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JEDER TAG IST WIE EIN KLEINES LEBEN. ARTHUR SCHOPENHAUER
P RO LOG D I E S O N N E E R K Ä M P F T L A N G S A M D E N TA G Z U R Ü C K , DEN SIE NOCH VOR WENIGEN STUNDEN FÜR IMMER V E R L O R E N G E G L A U B T H A T. D A I S T E S W I E D E R , D I E S E S L I C H T, D A S I C H S O SEHNSÜCHTIG VERMISST HABE. ICH ÖFFNE MEINE AUGEN UND SPÜRE MEIN HERZ POCHEN. WIE OFT ES HEUTE WOHL SCHLAGEN WIRD? UND WAS ES HEUTE WOHL FÜHLEN MAG? ICH MACHE MICH AUF DIE REISE IN DER HOFFNUNG, DIR ZU BEGEGNEN. U N D V I E L L E I C H T A U C H M I R S E L B S T. SCHON NACH DEM ERSTEN SCHRITT FÜHLE ICH: M E I N TA G B I S T D U . U N D D U B I S T M E I N TA G . FÜR IMMER.
// PRO
DIE SONNE ERKÄMPFT LANGSAM DEN
D A I S T E S W I E D E R , D I E S E S L I C H T, D A S I C H S O S E H N S Ü C H
ICH ÖFFNE MEINE AUGEN UND SPÜRE MEIN HERZ PO
WIE OFT ES HEUTE WOHL SCHLA
ICH MACHE MICH AUF DIE REISE - IN DER HOFFNUNG, DIR SCHON NACH DEM ERSTEN SCHRITT FÜHLE ICH:
M E I N TA G B I S T D U . U N D D U B I S T M E I N TA G .
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T A G Z U R Ü C K , D E N S I E N O C H V O R W E N I G E N S T U N D E N F Ü R I M M E R V E R L O R E N G E G L A U B T H A T.
HTIG VERMISST HABE.
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AGEN WIRD? UND WAS ES HEUTE WOHL FÜHLEN MAG? Z U B E G E G N E N . U N D V I E L L E I C H T A U C H M I R S E L B S T.
F Ü R I M M E R .
0 1 2 . B E AT ! B E AT ! B E AT ! 022 . MARISSA TEXTOR 028 . SVEN DIRKMANN 034 . JAN KÖPPEN 040 . AXEL BOSSE 0 4 6 . A U L E T TA 060 . EVA TRUST 066 . EUGEN FLITTNER 0 7 2 . J O H A N N E S S T R AT E
130 . VOLKER CONRADUS
078 . JAN AULBACH
136 . CHRISTIN HILLER
084 . MAX HEGEWALD
1 4 2 . N O R E E N M A R I A A K H TA R
096 . JOEL SMALL
148 . JOHANNES KUCZERA
102 . COCO MEURER
154 . NIKOLAS BRUMMER
108 . ANNE COBAI
1 6 0 . TA N J A E V E R S
114 . SOPHIE WALZEL
166 . JOSHUA TROTTIER
120 . RICK OKON
172 . KARLA KURZ 178 . JACOB BRASS 184 . LUKAS LEISTER 190 . JONAS MEYER
// IN HALT 196 . COVERMODEL 200 . IMPRESSUM 202 . DANKE
MORITZ LEPPERS, JOSHUA GOTTMANNS, MARIUS LAUBER UND TIM
L E B E N I N V I E R S E N U N D S I N D G E M E I N S A M D I E B A N D B E AT ! B E AT ! B E AT !
W W W. B E AT B E AT B E AT M U S I C . C O M
G E R K E ( V. L . N . R . )
INTERVIEW
T E X T:
JONAS MEYER
FOTOS:
D AV I D PA P R O C K I
603 Kilometer lang ist die Fahrtroute, die Google Maps berechnet, wenn man nach dem kürzesten Weg zwischen dem beschaulichen Viersen nahe der holländischen Grenze und dem Arena Club in Berlin-Kreuzberg sucht. Wer eine vergleichbare Strecke desöfteren im Leben per Automobil zurückgelegt hat, weiß, dass man nach Erreichen des Ziels nicht gerade aussieht, als sei man gerade aus dem Ei gepellt worden. Umso erstaunlicher ist es, dass die vier Jungs von Beat! Beat! Beat! mit einem derartigen Elan aus dem Gefährt springen, als seien sie drei Minuten vorher erst hineingekrabbelt. Die Stimmung ist gut, in wenigen Stunden steht ihr Auftritt vor hunderten Berliner Fans an, bevor es wenige Tage zum Abschluss ihrer Tour aufs Hamburger Dockville Festival geht. Bevor es zum Soundcheck geht, nehmen sich Joshua und Moritz einige Minuten Zeit, um unsere Fragen zu beantworten.
Jonas: Sechs Stunden Anreise mit dem Kleinbus, direkt im Anschluss Soundcheck – und gleich der Auftritt vor Hunderten Fans. Manch einer würde sich jetzt schon nach seinem Bett sehnen. Haben euch die vielen Auftritte der letzten Wochen abgehärtet? Moritz: Ich habe aufgehört, Schlaf zu brauchen. Und fünf Stunden Autofahrt nehm’ ich wie ein Boss. Jonas: Habt ihr bestimmte Gewohnheiten oder Rituale, um euch auf den bevorstehenden Auftritt vorzubereiten? Moritz (lacht): Wir stellen uns in einen Kreis und küssen uns auf die Wange oder streicheln uns die Bäuche.
// WE ARE WAVES
Jonas: Euer Sound ist ja sehr einzigartig in Deutschland. Wie ist euer Stil überhaupt entstanden, wie hat er sich entwickelt? Moritz: Schwierige Frage. Ich glaub’, das ist eine Mischung aus dem, was wir geil finden, was wir drauf haben, was wir uns an Equipment leisten können und was live Spaß macht zu spielen. Jonas: Welche Musik inspiriert und beeinflusst euch? Liegt der Schwerpunkt dabei eher auf englischsprachiger oder deutschsprachiger Musik?
Moritz: Eher auf englischer. Es gibt aber auch einiges Korrektes aus Deutschland. The Notwist, Fotos und Von Spar fallen mir da spontan ein. Es gibt bestimmt noch mehr, die ich gerade vergessen habe, aber der Schwerpunkt liegt eindeutig auf englischsprachiger Musik. Vermutlich weil die Auswahl einfach größer ist. Viele glauben ja, dass wir unsere Ideen bei den Briten klauen, aber eigentlich feiern wir alle eher Musik aus Übersee. Jonas: Ihr werdet in der Fachpresse gerne mit Bands wie The Whitest Boy Alive und den Foals verglichen. Wie bewertet ihr diese Vergleiche? Moritz: Die können uns vergleichen mit wem sie wollen.
Jonas: Auf eurer Website findet sich ein Link zum Song „Killin’ the Vibe“ von den Ducktails. Den Song mögt ihr, weil...
Das hat eher mit dem klang der Sprache als mit einer Angloaffinität meinerseits zu tun. Außerdem sind wir alle vertiefter in englischsprachige Musik, wie Moritz schon sagte.
Moritz: ...es ein wunderbar einfacher Popsong ist, der’n bisschen wie mit ’nem Loopeffekt aufgenommen klingt.
Jonas: Könnt ihr euch an die Musik eurer Kindheit erinnern? Mit welchem Sound seid ihr groß geworden?
Jonas: Joshua, du hast in einem anderen Interview erwähnt, dass du dich auf Englisch innerhalb Deiner Musik besser ausdrücken kannst. Kannst du das genauer erklären?
Moritz: Also die erste Platte, die ich mir gekauft hab’, war ein Pokemon Sampler. Das war glaube ich mit sieben Jahren oder so. Was dann kam, weiß ich nicht mehr genau, aber mit etwa elf hab’ ich angefangren, HipHop zu hören, dann kam die Punk Phase – und schließlich hab’ ich mir „Room on Fire“ von The Strokes gekauft und bin zur Vernunft gekommen.
Joshua: Ich schreibe gerne auf Deutsch, aber ich singe nicht gerne deutsch.
Jonas: Und wie war das bei dir, Joshua? Joshua: Mir wurde schon einiges in die Wiege gelegt. Bei einem Roadtrip nach Kroatien so um 2002/2003 herum haben mein Papa und ich „Is This It“ von The Strokes rauf und runter gehört. Jonas: 2008 habt ihr euch als Band zusammengefunden, heute - drei Jahre später - zählt beispielsweise euer Song „We are Waves“ auf YouTube knapp 200.000 Klicks. Könnt ihr an euch selbst eine persönliche Veränderung nach diesen drei Jahren feststellen und wenn ja, wie würdet Ihr diese Veränderung (im Sinne von Weiterentwicklung) beschreiben?
Moritz: Das ist auch schwierig zu beantworten. In den Jahren von 17 bis 20 verändert man sich ja zwangsläufig. Welche Veränderungen dabei speziell mit der Band zusammenhängen und welche sich auf das allgemeine Erwachsenwerden beziehen, kann ich nicht unterscheiden. Jonas: Habt ihr unterschiedliche Auffassungen, was Musik grundsätzlich für euer Leben bedeutet, und vor allem: was eure eigene Musik für euch bedeutet? Moritz: Wir sind uns alle einig, dass Musik wahnsinnig Hammer ist. Über alles andere haben wir uns noch keine Gedanken gemacht bzw. ausgetauscht.
Jonas: Was ist euch wichtig im Leben?
Dann kriegt jeder eine stimme und der Verlierer darf zehn Minuten eingeschnappt sein, ohne dass es kindisch ist.
Moritz (lacht): Im Moment zählt für mich nur einen Vollbart zu bekommen. Ein warmes Bett ist mir auch sehr wichtig.
Jonas: Welche konkreten Ziele habt ihr – jeder einzelne persönlich und gemeinsam als Band?
Jonas: Vier Jungs auf einem Haufen - da kracht’s ja auch manchmal. Wie geht ihr mit Meinungsverschiedenheiten um?
Moritz: Wir würden als Band gerne das beste Album aufnehmen und damit dann viel im Ausland spielen. Am liebsten auch auf anderen Kontinenten.
Moritz: Unterschiedlich. Manchmal boxen wir das aus, wir lassen den Zufall entscheiden oder entscheiden wie Erwachsene, wer im Unrecht ist.
Joshua: Da kann ich Moritz nur zustimmen! Persönlich werde ich bald anfangen, viel zu reisen. Das passt also noch ganz gut zusammen.
Jonas: Angenommen, ihr könntet euch einen perfekten Tag zusammenbauen: Wie würde dieser Tag aussehen? Wie würde er sich anfühlen? Was würdet Ihr tun? Wo würdet Ihr sein? Moritz: Im Laufe Dieses Tages sollte irgendwann Geschlechtsverkehr mit Katy Perry stattfinden. Die Rahmenumstände sind eigentlich unwichtig. Joshua: Katy Perry ist nicht so mein Typ. Ich füge Jessica Alba ein. Joshua und Moritz grinsen. Viel Zeit, diese Gedanken weiterzuentwickeln, bleibt allerdings nicht. Nur noch wenige
Minuten sind es bis zum Auftritt. Marius und Tim warten bereits, alle wollen noch einen Moment in sich gehen, um dann mit demselben Elan die Bühne zu betreten, wie er schon ansatzweise bei ihrer Ankunft und dem Verlassen des Kleinbusses festzustellen war. Die Halle ist bis auf den letzten Quadratmeter gefüllt, die dunkle Menschenmenge drängt sich in Richtung Bühne. Es geht los: Beat! Beat! Beat! sind da, und mit dem ersten Ton fängt die Masse vor ihnen an, sich zum Takt zu bewegen. „We are waves“ spielen die Jungs, und aus einigen Metern Entfernung fühlt man sich beim Betrachten Masse tatsächlich an das Auf und Ab von Wellen erinnert, wenn man im Dunkeln das Meer betrachtet. Sie scheinen es tatsächlich geschafft zu haben, ihre Zuhörer in Wellen verwandelt zu haben. Wenigstens für den Moment.
MARISSA TEXTOR IS A 25-YEAR-OLD ARTIST
LIVING IN LOS ANGELES / CALIFORNIA.
W W W. M A R I S S AT E X T O R . C O M
// LIVE IN THE MOMENT MARISSA TEXTOR
The days in my life that have stood out and made a lasting impression involved seeing something for the first time or experiencing something new. That process of discovery wakes up your senses and puts the whole world into perspective. You realize the significance of living each day and what it means to live in the moment and appreciate what you have. I find I have this reaction the most when I am out in nature. Everything becomes simplified and your focus on what is important has a direct relationship between you and the environment. The understanding of that basic interaction is something I always want to hold on to.
S V E N D I R K M A N N I S T 2 4 J A H R E A L T,
S T U D I E R T I N D U S T R I E D E S I G N A N D E R F O L K W A N G U N I V E R S I TÄT D E R K Ü N S T E
UND LEBT IN ESSEN.
W W W. T H E - M A N - W H O . T U M B L R . C O M
// GET WELL SOON SVEN DIRKMANN
Kabel am Kopf Spritzen in den Arm - Pflaster drauf. Erneut Stecker am Kopf Ultraschall am Hals. „Bitte nach links fallen lassen, nun bitte nach rechts. Gut! Nun den Zeigefinger an die Nase bringen!“. Worte, fremde Menschen, Handlungen, warten, freuen, sehnen. Da lag ich nun in meinem Zimmer. Kein vertrautes Gesicht. Einsamkeit. Angst. Sehnsucht. Ein Blick an die Decke *klick*, ein Blick aus dem Fenster *klick*, Blicke in alle Richtungen. Dort lag das Handy. Eine Nachricht. „Get well soon! Chris!“ Ich fühle mich warm. Weitere Nachrichten. Freunde. Alle nahe bei mir. Ich trage sie im Herzen.
J A N K Ö P P E N I S T 2 8 J A H R E A L T,
M O D E R AT O R U N D L A B E L G R Ü N D E R U N D L E B T I N B E R L I N .
W W W. J A N - K O E P P E N . D E W W W. S N AT C H - C L O T H I N G . D E
FOTOS: JAN ERIC EULER
// NACH HAUSE KOMMEN JAN KÖPPEN
Aufwachen. Kopfschmerzen. Kaltes Wasser. Sonnenstrahlen. Alles gut. Kaffee. Du. Ich. Wir. Alles besser. Freunde. Park. Kinderlachen. Himmelblau. Stadion. Fußballspiel. Hass. Liebe. Sieg. Zugabteil. Landschaft fliegt. Gedanken verloren. Noch immer verliebt. In sich verkriechen. Pläne haben. Pläne verwerfen. Nach Hause kommen. Da sein. Hier sein. Was kommt? Wer geht? Alles egal. Mein Tag!
A X E L B O S S E I S T 3 1 J A H R E A L T,
SINGER / SONGWRITER UND LEBT IN HAMBURG.
W W W . A X E L B O S S E . D E
FOTO: NINA STILLER
Die besten Tage sind die sonnigen, an denen nichts anliegt… Ich stehe auf, wenn meine Familie noch schläft. Zwei Kaffee, zwei Kippen im Gartenstrandkorb. Dann Obst schneiden, duschen und meine Tochter aufwecken. Mit ihr zusammen die Blumen gießen und schauen, ob die Tomaten im Beet rot geworden sind. Jeder rote Tupfer wird gefeiert. Die kleinen Dinge sind die Großen. Dann Kita und noch einen Kaffee auf dem Rückweg. Zuhause ans Klavier und die Kopfhörer auf. Um 13.00 Uhr mit zwei Freunden aus anderen Bands zum Inder. Hier und da ne Mail abschicken und auf die Tour freuen. Sonst nichts zu tun. Kurz nochmal ans Klavier. Später zum Kinderballett und vor der Tür mit dem netten Hausmeister den letzten Kaffee des Tages trinken. Abendbrot machen und die Sporttasche packen. Dann mit netten, gut gelaunten Typen auf den Rasen und sich zwei Stunden abgrätschen. Durchgeschwitzt nach Hause, duschen und schlafen.
// DIE KLEINEN DINGE AXEL BOSSE
Die besten Tage sind die sonnigen, an denen nichts anliegt...
INTERVIEW
ALEXANDER ZWICK, MARTIN KLOOS, DANIEL JUSCHZAK,
J O H A N N E S J U S C H Z A K U N D C H R I S S T I L L E R S I N D G E M E I N S A M D I E B A N D A U L E T TA .
W W W. A U L E T TA . D E
// ZÜND‘ DEIN LEBEN AN! Es gibt für die Berliner Nachmittagssonne nur wenige Möglichkeiten, ihr Licht in die dunklen Räume des Magnet-Club in Kreuzberg zu schleusen. Vor allem eine knapp zwei Quadratmeter große Fensterklappe entscheidet darüber, ob sich das natürliche Sonnenlicht mit dem Kunstlicht im Innern vermischen darf. Die Klappe sorgt außerdem dafür, dass der Schall daran gehindert wird, auf umgekehrtem Wege das Gebäude zu verlassen. Und genau so, wie das Sonnenlicht von außen an das Fenster hämmert, startet der Ton von innen unzählige Fluchtversuche, den schwarzen Mauern zu entkommen. Beide müssen sich noch etwas gedulden: Gerade findet der Soundcheck für das heutige Konzert von Auletta statt, während dessen es der Fensterklappe strikt untersagt ist, Licht und Schall passieren zu lassen. Und es kann etwas dauern: Die Band lässt sich nämlich nicht aus der Ruhe bringen, wenn es darum geht, den optimalen Sound für den Abend zu finden. Einige Zeit später ist es geschafft. Die Fensterklappe öffnet sich und erlaubt einem schmalen Lichtkegel den Zutritt. Im Club endlich angekommen darf sich die Sonne nicht ermüdet zu Boden fallen lassen, sondern wird umgehend
T E X T:
JONAS MEYER
FOTOS:
LUKAS LEISTER
dazu verpflichtet, die Bandmitglieder während der Aufnahme ihrer Einzelportraits in Szene zu setzen. Und so tanzt das milde Sonnenlicht nacheinander auf den Gesichtern von Alex, Martin, Dan, Jusch und Chris, bis es endlich von seinen Pflichten befreit ist. Die Fotos sind gemacht, und während Alex und Jusch ihre Kräfte für den bevorstehenden Abend schonen, begleitet uns der Rest der Band zum Interview in die Bar Banja Luca gegenüber des Clubs. So, Bierchen für euch? Hat jeder? Gut. Und los geht’s.
Jonas: Euch gibt es als Band seit 2005. Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt? Martin: Wir kennen uns aus der Schule, haben schon mit 14, 15 zusammen gejamt. Ernsthaft als Band – auch unter dem Namen Auletta – haben wir uns aber erst 2007 zusammengeschlossen. Und danach ging es gefühlt sehr schnell: Plattendeal, erstes Album, zweites Album...
Jonas: Seid ihr der Meinung, dass euch dieser lange Weg zum Erfolg gefestigt hat – im Gegensatz beispielsweise zu Castingshow-Teilnehmern, die aus dem Nichts plötzlich auf Platz eins stehen und auf den schlagartigen Ruhm absolut nicht vorbereitet sind? Martin: Wenn man als Band lange Zeit gemeinsam Musik macht, ist man natürlich viel weniger gefährdet, mit dem Erfolg nicht klarzukommen als irgendwelche Castingshow-Leute, die gestern noch mit nichts was zu tun hatten und heute von null auf hundert schießen. Sicherlich ist das im Moment auch für uns ein Riesenrummel und etwas komplett anderes als früher – aber ich glaube, wir kommen damit sehr gut und relativ unaufgeregt klar. Dan: Wir haben ja mit unserem ersten Album 160 Konzerte gespielt, da rollst du so langsam in das Ganze rein. Der Vorteil ist, dass sich Erfolgssituationen durch die Routine bald relativ smooth anfühlen. Und zu den Castingshows: Ich muss sagen, wir beschäftigen uns eigentlich gar nicht damit. Das ist eine Form des Entertainments, die mit dem, was wir machen, relativ wenig zu tun hat. Chris: Wir sehen darin eben absolut keine Nachhaltigkeit. Es hat wenig bis nichts mit unserem Leben und unserer Arbeit zu tun. Jonas: Glaubt ihr, dass junge Menschen durch diese Shows in gewisser Weise das Gefühl für die Bedeutung von Musik verlieren, weil es dort ausschließlich um Profit geht? Dan: Es gab in der Vergangenheit immer „Künstler“, die von irgendwelchen Plattenfirmen kreiert wurden. Das gerät nur sehr schnell in Vergessenheit. Ich glaube, es ist ein Trend, der auf- und abschwappt, und ich bin mir sicher, dass der aktuelle Hype auch wieder zurückgeht. Martin: Gott sei Dank gibt es ja immer noch gute Musik – vor allem viel gute, junge deutsche Musik, was ich persönlich sehr cool finde. Als wir damals gestartet sind, war das deutsche Ding noch auf etwa drei, vier große
Künstler beschränkt – aber von Jahr zu Jahr kommen mehr dazu. In anderen europäischen Ländern passiert übrigens musikalisch auch gerade sehr viel. Wenn man tief genug in die Musikszene eintaucht, wird man immer und überall gute Sachen finden. In manchen Zeiten muss man einfach nur etwas länger suchen. Klar, es gibt auch viel Scheiße. Aber wie Dan schon gesagt hat: Die gab es immer und wird es immer geben. Jonas: Mit welcher Musik seid ihr eigentlich groß geworden? Habt ihr bestimmte musikalische Erinnerungen an eure Kindheit und Jugend? Dan: Ich erinnere mich, dass in unserer Familie allgemein immer sehr viel Musik gehört wurde – Beatles zum Beispiel - und sogar Grönemeyer. Wenn man jünger ist, orientiert man sich natürlich daran, weil man seine eigene Musikrichtung noch nicht gefunden hat. Jonas: Dan, haben dich von dieser Musik, die du zuhause kennengelernt hast, bestimmte Komponenten auch nachhaltig geprägt? Dan: Ja, auf jeden Fall! Es gibt einiges, was ich schon in der Grundschule spitze fand und heute noch genau so mag. Das ist meiner Meinung nach auch ein Zeichen von qualitativ hochwertiger Musik. Dies ist übrigens das Ziel, das wir mit unserem neuen Album versucht haben zu erreichen - etwas zu schaffen, das eine gewisse Qualität hat, sodass man auch noch in zwanzig Jahren sagen kann, wenn man es hört: Das klingt immer noch aktuell, das ist immer noch gut, das ist hochwertige Musik. Kurze Pause. Gemütlich ist es hier draußen, man könnte stundenlang sitzen und reden. Die drei Jungs wirken sehr entspannt und gelöst. Man könnte fast vergessen, dass sie in wenigen Stunden auf der Bühne stehen werden und sich daher wohl gerade in ihnen eine gesunde Anspannung aufbaut. Jonas: Ihr stammt ja aus Mainz... Martin: Bis auf Chris, der kommt aus Frankfurt.
Jonas: ... Mainz ist ja – etwa im Vergleich zu Berlin – nicht wirklich als Metropole zu bezeichnen und eher etwas ländlicher geprägt. War dieser Umstand für eure Arbeit bisher eher ein Vor- oder Nachteil? Martin: Alex, der beim Songwriting und den Ideen immer maßgebend ist, hat ein halbes Jahr in London gelebt, ich selbst sieben Monate in Valencia. Das war ein kreativer Kick, daraus sind viele Songs entstanden. Mainz ist in der Tat etwas abgeschieden, es existiert keine wirkliche Musikszene, daher hat uns das in gewisser Weise gut getan. Auf der anderen Seite ist es heutzutage bedeutend einfacher, musikalische Inspiration zu finden, weil dir alleine YouTube alle Songs der Welt vorspielen kann. Daher ist die Bedeutung einer echten Musikszene etwas zurückgegangen. Wobei man aber auch sagen muss: Seit Chris dabei ist, der aus der lebendigen Frankfurter Szene stammt, merkt man, dass man etwas vermisst hat. Chris: Es ist wirklich was anderes. Ich habe in Frankfurt schon mit den unterschiedlichsten Leuten Musik gemacht. In Mainz ist das wohl eher schwieriger – zwar nicht schlechter, aber anders. Jonas: Auletta bestand anfangs aus vier Leuten, die sich alle von der Schule kannten – eine gewachsene Freundschaft. Dann kommt plötzlich ein Fünfter dazu – wie habt ihr diese Veränderung empfunden, wie seid ihr damit umgegangen? Martin (lacht): Wir haben den offiziellen Chris-Diss-Tag erfunden! Dan: Wir waren tatsächlich nach 160 Konzerten ein extrem eingeschworener Haufen, vor allem durch die ganze Action drumherum mit TV-Auftritten usw. Da war einfach extrem viel los, was uns zusammengeschweist hat. Wir hatten ja nie geplant: So, wir suchen jetzt ein fünftes Bandmitglied. Chris in die Band zu integrieren war eine sehr organische Entwicklung. Der Ursprung dessen war, dass wir einen Song mit Orgelelementen geschrieben hatten, den wir auch live spielen wollten. Also haben wir uns nach jemandem umgesehen, der das musikalisch umsetzen kann. Wir
haben uns einige Leute angehört, und bei Chris hat es direkt gepasst. Martin: Parallel dazu haben wir vor etwa einem Jahr angefangen, am Album „Make Love Work“ zu arbeiten. Uns war relativ schnell klar, dass wir bei diesem zweiten Album nicht wie bei „Pöbelei und Poesie“ dieses Garagenrock-Ding durchziehen werden, sondern den Auletta-Sound neu erfinden und neu definieren wollen. Dazu war es nötig, dass wir nicht bloß zu viert im Probenraum rumstehen. Ein Beispiel: Alex kam irgendwann mit dem Klavierriff von „Wochenendlosigkeit“ an und wir haben gemerkt, dass ein anderer Sound hermuss. Also haben wir Chris gefragt, ob er nicht Bock hat, für die Klaviersachen ins Studio zu kommen. Chris: Da ging es ja erstmal um ein oder zwei Tracks. Als ich dann mit den Jungs im Studio war, hat sich die Zusammenarbeit irgendwie im Laufe der Wochen weiterentwickelt. Auch bei den Live-Auftritten habe ich am Anfang maximal zwei, drei Songs mitgespielt, den Rest haben die Vier alleine gemacht. Aber nach und nach haben sie auch bei anderen Tracks gefragt: Hast du da oder da noch eine Idee? Martin: Das ergibt sich ja auch einfach aus der Situation. Wir haben das neue Album insgesamt etwa in einem Zeitraum von einem Jahr entwickelt – natürlich mit Pausen, sonst wirst du irre. Davon waren wir effektiv drei Monate im Studio, haben gemeinsam Musik gemacht, geredet, gegessen und gewohnt. Das ist eine ziemlich krasse Erfahrung, die aber wichtig war, weil es sich mittlerweile anfühlt, als wären wir schon seit Ewigkeiten zu fünft. Dan (grinst): Man muss dazu sagen: Es passt menschlich einfach extrem gut, und musikalisch sind wir sowieso auf einer Wellenlänge. Ist ja nicht selbstverständlich, Keyboarder sind eben ein schwieriges Volk! Jonas: Und wie bewältigt ihr Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Band? Dan (lacht): Direkter Hauskampf – der Stärkere siegt!
Martin: Natürlich gibt’s immer mal wieder Meinungsverschiedenheiten. Aber vor allem bei unserem zweiten Album hatten wir uns vorher gegenseitig versprochen, unsere Meinungen schonungslos auszusprechen, vor allem auch, weil wir uns schon so lange kennen. Aber wir haben auch gesagt, wir halten alle unser Ego zurück und arbeiten gemeinsam an diesem einen Projekt, damit es möglichst geil wird. Wenn es dann tatsächlich mal zu Reibereien kam, haben wir eine kurze Pause gemacht, miteinander geredet und uns an das gemeinsame Ziel erinnert – und dann war das Ding relativ schnell gelöst. Jonas: Im Song „Make Love Work“ gibt es den Satz „Zünd’ dein Leben an!“, der sich direkt ins Gedächtnis einbrennt. Wie ist dieser Song eigentlich entstanden? Martin (lacht): Alex hatte dazu die „zündende Idee“! Nein, ernsthaft: Alex hatte die Initialidee in Form einer konkreten Vision, wie das neue Album werden soll, wie es klingt und wie es sich anfühlt. Dieser Song ist wie alle anderen auf dem Album Teil einer sehr persönlichen Geschichte, die er erzählen will. Ich bin für Alex meistens der erste Ansprechpartner, wenn es darum geht, eine Meinung zu seiner Idee zu bekommen. Ich gebe kurz meinen Senf dazu und dann geht es eigentlich auch schon direkt ins Studio. Wir haben quasi im Studio die neuen Songs geschrieben und die Melodiebögen entworfen. Jonas: Gab es in Eurem eigenen Leben Punkte, an denen ihr gemerkt habt: Jetzt muss sich etwas ändern, jetzt muss ich mein Leben gewissermaßen „anzünden“? Martin: Oh ja. Nach unserer ersten Tour waren wir extrem platt und orientierungslos. 160 Konzerte gehen nicht so spurlos an einem vorbei. Man kommt nach Hause und hat irgendwie ein stranges Gefühl. Alles um einen herum ist auf einmal still. Kurz vorher war es noch laut und voller Action und Party. Außerdem hat man während der Tour seine sozialen Kontakte nicht wirklich pflegen können. Daher waren wir alle ziemlich am Ende, vor allem Alex war total k.o. – Als Leadsänger hat man ja immer einen besonders schweren Brocken auf seinen Schultern. So ist der Song „Make Love Work“ auch in erster Linie an ihn selbst gerichtet Der Track ist ja aus einer sehr er-
schöpften Lebenssituation heraus entstanden und in erster Linie ein Aufruf an die eigene Adresse: Krieg’ endlich deinen Arsch hoch, mach wieder irgendwas, du darfst dich nicht hängen lassen! Dan: Gleichzeitig sagt der Song aber auch: Verlier’ die Hoffnung nicht. Daher wirkt er aus dieser schwierigen Situation heraus auch sehr positiv. Chris: Der Track ist aber nicht allein auf Alex bezogen. Er betrifft uns alle. Allgemein gibt es sowieso auf der Platte keinen einzigen Song, bei dem wir sagen würden: Da stehen wir nicht absolut dahinter. Jonas: Chris, gab es in deinem Leben auch diese bestimmten Punkte, an denen du gewusst hast: So geht’s nicht weiter? Chris: Ja, da gab es so einige. Ich war z.B. ein Jahr lang in Montréal. Als ich zurückkam, haben sich viele grundlegende Fragen gestellt, die das eigene Leben und die Zukunft betreffen. Diese Momente gibt es eben immer wieder. Jonas: Könnt ihr euch vorstellen, dass vor allem der Song „Make Love Work“ bei vielen Menschen starke Emotionen auslöst, weil sie sich in einer ähnlichen Lebenssituation befinden? Dan: Die ganze Platte ist ja voll von diesen sehr persönlichen Liedern. Ich glaube übrigens, dass das bei vielen deutschen Künstlern und ihrer Musik ähnlich ist – bei Bosse etwa, mit dem wir gemeinsam einen Song geschrieben haben. Ich finde, das ist bei Musik grundsätzlich sehr wichtig. Manchmal hat man ja das Gefühl, in Deutschland hätten einige fast Angst davor, zu emotional zu werden. Wir haben schon oft die Erfahrung gemacht, dass Leute nach dem Konzert zu uns kamen und gesagt haben: „Dieser Song hat mein Leben verändert.“ Wir waren sogar mal auf einer Krankenstation, wo wir ein todkrankes Mädchen besucht haben, das uns unbedingt treffen wollte. Das war schon krass, wenn du merkst, welchen Stellenwert deine Musik im Leben anderer Menschen haben kann. Es ist ein schönes Gefühl, wenn man anderen Leuten Energie geben und ihnen helfen kann.
Martin: Das kennt ja eigentlich jeder: Wenn man mal einen Scheißtag hat, ist es wichtig, durch Musik neue Kraft zu tanken. Jonas: Ihr habt eben davon gesprochen, dass euer neues Album nicht mehr den Garagenrock-Style verfolgt, wie es noch bei „Pöbelei und Poesie“ der Fall war, sondern Euer Sound sich weiterentwickelt hat. Wie würdet ihr diese Entwicklung beschreiben? Martin: Die Idee, den Sound zu verändern und weiterzuentwickeln, geht auf Alex’ Vision zurück, viele verschiedene Genres zu vermischen und sie in ein Album einfließen zu lassen. Dazu hat er einfach mal alle Songs genommen, die er geil findet, und untersucht, welche Elemente er daran genau mag. Da waren Songs dabei von Oasis, Sam Cook oder The Libertines, aber auch viel Kram aus Seventies, HipHop oder Psychedelic. Und dadurch haben viele unserer Songs im Studio eine extreme Entwicklung genommen, z.B. bei einem Synthie-Jay-Z-Gitarrenlied, wo wir uns am Ende gefragt haben: Was haben wir denn da gemacht? Wir haben das Ding gemeinsam mit Bosse umgewälzt, und schließlich ist „Tanz für mich“ daraus geworden
– einer der Motown-Rolling-Stones-mäßigsten Songs auf dem Album. Das war ein geiles Experimentieren und hat super viel Spaß gemacht. Chris: Es war insgesamt sowieso eine spitze Arbeitsweise, alleine wegen des Studios, das es uns ermöglicht hat, ohne großen technischen Aufwand die verschiedensten Versionen einzuspielen. Das war einfach für uns alle eine tolle Möglichkeit, uns trotz dieser klaren Vision von Alex kreativ sehr stark einzubringen. Dan: Bei dem alten Album war das ja so: Wenn man Indie macht, muss man auch konsequent diese Schiene fahren. Das Gute am neuen Album ist deshalb, dass man sich davon komplett lösen kann. Martin: Wir sprechen da von den „Quality Tunes“, die dich berühren und dir eine gewisse Freiheit geben. Wenn’s dann mal nach Motown klingt oder einen HipHopBeat hat – scheißegal, Hauptsache es hört und fühlt sich gut an! Warum soll man sich diese Freiheit nicht nehmen? Daher wirkt das gesamte Album viel losgelöster und nicht verkrampft.
Paradox ist, dass „Make Love Work“ zwar sehr intuitiv und aus dem Bauch heraus geschrieben wurde, trotzdem aber viel überlegter wirkt als „Pöbelei und Poesie“. Das lag nicht zuletzt an der Menge an Zeit, die wir für die Entwicklung dieses neuen Albums hatten. Dan (lacht): Wir hätten wahrscheinlich auch noch weitergemacht, aber dann hätten uns die Leute von der Plattenfirma wohl aus dem Studio zerren müssen. Martin: Interessanterweise spürt man genau, wie sehr man selbst während so einer Albumproduktion reift. Alex war auch total überrascht von unserer Reaktion, als er uns von seiner Vision der Platte erzählte. Er dachte wohl, dass wir nach dem ersten Album total auf Action gepolt wären und dass er uns mit diesen persönlichen, tiefgründigen Texten total vor den Kopf stoßen würde. Aber das Gegenteil war der Fall. Wir alle waren in einer ähnlichen Situation und Gefühlslage wie Alex, konnten uns direkt mit dem Konzept anfreunden und waren – und sind es immer noch – superglücklich damit.
Jonas: Welche anderen deutschen Künstler außer Bosse habt ihr eigentlich auf dem Schirm, deren Musik ihr mögt und die euch beeinflusst? Martin: Das sind eigentlich gar nicht so viele, wie man vielleicht denken würde. Klar, Rio Reiser würde ich sagen, aber das ist ziemlich ausgelutscht, weil es wenige gibt, die nicht von Rio inspiriert werden. Wir finden zum Beispiel die neuen Grönemeyer-Balladen super und finden auch ein paar Clueso-Sachen geil. Aber im Großen und Ganzen hat andere deutsche Musik keinen wirklich dominanten Einfluss auf unsere Arbeit. Wesentlich wichtiger waren da eher beispielsweise Damon Albarn, von dem wir im Studio alles reingeschmissen hatten, und Blur, Gorillaz oder The good, the bad & the Queen. Damit haben wir uns viel stärker beschäftigt als mit deutscher Musik.
Martin, Dan und Chris nicken sich bestätigend gegenseitig zu, halten Augenkontakt und schweigen einen Moment.
Jonas: Was hat neben der Musik in eurem Leben echte Relevanz? Was ist euch wichtig? Martin: Familie und Freunde an erster Stelle. Und eine gewisse Rolle spielen auch Philosophie und Literatur. Aber ich muss sagen – so einfach das vielleicht auch klingt – das Gefühl echter Sinnhaftigkeit habe ich, wenn ich was tue, das mich happy macht, z.B. aus dem Studio zu kommen und zu wissen: Das Album ist fertig. Ich finde, es ist total wichtig, dass man mit dem, was man in seinem Leben tut, glücklich ist. Wenn aber bei aller Leidenschaft eine gewisse Ernsthaftigkeit fehlt, dann bekommt man nichts mehr auf die Kette, und das ist nicht wirklich von Vorteil. Daher tut es extrem gut, wenn man sich immer wieder sagt, dass das, was man gerade tut, auch einfach sein ganz normaler Job ist. Jonas: Sucht ihr gezielt Auszeiten, um der Gefahr zu entgehen, in einen Zustand der völligen Erschöpfung zu geraten, wie es in der jüngeren Vergangenheit bei dem ein oder anderen Künstlerkollegen zu beobachten war? Dan: Da wir so eng miteinander verbunden sind, haben wir meiner Meinung nach eine recht gute Dynamik entwickelt, um zu merken, wer wann entlastet werden muss. Wir achten sehr aufeinander, das hat sich recht gut eingespielt. Es gibt zwar für uns keine echten Ruhephasen mehr, aber wir versuchen, denjenigen in der Band zu entlasten, der in bestimmten Situationen etwas mehr Ruhe braucht als die anderen. Martin: Wir wollen ja aber auch gar nicht aufhören. Wir können nicht sagen, wir gehen jetzt mal ne Woche in Urlaub und legen uns an den Strand oder so. Da würde uns relativ schnell sehr, sehr langweilig werden. Chris: Es brennt uns dann direkt wieder auf der Seele, weil man den Leuten unmittelbar präsentieren will, wofür man so lange gearbeitet hat und worin sein gesamtes Herzblut steckt. Man will einfach herausfinden, ob die Leute das Ding so geil finden wie wir.
Jonas: Bezogen auf das Thema des Heftes: Wie müsste ein Tag in Eurem Leben aussehen, damit er „Euer Tag“ wird? Chris: Das Gute an unserem Leben ist im Moment ja, dass wir immer in bestimmten Phasen leben, also z.B. in der Studiophase, der Tourphase usw. Das bringt sehr viel Spannung und Abwechslung. Daher ist für mich zur Zeit jeder Tag in gewisser Weise auch irgendwie „Mein Tag“. Dan: Ich muss sagen, wenn ich mal etwa länger frei habe, fällt es mir extrem schwer, meinen Tag zu gestalten. Ich würde vielleicht lange schlafen und mich dann fragen: Was mach’ ich denn jetzt? Martin: Stimmt. Man greift ja relativ flott wieder zur Gitarre, weil man gar nicht anders kann. Für mich wäre ein super Tag, wenn wir zu einem Auftritt fahren, keine all zu lange Anreise haben, dann etwas entspannen, ein geiles Konzert hinlegen und im Anschluss ’nen Day off haben. Jonas: Das heißt, die Rädchen im Kopf drehen sich wieder und ihr schraubt bereits an eurer Zukunft? Chris: Das aktuelle Album ist erstmal extrem wichtig für uns. Jetzt aktuell geht es darum, damit zu arbeiten, es live richtig geil zu spielen und dafür zu sorgen, dass möglichst viele Leute mitbekommen, was wir da geschaffen haben. Obwohl das Album ursprünglich auf der Vision von Alex beruht, ist es ein Teil von uns allen geworden. Daher ist es uns ein Riesenanliegen, dieses Album auch der Öffentlichkeit wieder und wieder zu präsentieren. Martin: Wir mussten viel an den Songs schrauben, um sie live-tauglich zu machen und sie live auf ein Niveau zu heben, mit dem wir zufrieden sind. Das war ein geiles Arbeiten. Wir haben dadurch unsere eigenen Songs neu bzw. besser kennengelernt und haben vieles aus einer anderen Perspektive gesehen. Dadurch haben wir wieder extrem viel über Musik erfahren.
Man entdeckt bei dieser Arbeit aber nach und nach auch Dinge, bei denen man sich sagt: Die müssen unbedingt ins nächste Album mit rein. Für uns ist dieses Gefühl einfach die Bestätigung, dass man das, was man tut, liebt und dafür brennt. Und dass wir die Chance haben, dass zu tun, was wir lieben, das ist etwas Wunderschönes.
würde die EMI auch keine einzige Auletta-Platte mehr verkaufen. Deshalb ist das wirklich eine konstruktive und schöne Zusammenarbeit. Martin: Vielleicht ist das einfach das Glück und die Freiheit, die wir uns durch unsere Musik erkämpft haben. Ein schönes Gefühl.
Jonas: Was habt ihr konkret für die nächste Zeit geplant? Martin: Das Gute ist, dass wir uns um nichts kümmern müssen außer um unsere Musik. Uns wird von der Plattenfirma sehr viel abgenommen, der ganze Marketingkram zum Beispiel. Die Leute von der EMI glauben einfach an uns und haben gesagt, dass sie extrem Bock auf uns haben. Die geben uns einen enormen Background. So selbstverständlich ist das ja nicht bei jedem Label.
Martin, Dan und Chris machen sich auf den Weg. Noch eine Kleinigkeit essen, kurz in sich gehen und dann rauf auf die Bühne. Wahrscheinlich werden sie heute Abend wieder das Leben einiger Menschen anzünden. Bei ihrem eigenen haben sie es längst getan.
Chris: Ich finde auch, dass das keine wirkliche Relevanz für einen Künstler haben darf. Es wäre der Tod seiner künstlerischen Arbeit, wenn er schauen müsste, wie sich der Kram, den er macht, am besten vermarkten lässt und wie er ihn an die Leute trägt. Dan: Es ist aber auch nicht so, dass wir uns da komplett raushalten. Wir wollen schon genau wissen, was läuft, und bringen uns auch ein, wenn wir eine Idee haben. Und den Kontakt zu den Fans, z.B. über Facebook, halten wir eh selbst. Viele denken bestimmt, bei einem Majorlabel kommt der Rohrstock von oben, und du musst machen, was die sagen. Absolut das Gegenteil ist aber der Fall. Bei der EMI ist ein sehr junges Team für uns zuständig, die brennen genau so wie wir. Und egal, ob es um das Booklet-Design, den Videodreh oder das Merchandise geht, wir werden immer gefragt. Wir sind an allen künstlerischen Sachen mehr als nur beteiligt. Es ist einfach schön, dieses Vertrauen zu spüren und zu merken, dass uns die Freiheit gegeben wird, weil davon ausgegangen wird, dass etwas Gutes dabei rumkommt. Chris: Ja, es gab noch keine einzige Entscheidung über unseren Kopf hinweg. Die wissen einfach, dass alles zu uns als Band und zu unserer Arbeit passen muss. Würde alles um uns herum nicht authentisch wirken,
Auletta auf Tour gemeinsam mit The Kooks und Morning Parade: 28.10. 30.10. 31.10. 01.11. 03.11. 05.11.
Ludwigsburg Offenbach München Düsseldorf Hamburg Berlin (ohne Morning Parade)
Die zweite Single „Alles was ich bin“ erscheint am 11.11.2011.
EVA TRUST IS A PHOTOGRAPHER
LIVING IN SYDNEY / AUSTRALIA.
W W W . E V A T R U S T. C O M
// CLOSE TO THE OCEAN E VA T R U S T
I love the idea of capturing images that only exist for a few seconds.
When I first started writing this piece I wasn’t sure if I had a specific idea I would describe as my day. I do what everyone else does of course… eat, sleep, shower… and a year ago I could have come up with a routine day but a year ago a lot changed. We, my husband and I, were in an apartment we’d been renting for ten years in Sydney, which had a bit of routine attached. The apartment was situated in an inner suburb, close to the city centre; a very happening, cultural place with bars, cafes, bookshops, cinemas, red light district and everything that comes with it. Both of us work freelance with evening gigs and lots of weekend work, so late nights were a usual thing. So was sleeping in and slow starts to the day with emails and phone calls over coffee while still in pajamas. Then the letter arrived in the mail. Two months notice; the owner wants her apartment back. High season and a very busy schedule didn’t allow us to really spend time looking for a new place to live and after a decade in one place we decided we weren’t sure where to next. So here it began… the new “routine” that is. House sitting was Charles’s idea and as it turns out, a good one. We started with an agency that connects house owners with house sitters to look after pets while they are away on vacation. 11 months, 13 dogs, 2 cats and 3 fish later my days are very different. Routines have changed drastically. Late nights have changed into bedtime at 9 pm on days off and sleeping in ‘til 9 or 10 in the morning is no longer an option. Early mornings are now commonplace with dogs needing a walk and/or play in the park. Getting outside every morning has brought with it new perspectives and ideas for my work. I look at nature around me all the time finding patterns and shapes. We’ve been living out of a suitcase for almost a year now and haven’t left town once. It’s a strange feeling living in someone else’s life for a while and yet very freeing.
It always takes a few days to say goodbye to the last dog or cat and then embrace the new pet and situation. Through all of this I’ve had a solo show with my photography and I’ve begun taking more pictures of animals, a by-product of living with lots of them while also expanding my mailing list with our house sitting contacts and all their friends. I also get to explore new areas of Sydney I haven’t seen. I cherish days with perfect weather; warm, sunny, perfect conditions at the beach, no appointments, nowhere to be and nothing to do other than walking the beach waiting and watching to get the shots I want for my own projects like the beach reflections from my last exhibition. I get lost for hours; barefoot in the sand, camera in hand just lingering and waiting like a hunter on safari for the perfect shot. Beach Reflections have been my subject for 6 years now and are still drawing me in but really everything to do with water and abstraction is interesting and gets my attention. I love the idea of capturing images that only exist for a few seconds, change constantly and which most people never pay attention to unless they are pointed out. Having my situation change almost every month keeps me on my toes and makes me more creative in the sense that I have to work with what’s in front of me. We are currently enjoying a house with a pool and close to the ocean, so water will be my subject for the next 5 weeks. Being with dogs for the past 11 months on a daily basis has influenced me in ways I never expected. It teaches me to stay present and calm and in the moment, very much like my perfect days make me feel. So, now, maybe every day is perfect in its own way.
FOTO: NIKOLAJ GEORGIEW
E U G E N F L I T T N E R I S T 1 9 J A H R E A L T,
MUSIKER UND LEBT IN BERLIN.
W W W . T H E B L A C K P O N Y. D E
Wenn früh um 7 Uhr der Wecker klingelt, wird aus dem Bett gesprungen, schnell die Zähne geputzt und dann etwas in den Rachen geschoben.
Nachdem alle nochmal einen Energydrink getrunken haben, wird gecheckt, ob alles passt. Dann geht‘s auch schon auf die Bühne.
Dann schnappe ich mir die Gitarre und ab geht es in den Proberaum. Erstmal wird sich dort begrüßt und dann ein paar neue Stories erzählt - sei es dass man sich über Mädels von der Party am Vorabend oder über Songideen austauscht. Dann geht es ans stundenlange Proben. Es ist wirklich Arbeit, stundenlang die Songs durchzugehen, an den Songs zu arbeiten - eben dafür zu sorgen, dass alles richtig geil klingt. Dabei wird aber natürlich auch viel gelacht und mal ein bisschen Quatsch gemacht. Bei solchen Gelegenheiten entstehen dann natürlich auch mal ein paar coole neue Songs.
Es folgt ein einstündiges geiles Konzert mit Aufwärmprogramm, Happy-Birthday-Song für ein Mädel aus der Menge und ganz vielen tollen emotionalen Momenten.
Danach heißt es alle Instrumente ins Auto einladen und ab geht‘s in die nächste Stadt, wo coole Fans und ein geiler Gig auf uns warten.
Nach dem Konzert geben wir dann noch eine Autogrammstunde und nachdem jeder Fan ein Autogramm bekommen hat, geht‘s ab ins Hotel. Dort werden dann noch mal die Nachrichten auf Facebook gecheckt, Fotos hochgeladen und dann geht‘s auch schon ab ins Bett. Am nächsten Tag geht‘s weiter - vielleicht sogar mit zwei geilen Konzerten!! Yes!!
// DIE NÄCHSTE STADT EUGEN FLITTNER
Dabei wird aber natürlich auch viel gelacht und mal ein bisschen Quatsch gemacht.
FOTO: BASTIAN FISCHER
J O H A N N E S S T R A T E I S T 3 1 J A H R E A L T,
MUSIKER UND LEBT IN HAMBURG.
W W W. J O H A N N E S S T R AT E . D E
// START SCHUSS J O H A N N E S S T R AT E
Ein großer Schritt für mich, eine große Erleichterung für mein Herz.
Ein großer Tag. Ein Neuanfang. Zurück zu den Wurzeln. Mein Soloalbum „Die Zeichen Stehen Auf Sturm“ steht in den Startlöchern. Drei Jahre lang habe ich an den Texten geschrieben, die Musik zum Klingen gebracht. Sechs Monate war ich auf Reisen durch die Welt, von Umbrien (Italien) über Reykjavik (Island), New York, Berlin zurück nach Hamburg. Jetzt halte ich das fertige Album in den Händen und es geht los. Im September soll es rauskommen, ich werde langsam nervös und hinterfrage jede einzelne Zeile, Melodie, jede Bookletseite. Aber es fühlt sich gut an, ich fühl‘ mich gut damit, finde meine Seele und mein Herz darin wieder. Ich schließ‘ mich mit vier Freunden im Proberaum ein. Nächtelang experimentieren und probieren wir, wie man das Album, all die Bläser, Streicher, Sounds mit nur fünf Menschen einfangen kann. Wir kommen auf einen Nenner und die Livepremiere ist in Bochum bei „Bochum Total“.
700 Shows mit meiner Band Revolverheld liegen hinter mir, routiniert geh‘ ich mit der minimalen Nervosität vor den Konzerten um - nicht jedoch bei der ersten Soloshow in Bochum. Ich komme mir vor wie mit 20, laufe in der Umbaupause zu meinem Auftritt weit weg von der Bühne, um die Hektik nicht an mich ran zu lassen. Es funktioniert. Startschuss, 5.000 Leute vor der Bühne, wir hätten uns eine einfachere, kleiner Livepremiere im Club vor 50 Leute aussuchen können, aber es ist Bochum, jeder ist da, alles schaut mich an... Es werden großartige 45 Minuten, es fühlt sich gut und selbstverständlich an, die Songs fließen, wir haben Spaß, das Publikum auch. Ein großer Schritt für mich, eine große Erleichterung für mein Herz. Was bleibt, ist die Erinnerung an einen wunderbaren Tag.
J A N A U L B A C H I S T 2 2 J A H R E A L T,
S T U D I E R T K O M M U N I K A T I O N S D E S I G N U N D L E B T I N D A R M S T A D T.
W W W. J A N - A U L B A C H . D E
// NACH HAUSE JAN AULBACH
Wie ohnm채chtig, der Situation ergeben, doch vor allen Dingen: traurig.
Reise rauschend Richtung Stadt. Die rast an mir vorbei. Die große Stadt. Die laute Stadt. Die schöne Stadt. Die Stadt, die ich heute verlasse. Sekunde um Sekunde weiter hinein. Hinein nur, um wieder hinaus zu fahren und durch die Luft dieses Land zu verlassen. Nach Hause. Doch dort — so kommt es mir jetzt vor — wartet nichts auf mich außer ein leerer Schreibtisch und ein Stuhl und Berge von Tagen. Stunden ziehen sich wie Gummi auf heißem Asphalt und obwohl ich rasend, geschäftig, panisch versuche, das Loch mit Planen und Auf-Uhren-Schauen zu verstopfen, gelingt es kaum. Wie ohnmächtig, der Situation ergeben, doch vor allen Dingen: traurig. Check-In, security und duty free, boarding, ready, take-off — schwupp. Tea and biscuit, runway, Landung, raus — Ich bin zu Haus. Bisschen Warten, was auch sonst, Bus, Bahn, Tapp tapp tapp, Schlüssel rein, Tür auf, Tür zu, Tür auf, ich rein — ich bin allein. Hier ist es still, keine Stadt schreit und johlt, nur Einheitsbrei. Ich stelle ab, klapp‘ den Laptop auf. Ein paar Klicks nur dann: »Ich bin daheim.« Du bist daheim. Nur nicht hier. Sondern dort. Ich zähl die Tage. Bin stolz. Bin hier.
W W W. D A S I M P E R I U M . C O M W W W. D I E - A N G S T H A S E N . D E
INTERVIEW
DER ZWANZIGJÄHRIGE SCHAUSPIELER ÜBER
BERLIN, GUTE FREUNDE UND DAS MEER.
Es wird wohl der letzte Sommer sein, in dem die Strandbar Kiki Blofeld ihren Gästen einen Zufluchtsort der Ruhe und Entspannung bieten kann. Hier, am Ufer der Spree im Herzen Berlins, ist es unmittelbar zu erleben, wie das Alte dem Neuen weicht, jeden Tag ein Stückchen mehr. Max Hegewald, Gewinner der Goldenen Kamera 2011, schreitet mit uns die staubige Zufahrt zur Strandbar entlang. Links und rechts schießen sie schon in die Höhe, die modernen Kolosse aus Glas, Stahl und Beton, die Teil sein sollen des sogenannten „Neuen Berlin“. Trotzig bahnt sich dennoch die Zufahrt ihren Weg durch den Wald aus Gittern und Bauzäunen und führt uns schließlich in das verträumte Areal des Kiki Blofeld. Was für eine Kulisse! Schön ist es hier, fast wie am Meer. Max mustert kurz die Umgebung und lässt sich nach wenigen Augenblicken in einem großen Holzsessel mit Blick auf die Spree nieder.
Jonas: Max, vermisst du das „Alte Berlin“? Max: Ja, schon. Viele tolle Punkte verschwinden, aber es entstehen auch genauso viele neue. Man sollte dem Alten nicht all zu sehr hinterhertrauern. Natürlich sollte man Besonderes bewahren, aber meistens wird dies nicht dauerhaft gelingen. Jonas: Der Ort, an dem wir sitzen, gehört zum ehemaligen Grenzgebiet, das zwei Staaten voneinander trennte. Nimmst du solche Orte besonders wahr, spürst du deren Bedeutung? Max: Ich spüre eigentlich nicht, was damals war. Eher spüre ich, was heute noch ist. Meiner Meinung nach existiert immer noch eine Grenze, jedenfalls eine unsichtbare. Die Stadt ist auf eine gewisse Art geteilt. Aber das hängt viel mit den Menschen zusammen. In Westberlin gibt es hauptsächlich Westberliner, in Ostberlin eben Ostberliner. Und die geplante Urbanisierung führt zu zusätzlicher Differenzierung zwischen Arm und Reich. Jonas: Ist das deiner Meinung nach die Ursache für den Kampf gegen die Gentrifizierung in den einzelnen Stadtteilen?
Jonas: Du hast dich sehr umfangreich auf deine Rolle vorbereitet, viel zum Thema Krebserkrankungen gelesen und einige persönliche Gespräche geführt. Geht man nach einer so intensiven Vorbereitung und nach dem Spielen dieser Rolle anders durchs Leben? Max: Ich kann auf jeden Fall die Wut nachvollziehen, die da dahintersteht. Ich glaube aber nicht, dass sich diese Wut gegen Reiche an sich richtet, sondern eher gegen die Tatsache, dass von oben geplant und über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden wird. Es gibt immer weniger soziale und kulturelle Durchmischung, und dadurch entstehen Aggressionen. Jonas: Der Film „Der Mauerschütze“, der vor kurzem in der ARD zu sehen war, spricht zwei große Themen an: zum einen das tragische Schicksal der Mauertoten, zum anderen die Krebserkrankung und den bevorstehenden Tod der Figur Paul, die von dir gespielt wird. War das Thema Mauertote bei deiner Vorbereitung auf die Rolle des todkranken Jungen überhaupt von Bedeutung? Max: Ja, unbedingt! Die Gesamtdramaturgie des Films war ja dadurch bestimmt, schon alleine deshalb habe ich mich damit auseinandergesetzt. Und es hat mich sehr berührt bei meiner Recherche. Außerdem musste ich mir die Fragen stellen: Inwieweit hat meine Rolle da überhaupt Platz? Und welchen Platz darf sie einnehmen?
T E X T:
JONAS MEYER
FOTOS:
LUKAS LEISTER
// AM MEER
Max: Ich denke schon. Auf jeden Fall macht man sich viele Gedanken, etwa zu der grundsätzlichen Bedeutung von Leben und Tod. Und man stellt sich die Frage, was so eine unheilbare Krankheit für das eigene Leben bedeuten würde, was sich alles verändern würde. Jonas: Hast du für dich selbst Antworten gefunden? Max (hält einen Moment inne): Ja. Meine Antwort ist, dass man jeden Tag seines Lebens auskosten und genießen sollte, das versuche ich auch in meinem Leben umzusetzen. Jonas: Hat dich diese Erkenntnis verändert? Max: Absolut. Ich habe mir immer feste Ziele gesteckt, die ich dann unbeirrbar angestrebt und zu denen ich kontinuierlich hingearbeitet habe – immer in der Vorstellung, dort irgendwann anzukommen. Heute ist das anders. Zwar habe ich nach wie vor Ziele, aber ich versuche auf dem Weg dahin alles daneben mitzunehmen. Jonas: Hat sich darüber hinaus auch deine Wahrnehmung verändert, zum Beispiel was die sogenannten kleinen Dinge des Lebens angeht?
Max: Ich nehme die Kleinigkeiten und Alltäglichkeiten des Lebens sehr stark wahr. Das hat aber weniger mit „Der Mauerschütze“ zu tun. Ich lege im Vergleich zu früher allgemein ein größeres Augenmerk auf menschliche Beziehungen, die ich versuche, einerseits intensiver zu pflegen und andererseits auch zu hinterfragen - in ihrer Tiefgründigkeit und Wichtigkeit. Jonas: Welche Werte haben für dich und dein Leben denn eine besondere Relevanz? Max: Loyalität und Ehrlichkeit. Ja, vor allem Ehrlichkeit.
Max wird für einen Moment sehr still, der Blick seiner hellblauen Augen wandert über die Spree. Vielleicht brauchen diese Augen einfach ein paar Sekunden der Entspannung, sind sie doch sein wichtiges Kommunikationsmittel. Auch wenn sich Max durch eine sehr klare und reiche Sprache auszeichnet: Seine Augen machen die Hauptarbeit, stechen hervor, greifen ihr Gegenüber, nehmen es mit auf eine Reise, zeigen Freude und Leid, Stärke und Zerbrechlichkeit – und lassen es erst los, wenn sie es für richtig halten.
Jonas: Du hast im Vorgespräch zu diesem Interview auch erwähnt, dass der Freiheitsbegriff eine wichtige Bedeutung für dich hat. Kannst du das konkretisieren? Max: Mein Anspruch an mich selbst ist es, in jeder Situation und jeder Lebensphase möglichst frei zu sein. Das meine ich erstens räumlich: Ich kann mir nicht vorstellen, eingesperrt zu sein. Und zweitens gedanklich: Ich möchte immer das aussprechen und sagen dürfen, was ich möchte und was ich für richtig halte. Jonas: Legst du bei der Auswahl deiner Rollen Wert darauf, dass sie eine gewisse Tiefgründigkeit und einen bestimmten Anspruch haben? Max: Ja, weil man damit den politischen Aspekt des Berufs stärker verfolgen kann. Jonas: Würde dich auch etwas „leichteres“ reizen, etwa eine Komödie? Max: Natürlich habe ich Spaß an Komödien, da gibt es übrigens auch tiefgründige. Ich drehe gerade eine in München, die den Titel „Vatertag“ trägt und in der ich eine kleinere Rolle spiele. Komödie ist eine ganz andere Form des Spiels und ein Stück weit viel technischer als meine bisherigen Rollen. Es kommen ganz spannende, neue Seiten an einem zum Vorschein, die man vorher an sich selbst nicht entdeckt oder beobachtet hat. Das mag zu einem bestimmten Teil auch an der Arbeit des Regis-
seurs Ingo Rasper liegen, der diese neuen Seiten herauskitzelt. Ich dachte auch immer, beim Dreh einer Komödie geht es am Set locker und lässig zu, alles macht einfach nur unglaublich viel Spaß. Aber man merkt beim Spiel: Es ist extrem anstrengend! Ich habe selten so geschwitzt. Während der Drehzeit habe ich meine Rolle von Tag zu Tag ernster genommen, obwohl ich eigentlich eine totale Witzfigur spiele. Jonas: Komödie spielen ist also physischer, als du gedacht hast? Max: Ja, und psychisch tiefgreifender: Man muss sich bei einer Komödie als Schauspieler besonders ernst nehmen, damit überhaupt ein Resultat erzielt wird. So funktioniert eben Komik. Jonas: Du hast neben deinen Filmrollen auch sehr viel auf der Theaterbühne gestanden. Welche der beiden Welten ist dir wichtiger? Max: Das kann ich nicht sagen, ich mag beides sehr. Jonas: Ulrich Tukur hat den Unterschied zwischen beiden Welten mal so beschrieben, dass man beim Theaterspiel im Gegensatz zum Film eine direkte, unmittelbare Reaktion des Publikums spürt. Siehst du das ähnlich? Max: Das würde ich auf jeden Fall unterschreiben. Diese direkte Reaktion des Publikums füttert dich in dem einen Moment und beeinflusst in gewisser Weise den nächsten. Dein Spiel wird dynamischer. Man steht daher auch auf der Bühne unter einem ganz anderen Adrenalinspiegel. Jonas: Rick Okon, ebenfalls ein junger talentierter Schauspieler, hat uns im Interview verraten, dass er manchmal beim Spiel ganz und gar die Zeit vergisst. Geht dir das ähnlich? Max: Mitunter ja, aber nicht in jeder Szene. Vor allem beim Film wird einem nicht immer dieser Freiraum gelassen, weil man sich auf zu viele Dinge konzentrieren muss, wie etwa die Kameraposition.
Jonas: Wie erlebst du insgesamt das Filmbusiness? Max (lacht): Manchmal sehr anstrengend. Vor allem bei der Medienarbeit muss man ständig darauf bedacht sein, wie man auf andere Leute wirkt. Das kann weniger Freiheit bedeuten, wenn man gerne so ist, wie man ist. Man ist eben immer darauf bedacht, nicht falsch verstanden zu werden und hofft, dass die Rolle und die persönliche Interpretation dieser Rolle nicht falsch ausgelegt werden. Jonas: Passiert es dir, dass du auch außerhalb deiner Arbeit eine Rolle spielst? Max: Ja, in der Tat, vor allem gegenüber Medien. Als ich das zum ersten Mal an mir festgestellt habe, habe ich mir ziemliche Gedanken über mich gemacht. Das war eigentlich nicht das, was ich erreichen wollte. Ich finde es aber auch wichtig, dass man lernt, diese Rolle wieder abstreifen zu können, vor allem bei Freunden oder der Familie. Jonas: Spielst du jetzt im Moment eine Rolle, oder ist das Max, wie er ist? Max (lächelt): Ich bin noch in einer Rolle, aber ich versuche gerade, Max zu werden.
Jonas: Das bemerkst du so genau? Max: Ja, ich bin grundsätzlich ein sehr offener Mensch, vor allem gegenüber Freunden. Gegenüber Menschen, die ich nicht kenne, versuche ich, nicht direkt alles preiszugeben und bemühe mich, mich kontrolliert zu öffnen.
Jonas: Wie siehst du dich selbst auf der Leinwand? Max: Ich schaue mir bewusst an, was ich da fabriziert habe, vor allem unter dem technischen Aspekt. Früher habe ich übrigens in erster Linie immer nur mich selbst gesehen, heute analysiere ich hauptsächlich die Wirkung auf andere. Jonas: Kommt es vor, dass du dich im Film siehst und dich fragst: Wer ist eigentlich diese Person? Max: Nein, eher nicht. Ich suche im Spiel immer einen Zugang zu meiner Rolle, und dieser Zugang bleibt auch im Nachhinein erhalten.
Wieder macht Max eine kurze Pause. Oder genauer gesagt seine Augen, die nun den wenig sommerlichen Himmel abtasten und sich irgendwo am Horizont verlieren. Ob sie auf der Suche nach Freiheit sind? Überhaupt dieser Freiheitsdrang des zwanzigjährigen Schauspielers...
Jonas: Ist für dich zu viel Freiheit kontraproduktiv? Brauchst du auch eine gewisse Ordnung?
Max: Das kommt von alleine. Man irrt so lange hin und her, bis man irgendwann auf die Schnauze fällt und sieht, wo man lang gehen muss.
Max: Unendlich viele Möglichkeiten sind natürlich toll, aber man kann auch schnell orientierungslos werden.
Jonas: Gab es in deinem Leben prägende Phasen, in denen du die Orientierung verloren und wieder gefunden hast?
Jonas: Ist dir das schon passiert?
Max: Als ich mit der Schauspielerei angefangen habe, hat mir das sehr viel Orientierung gegeben. Gleichzeitig hat mir dies aber auch eine neue Welt eröffnet, mit neuen Möglichkeiten und einer extremen Freiheit. Dagegen war die Zeit nach der Schule auch eine Zeit der Orientierungslosigkeit, die in gewisser Weise immer noch andauert. Ein kleines bisschen irre ich immer noch umher.
Max: Oh ja. Jonas: Und welche Strategie hast du, um wieder eine Orientierung zu finden?
Jonas: Du hast nie eine Schauspielschule besucht. Brauchst du das dort Vermittelte im Moment nicht bzw. hast du das Gefühl, schon daran vorbeigezogen zu sein? Max: Ich schließe auf jeden Fall nicht aus, dass ich mal eine besuchen werde, immerhin wird dir dort unglaublich viel beigebracht. Ich weiß aber nicht, ob eine Schauspielschule im Moment für mich und meine jetzige Lebenssituation das Richtige wäre. Man ist dort ja quasi vier Jahre lang 24 Stunden am Tag gefangen, die Freiheit ist enorm eingeschränkt. Davor habe ich etwas Angst. Ich muss außerdem erst andere Dinge erledigen, zum Beispiel noch ein paar Ecken in der Welt entdecken und persönliche Projekte abarbeiten. Außerdem muss ich eine konkrete Perspektive entwickeln, wie ich mir mein Leben in zwei, drei Jahren vorstelle. Das hat auch viel mit den Menschen zu tun, die mich zur Zeit umgeben und der Stadt, in der ich lebe. Jonas: Meinst du damit die Frage, ob dies in zwei, drei Jahren dieselbe Relevanz für dein Leben hat wie im Moment? Max: Ja, die Frage, was davon relevant bleibt und was vergeht. Jonas: Hast du Angst davor, dass Dinge, die jetzt wichtig sind, dann eventuell ihre Bedeutung verloren haben werden? Max: Ja, auf jeden Fall, speziell in Hinsicht auf die Beziehungen zu anderen Menschen. Ich habe vor kurzem schon gemerkt, dass sich Freundschaften lösen und auseinander triften können. Aber ich habe ebenfalls festgestellt, dass man sie wieder intensivieren kann. Auch das funktioniert erstaunlicherweise. Menschen verändern sich zwar, aber das gemeinsam Erlebte wird immer ein Punkt bleiben, an den man anknüpfen kann. Jonas: Du warst vor kurzem in Amsterdam. Was unterscheidet die Stadt von Berlin?
Max: Die „Berliner Schnauze“ fehlt. Dort herrscht eine beeindruckende Höflichkeit. Für mich als Tourist wirkt die Stadt extrem frei und liberal. Ich habe mir aber von einigen Niederländern sagen lassen, dass der Schein etwas trügt und es dort weit weniger liberaler zugeht, als man das auf den ersten Blick vermuten würde. Insgesamt war es aber eine spannende Erfahrung, die Stadt kennenzulernen. Jonas: Hast du oft Fernweh? Max: Oh ja, eigentlich jeden Tag! In die Antarktis muss ich zwar nicht unbedingt, aber sonst habe ich den Drang, alle Orte auf der Welt mal kennenzulernen. Als nächstes steht auf jeden Fall Amerika oder Indien auf dem Plan. Indien hat ja das Klischee einer wunderbaren, exotischen Kultur, von der man sehr viel hört, aber eigentlich keine wirkliche Ahnung hat. Daher würde ich gern mal hin und mir selbst ein Bild machen. Jonas: Wird dir Berlin manchmal zu viel? Max: Mitunter schon. Nach einer bestimmten Zeit - so etwa alle drei Monate - habe ich die Schnauze voll und würde dann am liebsten weit weg, was leider nicht immer geht. Ich werde trotzdem in den nächsten Jahren versuchen, immer irgendwo anders hinzudüsen, aber auch immer wieder in meine Heimat Berlin zurückzukehren, um dort ein Stück zu mir zu finden. Jonas: Man muss eben erst weggehen, um wiederkommen zu können. Max: Ja, absolut. Jonas: Was ist das Problem an Berlin? Max: Die vielen Möglichkeiten, die man irgendwann nicht mehr zu schätzen weiß. Billige Miete etwa. Oder die ganzen Leute um dich rum, zu denen du immer kommen kannst. Durch die vielen Menschen, die
man kennt, ist man nicht gezwungen, sich mit neuen Leuten oder ganz allgemein mit anderen Kulturen auseinanderzusetzen. Jonas: Du bist vor kurzem von Prenzlauer Berg nach Moabit gezogen. Max (grinst): Ja, ich bin ein Prenzlauer Berg Flüchtling. Ich kann ja nichts dafür, dass ich dort geboren bin. Moabit ist viel bunter. Allein der hohe Migrantenanteil sorgt für eine bunte Durchmischung der Kulturen. Das mag ich sehr. Jonas: Du hast eben erwähnt, dass du noch einige Projekte beenden willst. Was hast du damit gemeint? Max: Ich bin gerade dabei, einen Film fertigzustellen, an dem ich seit zwei Jahren arbeite und den ich gemeinsam mit einer Freundin inszeniert habe. Es ist ein Episodenfilm, der acht Jugendliche in Berlin zeigt, die ein Theaterstück planen. Der Film taucht in die acht verschiedenen Leben ein, es geht dabei um das Thema „Ängste“, weshalb wir auch den Titel „Angsthasen“ für den Streifen gewählt haben. Ich gehe mal davon aus, dass er noch in diesem August fertig wird. Jonas: Wie planst du, ihn zu veröffentlichen? Max: Ich träume natürlich immer von einer riesengroßen Premiere im Kino, aber wahrscheinlich werde ich ihn einfach zu Festivals schicken. Ansonsten versuche ich ihn privat zu zeigen. Man kann in Berlin immer einfach zu Kinos gehen und fragen: Wollt ihr meinen Film zeigen? Jonas: Hoffst du, dass dir dein Name dabei hilft? Max: Ich werde versuchen, ihn im Sinne des Films einzusetzen, ja.
Wenige Meter von uns entfernt plätschern die Wellen der Spree an den Sandstrand. Menschen breiten ihre Decken aus und lassen sich am Wasser nieder. Man bräuchte keine Muschel am Ohr, um sich vorzustellen, in diesem Augenblick am Meer zu sitzen. Max und das Meer, da war doch noch was...
Jonas: Du hast im Vorgespräch erzählt, dass das Meer für dich eine ganz besondere Bedeutung hat. Max: Das Meer hat für mich genauer gesagt zwei wichtige Bedeutungen. Zum einen steht es für grenzenlose Freiheit. Zum anderen gibt es dir Halt und Orientierung: Man sitzt am Strand und hat dadurch einen beständigen Punkt, an dem man ist. Und dabei sieht man vor sich diese Offenheit, diese unendlichen Möglichkeiten. Ich glaube, wenn ich kein Schauspieler wäre, wäre ich ein Surfer, der von einem Strand zum nächsten reist und in den Tag hineinlebt. Jonas: Gehört es zu deinem Wesen, immer ein wenig in den Tag hineinzuleben? Max: Ja. Jonas: Was macht dich noch aus? Was trägt dazu bei, dass du dich so entwickelst, wie du dich entwickelst? Max: Der Austausch mit meinen Freunden. Ich suche ständig danach. Ich bin quasi ein Menschenmensch. Ich brauche meine Freunde, um mich selbst zu sehen. Jonas: Wie gelingt dir das? Max: Durch Ehrlichkeit – sich selbst gegenüber und gegenüber anderen. Meine Freunde zeigen mir oft mehr, wie ich bin, als ich das jemals selbst an mir entdecken könnte.
Jonas: Wirst du da auch manchmal überrascht? Max: Oft sogar. Das ist ja auch eine gewisse Form der Kritik, manchmal positiv, manchmal negativ. Daraus lerne ich sehr viel. Jonas: Definierst du dein Zuhause also eher über die Menschen um dich herum als über einen Ort? Max: Ja, tue ich. Aber wie ich eben schon erwähnt habe, kann sich dieses Zuhause schnell verändern, da sich auch Menschen verändern. Ich war knapp sechs Monate in Afrika, und als ich zurückkam, habe ich gemerkt, dass man nicht mehr auf einen Nenner kommt, wenn man zum Beispiel auf Partys in irgendwelche oberflächlichen Gespräche verwickelt wird. Jonas: Was hast du in Afrika gemacht? Max: Ich war mit einer Freundin in Tansania, wo wir in einem Waisenhaus gearbeitet haben. Wir haben uns dafür entschieden, weil wir den intensiveren Umgang mit den Menschen vor Ort und deren Kultur gesucht haben. Jonas: Welche Erfahrungen hast du dort machen können? Max: Zum Beispiel die, dass Religion dort eine unglaubliche Rolle im Leben der Menschen dort einnimmt. Ich musste erst einmal das Vater Unser für die Kinder lernen, damit diese nicht mitbekommen, dass ich gar nicht in die Kirche gehe und eigentlich nicht gläubig bin. Allerdings hat mir der dortige Gedanke von Religion ziemlich gut gefallen. Es geht da gar nicht in erster Linie um einen Gott als höheres Wesen, sondern eher darum, dass man grundsätzlich an etwas glaubt, was einem etwas bedeutet. Das kann man auch allgemein beschreiben als die Liebe zu den Menschen – das teile ich total.
Jonas: Hat das dein Verhältnis zu Glaube verändert? Max: Ja, extrem. Als nicht-gläubiger Mensch habe ich erst dort eine Vorstellung bekommen, wie wichtig das sein kann – und wie viel es dir geben kann. Jonas: Wenn du dir einen Tag so zusammenbauen könntest, damit es „Dein Tag“ wird: Wie sähe der aus? Max: „Mein Tag“ wäre ein Tag, der mich extrem glücklich machen würde. Es wäre ein sehr sonniger Tag, an dem ich mit einem Rucksack auf meinem Rücken irgendwo in die große weite Welt wandern würde, ohne zu wissen, wohin es mich treibt. Das wäre „Mein Tag“.
Wir machen uns langsam auf den Heimweg. Während wir die staubige Zufahrt zurücklaufen, scheint es, als seien die Kolosse links und rechts des schmalen Weges auf eine sonderbare Art und Weise kleiner geworden. Vielleicht verneigen sie sich ja vor Max Hegewald. Das wäre durchaus denkbar. Sogar im „Neuen Berlin“.
TEXT: FOTOS:
JONAS MEYER LUKAS LEISTER
// AM MEER
Jonas: Du hast dich sehr umfangreich auf deine Rolle vorbereitet, viel zum Thema Krebserkrankungen gelesen und einige persönliche Gespräche geführt. Geht man nach einer so intensiven Vorbereitung und nach dem Spielen dieser Rolle anders durchs Leben? Max: Ich denke schon. Auf jeden Fall macht man sich viele Gedanken, etwa zu der grundsätzlichen Bedeutung von Leben und Tod. Und man stellt sich die Frage, was so eine unheilbare Krankheit für das eigene Leben bedeuten würde, was sich alles verändern würde. Jonas: Hast du für dich selbst Antworten gefunden? Max (hält einen Moment inne): Ja. Meine Antwort ist, dass man jeden Tag seines Lebens auskosten und genießen sollte, das versuche ich auch in meinem Leben umzusetzen. Jonas: Hat dich diese Erkenntnis verändert? Max: Absolut. Ich habe mir immer feste Ziele gesteckt, die ich dann unbeirrbar angestrebt und zu denen ich kontinuierlich hingearbeitet habe – immer in der Vorstellung, dort irgendwann anzukommen. Heute ist das anders. Zwar habe ich nach wie vor Ziele, aber ich versuche auf dem Weg dahin alles daneben mitzunehmen.
Jonas: Hat sich darüber hinaus auch deine Wahrnehmung verändert, zum Beispiel was die sogenannten kleinen Dinge des Lebens angeht? Max: Ich nehme die Kleinigkeiten und Alltäglichkeiten des Lebens sehr stark wahr. Das hat aber weniger mit „Der Mauerschütze“ zu tun. Ich lege im Vergleich zu früher allgemein ein größeres Augenmerk auf menschliche Beziehungen, die ich versuche, einerseits intensiver zu pflegen und andererseits auch zu hinterfragen - in ihrer Tiefgründigkeit und Wichtigkeit. Jonas: Welche Werte haben für dich und dein Leben denn eine besondere Relevanz? Max: Loyalität und Ehrlichkeit. Ja, vor allem Ehrlichkeit.
FOTO: BERND FREUNDORFER
JOEL SMALL IS A 23-YEAR-OLD DANCER LIVING IN EDEN / AUSTRALIA.
H E S T U D I E D A N D W O R K E D W I T H T H E H A M B U R G B A L L E T J O H N N E U M E I E R , G E R M A N Y.
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I guess there have been many special days and many..... Well not so special days so far. Being a dancer is no way near as glamorous as most people seem to think. We work like crazy animals all day, and then we go and perform at night time. And do you see ballet dancers driving around in BMW‘s or travelling around the world first class? Well I tell you the answer is ‚No‘. So I guess the special thing about being a dancer has nothing to do with money. We do it because we love to dance. Our pay or our biggest reward is the work, the opportunity to dance a special role, and the opportunity to express ourselves on stage or in the studio for our audience and ourselves. We spend most of our day sweaty and touching other sweaty dancers, then we go home tired. We cook a simple meal (maybe), watch an episode of some TV series and get ready for bed. We do not walk around all day with beautiful costumes, perfect hair and make up. No that would only be the performance. (Which is the part that most people get to see)!!! So I guess once you take the Glamorous costumes away, all the glitter and lighting.......... you are left with a simple, hard working, 6 days a week, sweaty, dedicated dancer. I guess that leads me to the question; what is a special day for me? What would I consider ‚My Day’? Well it does not involve driving around in my expensive car, and it does not include telling my personal assistant to get me what ever I want and need, it certainly does not involve going to the finest parties and restaurants every night. (We would be too tired for that anyway!!!) So ‚My day‘ or at least one of my favourite days in terms of work would be a day where I learnt something from an older more experienced dancer I respect, or maybe where I noticed some improvement in a certain movement I have been struggling with, it could be getting to perform a solo role that I have been working on for weeks.
I think as we spend more time in the studio rehearsing and choreographing then we do performing on stage......... well the most important part of what we do is to enjoy everyday, the working process, the sweat of everyday. If we cannot enjoy the working, the daily gruel, then there would be no point in being a dancer. Maybe dancers need to love pain, ( hehe ), need to love never being good enough! (I think they do at least). We need to love rehearsing and practicing day after day until we see some small glimmer of improvement. What would be a perfect day in reality? One of the most rewarding things is to here an audience member compliment you, to here them say I really noticed you today in the performance and you really moved me. I like to think that in some small way I (or dancers) do help people. That some how we bring joy to people and are able to give back. We work so much on ourselves and we can be quite vain at times. One of the small rewards is to give back rather then to obsess over ourselves in the mirror daily. I really like the idea of working in a group. A group of dancers that can all give their opinion. A group of dancers that love to dance and love to work together in order to produce a choreography that will inspire other human beings. Being a dancer in my opinion is really a love / hate relationship. The thing that keeps you going is that the LOVE is stronger then the HATE. The biggest rewards like I said are the little things. The daily work, the close friends, getting to perform a special role, choreographing your own dance piece, travelling and performing around the world. Dancers live in a small community, so it is important that this small community works and functions well not sometimes but always.
// JUST BEING A DANCER JOEL SMALL
The thing that keeps you going is that the love is stronger than the hate.
C O C O M E U R E R I S T 2 7 J A H R E A L T,
JOURNALISTIN UND STYLISTIN UND LEBT IN BERLIN.
W W W . C O C O M E U R E R . B L O G S P O T. C O M
// MIMO COCO MEURER
Ungefähr 56.300.000 Ergebnisse in 0,18 Sekunden. Wow! Das weiß Google alles zu dem Thema „mein Tag“ in noch nicht mal einer Sekunde?! Beeindruckend. Und die Ergebnisse sind gar nicht eintönig. Alles dabei. Der erste Eintrag interpretiert das Thema im Sinne der immer fetter werdenden Gesellschaft. Es dreht sich also um die Diät, die dein Leben grundlegend verändern wird. Das haben schon ganz andere versprochen. Was hat’s gebracht? Meistens nicht viel. Und wie deprimierend ein Tag ist, an dem du verzichten musst, um am Ende dem Jojo-Effekt zu erliegen, muss ich hier wohl nicht ausführen. Dass der zweite Eintrag selbstredend ein Blog ist, der das alltägliche Leben von Herr oder Frau Irgendwem beschreibt, ist naheliegend und heutzutage nicht mehr wegzudenken. Auf den hinteren Seiten folgen noch unzählige weitere Blogs, die ähnliche Inhalte haben. Das dritte und vierte Suchergebnis ist den düsteren Seiten des Lebens zugewandt. Google hat spontan meine Suche ins Negative interpretiert. „Nicht mein Tag“. Ja, warum auch nicht. Mein Computer scheint sich sicher zu sein, dass ich nicht auf der positiv gestimmten Suche nach „mein Tag“ sein kann.
Tag“ hatte? Oh Gott, und könnte es sein, dass ich, wenn ich in diesem Leben nicht heirate, nicht meinen Tag haben werde? Ich könnte jetzt in Panik verfallen und nicht nur Torschlusspanik bekommen, weil ich nicht nur nicht verheiratet bin, sondern auch, weil ich mit meinen 27 Jahren noch nicht besagten Tag hatte. Doppelbelastung. Dann lasse ich das mit der Panik fürs Erste und überlege, was „mein Tag“ tatsächlich für mich bedeutet. Eines steht allerdings schon fest: Es hat ganz sicher nichts mit Diäten, Blogs, Oli P. oder einer Hochzeit zu tun. Als Erstes würde mir einfallen, eine Liste aufzustellen, die euch erklärt, was ich alles an meinem (perfekten) Tag machen würde. Auf dieser Liste würden auf jeden Fall Dinge stehen wie: viele Süßigkeiten, shoppen, mit meiner liebsten Person chillen, ein Mittagsschläfchen halten und einen guten Film schauen. Nicht uninteressant, aber nicht gerade spannend. Deshalb würde mir als Nächstes einfallen, euch zu erzählen, was ich an meinem (letzten) Tag machen würde. Aber das lasse ich bleiben. Ich möchte nichts heraufbeschwören. Aberglaube und so weiter.
Google verrät mir auch, dass es Lieder mit diesem Titel gibt! Frei interpretiert von Blümchen und Oli P. Ich denke, das kann ich einfach so stehen lassen. Und dann stoße ich endlich auf das, was ich erwartet hatte, als Erstes zu finden. Der größte Tag im Leben jeder Frau. Eine Homepage nur mit Tipps, die dir zu der perfekten Hochzeit verhelfen.
Nach all der ermüdenden Recherche und all diesen Überlegungen habe ich die zündende Idee. Wenn es „mein Tag“ ist und ich damit tun und lassen kann, was ich will, dann möchte ich ihn verschenken. Ein Geschenk, das voll der wunderschönen Dinge sein kann, die ich oder jeder andere von uns an diesem Tag tun möchte, um glücklich zu sein. Meinen Tag schenke ich meiner Zwillingsschwester Mimo. Die beste, liebenswerteste, witzigste und faszinierendste Mimo der Welt.
Verheiratet bin ich nicht. Sollte das bedeuten, dass ich in meinem bisherigen Leben noch nicht „meinen
Ohne dich möchte ich keinen Tag, und ohne dich wäre sowieso jeder Tag verschwendet.
ANNE COBAI IS A 20-YEAR-OLD GRAPHIC DESIGNER
A N D I L L U S T R AT O R L I V I N G I N P E R T H / A U S T R A L I A .
W W W. C A R G O C O L L E C T I V E . C O M / A N N E C O B A I W W W . A N N E C O B A I . B L O G S P O T. C O M
// JEDER TAG ANNE COBAI
Every day can be the best day.
When I think of the theme ‘My Day’ I think about the usual, mundane, go-to-work-then-go-home type of day that is quite common in people’s lives. Something that I have learned in my own life is the importance of enjoying everyday, and not just the weekends or holidays. I don’t want to spend my life just looking forward to the weekends, and dragging through the rest of the week without any enthusiasm. So I try to face each day with enthusiasm and a positive attitude. That is where the sentence ‘Every day is a party’ comes from. It just means that every day can be the best day if you just have a good attitude and expect good things in life. Even though I do a lot of vector illustrations which has become my style, lately I have been experimenting with typography using found objects. I wanted to show the theme of ‘My Day’ with words alone, and I used cake decorating sprinkles to form the letters.
S O P H I E W A L Z E L I S T 1 6 J A H R E A L T,
SCHÜLERIN UND LEBT IN UNNA.
// DAUER LĂ„CH ELN SOPHIE WALZEL
Mein Tag ist vom ersten Wimpernschlag an positiv.
Hallo ihr da draußen! Ich möchte euch etwas über meinen Tag erzählen. Über einen Tag, der im Moment noch nicht einmal Realität ist, sondern nur in meinem Kopf existiert, aber das kümmert mich nicht. Denn es gibt für mich so viele reale Tage, um genau zu sein 365 Tage in jedem Jahr, die ich im Laufe meines Lebens erleben werde. Einen Teil habe ich schon in meiner Vergangenheit erlebt, eine noch größere Zahl werde ich hoffentlich noch in meiner Zukunft erleben. Aber dieser eine Tag, der nur ein ganz großer Traum von mir ist, ist mein Traumtag, und wieso nicht einen Traumtag haben, wenn es doch so viele reale Tage gibt. Mein Tag ist vom ersten Wimpernschlag an positiv. Mein Dauerlächeln strahlt alles Böse und Schlechte mit dem Rücken an die Wand. Ich bin mir an meinem Tag von Anfang an sicher, dass ich alle Möglichkeiten, die mir an diesem Tag begegnen, ergreifen werde - und das, weil man ja bekanntermaßen nicht seine Taten bereut, sondern die Dinge, die man nicht getan hat. Und an diesem Tag möchte ich nichts bereuen. Mein Tag steckt voller altem Vertrauten, aber auch lehrreichem Neuen, sodass ich mir sicher sein kann, dass sich mein Horizont positiv erweitern wird. An meinem Tag stehe ich keinesfalls im Mittelpunkt. Nein, zu meinem Tag gehören all die Menschen, die immer in meinem Herzen bei mir sind. Aber auch all diejenigen, die unsere (damit meine ich auch meine) Welt zu etwas Großem machen. Und all diese Menschen können an meinem Tag Helden sein. Mein Tag spielt nicht an einem bestimmten Ort. An meinem Tag kann ich sein, wo ich möchte, Berlin oder Las Vegas, auf dem höchsten Berg oder im tiefsten Meer, in der Wüste oder im Regenwald, in einem Vergnügungspark oder auf einer Blumenwiese.
Egal wo - ich kann entscheiden, was ich sehen möchte und was ich möglicherweise gar nicht wahrnehmen will, denn an meinem Tag vergehen einige Momente in Zeitlupe, andere rasen nur so an mir vorbei. Die für mich wichtigen Dinge nehme ich mit, die Unwichtigen lasse ich hinter mir. An diesem Tag ändert sich die Zukunft in jedem Moment, in dem ich über sie nachdenke. Also versuche ich mich nicht zu fragen, ob die Dinge, die passieren, richtig oder falsch sind, oder was sie für meine Zukunft bringen werden. Mein Tag scheint nie vorbei zu gehen, und wenn er doch zu Ende geht, dann finde ich das gar nicht so schlimm - weil ich in der letzten Sekunde dieses Tages zufrieden und glücklich meinen letzten Wimpernschlag mache und weiß, dass wenn ich am nächsten Tag wieder aufwache, MEIN TAG immer noch bei mir ist, wenn auch nur in meinen Erinnerungen. Wenn ich an diesen Tag denke, wird mir klar, dass er sehr weit weg ist und eigentlich im Moment nur aus einem Bild besteht. Ich hoffe, dieses Bild wird irgendwann durch die Schönheit der realen Tage verblassen. Weil ich nicht mein Leben lang meinen Traumtag nach den realen Tagen gestalten möchte, sondern jeden realen Tag nach meinem Traumtag. Denn bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 81 Jahren sind das immerhin schon 29565 reale Tage, wenn ich nicht sogar ein bisschen länger die Vielzahl wunderschöner Seiten an dieser Erde miterleben kann. Und ich möchte diese Menge an realen Tagen so traumtagnah wie möglich machen, weil jeder Tag mich glücklich machen soll, und mein (Traum-) Tag tut genau das.
INTERVIEW
DER ZWANZIGJÄHRIGE SCHAUSPIELER ÜBER
BERLIN, GUTE FREUNDE UND DAS MEER.
W W W. R I C K O K O N . D E
// ALLES GUT Rick Okon erscheint an diesem Sonntagvormittag auf der Gartenterrasse des Café Hundertwasser so plötzlich, als hätte ein Regisseur im Hintergrund „Und bitte!“ gerufen. Dabei sorgt der Elan seines Auftritts dafür, dass die sonst so beschauliche Gartenterrasse für einen kurzen Moment in den Adelsstand einer Bühne erhoben wird, der das ehrwürdige Logenhaus an der Kurfürstenstraße in Potsdam als adäquate Kulisse dient. Rick begrüßt uns herzlich und nimmt Platz. Da wir auf ein langes Interview mit anschließendem Shooting eingestellt sind, beginnt unser Arbeitstag mit einem gemeinsamen Brunch. Viel frühstücken können wir allerdings nicht: Schnell merken wir nämlich, dass unsere Neugier, mehr über diesen jungen Schauspieler zu erfahren, auf ein ebenso großes Interesse seinerseits stößt, uns ausführlich Rede und Antwort zu stehen. Worauf also warten?
Jonas: Viele Schauspieler wussten bereits in frühester Kindheit, dass sie später einmal genau diesen Beruf ausüben wollen. War das bei dir ähnlich? Rick: Nein, absolut nicht. Ich war zwar schon immer etwas extrovertiert und habe ab und zu mal in der Schule bei Theaterprojekten mitgespielt, aber einen wirklichen Drang, Schauspieler zu werden, hatte ich früher nicht wirklich. Viele sagen ja, dass sie diesen Beruf anstreben, um berühmt zu werden. Damit konnte ich aber nichts anfangen.
T E X T:
JONAS MEYER
FOTOS:
LUKAS LEISTER
Ich bin eher durch einen Zufall zur Schauspielerei gekommen: Eine Freundin von mir wollte vor sieben Jahren mal Schauspielunterricht nehmen und traute sich nicht, sich alleine an der Schule vorzustellen. Also bin ich zu ihrer Unterstützung mitgekommen. Als ich dann aber dort war, hat mir selbst der Unterricht so viel Spaß gemacht, dass ich geblieben bin. Bei meinem Schauspiellehrer Patrick Dreikauss habe ich erst herausgefunden, was Schauspiel wirklich bedeutet, und habe so meine Passion entdeckt. Meine Freundin ist übrigens nach einem Jahr wieder abgesprungen – und ich bin Schauspieler geworden. Jonas: Gibt es in Deinem Leben mehrere dieser Zufallsereignisse, von denen du weißt, dass sich ohne ihr Eintreten dein Leben wohl in eine ganz andere Richtung entwickelt hätte? Rick: Oh ja! Allen voran der Umzug nach Hamburg vor vielen Jahren. Als ich etwa zehn Jahre alt war, hat meine Mutter entschieden, mit mir und meinem Bruder dort hinzuziehen. Dass dieser Schritt mein Leben so grundlegend verändert hat, habe ich erst vor einiger Zeit gemerkt, als ich meine Heimatstadt Schwedt an der Oder im tiefen Brandenburg besucht habe. Dort kam mir alles so grau und trist vor. Mir wurde ganz schnell klar: Hier hätte ich nie so sein können, wie ich jetzt bin, und auch nicht so zufrieden, wie ich jetzt bin. Das Großstadtleben hilft dir sehr, wenn du etwas eigensinnig bist und auf dich alleine gestellt sein willst. Das hat mich sehr geprägt.
Jonas: Hast du eine bestimmte Definition von Heimat? Rick: Nein, es gibt für mich keinen Ort, keinen Platz, von dem ich sagen würde, das ist jetzt meine Heimat. Natürlich gibt es immer einen Ort, an dem man geboren wird, wo man seine Kindheit verbringt, aufwächst oder später seinen Ruhestand verlebt. Ich kann aber nicht sagen: Genau hier und nur hier bin ich zuhause. Es kommt immer sehr auf die Situation an, mit welchen Menschen man gerade zusammen ist oder unter welchen Umständen man lebt. Jonas: Ist Potsdam ein Zuhause für dich geworden? Rick: Ja, irgendwie schon - allein deshalb, weil für mich durch den Umzug hierher ein komplett neues Leben begonnen hat. In Hamburg bin ich zur Schule gegangen, habe meinen Zivildienst abgeleistet und quasi nur bei Mama gelebt. In Potsdam, wo ich an der Hochschule für Film und Fernsehen studiere, habe ich zum ersten Mal meine eigene Wohnung und kann dort machen, was ich
will. Man gewöhnt sich da sehr schnell dran, es wird automatisch „deins“. Wenn ich übrigens in meiner Wohnung in Potsdam bin, sage ich genauso „ich bin gerade zuhause“ wie wenn ich mich in Hamburg in der Wohnung meiner Mutter aufhalte. Das ist dann eben auch mein Zuhause. Jonas: Hat Potsdam etwas, was Hamburg nicht hat? Rick (lacht): Ja, meine Uni! ... Aber doch, Potsdam hat wirklich etwas, was Hamburg nicht hat: Hamburg ist zwar das Tor zur Welt und eine der interessantesten Städte überhaupt, aber auch touristisch überlaufen. Es ist in Potsdam leichter, einen schönen Fleck zu finden, an dem man einfach mal alleine sein kann. Schöne Flecken findest du zwar in Hamburg ohne Ende, allerdings sind dann auch gleich mal 20.000 Leute dort, die den Fleck ebenso schön finden. Obwohl hier alles viel komprimierter ist, kannst du, wenn du willst, zwei Stunden ganz alleine in verbringen, ohne dass dir jemand begegnet. Die Umgebung hier ist wirklich ideal, um einfach mal abzuschalten.
auskam. Dann würde man gerne mal aus diesem „ja, deswegen, ja, deswegen“ ausbrechen. Auf der anderen Seite ist es aber auch toll, wenn du genau weißt, was du tust. Denn wenn du genau weißt, was du tust, wirst du sicher. Und wenn du sicher bist, kannst du erst einmal nicht großartig verlieren auf der Bühne. Wenn du zusätzlich noch einen Schauspielpartner hast, der auch genau weiß, was er tut, wird daraus dann auf der Bühne etwas wunderbares, und du vergisst das Publikum und die Zeit, lebst nur in dieser einen Situation, dieser einen Szene. Jonas: Wie sehr zehrt das an deinen Kräften?
Jonas: Brauchst du diese Rückzugsmöglichkeiten? Rick: Ja, unbedingt. Durch das Studium und die Arbeit vor der Kamera erlebt man so unendlich viel, man steht ständig unter Strom, befindet sich in einem permanenten Aktivierungszustand. Ich brauche daher dringend auch mal Phasen, wo ich einfach mal für ein paar Stunden alleine sein kann: auf der Terrasse sitzen und eine rauchen zum Beispiel. Oder mich irgendwo ans Wasser setzen. Ich muss sagen können: So Rick, jetzt ist mal kurz alles unterbrochen, und du machst was kleines ganz alleine für dich. Das ist mir sehr wichtig. Obwohl man ja bei so etwas schnell in Erklärungsnot gerät. Jonas: Inwiefern? Rick: Man muss sich heutzutage ja für so ziemlich alles erklären, was man tut. Für alles musst du eine Begründung haben. Das ist in gewisser Weise aber auch gut so. Beim Schauspiel zum Beispiel: Man muss wissen, warum man in einem bestimmten Moment gerade auf eine ganz bestimmte Art und Weise spielt. Schauspiel funktioniert eben so. Man muss immer genau wissen, was man macht und warum. Das wird mir immer wieder an unserer Hochschule bewusst: Man muss seinen Dozenten ständig erklären, warum man gerade so und so gespielt hat. Manchmal weiß man allerdings nicht, warum man etwas so gemacht hat, weil es intuitiv aus einem her-
Rick: Es ist schon eine sehr intensive Arbeit. Wir sind manchmal von morgens acht bis abends um zehn in der Hochschule, und anschließend sind noch Texte zu lernen. Daher sind mir gewisse Rückzugsmöglichkeiten auch so wichtig, weil ich dann den Tag in Ruhe verarbeiten kann, während ich beispielsweise irgendwo alleine sitze und mich entspanne.
Wir machen eine kurze Pause. Die vielen Leckereien des einladenden Brunchbuffets sollen ja wenigstens eine kleine Chance erhalten, den Weg auf unsere Teller zu finden. Die kulinarische Unterbrechung gibt uns dabei die Möglichkeit, einige Sekunden innezuhalten und die ersten Minuten des Interviews zu reflektieren. Rick Okon ist ein Energiebündel. Während er spricht, scheint sein gesamter Körper dem bedingungslosen Willen zu folgen, die Bedeutung seiner Antworten zu unterstreichen: Seine kräftige Stimme zementiert die Sätze, seine Augen halten Dauerkontakt zu den Zuhörern, seine Arme und Hände untermalen jedes seiner Worte. Die Vehemenz seiner Ausführungen scheint dabei immer der Maxime zu folgen, das Gegenüber mit in die Handlung einzubeziehen, es zu aktivieren und für die Sache zu gewinnen. Würde er jetzt rufen: „Komm, lass’ uns die Welt erobern!“ – man würde ihm wohl folgen. Vor der Welteroberung gibt es aber noch das eine oder andere zu besprechen. Zum Beispiel die Rolle des Lukas in der Liebeskomödie „Romeos“, für die Rick Okon besetzt wurde. Lukas - als Frau geboren - fühlt sich im falschen Körper eingesperrt und verliebt sich in einen Mann.
Jonas: Du wirst demnächst im Film „Romeos“ zu sehen sein, der am 8. Dezember in die Kinos kommt. Warst du in der Zeit, in der du für diesen Film vor der Kamera gestanden hast, eigentlich schon an der HFF eingeschrieben? Rick: Das war eine verrückte Zeit: Parallel zu den Proben zu „Romeos“ in Köln lief nämlich das Auswahlverfahren an der Hochschule in Potsdam. Das hieß für mich: gefühlte tausend Mal zwischen Köln und Potsdam hin- und herfahren. Der eigentliche Dreh begann dann wenige Tage nachdem ich von meiner Aufnahme an die Hochschule erfahren habe. Das war zwar alles irrsinnig hektisch und zeitintensiv, aber ich bin froh, dass ich diese beiden positiven Erfahrungen machen durfte: die Aufnahme an die Filmhochschule und die Besetzung für die Rolle des Lukas in „Romeos“ – alles in wenigen Tagen! Jonas: Was hast Du gedacht, als Du das Drehbuch gelesen hast? Rick: Ich habe mir gedacht: Was für ein Riesenglück, dass du das spielen darfst! Das ist meine erste richtige Hauptrolle, und ich darf gleich schon jemanden spielen, der sich in seinem Körper so unwohl fühlt, dass er alles dafür tun würde, nicht mehr in diesem Körper zu sein. Was für eine Herausforderung! Ich muss sagen, ich habe das Drehbuch auch in einem Rutsch durchgelesen – sogar ohne Zigarettenpause. Die Geschichte hat mich einfach gefesselt, und lustig war sie außerdem. Jonas: Kannst Du dir vorstellen, dass es junge Schauspieler gibt, die das eine oder andere Problem damit hätten, einen Transgender zu spielen? Rick: Vorstellen kann ich mir so einiges – aber nachvollziehen? Nein. Das wäre dann deren eigenes Pech und Problem. Wenn man die Möglichkeit erhält, eine so außergewöhnliche Rolle zu spielen, wie sie überhaupt nur alle zehn Jahre mal verfilmt wird, dann überlegt man doch nicht lange, sondern sagt sofort ja. „Boys don’t cry“ zum Beispiel ist jetzt 13 Jahre her. Und in Deutschland gab es so einen Film eh noch nicht. Wie gesagt, da überlegt man nicht lange.
Jonas: Befürchtest Du, dass der Film an der einen oder anderen Stelle Empörung auslösen wird? Rick: Absolut nicht. Es handelt sich ja nicht um einen Dokumentarfilm, in dem die Kamera auf Intimbereiche draufgehalten wird und gesagt wird: So und so sieht das genau aus. Es geht in „Romeos“ in erster Linie um ein riesiges Problem eines Menschen, der sich extrem unwohl in seiner Haut fühlt. Dazu kommt eine ganz normale Liebesgeschichte, in dem Fall zwischen zwei Männern. Und ich spiele jemanden, der sich in einen anderen Menschen verliebt. Nichts anderes. Für das Schauspiel macht es keinen Unterschied, in wen man sich verliebt. Und allgemein sollte es auch für niemanden einen Unterschied machen. Natürlich geht es in dem Film auch um Körperlichkeit und Sexualität. Aber im Vordergrund steht einfach das Problem der Figur Lukas, mit einem Menschen unbedingt näher zusammenzukommen zu wollen, aber er es nicht kann, weil er physisch eine Frau ist. Allgemein finde ich es an meiner Arbeit toll, wenn ich eine Figur spielen kann, die ein so immenses Problem hat, dass es für sie ganz allein die Welt bedeutet – aber nicht für andere. Jonas: Wie hast Du dich eigentlich auf diese anspruchsvolle Rolle vorbereitet? Rick: Mir ist in meinem Leben noch niemand begegnet, der ein solches Problem hat. Ich habe also zuerst einmal angefangen, mir ein gewisses Basiswissen anzulesen, habe viel im Internet recherchiert. Filme zum Thema Transsexualität wie „Transamerica“ oder „Boys don’t cry“ habe ich mir bewusst nicht angesehen, um nicht voreingenommen zu sein oder in meiner Interpretation der Figur beeinflusst zu werden. Wir haben dann zwei Wochen vor Drehbeginn begonnen, die Rollen zu proben – nur die Rollen, keine Szenen! Eine Woche später sah ich auch zum ersten Mal, wie ich 25 Tage lang aussehen werde: die ersten Modelle der Brüste waren da. Diese habe ich morgens an- und abends wieder ausgezogen, den Gang, die Bewegung und die gesamte Körperhaltung geübt.
Außerdem hat mir die Regisseurin Sabine Bernardi angeboten, ein Treffen mit einigen Transsexuellen zu ermöglichen, um mit ihnen über ihr Leben und ihre Erfahrungen im Alltag zu sprechen. Das Angebot habe ich natürlich direkt angenommen und bin zusammen mit Sabine dann dort hingefahren. Die Gespräche haben mir übrigens sehr bei meiner Vorbereitung geholfen.
terhaltsame Liebeskomödie mit einem tiefgehenden Problem zwischen den drei Protagonisten Lukas, Fabio und Ine. Ich wünsche mir den Erfolg für meine beiden Kollegen Maximilian Befort und Liv Lisa Fries, und natürlich für die Regisseurin Sabine Bernardi, die vier Jahre lang an nichts anderem als an diesem Film gearbeitet hat.
Jonas: Inwiefern?
Jonas: Hast du schon Pläne für die nahe Zukunft?
Rick: Naja, weil man merkt, wie sehr ein solches Problem den Alltag verändern kann. Ich habe mir dann gesagt: Ich muss das mal selbst in der Öffentlichkeit erleben. Ich bin dann im Filmkostüm – künstliche Brüste, weite Hosen, Shirts und Pullover – in die Straßenbahn gestiegen. Im Hochsommer diese vielen Klamotten tragen müssen, nur damit keiner bemerkt, dass du eine Frau bist – was für eine Qual! Aber noch viel schlimmer war, dass ich gemerkt habe, wie über mich getuschelt wurde. Als ich ein paar Minuten später ausgestiegen bin und einen Taxifahrer an der Straße nach dem Weg gefragt habe, habe ich anschließend schon wieder bemerkt, wie er mit einem Kollegen über mich geredet hat. Ich dachte mir nur: Wenn jetzt innerhalb von zehn Minuten drei Leute über dich lästern, wie muss das dann ein ganzes Leben lang sein? Und ich hatte ja nur ein Kostüm an und war auf der Straße unterwegs. Wie unerträglich muss das in der Schule sein, bei Freunden, bei Partys – wenn einfach 20 Jahre lang nur über dich geredet wird.
Rick: Ab Oktober werde ich wieder an der HFF sein. Und ich hoffe natürlich, neben meinem Studium vermehr drehen zu können.
Jonas: Hast du Wünsche, die du an den Film kettest? Rick: Natürlich wünsche ich mir, dass der Film gut läuft, dass ihn viele Leute sehen und auf das Problem aufmerksam werden. Es ist aber auch einfach eine un
Rick Okon lächelt. Er scheint sehr zufrieden zu sein mit seiner Arbeit, mit sich selbst. Wo nimmt er diese Energie her? Wir möchten einen der Orte sehen, von denen er zu Beginn gesprochen hat. Einen Ort, an dem er Kraft tankt, entspannt, mit sich alleine ist. Wir verlassen die Gartenterrasse des Cafés und brechen auf zum Neuen Garten, der sich nur wenige Minuten entfernt am Ufer des Heiligen Sees befindet. Während wir die Kurfürstenstraße entlang schlendern, kommen wir erneut ins Gespräch.
Jonas: Was macht dich glücklich, Rick? Rick (überlegt kurz): Ich bin glücklich, wenn ich merke: Ich bin da, ich spüre mich. Das klingt vielleicht etwas philosophisch, aber genau das ist es. Ich bin glücklich, wenn ich machen kann, was ich möchte. Wenn ich weiß, dass ich lebe. Wenn ich abends im Bett liege und Danke dafür sagen kann, dass ich den Tag erleben durfte. Das ist auch meine Definition von echtem Reichtum: Ich bin reich, weil ich da bin.
Wir sind mittlerweile im Neuen Garten angekommen, vor uns liegt der Heilige See. Schnell wird klar: Diese Gegend ist wie geschaffen, um in sich zu kehren, sich inspirieren zu lassen und die Akkus wieder aufzuladen. Während Rick sich geduldig an der Gotischen Bibliothek fotografieren lässt, drängt sich leise ein sonderbarer Vergleich auf: Die Aura dieses Bauwerks findet sich in gewisser Weise auch in dem Wesen des jungen Schauspielers wieder. Beide scheinen eine unerschütterliche Haltung zu besitzen, sind gleichermaßen zurückhaltend wie präsent, dabei aber niemals aufdringlich. Sie strahlen eine seltsame Vertrautheit aus und stecken gleichzeitig voller Geheimnisse. Der größte Unterschied besteht wohl darin, dass die Gotische Bibliothek aus einer anderen Zeit stammt. Und Rick Okon aus dieser. Der Nachmittag spielt bereits das Vorprogramm des Abends, die letzten Bilder sind geschossen, und eine letzte Frage steht im Raum:
Rick, wann ist ein Tag dein Tag? Jonas: Achtest du sehr auf Details? Rick: Oh ja! Ich liebe die Kleinigkeiten. Etwa zu beobachten, wie sich Menschen bewegen, verhalten. Ich mag es zu reflektieren, nachzudenken. Und ich liebe es, überrascht zu werden. Es sind doch manchmal die Kleinigkeiten, die so viel ausmachen. Jonas: Was tust du, wenn es dir mal schlecht geht? Rick: Auch wenn sich das jetzt ungewöhnlich anhört: Ich bin auch dankbar für negative Emotionen. Ich spüre dann sehr stark, dass ich existiere, spüre mich selbst sehr intensiv. Es muss nicht alles immer rosa sein. Wenn es einem schlecht geht, lernt man zu schätzen, was man einmal hatte, weil man es so sehr vermisst. Ich kann die Erfahrungen, die ich mache, wenn es mir schlecht geht, übrigens sehr gut für meinen Beruf benutzen. Man kann eine Rolle authentischer spielen, wenn man bestimmte Dinge selbst erlebt hat.
Rick wird sehr ruhig und überlegt etwas länger. Alles bisher Erlebte scheint ihm in Gedanken durch den Kopf zu fliegen. Plötzlich ziehen sich seine Mundwinkel nach oben, die Augen leuchten und er sagt langsam, aber sehr fest: Mein Tag ist eine Reise voller Beobachtungen, Überraschungen, Feststellungen, Erlebnissen, Kennenlernen, Wundern, Entdecken, Neuheiten und Überprüfungen, geführt von eigenem Denken und Gefühlen. Ein Tag ist mein Tag, wenn ich am Ende dieses Tages sagen kann: alles gut!
Wir brechen auf und verlassen die wunderschöne Idylle am Heiligen See in Potsdam. Noch ein paar Meter spazieren wir still, bis wir uns verabschieden und sich unsere Wege trennen. Wir blicken Rick noch einige Momente nach und sagen leise: Alles gut, Rick. Alles gut.
V O L K E R C O N R A D U S I S T 2 3 J A H R E A L T,
FREIER FOTOGRAF UND LEBT IN KÖLN.
W W W. V O L K E R - C O N R A D U S . D E
// LAUTE STILLE VOLKER CONRADUS
Morgens ist es still hier. So still, dass man die Stille hören kann. Man glaubt, jeden noch so kleinen Laut hervorsehen (hören) zu können. Nur die herausschnellenden Beine meines Stativs unterbrechen diese unwirkliche Stille, die unter den gewundenen Betonbahnen der Autobahn über meinem Kopf herrscht. Das Licht ist noch sehr sanft. Der Himmel verhangen von den Überresten der Nacht. Ein Horizont ist nicht auszumachen. Ich bin umgeben von grauem Beton. Ich spüre die ersten Sonnenstrahlen langsam zwischen die Betonpfeiler kriechen. Sie verbannen das weiche Licht und werfen lange Schatten. Ich drücke Play und Phillip Poisel singt nuschelnder Weise traurige Dinge in mein Ohr, während ich den Verschluss meiner Kamera spanne.
C H R I S T I N H I L L E R I S T 1 9 J A H R E A L T,
ABITURIENTIN UND LEBT IN MARBURG.
W W W. K N O W W H AT I M S AY I N . T U M B L R . C O M
// NICHT MEIN MOTTO CHRISTIN HILLER
Die Ungewissheit ist es, die dich verzweifeln lässt und innerlich zerfrisst.
„Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter.“ Sorry. Nicht mein Motto. Eine Spur zu groß für mich. Ich müsste meine Wohnung wohl mit Post It‘s tapezieren, damit ich danach leben würde. Ein Tag ist nichts weiter als eine Zeitangabe. Mein Tag ist nicht dein Tag und ebenso wenig unser Tag. Er gehört mir, ich erlebe ihn durch meine Augen. Ich entscheide, wenn es hochkommt zu 50%, wie er aussehen wird. Dabei plane ich meinen Tag doch so gern. ,,Geht das nicht ein bisschen schneller da vorne?“ brüllt eine Kundin von hinten. Ich denke mir, dass es wohl immer Menschen gibt, die gestresster sind als ich und so erinnere ich mich an meine bisher schönsten Tage in meinem Leben. Disneyland 1997, Norwegen 2007, Schweden 2007, Köln 2008, Sommer 2009, Berlin 2010. Datum vergessen. Uhrzeit vergessen. Lediglich verschiedene Erinnerungen bleiben übrig, die sich so sehr eingebrannt haben, dass ich sie wohl nie komplett aus meinem Gedächtnis löschen kann. Wir machen diese Tage und Momente nicht bewusst zu unvergesslichen Erinnerungen. Uns wird erst später bewusst, wie viel sie uns bedeuten. Vergessen wir das also mit dem Tag als bloße Zeitangabe.
Ich bin an der Reihe. 10,15€ anstatt 10€. Gut im Rechnen war ich noch nie, aber die unterschlagenen 15 Cent zeigen mir, ganz egal wie unbedeutend sie eigentlich doch sind, dass wir nicht alles vorhersehen können. Das ist gut so und daraus besteht unser Leben, wieso sollten wir uns also nicht damit abgefunden haben? Ich bezahle, bedanke mich, wünsche einen ebenso schönen Tag. Eine tolle Floskel. Es gibt Tage, an denen ich allein sein möchte. Keinen Fuß vor die Tür setze, die Menschheit hasse, mir meine Pasta nicht einmal schmeckt und das neue Album von XY auch hätte besser sein können. Es gibt Tage, an denen will ich die vollkommene Zweisamkeit, für jemanden da sein, ihm Liebe geben und vor Dankbarkeit weinen. Es gibt Tage, an denen will ich viel erleben, lachen. Ich will spüren, dass ich zu einer Gruppe gehöre. Freunde. Es gibt Tage, die will man nie erleben, aber man weiß, dass sie irgendwann kommen werden. Die Ungewissheit ist es, die dich verzweifeln lässt und dich innerlich zerfrisst. Und dennoch habe ich das Gefühl, dass wir auch auf diese Tage warten. Wir warten auf so vieles. Meist sind es große Ereignisse oder gewohnte Dinge, die uns ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Wir warten auf Unangenehmes, was wir schnell hinter uns bringen wollen oder schlichtweg auf Tage, an denen wir nichts tun müssen. Das sind uns die liebsten und doch ist unsere Devise, niemals Zeit zu vergeuden.
N O R E E N M A R I A A K H T A R I S T 2 6 J A H R E A L T,
KÜNSTLERIN UND LEBT IN BOCHUM.
// VER SUCHS AUFBAU Die Ungewissheit ist es, die dich verzweifeln lässt und innerlich zerfrisst.
N O R E E N M A R I A A K H TA R
Ich trinke nicht, richtig getrunken habe ich eigentlich noch nie. Gekostet schon mal und sowohl den Geruch wie auch den Geschmack als abstoßend und eklig empfunden. Manch einer schwört auf die anregende Wirkung von Alkohol, so taten es beispielsweise auch Künstler wie Ernest Hemingway oder Pablo Picasso. Es gibt aber auch einige Kulturen, die vollkommen ohne Alkohol auskommen und auch ich sah keine Notwendigkeit, Bier, Wein oder dergleichen zu konsumieren. Doch irgendwann stellte ich mir die Frage: Wie fühlt es sich an, beschwipst zu sein, und was macht Alkohol mit mir? Ich wollte es wissen. So startete ich einen Selbstversuch. Als Getränk wählte ich Cola mit Wodka. Wodka als eine reine, weiche und neutral schmeckende Spirituose erschien mir optimal geeignet. Der Plan war, mit der Süße des vertrauten Erfrischungsgetränkes den Alkoholgeschmack zu überdecken. Über einen Tag verteilt trank ich die Mixtur und schrieb die Gefühle, Gedanken und Veränderungen auf. Wie wunderlich verändert erschien mir da alles; Alkohol bewirkte so einiges.
Wie wunderlich verändert erschien mir da alles.
FOTO: VEIT STÖßEL
J O H A N N E S K U C Z E R A I S T 1 8 J A H R E A L T,
FOTOGRAF UND LEBT IN HEILBERSCHEID.
W W W. J O H A N N E S K U C Z E R A . D E
// AUF UND AB JOHANNES KUCZERA
Es gibt eigentlich nicht den einen, meinen Tag. Ich freue mich über jeden gelebten und kommenden. Es sind verschiedene Momente: hektisch, ruhig, laut, leise und in der nächsten Sekunde wieder ganz anders – unerwartet. Das Licht im Morgengrau, es schimmert, dann scheint es. Man schaut hin und ist gebannt für die eine Sekunde, in der es sich bricht. Die Fotografie hat mich gelehrt, wie in Bildern zu sehen. In Bildern zu denken. Schöne Situationen zu speichern. Nicht mit einem Fotoapparat, sondern im Kopf, denn da hat man sie immer im Gedächtnis. „Ist das nicht schon fast ein bisschen zu analog?“ - Ja, das stimmt wahrscheinlich. Und entwickeln kann man die Erlebnisse danach auch nicht. Sei’s drum. Diese einzelnen Bilder aneinander gereiht ergeben mein bisheriges Leben, bestehend aus vielen verschiedenen Tagen. Manche sind gut, manche sind schlecht. Keiner davon ist wahrscheinlich perfekt. Doch sie sind mir, weil ich daraus gemacht habe, was ich bin und sein werde.
N I K O L A S B R U M M E R I S T 1 5 J A H R E A L T,
F O T O G R A F U N D L E B T I N D Ü S S E L D O R F.
W W W . N I K K O T H E N E R D . D E V I A N T A R T. C O M
Mein Tag ist simpel. Viel zu simpel für die Geschmäcker vieler Menschen.
Es gibt viele Dinge, die ich an einem Tag machen würde. Den „perfekten Tag“, wie man es nennen könnte. Dieser Tag müsste Ewigkeiten dauern, da es natürlich immer wieder neuere und aufregendere Dinge zu tun gäbe. Eigentlich würde der perfekte Tag nie enden. Nie müsste ich einen Schlussstrich ziehen, nie müsste ich sagen „So, das war‘s aber jetzt.“. Müsste ich über den perfekten Tag schreiben, dann würde das vielleicht sogar in einem Roman enden.
Mein Tag ist simpel. Viel zu simpel für die Geschmäcker vieler Menschen, aber für mich ist er genau richtig. Ich würde an diesem Tag nichts Aufregendes machen. Keine große Party, keine Shoppingtouren, keine Reisen.
Aber danach war ja gar nicht gefragt. Die Rede war von „Meinem Tag“. Und was meinen Tag ausmacht, das sind ganz andere Dinge. Von der Frage selbst überwältigt hatte ich mich anfangs bei Freunden, Familie und Bekannten umgehört. Die Aussagen waren spektakulär, eine faszinierender als die andere, doch irgendwie konnte ich mich selbst nie im Geringsten mit irgendeiner von diesen Geschichten identifizieren, schließlich ist und war es nach wie vor mein Tag.
Der Tag wäre wie ein schöner, sonniger Spätsommertag, alles wäre wie gehabt – nur würde ich mich den ganzen Tag einfach sorglos glücklich fühlen. Viel wichtiger als irgendeine Erinnerung wäre mir das Gefühl an diesem Tag, die Stimmung. Einen Tag lang keine Pflichten zu haben, einen Tag lang keinen Hass zu fühlen, einen Tag lang nicht mal ein Tröpfchen der Trauer verspüren. Alles würde sich einfach richtig anfühlen. Das, und nichts Anderes, würde meinen Tag ausmachen.
Alles, was diesen Tag einnehmen würde, wäre vielleicht ein Ausflug. Nur mit den engsten Freunden … oder sogar nur einem.
// SPÄT SOMMER NIKOLAS BRUMMER
T A N J A E V E R S I S T 3 3 J A H R E A L T,
FREIE FOTOGRAFIN UND LEBT IN KÖLN.
W W W. TA N J A E V E R S . D E
// GE TRIE BEN TA N J A E V E R S Ü B E R E I N E N TA G I N S Ü D E N G L A N D UND EIN SHOOTING MIT JESSIE
Getrieben ruhelos das Einfache gewählt keine Erdung Getrieben weiter geht’s auf ungestümen, lebendigen Straßen voller Lichter und Gesichter keine Zeit um nach rechts und links zu blicken zu konzentriert zu organisiert zu zielstrebig Unzufriedenheit gefolgt von Schwermut einsam Dann öffnet sich der Raum Getrieben neue Kraft ein kleines, kantiges Gesicht die Stiefel angezogen und in den dichten Wald gelaufen
JOSHUA TROTTIER IS A 16-YEAR-OLD PHOTOGRAPHER
LIVING IN VANCOUVER / WASHINGTON.
W W W. F L I C K R . C O M / J O S H T R O T T I E R
// GHOST HUNTING JOSHUA TROTTIER
It is supposedly the spot of the first hanging of a witch in Oregon!
My day... This photo wasn‘t taken the day of but we returned a week or so later to do this shoot here at Witches Castle in Portland, OR. According to myth this building behind the two witches was once an old traders out post in the 1700s or 1800s, I‘m not sure, but it is supposedly the spot of the first hanging of a witch in Oregon! Last Saturday night was a fucking blast, it included jailbreak, an ouiji board, new friends, ghost hunting and lots of walking and running for long periods of time!
It honestly seemed like a really large game board, you had to follow a path for five minutes until you got to the middle and supposedly if you walk straight to the middle something bad would have happened to you. After we followed the path for some time one person goes into the middle at a time and speaks and it sounds like you are two inches away from each side of your head speaking! It was spooky, not to mention some kids brought a ouiji board and that just made it even more interesting!
The day started out with me going shopping for Paris‘s homecoming dress and getting my shirt and bow tie as well and I decided to just stay at her house the rest of the day and hangout with her and friends. Later on though we got a call from her friend who wanted to play a game called jailbreak which is just a bigger version of cops and robbers but with cars, more people, and a lot bigger boundaries. We played from about roughly 8PM to about 12PM which is really long time to be running around giant boundaries which were somewhere around three or four miles in total distance!
When we were done here most of us hadn‘t had our fill of creepy things so Paris gave us the idea of going to Witches Castle, which is where this photo takes place. It‘s about a 40 - 1 hour hike into this forest and it was practically pitch black except for a few small phone lights which hardly helped the darkness of this giant looming forest.
At one point my two partners and I were running on a high way away from chasers... not to mention I was wearing boots! Killer on my feet... regardless though it was such a blast and adrenalin rush! Afterwards when most people went home Paris had an idea to take us to this Mormon church that had this area called the labyrinth in this forest on their property which leads down to this open stone area surrounded by trees.
The ruins though were really interesting, there‘s one room that is completely blocked off by two giant brick walls which we guess would have been the living room... we really want to know, honestly. Don‘t let me forget, I was supposed to be home by 11:30PM and it was roughly 4AM when we got home...
When we finally reached the castle it was pretty freaking‘ scary at 3AM in the morning, not to mention when we reached the ruins it started pouring down rain! It definitely made everybody uncomfortable.
I was in deep shit but it was honestly worth such a great night with new and old friends.
K A R L A K U R Z I S T 2 9 J A H R E A L T,
DIPLOM-DESIGNERIN UND LEBT IN BERLIN.
W W W. K A R L A K U R Z . D E
FOTO: LUKAS LEISTER
Für mich ist jeder Tag eine Expedition, deren Verlauf ich nicht immer genau steuern oder kontrollieren kann, obwohl ich es gerne würde. Aber zu viele Faktoren, die von Zufällen, Gefühlen, Gegebenheiten bestimmt sind, machen alles unplanbar. Das ist eben so in der Großstadt Berlin. Das ist Leben in einem emotionalen, weltlichen Partikelsystem. Fest steht: Es gibt gute und schlechte Tage. Man kann die schlechten gar nicht vermeiden. Der Morgen ist oft das Beste: Morgens habe ich Energie, die Welt ist neugeboren. Heute ist ein neuer Tag, morgen ist aber auch noch einer! Frühmorgens, wenn der Geist erst halbwach ist, beginnt das Unterbewusstsein zu plappern und lässt Bilder wie Blasen aufsteigen. Was könnte ich alles innerhalb eines Tages machen? Tagsüber fliegt der ungeduldige Geist weit voraus in das, was ich mir vorstelle und erträume... Aber um dahin zu kommen, muss ich genau das anpacken, was unmittelbar vor mir liegt. Tagsüber empfinde ich alle Aufgaben oft als Einengung, die mir die Flügel stutzt, die mich diszipliniert.
Ich glaube aber nicht, dass es Freiheit bedeuten würde, wenn man das System verlässt. Mein Tag ist für mich eng verknüpft mit zeitlichen und menschlichen Gegebenheiten. Müdigkeit, Aufstehen, Arbeit, Rhythmus, Angreifen, Loslassen. Was ist leicht, was ist schwerer? Will mein Geist irgendwohin, muss er auch erst einmal meinen Körper fragen, ob das gerade machbar ist. Wiederum abhängig von weltlichen Faktoren. Der gesamte Tag teilt sich auf zwischen dem, wie ich es empfinde, und dem, wie es ganz einfach nur ist. Die Beurteilung von täglichen Dingen beruht auf völlig unterschiedlicher Wahrnehmung. Und daraus folgen die vielbesungenen Gefühle – verglichen mit der Vernunft die weitaus stärkeren Motoren für das, was wir tun. Kunst ist für mich das, was über all dem Weltlichen schwebt. Bilder! Das ist die Loslösung von diesem Netz, das Korsett und Stütze zugleich ist. Ich gestalte etwas und hebe es damit zur Kunstform empor über die Tage, über meinen Tag.
// LOS LÖSUNG KARLA KURZ
Ich glaube aber nicht, dass es Freiheit bedeuten würde, wenn man das System verlässt.
FOTO: GERALD VON FORIS
J A C O B B R A S S I S T 2 6 J A H R E A L T,
MUSIKER UND LEBT IN MÜNCHEN.
W W W. J A C O B B R A S S . D E
// DEIN TAG JACOB BRASS
Mein Tag ist mein Tag, wenn ich ihn selbst bestimmen kann. Mein Tag ist mein Tag, wenn er unterschiedlich ist. Mein Tag ist mein Tag, wenn er sp채t beginnt und sp채t endet. Mein Tag ist mein Tag, wenn er auch dein Tag ist.
L U K A S L E I S T E R I S T 2 1 J A H R E A L T,
FOTOGRAF UND FREISCHAFFENDER KÜNSTLER UND LEBT IN FURTWANGEN.
W W W . L U K A S L E I S T E R . D E
Barfuß wackele ich durchs Dunkle zum halb geöffneten Fenster. Die alten Scharniere der hölzernen Fensterläden quietschen beim Aufklappen. Eisiger Wind, Nieselregen, schon wieder. Ich setze mich aufs Fensterbrett und hänge die Füße in den Regen. Das Dutzend Schafe vor unserer Hütte scheint seit drei Tagen regungslos im Regen zu stehen. Je länger ich sie nun anschaue, desto mehr packt mich das Gefühl, dass es für sie nichts Schöneres geben kann, als genau jetzt hier im Regen zu stehen. Hinter mir knarzen die Bretter des dunklen Dielenbodens. Ich drehe mich um und sehe die zierliche Frau im Türrahmen. „Hey“, sagt sie und stellt einen dampfenden Kamillentee neben mich auf das Fensterbrett. „Hey“, sage ich und rücke ein Stück zur Seite. Es herrscht ein stilles Übereinkommen, dass damit für heute alles gesagt ist, was gesagt werden muss. Heute sind wir still, wir und alles um uns herum. Die Füße in den Regen haltend sitzen wir nebeneinander im Fenster. Nichtssagend, Tee trinkend, schauen wir zu den Schafen und finden - genau wie sie – dass es das Größte ist, genau jetzt hier zu sein.
// IM REGEN LUKAS LEISTER
Ich setze mich aufs Fensterbrett und hänge die Füße in den Regen.
J O N A S M E Y E R I S T 2 9 J A H R E A L T,
HERAUSGEBER UND LEBT IN BERLIN.
W W W . J M V C . D E
FOTO: LEIFUR WILBERG ORRASON
Kühl ist es geworden. Auch wenn die Oktobersonne den ganzen Tag lang Sommer gespielt hat, muss sie sich abends bei ihrem Abschied eingestehen, dass all ihre Mühe umsonst war. Eine selbstbewusste Kälte kriecht in die Erde, ins Wasser, in die Luft. Vor allem am Wasser wirkt die Flucht der Tageswärme mehr als vehement und überstürzt. Vielleicht hat sie Angst, von den Tiefen dieses unendlich wirkenden Sees verschluckt zu werden. Fragen kann man sie nicht mehr, sie ist weg. Die Kälte hat auch ihr Gutes: Die Luft wirkt reiner, schmeckt ehrlicher und sagt einem direkt ins Gesicht, wer sie ist. Sie meldet sich nicht an, sondern ist einfach da. Von jetzt auf gleich. Dabei macht sie einem unmissverständlich klar, dass man etwas tun, sich bewegen muss. Sonst erfriert man. Langsam und unaufhaltlich.
Der einzige Nachteil war, dass man während dieses Gedankenaustauschs seinem Gegenüber nicht ins Gesicht sehen konnte. Zu grell strahlte es, zu groß war die Gefahr zu erblinden. Außerdem versteckt die Sonne die Sterne hinter sich. Die Sterne, die jeden ungefragt auffordern, nach ihnen zu greifen. Der Blick auf sie wird erst freigegeben, wenn der grelle Feuerball lautlos abdankt. Aber spätestens dann schlägt ihre Stunde. Sie spiegeln sich im glatten schwarzen See, so täuschend echt, dass man nicht mehr zwischen Original und Kopie unterscheiden kann. Unendlich friedlich ist es hier. Das seltsame Orange des Himmels sorgt für ein Gefühl der bedingungslosen Geborgenheit. Alles, was hier nicht ist, scheint keine Bedeutung zu haben.
Und so sitze ich hier, am Übergang von Tag zu Nacht, von Sommer zu Winter, von Erde zu Wasser. Seit Stunden. Und warte. Warte, dass etwas passiert. Oder dass nichts passiert.
Und so ist der Anbruch der Nacht auch um vieles beeindruckender als der bereits wunderschöne Tag. Ewig könnte ich regungslos hier sitzen und gelähmt von der Magie des Lichts die Sterne betrachten.
Der Tag war wunderschön, geprägt von einem Endlosdialog mit der Sonne. Nur sie und ich.
Trotzdem ist es kühl geworden. Und wer sich nicht bewegt, erfriert.
// RE GUNGS LOS JONAS MEYER
Und alles, was hier nicht ist, scheint keine Bedeutung zu haben.
F I L I P N A D R A J K O W S K I I S T 1 9 J A H R E A L T,
STUDENT UND LEBT IN BERLIN UND MAGDEBURG.
// CO VER
Es mögen maximal tausend Meter sein, die man zurücklegen muss, um dem hämmernden Puls der Straßen Kreuzbergs zu entfliehen. Das Ziel dieser Zuflucht heißt Treptower Park und nimmt für sich in Anspruch, den Faktor Zeit zur völligen Bedeutungslosigkeit degradiert zu haben. Hier zählen nur Erde, Luft und Wasser. Ja, vor allem das Wasser der gemütlich vorbeifließenden Spree ist verantwortlich dafür, dass die gesamte Umgebung von einer monumentalen Ruhe beseelt wird. Hier sind wir mit dem Model Filip Nadrajkowski verabredet, um die Coverserie der Oktoberausgabe zu produzieren. Obwohl die Sonne in diesem Sommer eher durch ihre Abwesenheit von sich Reden gemacht hat, bequemt sie sich langsam hinter den Wolken hervor. Gleichzeitig mit ihrem Erscheinen schlendert uns auch Filip entgegen – als wäre es zwischen beiden abgesprochen. Schon in den ersten Minuten unserer Begegnung fällt auf, dass der Neunzehnjährige eine ähnliche Ruhe ausstrahlt, wie sie hier im Treptower Park in jedem Grashalm zu spüren ist. Der gebürtige Berliner scheint immun zu sein gegen das um sich greifende Hauptstadtvirus der ewigen Rastlosigkeit, obwohl – oder vielleicht gerade weil – er schon immer hier gelebt hat. Filips Familie stammt aus Polen, genauer gesagt aus der Stadt Bromberg, die etwa auf der Hälfte des
T E X T:
JONAS MEYER
FOTOS:
LUKAS LEISTER
Weges zwischen Berlin und Warschau liegt. Diese besondere geografische Lage animiert in gewisser Weise zu der Frage, ob er sich selbst zwischen den beiden Welten einordnet, sich zwischen deutscher und polnischer Identität hin- und hergerissen sieht. „Ich fühle mich sowohl als Berliner als auch als Pole, und daher stehe ich nicht zwischen zwei Identitäten, sondern beanspruche beide für mich“, entgegnet Filip mit einem zufriedenen Lächeln. Er hält einen Moment inne und ergänzt: „So sehr unterscheiden sich beide Welten übrigens nicht. Warschau beispielsweise ist Berlin sehr ähnlich, die Clubkultur und Mode meiner Ansicht sogar einen Schritt voraus. Schade ist nur, dass sich in Deutschland und anderen europäischen Ländern hartnäckige Klischees über Polen verfestigt haben, die absolut nicht zutreffen.“ In wenigen Wochen wird Filip Nadrajkowski sein Studium des Bildjournalismus an der Hochschule Magdeburg beginnen. Und diesmal drängen sich gleich zwei Fragen auf: Warum Bildjournalismus? Und warum gerade Magdeburg? Filip lächelt schon wieder. „Ich habe mich schon immer für Fotografie interessiert. Aber eher weniger beispielsweise für die Modefotografie. Ich möchte mit meiner Kamera eher zeigen können, was die Welt bewegt und warum. Und ich will noch einiges von dieser Welt sehen. Ich habe momentan ziemliches Fernweh.“
MODEL //
Der junge Berliner überlegt einen Moment und sagt: „Ich glaube außerdem, dass Magdeburg mir gut tut, weil es mir sehr viel Bodenhaftung bietet und mir hilft, mich auf mich selbst zu konzentrieren. Berlin ist eine großartige Stadt, und ich liebe sie, weil sie sich permanent verändert und daher in ständiger Bewegung ist. Aber es gibt auch Momente, da möchte ich einfach mal zur Ruhe kommen. Ich glaube, Magdeburg ist dafür ideal.“ Filip lässt sich geduldig und routiniert fotografieren. Hat eigentlich Mode eine bestimmte Bedeutung für ihn? „Ja, auf jeden Fall. Ich muss durch meine Kleidung ausdrücken können, wie ich mich fühle, in welcher Stimmung ich gerade bin. Und ich finde, sie kann auch den Respekt gegenüber anderen Menschen ausdrücken, wenn man sich dem Anlass entsprechend kleidet.“ Ist Mode auch Luxus? „Wenn ich mir ein sündhaft teures Hemd kaufe, ist Mode Luxus, natürlich. Luxus bedeutet für mich aber ganz allgemein, mir Dinge zu leisten, die ich mir sonst nicht leiste. Das kann auch bedeuten, dass ich mich nach einem harten Wochenende einfach mal den ganzen Tag vor den Fernseher lege und mir eine Pizza in den Ofen schiebe. Ich achte normalerweise sehr auf meine Ernährung, daher ist das eben Luxus. Oder mir mal ein Taxi zu gönnen, wenn ich sonst mit der U-Bahn fahre - auch ein gewisser Luxus.“ Während wir die Location wechseln und einige Meter laufen, verrät Filip, dass seine Wertvorstellungen aber nichts mit Luxusgütern zu tun haben. „Ich brauche meine Familie, und ich brauche meine Freunde. Ich vermisse sie, wenn sie nicht da sind.“ Anfang des Jahres ist er zuhause ausgezogen, vor allem die erste Zeit war schwer. „Vier Kinder, Schildkröten und ein Hund sorgen eben dafür, dass immer was los ist. Aber mittlerweile sehe ich meine eigene Wohnung auch als mein Zuhause und bin gerne dort – auch für mich alleine.“ Nach einigen Momenten spricht Filip das Thema Freundschaft an: „In Berlin hast du ja meistens nur Bekannte, keine echten Freunde. Daher ist es mir so wichtig, tatsächliche Freundschaften zu haben und zu wissen, dass es ein paar Menschen gibt, zu denen ich immer gehen kann, wenn es mir schlecht geht.“ Beobachtet man Filip eine Weile, fällt auf, dass er an seinem linken Handgelenk einen schwarzen Bindfaden trägt, der auf den ersten Blick wie eine dünne Kette wirkt und an dem er herumzupft, sobald er
sich in seinen Gedanken verliert. Was hat es mit diesem Faden eigentlich auf sich? Ist das ein modisches Accessoire? Filip lacht: „Nein, ganz im Gegenteil. Als wir in Polen mal an einer Tankstelle gehalten haben, stand da ein Reisebus voller tibetanischer Mönche. Einer kam auf mich zu, wickelte mir den Faden um den Arm und sagte, wenn der Faden irgendwann abfallen würde, würde auch jede Last von mir fallen. Das ist jetzt sechs Monate her, und er ist immer noch dran. Naja, ich bin ja auch jemand, der sich sehr viele Gedanken und Sorgen um alles Mögliche macht.“ Spielt Glaube in seinem Leben eine wichtige Rolle? Der junge Berliner überlegt kurz, zupft wieder an seinem Faden herum und antwortet: „Ich bin zwar nicht besonders religiös, aber ich glaube, dass es etwas gibt und dass da etwas ist, was über die biologische Erklärung von Leben und Tod hinausgeht. Und es ist ja auch schön, an sowas zu glauben. Was wäre denn, wenn es da nichts gäbe? Welchen Sinn hätte das Leben?“ Wir gehen wieder ein paar Meter. Filip wirkt etwas nachdenklicher als zu Beginn unseres Shootings. Das Thema der Oktoberausgabe wird „Mein Tag“ lauten. Wie würde denn eigentlich sein idealer Tag aussehen, wenn er ihn selbst gestalten könnte? Der Zwanzigjährige überlegt nun etwas länger, der schwarze Faden muss wieder herhalten. „Ich stehe morgens ohne geschwollene Augen auf und kaufe mir einen Tomatenstrudel.“ Filip grinst über das ganze Gesicht, wartet einen Moment und fügt hinzu: „Nein, Spaß. Ein Tag wäre ‚Mein’ Tag, wenn ich meine engsten Freunde in meiner Nähe hätte und alle miteinander harmonieren würden. Wir würden zusammen auf einer Wiese sitzen, das Leben genießen, uns um nichts Gedanken machen und keine Sorgen haben. Ich würde nach Hause gehen und jemanden mitnehmen, den ich sehr liebe, etwas Leckeres kochen und zufrieden einschlafen – in der Gewissheit, dass das der schönste Tag meines Lebens war.“ Die Sonne hat sich wieder hinter den Wolken eingerichtet, das Shooting ist beendet. Noch eine Weile beobachten wir gemeinsam die Spree, die sich unaufgeregt ihren Weg ins Irgendwo bahnt. Filip Nadrajkowski ist in Gedanken versunken und zupft an dem Bindfaden, der sich nach wie vor hartnäckig an seinem Handgelenk hält. Vielleicht träumt er ja gerade von ‚Seinem Tag’ – jedenfalls schien der schwarze Faden für einen Moment verschwunden zu sein.
// IMP RES SUM
HERAUSGEBER & REDAKTION:
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K O N T A K T:
BILDBEARBEITUNG:
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// DAN F Ü R I H R A U S S E R G E W Ö H N L I C H E S E N G A G E M E N T U N D I H R E TAT K R Ä F T I G E U N T E R S T Ü T Z U N G BEDANKEN WIR UNS BEI FOLGENDEN PERSONEN:
D AV I D PA P R O C K I , P H O T O A R T I S T
LEIFUR WILBERG ORRASON, PHOTO ARTIST
G E S A P Ö L E R T, S T I F T U N G P R E U S S I S C H E S C H L Ö S S E R U N D G Ä R T E N B E R L I N - B R A N D E N B U R G
PETER HELLBRÜCK, ARENA BERLIN
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