VIGELANDs Atelier. Sie steht Modell für die Skulptur "Überrascht" –VIGELAND betrachtet sie.)
VIGELAN D
IN FRANKREICH DA Aß ICH SEHR VIELE SCHNECKEN. AßEN SIE AUCH SCHON EINMAL SCHNECKEN, FRÄULEIN MAIER?
NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
RUTH
NEIN, SCHNECKEN Aß ICH NIE, HERR VIGELAND, NIE! ABER ICH WÄRE NEUGIERIG D’RAUF.
NURZUR ANSICHT
VIGELAND
GRATINIERT MIT KNOBLAUCH. OH, EIN WAHRER GAUMENSCHMAUS, ACH, ÄUSSERST DELIKAT, WELCH AMUSE-BOUCHE. MEIN SCHÖNSTES MODELL, IN PARIS, SIE BETROG MICH, JEDOCH SIE Aß GERN SCHNECKEN UND WENN SIE NACKT POSIERTE, SCHMATZTE SIE. VERSTEH’N SIE, FRÄULEIN MAIER. VERSTEHN SIE, WAS DAS BEDEUTET: GANZ NACKT ZU POSIER’N? MACHT IHNEN DAS WAS AUS?
RUTH
ICH BIN SICHER, DAS IST HALB SO GEFÄHRLICH. (Z um Publikum) GUSTAV VIGELAND!
ICH LIEB’ SEINE WERKE: "Mutter mit Kind", "Mann mit Frau auf dem Schoß", das Camilla-Collett-Denkmal, die Wergelandstatue... Doch habe ich nicht den Eindruck bekommen, dass er klug ist.
(Sieht zurück zu Vigeland)
VIGELAND
FRÄULEIN MAIER, SIE KAUTEN OFT AN DIESEM BLEISTIFT. ICH MUSS IHN BEHALTEN ALS ERINNERUNG AN SIE.
RUTH (zum Publikum)
Übrigens: Es ist wieder gut zwischen Gunvor und mir. Folgendes ist passiert: Ich traf sie in der Schule.
Sie saß in der Stunde sehr weit weg von mir und unterhielt sich mit ihrer Nachbarin. Ich musste hinausgehen einmal, um die Tränen wegzuwischen. Als die Stunde zu Ende war, folgte ich ihr auf den Gang.
(Gunvor kommt herein)
RUTH
Ich will mit dir sprechen.
GUNVOR Was?
RUTH
Ich will den Grund wissen und ich will wissen, ob es dir ernst war.
(Gunvor lächelt verlegen und greift kindlich nach Ruths Händen.)
GUNVOR
Ich weiß nicht... ja, vielleicht war das nur Quatsch.
RUTH
Warum hältst du mich so hin?
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
GUNVOR
Ich kann nichts dafür, dass ich so bin.
(D ann lacht sie und sagt) Und du magst Szenen, Auseinandersetzungen, das erinnert an Theater, nicht wahr?
RUTH
Du quälst mich.
GUNVOR
Du weißt ja, dass ich verrückt bin... aber jetzt ist alles in Ordnung. Ich meine es ernst, wirklich.
RUTH
Dann lassen wir es sein... Ich verzeihe dir. Ich verzeihe dir alles.
(Z um Publikum)
VON NUN AN WIRD, DIE LIEBE, DIE ICH FÜHLE, DOPPELT SO SCHWERZVOLL SEIN. ICH WAR MIR IHRER ZU SICHER, JETZT KOMMT DIE STRAFE.
(Zurück bei Vigeland – er hat die ganze Zeit geredet)
VIGELAND
FÜR CHRISTUS STAND SIE MODELL UND BETROG MICH. UNSER CHRISTUS.
DER ALLERHEILIGSTE, SOHN UNS’RES GOTTES, BETROG MICH! WISSEN SIE, FRÄULEIN MAIER, IN PARIS, DA KANN EINEM VIEL PASSIER’N.
RUTH
WISSEN SIE, HERR VIGELAND?
(Ruth geht zu ihm, verführerisch)
RUTH
IM ZUG HEUTE FRÜH, DA WAR EIN MANN, DER KÜSSTE MICH.
VIGELAND
ABER FRÄULEIN MAIER...
RUTH
MEIN HERR, EIN WAHRER MANN, DER FRAGT NICHT LANG, DER GREIFT ZU...
VIGELAND
ABER FRÄULEIN...
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
RUTH
HEUTE, OHNE MICH ZU FRAGEN, DA KÜSSTE MICH EIN WAHRER MANN WIR WAR’N BLIND VOR LEIDENSCHAFT UND VOR BEGEHR’N.
(Sie lacht und beginnt sich auszuziehen.)
RUTH
SIND SIE EIN WAHRER MANN, MEIN HERR?
(Er macht eine plötzliche Bewegung, möchte sie umarmen. Sie stoppt ihn.)
RUTH
Nein, wirklich, Herr Vigeland. Sollten wir nicht arbeiten?
VIGELAND
DAS IST IHRE SCHULD!
(Ruth lächelt – in isoliertem Licht – vielleicht während sie sich anzieht)
RUTH
NICHTS EXISTIERT... NICHTS EXISTIERT AUSSER DIESER LEERE, DIE HÄMMERT UND POCHT IN DER BRUST.
(in Oslo – in Ruths Zimmer "ganz tief drunten" mit Aussicht auf den Innenhof mit gelber Mauer.)
RUTH
Ein kindischer Traum hat sich in mir wieder zu rühren begonnen: Zeichnen, malen, für die "Kunst" leben.
Wenn ich das realisieren könnte, wäre mein Leben nicht umsonst.
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
(Gunvor kommt )
GUNVOR
Du hast eine Kraft in dir.
RUTH
Aber ist es eine Kraft zu schaffen, auszuhalten, alles zu opfern? Zu malen, so wie ein anderer isst und trinkt? Weil es ihm Notwendigkeit ist?
GUNVOR
Zu schreiben ist für mich eine Notwendigkeit. Und ich weiß, für dich auch.
RUTH
Nein, ich bin nur eitel.
Ich will nur genauso viel können wie jeder anderer auch.
GUNVOR
UND DOCH BERÜHRT DICH ALLES, WAS RUND UM DICH PASSIERT. DU SCHREIBST ES NIEDER, FORMST GEDICHTE VOLL VON LEID. VON MENSCHEN, GEFÜHLEN, UND STIMMUNGEN.
RUTH, ALL DAS LEBT IN DIR. IN DEINEN SCHRIFTEN UND IN DEINEN BILDERN. RUTH, ALL DAS LEBT IN DIR.
(S ingt ihr eigenes Gedicht "Worte")
WORTE, GLÜHEND STILLE, WERD’ ICH FINDEN, SCHENKEN AN DICH.
MIT DIR JEDEN AUGENBLICK AHMEN, IN EINEM EWIGEN RAHMEN
AUF DASS DU MICH NIE VERGISST.
(GUNVOR)
BILDER, ERDE UND GEIST, DAS IST IN DIR HOFFNUNG, UNRUH‘ UND LEID,
DAS IST IN MIR
ZEUGE MIT NUR EINEM WORT, WELCHES NIEMALS GEFUNDEN.
ZEUGE DURCH UNS’RE AUGEN, SUCHEND, WIE VERBUNDEN.
DASS DAS FEUER NIEMALS ERLISCHT.
WORTE, GLÜHEND STILLE.
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
Szene 11
RUTH
Mittwoch, 24. Dezember 1941.
Sogenanntes Weihnachten. Ich bin allein diesmal. Aber nicht darum will ich schreiben. Draußen ist Krieg. Ich hab’ es oft gedacht, ich hab’ es nie so gefühlt wie heute.
So grauenhaft nah.
Ich fuhr mit der Bahn nach Lilleström, um Weihnachten mit mir zu feiern.
(Ruth im Zug – zwei MÄNNER kommen herein. Einer ist Finne, der andere ein älterer Norweger. Der Finne scheint betrunken, gestikuliert mit den Händen. Spricht eine fremde Sprache, manchmal deutsche Worte. Er lacht, lächelt.)
NORWEGISCHER MANN
Wir kommen aus Finnland. Sie glauben, der ist betrunken, er hat einen Nervenschock.
(Ruth ist still. Der f innische MANN spricht wirr, versteckt sein Gesicht in den Händen, stemmt sich auf, salutiert, lacht dann höhnisch. Manchmal blickt er wild ängstlich umher. Dann schaut er mit flehenden Augen in die Luft. Er weint.)
FINNISCHER MANN
MEINE LEUTE, ALLE MANNA! KAMERAD’! ALLE MANNA!
(Er tut, als ob er ein Gewehr lade, plötzlich fällt er mit ausgebreiteten Armen zurück in den Sitz. Er weint und die Arme hängen an ihm lose herab. Dann setzt er sich auf und sieht Ruth an.)
RUTH (zum Publikum)
ICH DENK’ AN DEN VERWIRRTEN SOLDATEN. NEIN, NIE, AUCH NICHT FÜR ETWAS UNENDLICH GUTES, SOLL EIN MENSCH DERART LEIDEN – NIE. NIEMALS KANN LEID AN SICH DEN GRUND DES LEIDENS RECHTFERTIGEN. EHER LEIDEN MIT DEN LEIDENDEN ALS ANDERE LEIDEN MACHEN.
(Der finnische Soldat nimmt Ruths Hand, eine Verabschiedung. Er und seine Begleitung gehen hinaus. Ruth ist allein.)
EINE STIMME
Fragebogen für Juden in Norwegen vom Romerike Polizeibezirk.
(Wird gesprochen von einer klaren, eiskalten Stimme, Ruth antwortet darauf)
EINE STIMME Familienname.
NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
RUTH Maier
NURZUR ANSICHT
EINE STIMME Vorname.
RUTH Ruth
EINE STIMME Geboren? – Ort, Datum, Jahr.
RUTH Wien, 10. November 1920.
EINE STIMME Geburtsland?
RUTH Österreich.
EINE STIMME Private Adresse.
RUTH Storgata 7, Lilleström.
EINE STIMME Derzeitige Religion.
RUTH Keine.
EINE STIMME Bisherige Religion.
RUTH Jüdisch von Geburt
EINE STIMME Familienstand.
RUTH
Ledig
EINE STIMME Nationalität.
RUTH Deutsch
EINE STIMME Staatsbürgerschaft.
RUTH Deutsch
EINE STIMME
Wann sind Sie nach Norwegen gekommen?
RUTH
30. Januar 1939
NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
Szene 13
NURZUR ANSICHT
"Avinu Malkeinu" – "Nichts existiert"
(In einer Synagoge.
Wir hören ein hebräisches Gebet AVINU MALKEINU, ein Gebet für den Frieden. Ruth steht von den anderen isoliert. Sie fühlt sich nicht dazugehörig, wie eine Fremde. Ruth möchte aber wieder mit ihnen zusammen sein, ihnen angehören.)
MÄNNER
AVINU MALKEINU, CHANEINU, VA-ANEINU. AVINU MALKEINU, CHANEINU VA’ANEINU, KI EIN BANU MA’ASIM. ASSEI IMANU TZ’DAKAH VACHESED, ASSEI IMANU TZ’DAKAH VACHESED VEHOSHIYEINU.
(„Unser Vater, unser König, sei uns gnädig und erhöre uns, auch wenn wir keine guten Taten aufweisen können, erweise uns Gnade und Güte, hilf uns!“)
RUTH
NICHTS EXISTIERT AUSSER DIESER LEERE, DIE HÄMMERT UND POCHT IN DER BRUST.
ACH, WOHIN SIND DENN ALL DIE GROSSEN WORTE, DIE DU MIR GABST? DAS FENSTER, DAS MUTIG DEM SOMMER ENTGEGENBLICKT. DIE RÖTENDE WOLKE, DIE SCHWEBT, ÜBER DES BEBENDEN BAUMS GOLD’NER KRONE.
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
WAS KANN ICH DENN SONST NOCH WOLLEN? WAS WILL ICH, WENN NICHT DAS HIER? UND DOCH – ACH, SAG’ ES MIR –DIE LEERE, WO KAM SIE HER, WENN NICHT GERADE VON DORT HER: EINES HELLEN SOMMERS UNSAGBAR TIEFE WUNDE.
(Eine Frau kommt auf Ruth zu und nimmt sie in die Gruppe auf, der Chor singt)
MÄNNER
AVINU MALKEINU, CHANEINU, VA’ANEINU, AVINU MALKEINU, CHANEINU VA’ANEINU, KI EIN BANU MA’ASIM. ASSEI IMANU TZ’DAKAH VACHESED, ASSEI IMANU TS’DAKAH VACHESED, VECHOSHIYEINU. ASSEI IMANU TZ’DAKAH VACHESED, ASSEI IMANU TZ’DAKA VACHESED; VEHOSHIYEINU.
Finale ultimo – Szene 14, 14B, 15, 15B
Szene 14
(In ein Pensionat in Oslo gezogen...)
RUTH (schreibend)
Oslo, September 1942.
Es ist eine Zeitlang her, seit ich von Lilleström nach Oslo übersiedelt bin. Hier wohne ich in einem kleinen Zimmer mit Aussicht auf einen Hinterhof.
Es ist sehr still hier.
Ein kleines Bücherregal steht neben meinem Bett. Gunvor kommt manchmal, im grauen Mantel.
Ich liebe Gunvor, aber ich habe das Gefühl, dass sie nicht genug liebt.
(Gunvor kommt herein. Ruth wirkt resigniert.)
GUNVOR
Sie verhaften Juden. Alle männlichen Juden von 16 bis 72 Jahren
RUTH
Reichskommissar Terboven hat an das Pensionat geschrieben und gefragt, wer hier wohnt. Vielleicht kommen sie und holen mich auch.
Qui sait? (frz .: W er weiß ? )
GUNVOR
Ruth, du musst fliehen!
RUTH
Wohin soll ich flieh’n? Wovor soll ich flieh’n?
GUNVOR Ruth!
RUTH;
Ich bin Jüdin.
Ich werde bei ihnen stehen. Wie immer es auch gehen mag.
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE
Szene 14B (N eues Licht)
ENSEMBLE
ROT IST AUCH DER JUD’, WENN ER BLUTET...
(Ruth und Gunvor in separatem Licht)
GUNVOR UND RUTH
EINMALIG HERRLICH! WAR ES MIR DOCH, ALS WÄREN WIR VOR ZEITEN, SO LANGE OHNE ENDE, HAND IN HAND GEWANDERT AUF HELLEN WEGEN. SO EINS WAR’N WIR, DASS WIR GAR NICHT WUSSTEN UM DIES "DU",
GUNVOR DU, DU WARST ICH.
RUTH UND ICH
GUNVOR UND RUTH WAR DU.
Szene 15
(RUTH, aus ihrem Gedicht "Eine Erinnerung". Zur selben Zeit sehen wir die MUTTER und JUDITH im separaten Licht, und vielleicht auch der Vater .. .? )
RUTH
Ich erinnere mich an einen Abend, wo ihr ausgehen wolltet Ins Theater. Wie wir das Wort genossen. Ein Dämmerlicht im Zimmer und du stehst vor dem Spiegel
Dein Kleid, Mutter, das mit den weißen Punkten, hattest du an. Wir schmiegten uns an deine langen Beine und sagten: Mutter, wie schön du bist! Du lächeltest.
Und Vater stand hinter dir. Groß und ganz anders als dann, als er tot war. Er wartete, und du, du standest vor dem Spiegel.
ENSEMBLE
ROT IST AUCH DER JUD’, WENN ER BLUTET...
Szene 15B
NURZUR ANSICHT NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
(In ihrem Zimmer. Es ist Nacht. Ruth schreibt in ihr Tagebuch.)
RUTH
Oslo, November 1942.
Einmal nimmt alles ein Ende und dann ist alles gut.
Es ist wie ein unruhiges Beben in meiner Brust.
Ein Nagen: Was bist du? Wozu lebst du?
Alles, was ich begonnen habe, habe ich verfehlt.
Es ist mir, als wäre es zu spät, als ginge mein Leben an etwas Wesentlichem vorbei.
Der einzige Trost ist, die Hand auf die Stirne zu legen.
In seinem eigenen Schmerz Beruhigung suchen.
DAS LEBEN KÖNNTE GUT SEIN, SO GUT.
Übrigens: Morgen werden wir „Die Wildente“ von Ibsen sehen.
[ (Musik. Jemand klopft an die Tür. DIE POLIZISTEN kommen herein. Folgendes passiert, ohne dass das Publikum hört, was gesagt wird .)
[ POLIZIST Ruth Maier?
RUTH Ja?
POLIZIST
Sie sind verhaftet. Ihnen wird erlaubt, das Notwendigste mitzunehmen. Beeilung ! ]
(RUTH geht langsam herum, packt ein paar Bücher ein und ihr Gewand, resigniert. DIE POLIZISTEN führen RUTH mit ihrem Koffer zur Tür. Dann stoppt sie und öffnet den Koffer – sie nimmt ihr Tagebuch heraus und lässt es zurück.)
RUTH
Ich werde nie zurückkommen.
(Sie dreht sich um und die POLIZISTEN führen sie ab. GUNVOR kommt herein, sie hebt das Buch auf und hält es an ihre Brust.)
GUNVOR
Und man hört den Klang ihrer Stimme, der in uns niemals erlischt, ewig fragend, ohne zu klagen, sanft und unendlich trist:
RUTH S STIMME
Warum sollen wir nicht leiden, wenn so viel Leid ist
NURZUR ANSICHT
(Nach dem letzten Akkord der Musik, hören wir die Stimme der jungen RUTH:)
Ich möchte etwas hinterlassen.
Ein Dokument, dass ich da war. Ein großes, schönes Werk!
NICHTFÜRVERTRIEBAUFFÜHRUNGEN DURCH MUSIKUNDBÜHNE www.musikundbuehne.de
– ENDE –