myp MAGAZINE #12

Page 1

MYP MAGAZINE



T H E M Y PA G E S M A G A Z I N E


„Und erzähl’ mir die Stille, mach, dass ich weiß, du bist immer noch da, auch wenn du schweigst.“ I N G E D E N K E N A N N I L S KO P P RU C H




AUSGABE #12

Mei ne

STILLE




PROLOG // DEIN BOTE IST DIE DAMMER DEINE BUHNE TIEFE NACHT DEIN MANTEL IST AUS FINST DEINE HAUT MIT SCHWARZ DEIN LACHELN IST EIN FERN DEIN PREIS DIE EINSAMKEIT SO NENNE ICH DICH MEINE IN DIR ALLEIN UND DOCH ZU ZWEIT


RUNG / T // STERNIS / Z BEDACHT // RNES LICHT / T // E STILLE /


16.

JULIANE MÜLLER

204.

JOSEPHINE STENGER-RUH

22.

CETYWA POWELL

210.

CARINA MÄHLER

28.

DYLAN KÖHLER

216.

KALEB MARSHALL

34.

DAVID PEROZ

222.

REGINA PICHLER

68.

DANIEL LARA CARDONA

228.

ALINA WICHMANN

74.

TEX DRIESCHNER

234.

VLADIMIR BURLAKOV

102.

NIKLAS SCHADER

256.

MARK MCKEE

108.

JULIA SCHUBERT

262.

KIM FREE

114.

VAN BO LE-MENTZEL

268.

BEN IVORY

120.

TZIMON BUDAI

296.

MATEI PANAINTE

126.

JANIS MICHAELIS

302.

JULIA HELL

132.

SIMON SCHÜTZ

308.

FRANZISKA BRANDMEIER

138.

CHRIS RATZ

330.

OLGA LAKRITZ

14 4.

SLADEK

336.

LUKAS LEISTER

150.

ALEXANDER STERNBERG

342.

JONAS MEYER

156.

HUGO ISMAEL RUIZ

162.

SASCHA RESKE

168.

SINA BRÜCKMANN

348.

DANKE

1 74.

TRONJE THOLE VAN ELLEN

350.

IMPRESSUM

180.

FYNN JEDRYSEK &

352.

INSPIRATION

TRISTAN SCHNEIDER


INHALT


GEWIDMET ALLEN, D I E D E M K L A N G D E R ST I L L E FO LG E N.



W W W.SUNTR AP-DESIGN.COM

JUL MULL

Juliane M端ller ist 33 Jahre alt, Komm unika tionsdesignerin und lebt in Berlin.


LIANE LLER





Sortierte Welt TEXT & FOTO: JULIANE MÜLLER

Sie hat viele Gesichter. Sie kommt und geht. Und leider hat sie es meistens eilig. Plötzlich ist sie da. Und manchmal muss ich kurz innehalten, um zu begreifen, dass sie es wirklich ist. Die Zeit mit ihr ist kostbar, auch wenn sie in ihrer Gegenwart stehen zu bleiben scheint.

Wenn sie da ist, gibt es nichts anderes mehr – keine Uhr tickt, kein Vogel kreischt, kein Wasser rauscht und jedes Wort wäre zuviel. Sie verschlingt alles. Dann wird der Atem tief, der Puls ruhig, der Kopf klar. Die Welt scheint sortiert. Und bevor der Moment vergeht, werde ich sie bereits vermissen: Die Stille.


W W W.TEN8PHOTOGR APHY.COM

CET POWE

Cety wa Powell is a filmmaker living in Los Angeles, California.


TYWA ELL




Mo— ments of crea— tion


TEXT & PHOTO: CETYWA POWELL

It was before a concert and I was waiting… just waiting… there was time to spare. I was staring at this monumental structure across the street: the Walt Disney Concert Hall. So I crossed over to see it, explore it. The building is majestic, creative, an invention of a master mind. There were few people; it was a weekday after all. And I could move at my own pace, through the curving walls.

I’ve only been able to appreciate Frank Gehry’s architectural designs through the lens of my camera: seeing the curves he intended, the futuristic, spaceship feel. Lost in the architectural silence, I think I got what his mind saw in those moments of creation. It felt like a window, really, into his genius.


DY KOH

Dylan Köhler ist 22 Jahre alt, Erzieher und DJ und lebt in Münster.


W W W.SOUNDCLOUD.COM/LIEBER-L AUT

YLAN HLER




Lieber Laut


TEXT: DYLAN KÖHLER FOTO: MAXIMILIAN MOTEL W W W.MA XMOTEL.DE

Früher war ich der kleine Skater von Nebenan, hatte Dreadlocks und kaum Sorgen. Ein paar Jahre später wurde aus dem kleinen Skater ein staatlich anerkannter Erzieher, der mittlerweile an fünf Tagen in der Woche in einer KiTa aushilft – zwar nur zwei Stunden pro Tag, aber das reicht schon für einen halbwegs geregelten Tagesablauf. Und es bietet mir genug Zeit, um mit mir selbst ein paar basale Fragen auszumachen: Wo möchte ich noch hin? Was will ich noch erreichen? Wie kann ich mich weiterbilden?

und idyllisch, die Beine zittern und es werden massenweise Endorphine ausgeschüttet. Mein Körper und ich durchleben die vollkommene Stille.

Das Geld ist leider knapp und ich muss zusehen, wie ich über die Runden komme. Als DJ kann ich mir den ein oder anderen Euro dazu verdienen, aber eigentlich geht es mir gar nicht um das Geld: Es macht mich einfach glücklich, bestärkt mich in allen Lebenslagen und baut mich auf – besonders wenn ich sehe, wie ich mit meiner Musik die Leute auf der Tanzfläche beglücken kann.

Seit gut zwei Jahren trete ich nun zusammen mit meinem Freund Timo in Münster auf. Unser DJ-Duo trägt den Namen „Lieber Laut“ – und so erleben wir die Stille beim Auflegen nicht alleine, sondern gemeinsam. Wir können uns aufeinander verlassen und helfen uns, wenn es mal Schwierigkeiten gibt. Irgendwie finden wir immer einen Ausweg – das gibt mir besonders viel Ruhe und Kraft, mich in meine ganz eigene Stille fallen zu lassen.

Auf anstehende Auftritte in größeren Clubs freue ich mich ähnlich wie die kleinen Kinder in meiner KiTa auf ihren Geburtstag. Und in den Momenten, in denen ich im Club der Musik und den tiefen Bässen ausgesetzt bin, fühlt sich in mir alles ganz anders an: Alles ist ruhig

Diese Stille, in der ich mich selbst spüre und die mich überaus glücklich macht, ist gespickt mit guter House Musik, farbigen und flackernden Lichteffekten sowie einer Menge partyfreudiger Menschen, die toben und tanzen – und natürlich der Kreativität, der ich beim Zusammenmischen der verschiedenen Lieder freien Lauf gelassen lassen kann.

Ich finde es einfach toll, einen guten Freund an meiner Seite zu haben, mit dem ich diese Stille ein Stück weit teilen kann – und den ich vielleicht auch nur für einen kurzen Augenblick mit in meine Stille hineinziehen kann.


DA PER

David Peroz ist 24 Jahre alt, Student und lebt in Berlin.


AVID ROZ





Stiller Held TEXT & INTERVIEW: JONAS MEYER FOTOS: OSMAN BALKAN W W W.OSMANBALK AN.DE

Es gibt Menschen, die behaupten, es gebe keine Zufälle im Leben. Alles sei vorherbestimmt und alles habe seinen Grund. Geschehen würde es, weil es so geschehen solle. Und das sei gut. Es braucht ein wenig Mut, um sich einzulassen auf ein Spiel, das Zufall als reine Illusion versteht und dem Leben so etwas wie Bedeutung schenkt – wie etwa damals, an jenem Abend des 21. Juni 2013, als man im Nordosten Kreuzbergs die „Fête de la musique“ beging. In einem kleinen Atelier am Schlesischen Tor tummelten sich wie überall die Menschen, um Station zu machen auf ihrer langen Reise durch die Nacht.

Sie tanzten, rauchten, redeten und tranken. Und verließen die einen irgendwann den kleinen Raum, füllten neue Gesichter prompt die freien Plätze. In der Mitte jenes Raumes stand zwischen all den Leuten fast regungslos ein junger Mann – tief in sich ruhend und völlig unbeeindruckt vom lauten bunten Chaos. Die Zeit raste, immer mehr Menschen kamen und gingen. Der junge Mann stand weiter regungslos, atmete tief ein und schloss langsam seine dunklen Augen. Er lächelte – und für den Bruchteil einer Sekunde war etwas greifbar, das an ein wenig an Glückseligkeit erinnerte und gehalten war von purer Zuversicht.






„Wenn ich Gefahren einschätzen soll, merke ich oft erst im Nachhinein, wie waghalsig ich eigentlich unterwegs war.

Einige Wochen später. Wir sind in den Norden Berlins gefahren, genauer gesagt in den beschaulichen Ort Waidmannslust. Wir sind mit David Peroz verabredet – jenem jungen Mann, der in dem kleinen Raum die Zeit angehalten hatte mit seinem Lächeln. Einfach so. Es ist früher Nachmittag. Kaum haben wir uns begrüßt, schlägt David vor, uns bei einer kleinen Autofahrt die Gegend in und um das schöne Waidmannslust zu zeigen. Der junge Mann hat die meiste Zeit seiner Kindheit und Jugend hier verbracht und kennt sich demnach bestens aus. Nach einer etwa zwanzigminütigen Rundreise erreichen wir einen kleinen Parkplatz am Rande eines großen, dichten Waldes. Dieses unberührte Stück Natur wirkt wie ein Schutzwall gegen das chronische Zuviel der Hauptstadt. Vor etlichen Jahren, so erzählt David, haben seine Eltern daher festgestellt, dass Waidmannslust genau der Ort ist, an dem sie leben und alt werden wollen. Also haben sie Charlottenburg den Rücken gekehrt und sind mit ihren zwei Söhnen in den Berliner Norden gezogen. Davids Vater stammt aus Afghanistan und zog im Jahr 1978 von Kabul nach Westberlin, um dort Informatik zu studieren. Seine neue Bleibe sollte damals ein Studentenheim am Teufelsberg sein. Davids Mutter dagegen ist gebür-

tige Schwarzwälderin, die sich Ende der Siebziger bei der ZVS um einen Studienplatz in Zahnmedizin beworben hatte. Die ZVS wies ihr einen Studienplatz in Berlin zu – doch was heute der Traum eines jeden Erstsemesters ist, war in der Zeit des Kalten Krieges so ziemlich das Letzte, was sich Eltern für ihre Kinder wünschten. Zu groß war die Bedrohung, zu mulmig das Gefühl im Bauch. Dennoch trat sie wenig später dort ihr Studium an – und ihr Weg führte sie geradeaus in dasselbe Studentenwohnheim am Teufelsberg, in dem ein Jahr zuvor schon Davids Vater eingezogen war. Der war dort mittlerweile Ansprechpartner für die Erstsemester, weshalb sich beide bald begegneten. Ab dem ersten Moment, so erzählt David, habe sein Vater gewusst, dass dies die Frau ist, die er heiraten will – was er ein Jahr später auch tatsächlich tat.

Jonas: Denkst du manchmal darüber nach, wie sich die Dinge wohl entwickelt hätten, wenn sich deine Eltern damals nicht am Teufelsberg begegnet wären? David: Früher habe ich mir darüber tatsächlich öfter mal Gedanken gemacht. Aber diese Gedankenspiele enden ja relativ schnell, weil man in jenem speziellen Fall gar nicht geboren worden wäre.


Es gibt zwar Menschen, die die Theorie vertreten, dass die Seele immer und unabhängig von einem Körper existiert und es unerheblich ist, wie und wann man geboren wird, aber ich persönlich glaube, dass mein Leben auch dann nicht genau so gewesen wäre, wie es bis jetzt gewesen ist. So ist das Einzige, was ich wirklich in mir trage, ein unbeschreibliches Gefühl von Glück – weil ich mein Leben wirklich mag. Jonas: Als dein Vater damals zum ersten Mal vor deiner Mutter stand, wusste er instinktiv, dass sie die Richtige ist. Lässt du dich selbst auch weitgehend von deinem Instinkt leiten? David: Das kommt sehr auf die Situation an. Wenn es etwa darum geht, einen anderen Menschen einzuschätzen, kann ich mich ziemlich gut und recht schnell auf mein Bauchgefühl verlassen. Wenn ich allerdings Gefahren einschätzen soll, merke ich oft erst im Nachhinein, wie waghalsig ich eigentlich unterwegs war. Und ich stelle erstaunt fest, wie viel Glück ich letzten Endes immer wieder hatte, wenn ich beispielsweise von irgendeinem Felsen gesprungen bin oder auf dem Rennrad gesessen habe – und unzähligen Autotüren ausweichen musste. In beruflichen Dingen neige ich eher dazu, mich auf meine Stärken zu verlassen als über meine Schwächen nachzudenken. Ich finde, es bringt dich einfach schneller zum Ziel, wenn du dort mit einer gewissen Selbstsicherheit auftrittst.

Wir betreten den Wald und folgen David entlang eines schmalen Pfades, vorbei an Bäumen und Gestrüpp. Es hat ein

wenig geregnet, Nebel liegt über dem Boden. An Blättern und Nadeln bilden sich langsam Tropfen, die irgendwann zu Boden fallen. David führt uns vorbei an einer kleinen Lichtung zu einer Waldquelle, die etwas abseits liegt. Die alten Nadelbäume stehen hier so dicht, dass man glaubt, es sei bereits die Dämmerung angebrochen. Nur ab und zu gelingt es einem Sonnenstrahl, die dunkelgrüne Mauer zu durchbrechen und das kühle Quellwasser zum Glitzern zu bringen. Während wir uns an diesem verwunschen wirkenden Ort ein wenig umsehen, hebt David seinen Kopf, blickt zu den Baumwipfeln und atmet tief ein. Es wirkt, als wolle er mit seinen dunklen Augen das wenige Sonnenlicht auffangen, das sich seinen Weg durch die dichte Nadelwand bahnen konnte. Für einige Minuten genießen wir die wundervolle Stille, bevor wir uns wieder auf den Weg machen. David führt uns immer tiefer in den Wald hinein. Plötzlich spüren wir unter unseren Füßen Sand, erst ein wenig, dann immer mehr. Der sandige Weg wird breiter, wächst zu einem kleinen Hügel an und baut sich schließlich vor uns zu einer großen Düne auf – mitten im Wald, mitten in Berlin! Tief beeindruckt steigen wir hinauf und lassen uns auf dem sonnenwarmen Sand nieder. Noch so ein Ort, an dem nichts anderes als die Stille zählt. An dem man Freiheit atmet. Und Glückseligkeit fühlt. Wir lassen unsere Rücken in den weichen Sand fallen und schließen unsere Augen. Wärme, Licht, Unendlichkeit. In einem einzigen Moment.






Jonas: Ist dies dein Ort der Stille? David: Insgesamt ist der Wald in Waidmannslust mein Ort der Reinkarnation, mein persönliches Refugium vor der Hektik der Stadt. Ich bin total glücklich, an so einem friedlichen Stückchen Erde aufgewachsen zu sein und leben zu dürfen. Hier im Wald kann ich vollkommen in meine Umgebung eintauchen und mich lösen von meinem sozialen Umfeld. Oft suche ich mir hier einen Platz, von dem aus ich die Umgebung am besten auf mich wirken lassen kann. Ich fixiere dann irgendeinen Punkt in der Ferne und lasse mich innerlich komplett fallen – die pure Entspannung! Ich liebe es aber auch, mich hier in der Gegend abends auf mein Rennrad zu setzen oder einfach durch den Wald zu joggen, um die physische Energie rauszulassen, die sich am Tag an der Uni angestaut hat und für die es sonst kein Ventil gab. Zu Beginn meines Studiums bin ich für ein Jahr nach Moabit gezogen, wo ich auch schon während meiner Schulzeit recht häufig unterwegs war. Viele meiner Freunde wohnen dort, daher fühle ich mich in Moabit ebenso heimisch wie in Waidmannslust – und dementsprechend gibt es auch dort den einen oder anderen Ort, der für mich eine besondere Bedeutung hat und an dem ich Stille finde, wenn ich sie suche.

Jonas: Ist Stille für dich eine Form von Freiheit – und Freiheit in der Konsequenz ein ebenso wichtiges Thema in deinem Leben? David: In gewisser Weise bedeutet das Finden von Stille für mich schon eine gewisse Freiheit. Ich glaube aber, dass ich viel zu behütet aufgewachsen bin und viel zu frei erzogen wurde, weshalb ich mich nicht erdreisten würde, Freiheit als das zentrale Thema meines Lebens zu verstehen. Trotzdem kann ich sie natürlich in ihrer tiefen Bedeutung greifen und weiß um ihren enormen Wert. Sie ist mein ständiger Begleiter und für mich die absolute Grundvoraussetzung für ein glückliches und erfülltes Leben. Dabei wäre es allerdings ziemlich heuchlerisch zu fordern, dass jeder Mensch nach der Maxime leben sollte, möglichst frei zu sein. Es ist leider auf der Welt viel zu vielen Menschen nicht vergönnt, ein Leben in Freiheit zu führen. Ich glaube, dass mich dieses Wissen darum auch dazu bringt, mein eigenes Leben möglichst gut zu strukturieren und die Freiheit, die mir geschenkt wurde, effektiv und verantwortungsvoll zu nutzen. Um es konkret zu sagen: Ohne diese Einstellung hätte ich wahrscheinlich kaum so früh angefangen, Jura zu studieren. Für die einen bedeutet Freiheit, überall hingehen zu können und zu dürfen.


„Es bringt dir absolut gar nichts, wenn du nur Leute um dich herum hast, die dir ständig sagen, wie toll du vielleicht bist.“

Für mich heißt Freiheit vielmehr, in jungen Jahren alle beruflichen Chancen nutzen zu dürfen, um später mit meiner Familie und meinen Kindern ein glückliches und erfülltes Leben führen zu können. Jonas: Also ist Familie der zentrale Begriff deines Lebens. David: Ja, Familie ist der erste und wichtigste Bezugspunkt in meinem Leben. Sie ist die Konstante, auf die ich mich glücklicherweise immer verlassen kann und die mich auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Jonas: Neigst du dazu, gelegentlich den Boden der Tatsachen aus den Augen zu verlieren? David: Mein Vater hat mich immer einen Träumer genannt, weil ich früher wahnsinnig große Vorstellungen davon hatte, was ich alles einmal werden will und wie ich mein Leben gestalten will. Dabei habe ich aber nie wirklich darüber nachgedacht, wie der Weg zu diesem Ziel tatsächlich aussehen soll. Daher versucht mein Vater auch, mich nie zu sehr zu loben, sondern mich eher mit konstruktiver Kritik zu unterstützen und mir seine wichtigsten Weisheiten des Lebens mit auf den Weg zu geben. Auch wenn man das als Kind vielleicht noch nicht so versteht:

Je älter man aber wird, desto mehr erkennt man den Sinn dahinter. Es bringt dir absolut gar nichts, wenn du nur Leute um dich herum hast, die dir ständig sagen, wie toll du vielleicht bist oder wie gut du etwas gemacht hast.

Wieder einige Wochen später, es ist mittlerweile September. Wir treffen David Peroz ein weiteres Mal, diesmal in Moabit, was ihm neben Waidmannslust und dem Schwarzwald ebenfalls ein Zuhause ist. In einem kleinen türkischen Imbiss kaufen wir frische Gözleme und wandern zur Spree, wo wir uns gegenüber des Bellevue Ufers auf einer Mauer niederlassen. Vor uns gleiten Ausflugsboote über das Wasser, im Hintergrund ist gelegentlich das Rattern der S-Bahn zu hören. Es wird von Minute zu Minute dunkler, die Dämmerung schleicht sich langsam ein. Während wir den Ausblick auf das hell erleuchtete Schloss Bellevue genießen, erzählt David, dass dies ein weiterer jener Orte ist, an den es ihn zieht, wenn er seine Stille sucht oder Zeit mit seinen Freunden verbringen will. Hungrig machen wir uns über die noch warmen Gözleme her und David erklärt, dass es in Afghanistan eine ganz ähnliche Spezialität gibt, die Bolani heißt: gefüllte Teigtaschen mit Kartoffeln oder Lauch.








Jonas: Hast du daher das Gefühl, vieles aufholen zu müssen? David: Oh ja, das muss ich tatsächlich. Afghanistan kenne ich ja lediglich aus den Erzählungen meiner vielen Verwandten, die über die ganze Welt verstreut sind und zu größeren Familienfesten immer wieder zusammenkommen. Da erhält man natürlich einen gewissen Einblick in die Kultur, aber das ist einfach nicht dasselbe. Ich glaube, dass ich darüber hinaus auch etwas aufzuholen habe, was die generelle Sicht auf die Dinge und das Land angeht. Man ist bei seiner Wahrnehmung von außen ja leider der selektiven Berichterstattung der Presse ausgesetzt. In Deutschland beziehungsweise Europa werden einem in den Medien nur kleine Ausschnitte serviert, die irgendeine Redaktion für wichtig erachtet hat und die meistens mit den kriegerischen Auseinandersetzung innerhalb Afghanistans zu tun haben. Dabei wird leider komplett ausgeblendet, dass es dort auch eine funktionierende Zivilgesellschaft gibt. Ich finde, man kann Dinge nur zu 100 Prozent wirklich beurteilen, wenn man selbst vor Ort war und sich sein eigenes Bild von den Umständen machen konnte. Und genau das ist es auch, was ich mir von meinem allerersten Afghanistanbesuch erhoffe. Jonas: Das heißt, du stehst den Medien eher kritisch gegenüber?

David: Ich finde, dass es uns die heutige Informationstechnologie generell viel zu leicht macht, Wissen auszulagern und nicht mehr zu hinterfragen. Das geht an manchen Stellen sogar so weit, dass es vielen daran mangelt zu wissen, wie man im Leben zurechtkommen würde, wenn man nicht in die Komfortzone eines wirtschaftlich gesunden und friedlichen Systems hineingeboren wäre. Unsere Großeltern im Schwarzwald wussten zum Beispiel noch, wie man Obst und Gemüse anbaut – das sicherte ihnen das Überleben. Dieses Wissen ist heute nicht mehr relevant. Man gibt sich damit zufrieden, dass im Supermarkt alles verfügbar ist. Um das Wie und Wo macht man sich dabei nicht mehr wirklich viele Gedanken. Jonas: Hat dich die imposante Natur des Schwarzwalds sehr geprägt? David: Ja, total! Wenn ich mich in Berlin in den Zug setze und im Schwarzwald wieder aussteige, atme ich tief ein und bin wie euphorisiert von der frischen Luft. Ich liebe auch das Geräusch des plätschernden Wassers, das aus einem Brunnen in der Nähe des Hauses meiner Großeltern sprudelt. So etwas ist wundervoll und hat eine sehr beruhigende und tiefenentspannende Wirkung auf mich. Afghanistan soll übrigens ähnlich atemberaubende Landschaften haben, alleine deshalb bin ich sehr gespannt darauf, was mich dort erwartet.


„Ich finde, man kann Dinge nur zu 100 Prozent wirklich beurteilen, wenn man selbst vor Ort war.“






„Je weniger materielle Dinge man besitzt, desto weniger kann man auch vermissen.


Ich muss aber zugeben, dass ich nach spätestens einer Woche Schwarzwald irgendwie anfange, Berlin zu vermissen. Dann setze ich mich wieder in den Zug, fahre zurück und hole am Hauptbahnhof genauso tief Luft wie bei meiner Ankunft im Schwarzwald. Wenn ich nach einer Woche im Süden Deutschlands wieder die Berliner Luft schnuppere, denke ich jedes Mal: Es ist so schön, hier zuhause zu sein. Jonas: Was ist für dich denn das Besondere an Berlin? David: Ich glaube, es ist diese Zwanglosigkeit und Vielfältigkeit der Stadt. Alleine die Tatsache, dass wir kein wirkliches Stadtzentrum, sondern viele verschiedene Stadtteilzentren haben, finde ich wahnsinnig toll. Es gibt in Berlin so viele Möglichkeiten, sich immer genau das auszusuchen, worauf man gerade Lust hat.

David lächelt. Er scheint gerade der zufriedenste Mensch auf Erden zu sein. Während wir auf der Ufermauer sitzen und unsere Blicke auf der Spree verlieren, spiegeln sich die Lichter der Ausflugsboote in seinen tiefen dunklen Augen.

David: Ich finde Schiffe ja richtig toll, irgendwie war so etwas immer schon mein Traum! Stell’ dir vor, du hättest ein eigenes Boot und könntest an jedem Hafen der Welt anlegen — das wäre die absolute Freiheit!

Jonas: Auf so einem Boot könntest Du aber nicht wirklich viel mitnehmen. David: Ach, das wäre gar nicht das Schlechteste. Je weniger materielle Dinge man besitzt, desto weniger kann man auch vermissen. Und das einzig Wichtige hätte man ja eh immer dabei: sein eigenes Zuhause.

Die Nacht hat sich mittlerweile über Berlin gelegt, die Spree wirkt wie ein schwarzer Spiegel. Wir entscheiden, noch einige Meter am Ufer entlangzuwandern. Schweigend schlendern wir über die kleine Lutherbrücke und spazieren auf der anderen Wasserseite zurück in Richtung S-Bahnstation. Nach ein paar Minuten bleibt David plötzlich stehen und lächelt. Seine dunklen Augen funkeln so stark, als hätten die bunten Lichter der Spreeboote sie zu ihrem neuen Zuhause erklärt. Der junge Mann schließt seine Lider, atmet tief ein und hält erneut die Zeit an – wie damals, am Abend des 21. Juni 2013 im Nordosten Kreuzbergs. Es gibt Menschen, die behaupten, es gebe keine Zufälle im Leben. Alles sei vorherbestimmt und alles habe seinen Grund. Geschehen würde es, weil es so geschehen solle. Und das sei gut.




DANI LA CAR

Daniel Lara Cardona is a 21-Year-old graphic designer living in Bogotรก, Colombia.


W W W.VANJERONO.TUMBLR.COM

NIEL ARA RDONA




Part of my life


TEXT: DANIEL LARA CARDONA PHOTO: MANUEL VALENCIA

Silence doesn’t really exist. Even when there seems to be emptiness, there’s something which fills it. Feelings, body sensations, flavors, images and odors are always present; and they must be understood as elements of variable meanings, which are assigned by every single person. This means that everything in this world has a meaning which is actually assigned by us, and silence becomes a very important space for this process to happen. If everything has a significant value, that means also that everything has a meaning. The definitions for an object may change from person to person and imply rational and emotional values. The last kind of traits tend to differ more from person to person than the logical ones, as emotional experiences are unique, and also the response from the person towards the situation varies highly. Silence is hence, a place in which emotional meaning is given to each of these experiences.

Quietness is also a space for reflection. One can take advantage of this state to seek for inspiration and answers for several questions of one’s life. Through analysis during this silent period, one can surely find the ideas and the solutions to several problems, as well as inspire yourself through the use of memory and imagination. Thus, silence must not be considered as an empty period in which everything is static and remains frozen, rather than a moment in which through meditation and introspection one is able to build a new world. As a creative, I believe that silence is a necessary part of my life, as it lets me create new images. After discussing and exchanging ideas with other people, silence is that space in which I can finally connect all the external and internal influences into coherent, strong ideas, which somehow will change the way in which I perceive and give meaning to the world.


W W W.T VNOIR.DE W W W.TEXOR AMA.DE

TEX DRIESC

Tex Drieschner ist Musiker, Gastgeber von T V Noir und lebt in Berlin.


CHNER




In Schwarz— weiß


TEXT & INTERVIEW: JONAS MEYER FOTOS: LUKAS LEISTER W W W.LUK ASLEISTER.DE

Der Saalbau in Neukölln hat viel erlebt in seinen 140 Jahren. Geboren als Teil eines Dorfgasthauses in der Zeit, als die Gegend hier noch Rixdorf hieß, avancierte er schon bald zum Stadttheater und wurde später sogar UFA-Kino. Auf seinem Parkett feierten die Berliner jene goldenen Zwanziger und tanzten als gäbe es kein Morgen. Ein Ort für Kunst zu sein, das sagt der Saalbau heute, mache ihn am glücklichsten. Und es wirkt, als entweiche seinen alten Mauern ein kleines Lächeln, wenn er an seine unbeschwerte Jugend denkt. Wenige Jahre später, als über Alle und Alles die dunkelste aller Zeiten hereinbrach, machten die Nationalsozialisten aus dem Saalbau Neukölln eine Sammelstelle für Güter jüdischer Bürger. Nachdem der Krieg ein Ende hatte und geschehen war, wofür es keine Worte gibt, wurde das Gebäude renoviert und umgebaut. Endlich durfte er wieder sein, was er am liebsten war, und strahlte nun als Zentrum für Konzert, Theater und Film. Doch der Saalbau fiel Ende der Sechziger in einen Dornröschenschlaf, irgendwann drohte sogar der Abriss. Es musste erst das Jahr 1990 kommen, um

ihn als Kulturstätte wiederzubeleben – und die ist er bis heute: Seit 2009 hat der Saalbau Neukölln einen Mitbewohner, das Volkstheater-Kollektiv „Heimathafen Neukölln“ fand hier sein neues Zuhause. Er hat also viel erlebt in seinen 140 Jahren, doch irgendwie merkt man ihm das gar nicht an. Und so beobachtet er auch heute ganz gelassen und entspannt die Gäste des Café Rix, die in seinem Innenhof bei Kaffee und Kuchen die Stille genießen. Tapfer trotzt die kleine Oase dem Lärm der belebten Karl-Marx-Straße und wirkt dabei wie ein Schutzraum vor dem Alltag. An diesem Zufluchtsort haben auch wir an diesem spätsommerlichen Nachmittag einen freien Tisch ergattert. Während unsere Augen etwas gedankenverloren den Bildern aus Licht und Schatten folgen, die die Sonne auf die hellen Mauern malt, radelt ein großgewachsener Mann im schwarzen Anzug in den Innenhof. Es ist Tex Drieschner, der Anfang 2010 mit seiner Sendung „TV Noir“ in den Heimathafen gezogen ist. Tex schließt sein Fahrrad ab, steuert lächelnd unseren Tisch an und setzt sich zu uns.




„Wenn man seine Umgebung einfach als ein riesiges Angebot akzeptiert und immer das wählt, was gerade passt, kommt man automatisch irgendwann zum Meer.“

Jonas: Du hast in deinem Leben schon in den unterschiedlichsten Berufen gearbeitet: Von Vorstandsmitglied über Weihnachtsmann bis Karikaturist war eigentlich alles dabei, was man sich so vorstellen kann. Wie kommt man zu einer so ausgefallenen Vita? Tex: Ich hatte nie einen bestimmten Plan, der mir vorschreibt, was in mein Leben passt. Ich mache immer das, was sich gerade anbietet und worauf ich Lust habe. Erst im Nachhinein und mit einem gewissen Abstand sehe ich dann die Gemeinsamkeiten meiner unterschiedlichen Tätigkeiten. Ich glaube, dass ich gerne einen Wald von Möglichkeiten auf mich wirken lasse und dann die spannendste Option verfolge. Das ist in etwa vergleichbar mit der Beweisfindung in der Mathematik: Dort offenbart sich meistens auch ganz langsam im Dunkeln eine Struktur, die es dann auszuarbeiten und elegant zu machen gilt. Ich glaube, dieses Grundprinzip lässt sich auf ganz Vieles projizieren: etwa auf das Zeichnen von Cartoons, das Schreiben von Songs oder die Arbeit als Knowledge-Management-Berater. Oft hat man einerseits eine Situation, die zunächst sehr komplex wirkt, und andererseits eine Vision davon, was man erreichen möchte – das Ziel wird dadurch mit einer positiven Emotion besetzt. Also kann man sich auf die Jagd begeben und versuchen, im Wald aller Möglichkeiten genau diejenige zu

finden, die der eigentlichen Vision am nächsten kommt. Das mag der Kern der vielen Begeisterungen sein, die mich im Laufe meines Lebens ergriffen haben. Jonas: Viele Menschen haben große Berührungsängste gegenüber der Mathematik. Kennen sie einfach diesen emotionalen Aspekt nicht? Tex: Viele Leute verbinden die Mathematik leider mit etwas Trockenem und Spaßlosen. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass sie in der Schule immer etwas machen mussten, wovon sie sich bedroht fühlten. Wenn Menschen Angst empfinden oder das Gefühl haben, etwas nicht mehr schaffen zu können, machen bestimmte Inhibitoren das Gehirn einfach dicht. Verrichtet man dagegen Dinge in spielerischer Begeisterung, werden Stoffe ausgeschüttet, die das Gehirn für neue Vernetzungen öffnen. In der Schule geht es darum, vorgefertigte Algorithmen auswendig zu lernen und wiederzugeben. Das ist natürlich total langweilig und würde selbst einen Mathematiker nicht bei der Stange halten – es kommt dabei ja absolut keine Begeisterung auf. Diese Begeisterung kann aber entstehen, wenn man über Wochen instinktiv an einer Arbeit sitzt und ahnt, auf der richtigen Spur zu sein – und man plötzlich merkt, dass man das zu Zeigende auch zeigen kann.


Hat man die Fährte zur Lösung einmal aufgenommen, geht es im zweiten Schritt darum, das Geschaffene zu schleifen, zu färben und eleganter zu machen – das ist immer ein sehr kreativer Prozess. Jonas: Das hat fast etwas sehr Pfadfinderartiges... Tex: Absolut. Im Leben geht es ja oft darum, eine Lösung für Situationen zu finden, die äußerst schwierig und komplex erscheinen. Das ist, als würde man mitten in einem ungeliebten Gebirge stehen und nach einem Pfad suchen, der zum ersehnten Meer führt. Doch die wenigsten Gebirge grenzen an ein Meer, der Weg dahin ist einfach nicht ersichtlich. Daher muss man für sich persönlich eine Strategie entwickeln, um angesichts der gegebenen Optionen das Beste aus der Situation zu machen: Man kann etwa im ersten Schritt einen Teilabschnitt wählen, auf dem man sich wohlfühlt. Und sollte es mal nicht mehr weitergehen, kann man auch einfach stehenbleiben und sich die Landschaft anschauen. Diese Herangehensweise gibt einem eine gewisse Freiheit und nimmt diesen Druck, auf dem schnellsten Weg zum Meer kommen zu müssen: Man muss nämlich gar nichts. Wenn man seine Umgebung einfach als ein riesiges Angebot akzeptiert und immer das wählt, was gerade passt, kommt man automatisch irgendwann zum Meer.

Das ist eine wichtige Grundphilosophie des Alltags. Jonas: Ein treuer Begleiter auf deinem eigenen Pfad war immer die Musik. Weißt du noch, wann du zum ersten Mal gemerkt hast, dass sie eine essenzielle Komponente deines Lebens ist? Tex: Auf jeden Fall nicht in meiner Kindheit – ich bin förmlich zur Geige geprügelt worden. Meinen Eltern bin ich zwar heute dafür wahnsinnig dankbar, aber damals habe ich sie gehasst, weil ich dauernd üben musste. Mit der Geige konnte ich auch nicht so wirklich cool sein, das habe ich spätestens in der Pubertät gemerkt. In der Schule war ich sowieso ein ziemlicher Loser und nicht besonders beliebt in den ersten Schuljahren. Prägend für mich war das Skilager in der siebten Klasse: Ein entfernter Cousin saß mit seiner Gitarre einfach da und sang. Alle hatten sich um ihn versammelt, die Mädchen himmelten ihn an. Nur ich saß in der vorletzten Reihe und dachte: Wie toll wäre es, wenn ich selbst da vorne in der Mitte sitzen würde. Diese Sehnsucht hat in mir den Drang genährt, ein ähnlich intensives Gefühl auch in anderen hervorrufen zu können – noch lange bevor ich selbst Musik gemacht habe. In der Pubertät vermischt sich das ja so schön: sich auf der einen Seite selbst profilieren zu wollen und sich ein neues Ich zu geben und auf der anderen Seite von der Sache selbst begeistert zu sein.

„ m d h






„Texten ist qualvoll, aber gleichzeitig auch wahnsinnig erfüllend.“

Jonas: Trotzdem war diese Sehnsucht auch Grundstein für deine eigene musikalische Karriere: Im Laufe der Jahre hast du unter anderem in einer Münchener Fun-Punkband gespielt und warst Mitglied der Hamburger A CapellaBand „The Buddhas“. Wie hat sich aus alldem dein Soloprojekt „Tex“ entwickelt? Tex: Es gab für mich im Jahr 1992 ein Schlüsselerlebnis: Ich hatte mir nach einem Zeltlager mit viel Singen, noch mehr Wein und wenig Schlaf die Stimme total ruiniert. Damals habe ich noch in München gelebt und war Sänger in dieser Fun-Punkband. Leider konnte ich absolut nicht einschätzen, wann meine Stimme wieder voll belastbar sein würde. Nach ein paar Wochen dachte ich, ich probier’s mal wieder – vor 1.200 Leuten bei einem für uns ziemlich wichtigen Auftritt im „Theatron“. Alle wollten Party machen und warteten darauf, dass es endlich losgeht. Aber meine Stimme wollte nicht. Ich stand auf der Bühne und klang total widerlich: ein ganz und gar schlimmes Erlebnis. Da meine Stimme wohl vorerst nicht mehr zu gebrauchen war, habe ich wenige Tage später in meiner Verzweiflung einige Sachen rausgesucht, die ich früher einmal geschrieben hatte. Die Songs waren eigentlich nie cool genug für diese Band, trotzdem habe ich mich mit dem Gitarristen zusammengesetzt und sie ihm gezeigt – wir konnten ja gerade eh nichts anderes machen.

Als wir anfingen, die Stücke auch mal zweistimmig zu spielen, fanden wir das irgendwie geil. Zwar haben wir das Ganze letztendlich nicht weiterverfolgt, aber ich hatte von nun an diesen Klang im Kopf. Und als ich 1993 nach einem kurzen Aufenthalt in den USA nach Hamburg zog, kramte ich allmählich meine Songs wieder aus. Ich glaube, es war 1997, als es so langsam ernst wurde und ich mich dazu entschied, ganz und gar diese Musik zu machen – unter dem Namen „Tex“ und mit klaren deutschen Texten. Ich hatte plötzlich eine eindeutige Vision davon, wie sich das Projekt anfühlen soll, und veröffentlichte mit „Düster bist du schön“ die deutsche Version eines jener Stücke, die in München noch auf Englisch entstanden waren. Dieser Song gehört nach wie vor zu meinen absoluten Lieblingsliedern. Jonas: Hat Sprache für dich und deine Musik generell eine wichtige Bedeutung? Tex: Aus diesem Winkel hat sich die Frage für mich nie gestellt – und ich habe mich selbst dahingehend auch nie analysiert. Ich weiß nur, dass ich von Anfang an bei meinen Musikprojekten die Texte selbst geschrieben habe, weil es mir irren Spaß macht, zu reimen und zu gestalten. Und das hat wiederum etwas mit diesem Prozess des Suchens und Findens zu tun.


Vielleicht ist Spaß aber auch nicht das richtige Wort. Wie vielen anderen geht es auch mir so, dass es oft sehr schmerzhaft sein kann, eigene Texte zu schreiben – eine schwere Geburt, bei der man viele Entscheidungen treffen und die sich bietenden Optionen reduzieren muss. Texten ist qualvoll, aber gleichzeitig auch wahnsinnig erfüllend – vorausgesetzt es kommt etwas dabei heraus, mit dem man selbst zufrieden ist. Jonas: Viele junge Musiker können kaum oder gar nicht von ihrer Kunst leben. Hattest du in all’ den Jahren selbst mit Existenzängsten zu kämpfen? Tex: Ich glaube, dass ich tatsächlich nie in einer finanziellen Notlage war. Ich hatte während meines gesamten Studiums zwar nicht sonderlich viel Geld, aber ich wurde eine ganze Weile von meinem Papa finanziert. Außerdem hatte ich schon als Kind damit begonnen, mit dem Computer rumzuexperimentieren, und da fanden sich natürlich immer gut bezahlte Jobs. So hatte ich nie wirklich existenzielle Probleme. Manche Musiker sind aber auch sehr radikal in ihren Entscheidungen und lassen alles andere im Leben fallen, nur um sich voll und ganz auf ihre Kunst konzentrieren zu können. Diese Radikalität vermisse ich auch manchmal an mir selbst. Ich lasse mir einfach gerne verschiedene Optionen offen und arbeite zwischen den Gleisen.

Wahrscheinlich würde ich es auch gar nicht hinbekommen, eine einzige Sache so zu fokussieren. Allein mein kleines TV Noir-Projekt von damals ist mittlerweile so schwergewichtig geworden, dass ich nicht nur die Sendung moderiere, sondern mich auch um die ganze Firma drumherum kümmere. Da ist es fast unmöglich, sich die Zeit und Einsamkeit zu nehmen, die man so dringend braucht, wenn neue Songs entstehen sollen. Ich schreibe zwar gerade an meinem nächsten Album, das tue ich allerdings sehr langsam. Es geht mir momentan auch wesentlich mehr um die Vorbereitung meiner Tour, die im November endlich startet. Ich kann mir zwar vorstellen, dass dabei auch einiges für das neue Album abfällt, trotzdem stehen die Liveshows jetzt erst einmal im Fokus.

Während Tex in tiefer Gelassenheit und mit freundlicher Stimme aus seinem ereignisreichen Leben erzählt, wirkt es fast, als würden ihm die alten SaalbauMauern heimlich lauschen. Denn die Geschichte von TV Noir ist seit einiger Zeit auch ein Teil ihrer Geschichte: Seit Tex vor knapp vier Jahren mit der Sendung in den Heimathafen gezogen ist, empfängt er hier regelmäßig außergewöhnliche Musiker auf seiner Bühnencouch. Eine besondere Form der Stille. Und ganz in Schwarzweiß.






„Mit einem Mal fand eine andere Art von Konzert statt.“

Jonas: TV Noir existiert mittlerweile seit fünf Jahren. Erinnerst du dich noch, wie alles angefangen hat? Tex: Gestartet sind wir im ersten Stock eines winzigen Cafés namens „Edelweiss“ im Görlitzer Park. Anfangs kam die Musik noch von mir selbst und zwei Bekannten, aber wir haben recht bald versucht, auch etwas größere Namen für uns gewinnen zu können. Viele fanden seltsam, was wir da machen: mit irgendwelchen Freunden komische Geschichten veranstalten. Aber ich hatte das Gefühl, dass es irgendwie funktioniert und genau das beinhaltet, was ich cool finde. Ich hatte deshalb auch einen Freund gebeten, gleich die erste Show mit einer Kamera aufzuzeichnen – die hatte ich mir für 139 Euro bei Ebay ersteigert. Zwar hat diese Kamera natürlich nicht viel hergegeben, trotzdem habe ich damals schon an der Gradationskurve geschraubt, den Gammawert etwas hochgezogen und das Ganze ins Netz gestellt. Ich war schon immer ziemlich stylebesessen – und es war mir von Anfang an wichtig, wie das wirkt, was wir da machen. Jonas: Aus welcher Idee heraus ist TV Noir überhaupt entstanden? Tex: Es gab zwei wesentliche Treiber: Zum einen veranstaltete ein guter Freund namens Sebastian Block schon damals mit einer Songwriterclique ganz informelle Abende, die „Prima PlatteAbende“ hießen.

Ich selbst hatte vorher eigentlich nie Kontakt zu anderen Musikern aus meinem Genre. Erst durch den Rio Reiser Songpreis bin ich mit dieser Clique in Berührung gekommen, zu der neben Sebastian auch Guillermo Morales und Simon Goldfein gehörten. Bei diesen Abenden wurde reihum auf der Gitarre gespielt. Das hatte etwas unglaublich Intimes und Schönes, denn dadurch wurde ein kleiner Raum geschaffen, in dem jeder Platz für seine ganz eigenen Sachen hatte. Ich war davon so fasziniert, dass ich Lust bekam, da meinen eigenen Input beizusteuern: Ich dachte mir, es wäre schön, den Ablauf des Ganzen etwas zu straffen und genauer auf den Punkt zu bringen, weil sich die Veranstaltung zunächst immer etwas verlaufen hatte. Der zweite Treiber war ein Konzert von Enno Bunger an einem kalten Winterabend, bei dem ich kurzfristig mitgespielt hatte. Enno war damals noch total unbekannt und so war ziemlich klar, dass unter den Voraussetzungen nicht viele Leute kommen würden. Daher haben wir relativ spontan entschieden, ein paar Lebkuchen und Glühwein zu kaufen, und machten aus der Veranstaltung eine ostfriesische Weinnacht. Dabei habe ich Enno spaßeshalber vor Publikum interviewt. Als er im Anschluss daran gespielt hat, habe ich gemerkt, dass das Publikum plötzlich ganz anders rezipiert hat. Mit einem Mal fand eine andere Art von Konzert statt. Das Publikum wirkte viel offener und interessierter, weil der Typ, der gerade noch von sich selbst erzählt hatte, jetzt noch zusätzlich tolle Songs spielte. Aus diesen beiden Treibern ist dann die Idee zu TV Noir entstanden.


Jonas: Das Format hat in den letzten Jahren für viele Menschen eine enorme Relevanz entwickelt. Weißt du um diese emotionale Wirkung von TV Noir? Tex: Ja, das merke ich total. Das ist auch seit der ersten Folge der Grund, warum wir diese Sendung überhaupt produzieren. Dieses Gefühl zu erzeugen war und ist Teil unserer Vision. So waren auch recht frühe Sendungen etwa mit Bosse oder mit Philipp Poisel schon sehr berührend und gingen in die Tiefe, was mit der Größe des Projekts auch in erster Linie gar nichts zu tun hatte.

Im Innenhof ist es mittlerweile etwas schattig geworden, daher entscheiden wir, den Saalbau zu verlassen und der Sonne hinterher zu spazieren. Wir überqueren die belebte Karl-MarxStraße und schlendern zu einer parkähnlichen Grünanlage, die nur wenige Minuten entfernt liegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden hier auf zwei Hügeln die Trümmer der umliegenden Häuser zusammengetragen, die man später mit Erde aufgeschüttet und bepflanzt hat. Die beiden Hügel tragen seitdem die Namen „Lessinghöhe“ und „Thomashöhe“ und bilden mitten in Neukölln einen besonderen Hort der Stille – wie der Innenhof des Saalbaus, nur draußen im Grünen.

Jonas: TV Noir scheint ein Indiz dafür zu sein, dass es tatsächlich noch ein Bedürfnis nach wahrhaftiger, authentischer Musik gibt. 2009 wurdet ihr für den Grimme Online Award nominiert, 2011 startete die Zusammenarbeit mit ZDF Kultur. Leider steht der Sender jetzt vor dem Aus. Wie geht’s bei euch weiter?

Tex: Es wäre vor fünf Jahren wahrscheinlich nicht möglich gewesen, so eine Show in einem öffentlich-rechtlichen Sender zu platzieren. Die Kooperation konnte 2011 nur realisiert werden, weil es im TV immer wieder Trendwellen in die ein oder andere Richtung gibt. Daniel Fiedler, der kreative Vater von ZDF Kultur, hatte in dem Sender einfach eine tolle Vision umgesetzt und in kürzester Zeit eine Marke geschaffen, die funktioniert hat. Dass so etwas jetzt ersatzlos eingestampft wird, zeugt schon von einer gehörigen Ignoranz. Dabei könnte das ZDF dringend eine Marke gebrauchen, die eine gewisse Coolness für junge Leute bietet und bei dieser Zielgruppe Relevanz erzeugt. Dass es uns überhaupt in dieser Form gibt, verdanken wir in nicht unerheblichem Maße der Trash-Kultur auf YouTube. Darüber kann man einerseits wahnsinnig schimpfen, andererseits muss man sich aber eingestehen, dass diese Plattform die Grundlage dafür geschaffen hat, dass die TV Noir Inhalte allen zur Verfügung stehen. An dieser Stelle sind wir auch wieder bei dem Gebirgsbild: Die Landschaft ändert sich und wir Pfadfinder müssen schauen, welche der neuen Pfade die besonders schönen und für uns wichtigen sind. Das heißt, wir müssen herausfinden, welche Möglichkeiten sich für uns in dieser noch viel konvergenter gewordenen Welt zwischen klassischem Fernsehen und Webvideo auftun. Man muss eben ständig auf der Suche sein nach neuen Wegen, die finanziell darstellbar sind und uns abseits des Mainstream ermöglichen, genau das zu machen, was uns Spaß macht. Jonas: In welche Richtung soll sich das TV Noir-Format denn generell entwickeln?




„Wenn man sich in einem festgelegten Rahmen bewegt und genau weiß, was als Nächstes kommt, hat man auch die Möglichkeit, mal ungeplanten Scheiß zu machen.“

Tex: Es ist ein wesentliches Prinzip unserer Arbeit, dass es wenige konkrete Vorgaben gibt, die wir zu erreichen haben – Pfadfinderei eben. Wir wissen, wie sich TV Noir anfühlen muss und überprüfen alles, was wir tun, auf dieses Gefühl hin. Dabei versuchen wir, uns immer die Option offenzuhalten, wieder zurückrudern zu können, wenn es in einer Richtung mal nicht geklappt hat. Als wir zum Beispiel die Kooperation mit dem ZDF gestartet haben, war es uns sehr wichtig, zuerst einen Testlauf zu fahren und dann auf Basis unseres Gefühls zu entscheiden, ob wir weitermachen. Und als wir Ende 2009 aus dem Edelweiss in den Heimathafen gezogen sind, war das ebenfalls eine riesige Diskussion. Viele befürchteten, dass man das Format in einem so großen Theater nicht realisieren könnte, weil TV Noir vor allem von der intimen Atmosphäre lebt. Dann haben wir uns gesagt, dass wir es einfach ausprobieren wollen und es fortsetzen, wenn es sich gut anfühlt. Jonas: Du hast im Jahr 2005 den Song „Sie haben die Wahl“ veröffentlicht. Ist es dir wichtig, als Künstler auch politisch zu sein und über die Musik deinen Standpunkt klarzumachen? Tex: Die Frage trifft einen wunden Punkt. Früher war ich wirklich von einer politischen Leidenschaft durchdrungen.

Ich liebe zum Beispiel die Autobiografie von Arthur Miller, wo auf jeder Seite durchschimmert, wie leidenschaftlich politisch er ist. Momentan sehe ich aber einfach keine gute Möglichkeit, selbst politisch zu werden. Erstens muss ich sagen, dass ich das Politische mittlerweile weitaus weniger emotional betrachte als früher. Und zweitens finde ich es wahnsinnig schwer, überhaupt politisch zu schreiben – auch wenn ich tatsächlich mal von einer Sache bewegt bin wie etwa in letzter Zeit von dieser NSA-Geschichte. Ich war mal ein wirklich leidenschaftlicher Chomsky-Vergötterer, habe viel gewusst und diskutiert Das ist aber mittlerweile total in den Hintergrund getreten. Gott sei Dank gibt es Künstler wie beispielsweise den fantastischen Maxim, den ich als einen wirklichen Glücksfall für die deutsche Schreiberlandschaft betrachte. Maxim schafft es, in seinen Songs genau das unterzubringen, was ihm wichtig ist – sehr berührend, aber ohne dass es komisch klingt. Jonas: Abgesehen von Maxim: Welche Musik berührt dich? Tex: Es gibt viel Musik, die für mich total relevant ist. Das hört man wahrscheinlich auch in meinen eigenen Songs. Zur Zeit befinde ich mich wieder in einer ausgedehnten Phase absoluter Verehrung für Leonard Cohen. Diese Musik steht momentan an erster Stelle.


Seit Jahren finde ich aber auch Radiohead ganz toll – und mein klassisches Idol ist Elvis Costello. Ich würde sagen, dass ich jedes zweite Mal einen Song von ihm spiele, wenn ich mich ans Klavier setze. Jonas: Hast du dir persönlich bestimmte Ziele gesetzt, die du in den nächsten Jahren erreichen willst? Gibt es einen Plan? Tex: Nein, also da bin ich tatsächlich dem treu, wovon ich eben schon gesprochen habe. Ich versuche einfach, für alles offen zu bleiben, um zu spüren, was der nächste sinnvolle Schritt ist. Einige meiner alten Musikerfreunde haben damals aus reiner Intuition einen Lebensplan geschmiedet, der deckungsgleich war mit ihrer Vision. Musik machte ihnen Spaß, danach war alles ausgerichtet. Diesen Plan haben sie aber nie mehr hinterfragt. Jetzt fahren sie regelmäßig nach Mallorca und müssen dort etwas abliefern, was sie total kaputt macht. Nichts ist mehr übrig von ihrer Intuition und der Leidenschaft – aber sie folgen brav dem Plan. Insofern nein, ich habe keinen Plan. Wenn man natürlich so eine Firma wie TV Noir betreibt, wo sieben Leute Vollzeit arbeiten und jeden Monat dreißig Leute zusammengetragen werden müssen, dann macht es schon auch Sinn, bestimmte Etappenpläne zu haben. Daher sind wir gerade auch intensiv damit beschäftigt, ein Projektmanagement zu etablieren, damit

man Etappen sauber abschließen und sich zumindest mittelfristige Ziele setzen kann. Wenn man bei einem Projekt auf der einen Seite für Stabilität und Klarheit sorgt, hat man auf der anderen Seite mehr Freiheitsgrade. Dieses Spiel erleben wir oft, gerade wenn wir wieder eine Show organisieren. Wenn man sich in einem festgelegten Rahmen bewegt und genau weiß, was als Nächstes kommt, hat man auch die Möglichkeit, mal ungeplanten Scheiß zu machen. Man fühlt sich durch die Regeln sicher und weiß, dass nichts schiefgehen kann. Im Yoga gibt es dieses ganz wichtige Prinzip, dass man in der Peripherie Stabilität besitzen muss, damit man im Herzen umso freier und durchlässiger werden kann. Das ist wohl ein ganz schönes Bild dafür.

Wir spazieren noch eine Weile über die Thomashöhe und bleiben irgendwann vor einem kleinen Pfad stehen, der zurück zur Straße führt. Tex atmet tief ein, verabschiedet sich und tritt den Rückweg an in Richtung Heimathafen. Während unsere Blicke ein letztes Mal über die hügelige Fläche des Parks wandern, stellt sich in uns ein tiefes Gefühl der Freiheit ein. Man sollte einfach öfter einen Ort der Stille suchen – oder selbst einen kreieren. Mit viel Musik und in Schwarzweiß.

„ m d h




W W W.NJKL AS.DE

NIK SCHAD

Niklas Schader ist 17 Jahre alt, Sch 端ler und lebt i n Frank fur t am Main.


IKLAS ADER




Viel— leicht glücklich

TEXT & FOTO: NIKL AS SCHADER


Stille ist für mich manchmal Melancholie, manchmal aber auch ruhiges Glück, Zufriedenheit.

und versuchen, im gleichen Takt oder genau entgegengesetzt zu atmen, ist das Stille?

Wenn ich Personen komplett neu kennenlerne, sind sie mir immer unglaublich sympathisch, wenn man nicht die ganze Zeit reden muss, sondern einfach Minuten nebeneinander sitzen, Musik hören und gar nichts sagen kann, ohne dass die Situation unangenehm wirkt und man zusammen im Meer aus Bass versinken kann.

Für mich ist Stille etwas Inneres.

Am Bahnhof stehen, Kopfhörer auf, und das unbändige Bedürfnis haben, zu tanzen, während die Menschen am Bahnsteig traurig schauen und nicht miteinander reden, ist das richtige Stille? Wenn man nur das Rauschen des eigenen Blutes und das Pochen und Pumpen der unermüdlich arbeitenden Organe hört, ist es dann still? In einem Bett liegen, halb auf einer geliebten Person, ihren Atem hören

Es bringt mir nichts, im isoliertesten Raum der Welt zu sitzen, wenn es in mir brodelt und kocht, wütet und stürmt, Gedanken umherfliegen und wie Schallplatten an einer Wand in tausend kleine Teile zerbrechen und sich zu neuen Gedanken zusammenfügen. Andersherum kann ich auch an der größten Straßenkreuzung oder im lautesten Technoclub der Welt sein und dort Stille empfinden, innere Stille, obwohl es um mich herum unglaublich laut ist und ich danach tagelang ein Piepen im Ohr habe. In mir drin war es still, denn ich war zufrieden. Vielleicht sogar glücklich.


JUL SCHU

Julia Sch uber t ist 24 Jahre alt, Komm unikationsdesignerin und lebt in Mainz.


W W W.JULIA-SCHUBERT.DE

LIA UBERT




TEXT & FOTO: JULIA SCHUBERT

Einsame Insel


Die kleine Insel Torcello in der Lagune von Venedig war mir schon seit längerem bekannt und in Erinnerung als Ort, an dem ganz im Gegensatz zu Venedig und allen anderen umliegenden Inseln einfach gar nichts los ist. Die wenigen Touristen, die Torcello, diesen eigentlichen Ursprung Venedigs, besuchen, tun dies meist ganz gezielt, als Kenner der Kunstgeschichte oder der Gastronomie, angelockt von den zwei ältesten Kirchen in der Lagune und von zwei, drei Restaurants. Aber auch das ändert nichts an der Tatsache: Wenn das letzte Vaporetto gefahren ist, dann ist es hier still. Noch zwölf Menschen sollen hier leben. Wer sind sie? Diese Frage hat mich interessiert, aber auch: Wie leben sie in dieser Einsamkeit? Es war dieser überdeutliche Kontrast zu Venedig, dem eigentlichen Ziel einer Fotoexkursion, der mich reizte, diesen Fragen nachzugehen und meine Erfahrungen zu dokumentieren. Während meiner Woche in Venedig fuhr ich also jeden Tag nach Torcello und „suchte“ die Einwohner – letztendlich habe ich keinen von ihnen zu Gesicht bekommen. Nur von anderen Menschen, die dort arbeiten, wurde mir vieles berichtet, es blieb unklar, ob dort noch sieben, elf oder zwölf Personen wohnen… Bei meinen täglichen Ausflügen verschob sich bald das Interesse. Es ging mir schließlich nicht mehr nur um die Einwohner, sondern um die Insel als Ganzes. Die Menschen,

die dort arbeiten, die Häuser, verlassenen Grundstücke und bewachsenen Flächen, die Objekte, die sich dort befinden, wenigstens Spuren der Inselbewohner – meine Begrenzung war nur das umgebende Wasser. Ich erkundete die Insel, suchte auch Wege abseits des Hauptwegs entlang des Inselkanals und war dabei immer wieder ganz alleine in menschenleerer Umgebung. Ich schlich mich durch Gestrüpp oder über große, merkwürdigerweise gemähte Rasenflächen – Spuren von Arbeit – und tatsächlich traf ich dort auf zwei Gärtner. Gefunden habe ich noch ein paar weitere Menschen, die hier arbeiten: einen Toilettenaufseher und drei Restaurantbesitzer. Und dann entdeckte ich in der angespannten Stille scheinbar vergessene Gartengeräte, und immer war da das Gefühl, da sei noch etwas anderes. Irritierend, verunsichernd ist es, immer wieder auf Dinge zu stoßen, die auf Menschen verweisen, und sie nicht zu sehen: Ich finde ein Tor mit der Beschriftung ‘proprieta privata‘, aber alleine stehend, ohne angrenzende Umzäunung. Eine rote Gießkanne liegt einsam in einem Garten. Ich entdecke einen Swimmingpool auf einem Hügel eines Privatgrundstücks, aber niemand ist da. Vielleicht liegt es nur an der Jahreszeit: Es ist November, kalt und die Besitzer sind nicht da. Venedig ist eng und man ist selten allein in den Gassen, überall Menschen in Cafés, in Restaurants und Geschäften. Wenn ich abends von Torcello dort ankam, fand ich die Geräusche entspannend und angenehm: endlich wieder Leben.


VAN LE-ME

Van Bo Le-Mentzel ist Architek t und selbst ernannter Karma Ă–konom.


W W W.HARTZIVMOEBEL.COM

N BO ENTZEL




Ein Quadrat— meter Stille


Bauplan auf www.hartzivmoebel.com TEXT: VAN BO LE-MENTZEL FOTO: FRITZ LORBER

Ein Haus für Obdachlose? Was wurde nicht schon alles erfunden: Kisten aus Sperrholz, Rucksäcke zum Aufklappen, Häuser aus Pappe, Zelte in leuchtendem pink und Bushaltestellen, die sich nachts verwandeln. Viele Architekten haben sich die Zähne ausgebissen. Auch ich habe mir mal Gedanken gemacht. So ist das One-Sqm-House entstanden, das kleinste Haus der Welt. Es hat nur einen Quadratmeter Grundfläche. Wenn man es auf die Seite kippt, kann man darin schlafen. Das Haus hat ein Spitzdach, ein Fenster und – das aller wichtigste – eine Tür. Eine Tür bedeutet: frei sein zu entscheiden, wann ich für andere sichtbar bin und wann nicht. Still sein mit seinen Gedanken und Gefühlen. Dieser Quadratmeter gehört nur mir. Vielleicht der letzte Quadratmeter in dieser gerasterten Welt, wo meine Gedanken frei bleiben. Viele Menschen haben das Haus an unterschiedlichen Ecken der Welt nachgebaut. In Chicago baute die Coalition for Homeless People zwei Häuser, im

österreichischen Dorf namens Goldegg entstanden zwei Häuser direkt am Goldegger See. Ich selbst habe mich mal mitten in Berlin auf die Mittelinsel einer stark befahrenen Hauptstraße in ein OneSqm-House gelegt. Es war nicht wirklich still, aber ich fühlte mich in Ruhe gelassen. Ich habe es genossen und eine Viertelstunde gedöst. Ich war zufrieden und gleichzeitig sehr stolz, dass ich einen Raum geschaffen habe, der irgendwie heimelig war, obwohl er unheimlich klein war. Ich fragte mal einen Obdachlosen, wie er das One-Sqm-House findet. Der hagere Mann mit dem unglaublich wachen Blick sagte, dass er sich nicht vorstellen könnte, darin zu schlafen. Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben, wollen keine Sonderlösungen. Und dann wurde mir bewusst, dass jeder Versuch, Obdachlosigkeit mit Obdach zu lösen, zum Scheitern verurteilt ist. Er sagte: „Wir wollen ein ganz normales Leben in einem stinknormalen Haus.“


TZIM BUDA

Tzimon Budai ist 18 Jahre alt und lebt in Berlin.


MON AI




Der Mann ohne Lungen TEXT: TZIMON BUDAI

FOTO: MAXIMILIAN KÖNIG

„Das Meer, junger Mann. Ich suche das Meer. Können Sie mir helfen, es zu finden?“ Es war Nacht. Ich war auf dem Weg nach Hause, der Mond stand schon hoch oben und wog die Straßen, Bäume und Wiesen in seinem stillem Netz aus Schlaf. „Wieso denn das Meer?“, fragte ich ihn ganz verwundert. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich einen hochgewachsenen, dürren Mann. Er schien recht nervös und unbeholfen, gar hilflos zu sein. Seine Augen rasten von links nach rechts, von oben nach unten, und er schaute sich immer wieder um, als ob er etwas suchte. „Na verstehen sie, junger Mann, ich möchte nach Hause. Ihre Welt ist mir zu laut.“ „Meine Welt? Zu laut?“, wollte ich wissen, während ich mich wieder ärgerte, an wen ich hier geraten war. „Ach, ihr seid ein Atmer, nicht wahr? Zeigt mir doch bitte den Weg zum Meer, ich erkläre es Ihnen unterwegs.“ - „Na gut, folge mir.“ Schweigend wanderten wir die ersten Straßenbiegungen entlang, der Mond über uns hielt Wache über sein Reich der Stille. Wir verließen nun das kleine Dorf, in dem ich wohnte, und das fahle Licht der Straßenlaternen verschwand immer mehr. Ich vermochte meinen Mitläufer kaum zu erkennen, sein Gesicht lag vollkommen im Schatten der vielen Bäume um uns herum.

Wir liefen auf meinem eigenen Weg gen Meer. Den Weg, den ich immer benutzte, wenn mir alle anderen zu voll waren und ich meine Ruhe haben wollte. Plötzlich stieß der Mann neben mir einen seltsamen Laut aus, es klang wie Schluchzen und Seufzen vereint. „Hier ist schon besser. Viel ruhiger als in euren Städten und Dörfern. Nicht auszuhalten.“ - „Aber es ist doch überall so laut.“ „Nein. Nicht bei mir in meiner Heimat. Es gibt nur sehr wenige von uns. Ein Dutzend vielleicht. Wir leben in solch einer wunderbaren Stille, wie sie nie einer von euch Atmern erleben wird.“ „Moment mal,“ unterbrach ich ihn, „Atmer? Du atmest doch auch?“ „Ihr ja! Aber wir nicht. Wir besitzen keine Lungen. Wir können wandern und ziehen, wohin wir wollen. In die tiefsten Tiefen des Meeres oder die höchsten Berge dieser Welt. Doch ziehen wir meist dorthin, wo es still ist. Eure ganze Welt voller Atmer ist so laut, dass ihr es gar nicht mehr mitbekommt. Eure Schiffe, Autos, Häuser: all das. Der Lärm legt sich über euch, erstickt eure Seele.“ Er hielt inne und blieb stehen. Nach diesen Worten konnte ich meinen Blick nicht von seinem Brustkorb lassen: Tatsächlich, er bewegte sich weder auf und ab. Keinen Millimeter. „Das kann doch nicht sein“, dachte ich.


„Die Menschen, wie ihr euch nennt, haben vergessen, wie wichtig Stille für sie ist. Dennoch fürchtet ihr sie sehr. Ihr fühlt euch verloren in ihr, aber irgendwie auch geborgen. Alle Laute und Töne regieren euch von ihrem Thron und ihr gehorcht widerstandslos. Ihr lebt in jedem Ort voller Lärm und voller Angst vor diesem Wort: Stille. Doch ihr braucht sie. Denn sie nimmt euch die Brille ab, die euch den Blick in eure Seele verhindert. Nur in der Stille, alleine, begreifen Menschen, was sie lieben, fürchten, hassen oder wollen. Aber die meisten haben Angst, sich in diese Stille fallen zu lassen, da sie sich vor dem fürchten, was sie erblicken werden. Und so packt ihr eure Welt voller Lärm, um der Wahrheit über einen jeden von euch entgehen zu können. Wahre Stille bietet euch die Wahrheit über dich selbst! Sogar hier draußen ist es noch zu laut für uns. Das Summen der Lichter, Autos in der Ferne, Flugzeuge in der Luft. Es ist so unerträglich...“ Er schwieg. Ich schloss die Augen und versuchte, auf alles zu hören. Alles um mich herum. Doch ich hörte nichts, für mich war es totenstill hier draußen in der Nähe der Dünen. „Ich möchte sie nicht so lange stören, es ist ja schon spät. Ich kann das Meer schon riechen, wir sind nicht mehr weit weg.“ - „Nein, noch ein paar hundert Meter. Hier entlang.“ Wir schwiegen beide. Ich ging voraus, er hinter mir. Ich wusste nicht so ganz, ob ich begriff, was er mir erzählt hatte. Ich fragte mich die ganze Zeit, ob er denn Recht habe, dass unsere Welt zu laut geworden sei und uns das gar nicht mehr auffalle. Die Bäume lichteten sich langsam und gaben den Blick frei auf das atmende Meer. Ein bezaubernder Anblick. Das monotone Auf und Ab der Wellen, wie sie sich am Strand das Wasser kräuseln und die Gischt das Mondlicht reflektiert. Ich drehte mich um und

sah nun zum ersten Mal richtig meinen Begleiter. Sein Alter zu schätzen wäre unmöglich gewesen. Er war zwar groß und dürr, hatte aber kräftige, breite Schultern. Er war eher unscheinbar, doch seine Augen zogen mich in ihren Bann. Pechschwarz reflektierten sie das Mondlicht. Es waren alte Augen, aber in einem jungen Mann. Sie schienen eine Geschichte von dem erzählen zu wollen, was sie schon alles gesehen und erlebt hatten. Doch sie hatten auch etwas Einsames und Trauriges. Wie bei den Menschen, denen man auf der Straße begegnet, in deren Augen sich pure Einsamkeit spiegelt. „Endlich. Mein geliebtes Zuhause.“ Seine Augen begannen noch viel mehr zu leuchten. Als er an mir vorbeikam, drehte sich der Mann ohne Lungen noch einmal um. „Vielen Dank, Fremder. Ich werde nun nach Hause gehen. Bleiben sie doch noch ein wenig hier an meiner Türschwelle und genießen sie die Ruhe und Stille, die in der Nacht so nah an meinem Zuhause herrscht.“ Er ging zwei, drei Schritte weiter und drehte sich noch ein letztes Mal um. „Ach, und haben Sie keine Angst mehr vor der Stille. Sie ist etwas so Wunderbares! Ihr Atmer solltet viel mehr von ihr kosten. Sie kann euch Wege zeigen, die euch keine Töne, Geräusche und Laute dieser Welt weisen könnten. Lebt wohl!“. Er schritt voran. Sein Körper bäumte sich auf und ab, wie bei einem kleinen Kind, das sich freut, die Geburtstagskerzen auszupusten. Er hatte nun die Brandung erreicht und die Wellen streichelten seine Knöchel. Das Wasser verschluckte seine Knie und Beine nun fast vollständig. Er ging weiter. Es schien, als ob das Meer ihn mit seinen Wellen empfing, ihn in die Arme schloss wie einen alten Freund, den man schon sehnsüchtig erwartet hatte.


W W W.JANIS-MICHAELIS.DE

JAN MICH

Janis Michaelis ist 27 Jahre alt, Grafikdesigner und lebt in Berlin.


NIS HAELIS




Immer wenn ich in Norddeutschland das Rauschen der hereinrollenden Flut im Ohr hatte oder den kreischenden Möwen lauschte, die im Hafen einen heimkehrenden Fischkutter umkreisten, und immer wenn ich das Windgetöse an den Peitschenlampen am Fluss hörte, dann dachte ich nur an dieses eigene Stillsein, das abgekoppelt ist von dem, was es verursacht. Tatsächlich findet sich meine Stille aber ganz anders ein. In geschlossenen Räumen, am eigenen Schreibtisch. Diese Stille dokumentiert ein Ereignis, das Gestalter kennen, die auf Anhieb kreativ zu sein haben. Die Ideenlosigkeit, den Blackout, die Ratlosigkeit. Ähnlich der Maschinen in einer Druckerei: Ist es in deinem Atelier still, dann steht auch die Produktion still. Sicher, ich kann jederzeit einen Dokumentennamen vergeben, den Fließtext in einer Meta setzen, Facebook checken, Auszeichnungen vornehmen, Postleitzahlen ausgleichen, speichern, am Farbregler spielen, nochmal Facebook checken. Doch um etwas Raffiniertes zu gestalten, braucht man eine Idee. Mir wurde einmal gesagt, man müsse bei einer Idee aufpassen, dass sie kein Einfall ist, denn der würde schnell einfältig. Ich habe es so verstanden: Ideen kommen beim Arbeiten und nicht beim darüber Nachdenken. Aber ohne Eindruck kein Ausdruck, sagte das nicht einmal Godard? Meistens kommen die wirklich guten Ideen in der U-Bahn, aufm Pott, bei

nem Schnack. Kein Geistesblitz, eher eine mögliche Idee zur Lösung eines Problems oder einen Anfang dafür. Leider können die meisten Gestalter nicht darauf hoffen, dass ihnen diese Erleuchtung Freitagabend zwischen Kotti und Moritzplatz heimsucht oder bei Mustafa in der Schlange. Ein Auftrag ist mit immer näher rückender Deadline wie ein schlecht gelaunter Spiekermann mit Pumpgun in deinem Nacken. So sitzt man Dienstagsvormittag vor dem Rechner, hoffend, dass irgendein geniales Layout zusammen kommt. Und plötzlich ist es da: das Raufen der Haare, das Nägelkauen, das verzweifelte Klicken der Maus und das Runzeln der Stirn: die Stille. Mit der Aufmerksamkeitsspanne eines Fünftklässlers sitzt man nun da und durchscrallt jeden Blog, durchsucht die eigene Ordnerstruktur nach Rechtschreibfehlern und lauscht dem sanften Klackern der Festplatte. Wie man es am Ende dann doch wie selbstverständlich schafft es zu wuppen, ist wie der Anfang einer langen Reise, an den man sich am Ende nicht mehr erinnert. Es ist einfach passiert. Bezeugen kann dies am am Ende nur das Dokument. Das war also die Zeit der Stille. Als hätte ich sie bloß überwunden, um sie schon wieder zu suchen, die Stille, in der ich fühle, dass ich höre – nach innen wie nach außen. Gehört einfach zu mir.


Nach innen wie nach außen TEXT: JANIS MICHAELIS FOTO: JANNIS HELL


W W W.SUBTILMITSTIL.BLOGSP OT.DE

SIM SCHU

Simon Sch 端tz ist 24 Jahre alt, Student und lebt in Mainz und Bordeaux.


MON UTZ





TEXT: SIMON SCHÜTZ FOTO: ROBERTO BRUNDO

Entzug Stimmen und Geräusche aus allen KanälenWir dröhnen uns zu, bevor uns die Gedanken quälen. Ein Flimmern, ein Flackern für unseren RauschAus Angst vor der Stille sind wir Dauerdrauf. Warum tun wir uns so schwer, allein mit uns zu sein? Handy in der Hand - so schlafen wir abends ein. Können wir die stillen Momente nicht mehr ertragen? Weichen wir ihnen aus, um uns nicht zu hinterfragen? Kein Ton, kein Theater – regungslos allein. Sinne entspannt, kein Haben - sondern Sein. Dein Bewusstsein zieht latent an dir vorbeiFühlst du dich bedrückt oder fühlst du dich frei? Beginnst du damit, dich selbst zu reflektieren? Dein Ich auch in Stille vollends zu respektieren? Willst du bei mir sein und willst du bei mir bleibenDann ist Ruhe der Anker, die Zukunft von uns beiden.


CH RAT

Chris Ratz is a 31-year-old actor living in Toronto, Canada.


HRIS TZ




Ten days of silence TEXT: CHRIS RATZ

PHOTO: SAMANTHA RAVENDA

Chris Ratz is one of the main characters of the movie “The Mortal Instruments: City of Bones” and the TV series “Bitten”


“Does it feel like you are taking me to some strange summer camp?” I asked, looking at the directions in my shaky hands. “Yes, kind of”, admitted my father. My parents had offered to drive me to the meditation retreat I was embarking upon. I think they were mildly nervous about it, and wanted to see where I would be spending the next ten days. Though I had been talking about doing this for the past fourteen years, no one was as nervous as me. Ten days of waking up at four a.m. Ten days of intense meditation practice. Ten days of silence. “How are you going to go ten days without talking?” That is what I heard from everyone when I told what I was doing. It was a fair enough question, if mildly insulting. I’d never even meditated before. To everyone around me it seemed I lived a pretty loud life. “I’m single. I actually spend most of my time in silence”. That said, get a couple of drinks in me and I would not stop vying for the center of attention, so I understood it. I often had more than a couple of drinks in me.

Mostly I was terrified of sitting for an entire hour at a time without moving. I’ve never had a desk job, and I chose films to watch based on which one was shorter. So, finding silence in my body was no small challenge. Finding silence in my mind was, even at the end of the course, nearly impossible. The silence from not speaking to anyone turned out to be the easiest part of the whole thing, and to my surprise, a huge relief. It didn’t take me long to realize how much of my time was noisily spent trying to formulate and influence people’s opinion of me. Once the course started I was suddenly not allowed to concern myself with others’ thoughts. Ten days later, when we broke our silence, I looked down at my hands. They were shaking like the day I arrived. It was incredibly strange to start speaking again, to look people in the eye. It didn’t take long for me to start rattling my mouth off again, but I came away with a very strong appreciation for silence. It has become a very important part of my life. Something I never knew how much I needed.


Sladek ist 23 Jahre alt, Songwriter und lebt in Kรถln.

SLA


W W W.FACEBOOK.COM/SL ADEKMUSIK

ADEK




Ko


TEXT: SL ADEK FOTO: BACOO-PIX W W W.BACOO-PIX.DE

opf— kino Meine Stille ist ein Blick. Vom Dunkel ins Mondlicht. Ein Warten am geöffneten Fenster — nichts sagen, nur atmen. Mich streift ein Nachtwind, umwebt mich kühl und leicht wie Nebel. Das Verlangen ihn zu fangen ist so groß! Warum kann ich nicht die Arme ausstrecken, ihn greifen und behalten?

Enttäuscht drehe ich mich weg und werfe mich auf’s Bett. Ich starre hoch, die Zimmerdecke wird zur Leinwand. Kopfkino: Szenen reihen sich aneinander, kreisen und reißen ab. Ich schließe die Augen. Will ein Stein sein. Meine Stille ist ein Wunsch. Ich kann nicht mehr warten. Ich rufe. Ich atme.


W W W.ALEX ANDERSTERNBERG.ORG

ALEXA STER BERG

Alexander Sternberg ist 40 Jahre alt, Schauspieler und lebt in Berlin und Los Angeles.


ANDER RN— G




TEXT: ALEXANDER STERNBERG FOTO: UWE TAUTENHAHN


In deiner Stille aus jetzt... ja alles aus kein Netz keine Gedanken der Anderen keine eigenen Gedanken nicht nachgucken ausmachen das Ganze eine ganze lange Zeit keine Botschaft keine Entscheidung Synapsen und Ă„therfrei keine App und kein Verdruss bitte halt doch kurz deinen Mund und in deiner Stille wäre ich ein anderer.


HUG ISM RUIZ

Hugo Ismael Ruiz is a 23-year-old graphic and web designer living in Capiatรก, Paraguay.


W W W.T WIT TER.COM/YOSURVIVOR W W W.YOSURVIVOR.BLOGSP OT.COM

GO MAEL Z




Between notes and chords TEXT: HUGO ISMAEL RUIZ TR ANSL ATION: OMAR STUMPFS PHOTO: NOE BRITEZ


- Do you love me? - … (sighs) He grabs his stuff and walks away slowly. Many times we underestimate the power of silence, we think it has no value and we demand ourselves to make noise, we yell and stomp to call for attention without considering that silence says more, the absence of words or sound also communicate and we can not take this into account in our creation process. In cinema or any audiovisual material it’s an essential resource, this fake peace that is born before you see the evil guy hunting his prey, this empty spot that represents the main character’s loneliness, this calm moment after an action scene, the lover’s hesitation before answering a question, the almost soundproof sighs, the quietness representing a secret, whatever the situation is, in an almost anonymously way, silences has been the pillars below the narrative’s construction. In theaters, a fortiori, is inherent, is not just a resource, is one of its main features, besides the words and visual

resources, the silence of the characters represent a feeling, something hidden, a truth that wishes to come out. Also in music for example, a string orchestra. If we take a score, silence is put between notes and chords, in some parts all instruments play harmoniously and in other parts we silence the viola to give greater prominence to the cello or a violin solo; anyways, a generous and programmed silence after the final composition. Af the time of creation it’s also the best ally, we load our minds with songs, sounds, images, landscapes, old movies or the last thing we watch on YouTube, looking for the perfect trigger for our ideas, but is not until we turn everything off and we deeply think about what we have collected that the silence is present, giving us what we need to process all the information, peace. Let’s use silence, do not underestimate it, let it be present in every play and our process to create them, let’s remember every time that silence… counts.


W W W.SASCHA-RESKE.DE W W W.YOUTUBE.COM/WATCH?V=KOFAPJ7C SIY

SAS RESK

Sascha Reske ist 23 Jahre alt, Musiker und lebt in Halle an der Saale.


SCHA KE




min


TEXT: SASCHA RESKE FOTO: JAN PFITZNER

Tret— inen Vertrag‘ dich mit dir, denn du bist dein Freund in Nöten. Viel mehr als ein Kind; schon bereit zu töten - zu hadern - zu zögern. Weißt du nicht Bescheid, wer du bist; wer du bleibst? Kennst du nicht dein reines, geflogenes Ich? Unter Umständen trage ich dich in mir; doch nicht unter Diesen; trete ich um mich; jedoch nicht mit fiesen... Tritten. Interpretierst du die Fassade, wenn du sie malst? Ganz allein scheint sie zu verschwinden; auch wenn sie im Ruhigen liegt. Außer ihr bleibt dir doch sowieso nichts... vielleicht die Stille.


W W W.SINABRUECKMANN.COM

SIN BRUCK

Sina Br端ckmann ist 32 Jahre alt, Komm unikationsdesignerin und lebt in Berlin.


NA KMANN





Ohne Apfel-Z TEXT, ILLUSTRATION & FOTO: SINA BRÜCKMANN

Stille findet sich an Orten, die man kaum erwartet. “Papier ist geduldig”, heißt es im Volksmund. Doch auch das Arbeiten mit Papier erfordert Geduld. Mich selbst würde ich nicht unbedingt als extrem geduldig bezeichnen. Diverse Hobbyprojekte aus Fimo und Holz fanden so schon ihren Weg in die Mülltonne. Jedoch gibt es da eine Ausnahme. Schon als Kind übten Papier und Origami eine unglaubliche Anziehungskraft auf mich aus. Nachdem ich einfache Muster wie Frösche und Wasserballons gemeistert hatte, wurden es Tetraeder, Feuerwerke und schließlich ganze Layouts aus Papier.

Das kreative Arbeiten ohne Apfel-Z entschleunigt mich und meinen herkömmlich hektischen Alltag am Computer. Meine Stille liegt in den Stunden vollkommener Konzentration. Während ich Papier falze, verbiege oder klebe, vergesse ich alles um mich herum und die Gedanken in meinem Kopf werden ganz still. Analoge Papierkunst ist für mich nicht nur ein kreatives Ventil, sondern auch ein meditativer Ruhepol. Jeglicher Lärm verschwindet in den Falzen des Papiers und was zurück bleibt, ist Stille. Meine Stille ist ein Stück Papier.


TRONJ TH VAN

Tronje Thole van Ellen ist 22 Jahre alt, K端nstler und lebt in Hamburg.


W W W.EINEMILLION.T V W W W.4PIGEONS.DE

NJE HOLE ELLEN




In Park— position TEXT & ILLUSTRATION: TRONJE THOLE VAN ELLEN

Es gibt einen wirklich stillen Moment in meinem Leben, nach einer langen Autofahrt mit Autobahn, überhohlen, Rasern, Audi, Fahrbahnmarkierungen, Fliegen auf der Windschutzscheibe, Sonnenstrahlen schräg von der Seite, Staubpartikeln in der Luft und klebrigen Händen am Lenkrad. Mit dem Rauschen der Klimaanlage und der sehr eintönigen, nervigen Musik Hamburger Radiosender aus schlechten Lautsprechern, der entspannten Coolness eines echten Mannes am Steuer, dem vibrierendem Handy in der Tasche und der tickenden Uhr am Arm und im Nacken sowie der ständigen Lebensgefahr, irgendwo hängen zu bleiben.

Nach diesem puren organisiertem Chaos ­ — in Parkposition, Radio und Motor aus, dann die Klimaanlage — befinde ich mich in einem Vakuum mit mir selbst. Ich bin mir selbst überlassen, mein Körper fährt völlig herunter, das ist wundervoll! Bis zu zehn Minuten harre ich in meiner persönlichen Parkposition aus. Ich danke dem Lärm, der Autobahn, dem Teer, der Farbe Grau und der Geschwindigkeit — denn durch sie empfinde ich an manchen Tagen „meine Stille“.



FYN JEDRY

Fynn Jedr ysek ist 21 Jahre alt, Student und lebt in Berlin.

TRI SCHN

Tristan Schneider ist 21 Jahre alt, Student und Filmemacher und lebt in M端nchen.


NN YSEK W W W.MANUELFILM.DE

ISTAN NEIDER




Inner— licher Film


TEXT: FYNN JEDRYSEK FOTOS: TRISTAN SCHNEIDER

In 70 Tagen 13 lateinamerikanische Länder mitnehmen. Mit einem 20 Jahre alten Four-Wheel-Drive Nissan Pathfinder und einem kalifornischen Nummernschild etwa 8.000 Kilometer durch Länder fahren, deren Überlandstraßen neben sehr günstigen Tankgelegenheiten vor allem von schwerbewaffneten Kartell-Halunken gezeichnet sind, bedeutet in erster Linie Rock‘n Roll - statt Entschleunigung im ewigen Corona-Taco-Nirwana. Nun ist ein deutscher Pass eine Blankovollmacht durch jede paramilitärische Drogenkontrolle und auch sonst verbirgt sich unter jedem Sombrero, der dir auf einem Esel entlang der Schnellstraße entgegenreitet, eigentlich immer ein gastfreundliches, gut gebräuntes und glücklich anmutendes Gesicht. Allerdings findest du dich Abend für Abend in der gleichen ungemütlichen Situation wieder, wenn du trotzdem weiterfährst — entgegen der freundlich gemeinten Mahnung zugekokster Provinzpolizisten, nachts die mittelamerikanische Panamericana zu meiden: wegen der bösen Buben,

die sich nunmal groben Unfug auf die Fahne geschrieben haben. Unsere Weise — eben diese Zeit ab dem Einbruch der Dunkelheit — den angestrebten Kilometern jeden Tages Rechnung zu tragen, war eine bloße selbstzerstörerisch-hedonistische Ausblendung jener lauernden Gefahren. So erinnern wir uns noch sehr genau, wie sich eine Stunde völliger Stille, die einzig von dem durchgängig ausgeatmeten Zigarettenrauch gebrochen wurde, immer mit einer Periode manischen Mitsingens mexikanischer Radiolieder unter nervöser, unkontrollierter Trockenfleisch- und Red BullZugabe, abwechselte. Genau mit jener angstvollen Stille bei Nacht trugen uns die Räder unserer 200.000 Meilen Offroad Karre dann auch von der Schlagloch-durchsäten Autopista (vorbei an Mautstellen, die mehr verlangen als an der Côte d‘Azur und die Armen auf die kostenlosen Straßen zwingen und den Wegelagerern überlassen) durch die Tore der mittelamerikanischen Großstädte.




„Ein Existenzflash, wie er Spaß macht.“

Gut gut, werden manche denken, denen wir hier von unserer Angststille beim Unterwegs-Sein erzählen. „Wäret ihr doch verdammt nochmal einfach jeden Morgen noch früher losgefahren“, werden sie sagen, „und hättet eure Kilometerquote aufgegeben, dann hättet ihr auch sicherlich nicht nachts eure euch als Gringos entlarvenden Haare und Gesichtszüge leugnen und verstecken müssen.“ Doch wir zwei Reisende fügten uns einem zeitlich entgrenzten Kompass, dem Metrum einer Länderkomposition, die schon gar nicht mehr an Reisende wie uns geglaubt hat. Längst war klar, dass es den Gastwirten gar keinen Spaß mehr machte, die Speisekarte für die Locals schnell mit einer für inflationär bezasterte Touristen auszutauschen, weshalb wir auf eine teilweise unangenehme und ungewollte Weise an koloniale Verhältnisse anknüpfend unverhältnismäßig übergenug essen und trinken konnten — für einen viel zu kleinen Preis. Es sei übrigens an dieser Stelle jedem angeraten, einmal in den Genuss der mexikanischen Bierbraukünste zu kommen, denn ganz im Gegensatz zu ihrem sonst stets imperial bestrebten Nachbarn — Coca Cola Urvater und stolzem Botschafter von Stars and Stripes — weiß scheinbar eine jede Provinz in Mexiko um den guten Geschmack eines Bieres, das die Qualität mancher deutschen gerne mal in den Schatten stellt. Nun ja, der Hungrige und Durstige, nach den unverblümten Lebensentwürfen der Locals Ausschauhaltende,

ist dann eben in solchen Gefilden eher unfähig, seine deutschen Spasmen auszuleben, die ein jedes Kind Disziplin, Zuverlässigkeit und gar ausgereifte Planung ruft, um sich rechtzeitig vor Anbruch der Dunkelheit hinter die von Pumpgun-Gestalten bewachten Hotelmauern zu verkriechen. Außerdem — nur haben wir vergessen, uns das zu merken — ­ hat ein jeder frischer Morgen mit Sonnenschein und Stadtgeschehen die bedrückende Illusion von der mexikanischen Großstadt als Verbrecherhochburg genommen. Und auch die nun endlich mal herumalbernde, gegen den narcotraffic geschaffene Maschinengewehreinheit Fuerza Civil war vollends entmystifiziert. Das Treiben der Panamericana hat den Alltag vieler Menschen für sich erklärt und so pilgern sie Tag für Tag gen Asphalt und Smog aus den Aufpuffen uralter Karossen, um an den Gypsies, Pendlern und Touristen zu verdienen. Egal ob Mangos, Bananen und Kokosnüsse, die mit ihrem Gewicht die provisorischen Bretterbuden zum FastZusammenbruch bringen, egal ob zappelnde Affenbabys, exotischer Papageiennachwuchs oder Mini-Kolibris im Glas: An dieser Straße durch eine atemberaubende tropische Flora wird alles, was verwertbar ist, den Autofahrern entgegengestreckt. Ein Existenzflash, wie er Spaß macht.


Was nun im Laufe der folgenden Kilometer an Erlebnissen und Geschichten unweigerliche Begleiter unserer mittelamerikanischen Odyssee wurde, sollte sich als Paarung verquerer Kulturschocks, kulinarischer Orgasmen, nie erahnter hegemoniellen Naturgewalten und noch mehr Rock‘n Roll herausstellen: Selbstgeerntete guatemaltekische Drachenfrüchte und Mangos; meets einen heilig anmutenden, angefahrenen und blutenden Affen im Serpentin des Regenwalds; meets eine touristenfreie, 1800 Jahre alte Mayahochburg; meets ein stilechtes 60er Jahre MafiaAnwesen aus vergangenen Zeiten als Hotel an der karibischen Küste von Honduras; meets einen Unfall in Nicaragua ohne Verletzung, dafür mit Korruption verpeilter Mopedcops; meets suizidale Papageienschwärme auf dem Trip ihres Lebens, ein Flug in einen aktiven Vulkankrater des Massaya; meets heutzutage noch einmal dabei sein, wenn eine sozialistische, ehemalige nicaraguanische Guerillafront die Präsidenschaftswahlen gewinnt, man einfach die rechte geballte Arbeiterfaust zum Gruße erhebt und ein nicht mehr zu bändigendes Feuerwerk und einen Autokorso entfacht; meets einen Hummer für 1,99 essen; meets größenwahnsinnige Importsteuern in Costa Rica; meets einem Schulfreund am anderen Ende der Welt begegnen; meets ein wiederentdecktes Panama als Sammelstelle für gestrandete Rucksacktouristen auf dem Weg zur Südhalbkugel;

meets ein bereistes Mittelamerika samt Auto zurücklassen und unsere Stille finden; Atempause. Länder, in denen es Coca Cola günstiger zu kaufen gibt als Wasser, erzählen zwar spezielle Geschichten vom Kapitalismus; viel interessanter aber noch sind jene Geschichten, mit denen diese Länder von ihrer Vielfalt erzählen, Dankbarkeit wahren und in der Poesie ihrer Kultur aufgehen. Mit einer Ermahnung an Mäßigkeit, einem Ruf nach Respekt für Notwendiges und Besinnung haben wir uns dann aufgemacht zur Südhalbkugel, den Sommer im November, die Ciudad de Tango - Buenos Aires. Doch unserem bedingunglosen und unmittelbaren Moment der Stille auf unserem Roadtrip, den wir irgendwann Wochen später in schwindelerregenden Höhen der Anden zu finden vermochten, sollten noch viele exotische Eindrücke von einer nie erlebten Flora und südamerikanischer Lebensweisen vorausgehen. So sollten nämlich zunächst einmal Tage des absoluten Tempos die Halbzeit unserer Reise markieren, unter Anleitung einer argentinischer Clique zu jung geerbter Großindustriellenkinder. Ein derart sorgloses Alltagsleben jener Gute-Laune-Figuren in Buenos Aires war gleichzeitig für uns eine Sightseeing-Tour im MittelklasseNeuwagen, die uns nicht besser hätte zeigen können, wie janusköpfig die Verhätnisse in einer lateinamerikanischen Megacity ausgelebt werden; einer Stadt, die erstaunlich viele ParisAttitüden der Belle Époque an den Tag legt.








„In Rio de Janeiro musst du das ersehnte Lebensgefühl, das weder Werbung noch Erzählung transportieren können, nicht erst erzwingen oder erwarten.“

Vortreffliches Rindfleisch, eisgekühlte Mate-Tees und ein reges Hafentreiben versprachen wir uns auch von Montevideo. Die Bootsfahrt in die Hauptstadt mit der höchsten Lebensqualität Lateinamerikas und gleichzeitig dem mitunter höchsten Pro-KopfVerbrauch an Antidepressiva weltweit verlief problemlos. Ebenso problemlos war aber Gott sei Dank auch der vorgezogene Checkout aus dieser Stadt, nachdem wir zum wiederholten Mal auf unserer Reise Bekanntschaft mit einer Gruppe anhänglicher, größenwahnsinnignymphomanischer Backpacker machten, die lediglich die ganze Zeit wissen wollten, wie leicht man denn die einheimischen Frauen in den von uns bereisten Städten knallen könne. Auch sonst landet die Stadt leider nicht auf unserer Favoritenliste - wahrscheinlich war sie einfach mit dem falschen Fuß aufgestanden. Unser nächstes Ziel war ein episches Naturschauspiel im Dreiländereck, die

Iguaçu Wasserfälle. Von dort aus zog es uns weiter und wir gelangten per 30-Stunden-Busfahrt in eine Stadt mit einem unnahbaren Mythos, der uns nie wieder loslassen sollte. In Rio de Janeiro musst du das ersehnte Lebensgefühl, das weder Werbung noch Erzählung transportieren können, nicht erst erzwingen oder erwarten. Die perfekte Mischung aus urbaner Coolness und dem täglich gelebtem Hedonismus an der Copacapana, Tür an Tür mit einer Büroskyline, macht einfach Spaß. Doch auch ein unbeschwerter Dauerkarneval und die schönsten Menschen der Welt haben uns nicht davon abhalten können, schließlich den Flieger nach Peru zu nehmen. Der ganze Weg bis hoch zum Machu Picchu soll hier keine Erwähnung finden, weil er genauso kompliziert wie atemberaubend war, einem aber die leicht genervt-gefärbte Beschreibung vermutlich eher weinerlich erscheint.


Genau an diesem Punkt unserer Reise, in 2400 Metern Höhe, umringt von den nebelumwobenen Bergspitzen der Anden in Gesellschaft drollig drein schauender Lamas, konnten wir zu einem Frieden finden: zu unserer Stille, die bei all den beschleunigten vergangenen Wochen kaum noch absehbar war. Obgleich diese Inka-Ruinenstadt geschätzterweise derzeit die beliebteste und best besuchteste Sehenswürdigkeit der Welt ist und regelmäßig Spiegelreflexkamera-Equipment im Wert von Millionen Dollar beherbergt, hatte diese loslassende Rast am höchsten Punkt die Gabe, alles andere vergessen zu machen und Vergangenes wie Kommendes einen innerlichen Film sein zu lassen, der von nichts Materiellem mehr tangiert wird. Sehnsuchtsvolle Gedanken an Zuhause, an die Liebste, die Familie und Freunde geben einer jeder langen Reise schließlich doch einen Rahmen und lassen Einen auf ein nahendes Wiedersehen hoffen.

Doch erstmal Bergabstieg, Abfahrt, Flug verpasst und verlängerter Hostelaufenthalt im Grünen samt kolumbianischen dîner en blanc. Vor uns lag der letzte Stopp unserer Reise, nämlich die Wahlheimat Hemmingways mit Stränden, an denen korallenstaubweißer Sand dem türkisblauen Meer einen unwiderstehlichen Kuss gewährt und karibisches laissez faire auf realsozialistischen Flair trifft – Kuba. Wenn sich 57er Chevys hinter 58er Dodges mit generalüberholten Motoren aus der Ex-Sowjetunion reihen und ihre natürlich alltäglich motivierte Fahrt entlang des Malecons bestreiten, wenn im Hintergrund die ehemaligen eingefallenen Boutiquen ein Lied vergangenen Glanzes summen und neben Einem ein Händler seine Cohibas feil bietet, dann hatten wir einfach das Gefühl, mit dieser Zeitreise den richtigen Abschluss für eine lange Reise gefunden zu haben.








W W W.JOULEYES.WORDPRESS.COM

JOSEP STE RUH

Josephine Stenger -Ruh ist 21 Jahre alt, studier t Komm unikationsdesign und lebt in Kรถln.


PHINE TENGERH




Hint

rausch


nter— grund­— chen

TEXT & ILLUSTRATION: JOSEPHINE STENGER-RUH

Die Weite des Meeres erstreckt sich vor meinen Augen. Glitzernd tanzen Wellen auf und ab. Türkis. Blau. Tiefgründig. Ich atme ein. Hole Luft, bevor ich eintauche und das Wasser über mir zusammen schlägt. Meine Augen brennen und ich schmecke salzige Tränen der Einsamkeit, als der Lärm der Großstadt von Stille verschluckt wird. Nacht. Plötzlich frei von Stress, abgeschottet vom Alltag, ganz mit mir allein. Ich sollte mich leicht fühlen. Doch tief unten am Meeresboden begegnet mir unausweichliche Dunkelheit. Nimmt mir die Sicht, macht mich machtlos und einsam. Und dann nehme ich es wahr: Ein stetiges Hintergrundrauschen. Meine Realität Traum.

verschwimmt

zum

Geheimnisvoll plätschern deine Worte an mein Ohr. Deine Berührungen hinterlassen ein zartes Beben auf meiner Haut. Mit dir lasse ich mich fallen und ertrinke in Wunschvorstellungen. Von Wärme umspült, spüre ich, wie mein Herz klopft. Für einen kurzen Augenblick ist unsere gemeinsame Zeit wieder greifbar. Glühend. Erfüllend. Lichtdurchflutet. Du bist wie ein Fluss, der sich tief in die Erde gegraben und einen unendlich langen Pfad hinterlassen hat. Mit dir ist alles still in mir. Ich lasse mich von den Erinnerungen an dich treiben. Weit weg vom Hier und Jetzt. Ein helles Leuchten an der Wasseroberfläche reisst mich ruckartig aus meiner Trance. Der Traum wird wieder zum monotonen Rauschen. Ich strande weit weg von uns, wo mich Unruhe empfängt. Tag.


CA MAH

Carina M채hler ist 21 Jahre alt, Komm unikationsdesignerin, freie Autorin und lebt in Wiesbaden.


W W W.FACEBOOK.COM/GEDANKENART W W W.FACEBOOK.COM/ART.HELLBUNT

ARINA HLER




Heimlich, schnell und laut


TEXT & FOTO: CARINA MÄHLER

Ich sitze im Auto auf dem Weg zu Opa. Es ist Juli und die Sonne scheint. Ich fahre um die 200 km/h und meine Playlist ist auf Zufallswiedergabe gestellt. Mein Handy hat mich eben schon gewarnt, dass bei dem zu lauten Hören von Musik bleibende Hörschäden entstehen können. Weiß ich, danke. Ein neuer Track fängt an. Ich erkenne Bon Iver „Wolves (Act I & II)“ — mein „Oma-ist-gestorben-Song“. Und mir fällt auf, ich fahre zu Opa, nicht zu Euch. Nur zu Opa. Du wirst nicht da sein. Das hatte ich erfolgreich verdrängt. Dass du nicht mehr da bist, habe ich das letzte halbe Jahr wirklich gekonnt ignoriert. Als ich das letzte mal bei euch war, war zu deiner Beerdigung. Es war Januar, kalt und grau. Ein perfektes Wetter zum Sterben. Ich erinnere mich daran, dass ich mich von diesem kollektiven Trauern fern gehalten habe und so ziemlich als Erste wieder gefahren bin. Und vor allem, dass ich am wenigsten geweint habe. Ich frage mich gerade, wann ich das eigentlich verlernt habe. Weinen.

Ich weiß nur, dass ich echt schlecht drin bin. Und erst recht vor anderen. Egal vor wem. Weinen vor anderen und trauern mit anderen. Kann ich nicht. Mir kommen zwei Momente in den Kopf. Der erste, als Opa allein an der Haustür stand und mir gewunken hat, als ich gefahren bin. Sonst standest du da immer noch in seinen Armen neben ihm und hast mit deinem goldenen Lächeln auf Wiedersehen gesagt. Und der zweite, als Papa an deinem Sarg stand und gesagt hat: „Tschüss Mutter“. Die Musik läuft und ich fahre schneller und ich weine. Oma, die Tränen laufen. Mir fällt auf, dass ich es wirklich geschafft habe, in den letzten 184 Tagen nicht einen Moment lang zu verarbeiten. Und jetzt sechs Monate später sitze ich im Auto und weine. Oma, ich liebe dich und ich glaube, ich habe gerade bei 200 km/h auf der linken Spur bei extrem lauter Musik Abschied von Dir genommen. Heimlich, schnell und laut.


W W W.C ARGOCOLLECTIVE.COM/K ALEBMARSHALL

KAL MARS

Kaleb Marshall is a photographer living in Phoenix, Arizona.


LEB SHALL




Subtle nar tive


arra— TEXT & PHOTO: KALEB MARSHALL

I find myself being more attracted to photographic work that has a feeling of silence. Images that may easily be passed over if you are not aware of them. A photograph that has a subtle narrative and quality to it.


RE PICH

Regina Pichler ist 34 Jahre alt, freie Tex terin, Autorin und lebt in Hamburg.


EGINA HLER




Resa足rio Malti hat die Ruhe weg TEXT & ILLUSTRATION: REGINA PICHLER


Das lisarische Dorf Ringalli liegt seit Jahrtausenden in einem kleinen Tal umgeben von seltenen Fanfarensträuchen, die jeden Frühling meterhoch in den lachsfarbenen Himmel wachsen. Das Leben im Dorf ist einfach. Jeden Montag beginnt eine neue Woche: Bäcker backen morgens Lunazzis aus Hefeteig mit Mandelherzen. Lehrer spitzen ihre blitzblauen Hussarenkreiden, um damit in die Luft zu malen. Und eine Hutmacherin klopft ihre meterhohen Kopfbedeckungen vor dem Laden aus und steckt an jeden Hut eine frisch gepflückte MamaliBlüte. Auch der alte Resario Malti steht Montags Frühmorgens auf und öffnet sein Geschäft, das an der Avenia Passarena liegt. Dort verkauft er keine süßen Lunazzis, keine Hüte – und er malt auch keine Dinge in die Luft. Resario verkauft Stille. Dazu wandert er das ganze Jahr durch Ringalli und die umliegenden Dörfer, um mit einem sehr eng geknüpften Schmetterlingsnetz und einem Glas im Rucksack die Ruhe einzufangen. Einmal die Stille gefunden, packt er sie in ein Marmeladenglas, dreht den Deckel sehr fest zu und beschriftet das Glas. In seinem Laden in der Avenia Passarena werden die Gläser fein säuberlich in ein hohes Regal gestellt und mit einem Preisschild aus Ropaccio-Papier versehen. Wer zu Resario kommt, hat die größte Auswahl an Stillen, die man sich vorstellen kann: es gibt in kleinen Gläsern die Stille aus der arakenischen Kirche im Nachbardorf. Die Stille zweier Freunde, die auf dem rotgekachelten Bürgersteig Schulter an Schulter gehen, kommt in einem bauchigen

Glas mit rotem Deckel. Resario bietet auch die Stille einer großen Schulklasse in Arassio, dem Nachbarort von Ringalli an! Die ist sehr selten. Auch im Angebot: die Stille einer großen Menschenmenge, nachdem ein Politiker aus Arakenien um Ruhe für seine Rede gebeten hat. Die Stille nach einer guten Mahlzeit, die Stille nach einem Paukenkonzert in der RingalliArena. Und die Stille eines Mannes, der das traditionelle und schwere LamisioRätsel mit den Steinen legt. Und natürlich auch die Haus-Spezialität: ein großes Glas Stille aus dem Laden Resario Maltis. Eingefangen an einem heißen Sonnabend im August, als alle übrigen Einwohner Ringallis am Badeteich waren. Diese Stille ist allerdings nicht ganz still: beim Sammeln machte Resarios alter Dielenboden ein knarzendes Geräusch. Deshalb kostet das große Glas auch ein bisschen weniger als andere. Seit vielen Jahren kommen Menschen aus dem ganzen Land zu Resario, um in Ruhe ein schönes Glas Stille auszusuchen und zu Hause aufzustellen. Besonders beliebt sind seit Neuestem auch kleine Stillen für unterwegs, die perfekt in die Hosentasche passen. Resario geht mit der Zeit! Auch wenn Resario seinen Laden nicht ewig führen kann, weiß er, dass er sein ganzes Leben leidenschaftlich der Stille gewidmet hat. Ein Geheimtipp für alle, die Resarios Ruhe auch finden wollen: Einfach den nächsten Zug Richtung Apercio nehmen, bei Mabasta auf den ersten Wagon der Rundbahn Richtung Ringalli aufspringen – geschafft. Aber Psst!


W W W.FACEBOOK.COM/ALINAWICHMANNARTIST

ALI WICH

Alina Wichmann ist 25 Jahre alt, S채ngerin / Songwriterin und lebt in Berlin.


INA HMANN




Innerlich laut


TEXT: ALINA WICHMANN FOTO: LUKAS LEISTER

Meine Stille ist wie ein wild gewordenes Kind, das so laut schreit, bis es in ein Zimmer gesperrt wird, um sich zu beruhigen. Meine Stille hat keinen Boden und klettert manchmal die Wände hoch. Meine Stille schweigt selten, und wenn sie es tut, reißt mich die blanke Panik hoch, um sich zu vergewissern, dass ich noch am Leben bin. Vielleicht ist das die Stille einer Mitt-Zwanzigern und völlig normal? Oder sollte ich meine Mitte etwa schon gefunden haben? Stille Menschen erscheinen mir so erhaben und weise. Sie trohnen über den kläffenden Schosshündchen, die wieder zu irgendeinem Thema irgendeine belanglose Meinung ungefragt in den stillen Raum stellen. Meine Stille ist ein Schrei. Meine Stille gleicht einem flachen Gewässer, in dem man ausrutschen könnte, um blöderweise zu ertrinken. In meiner Stille denke ich frei über all die Menschen, die mich umgeben. Ich sage ihnen Dinge, die ich mich sonst nie trauen würde. Was für eine große Nase ihr eh schon hässliches Gesicht entstellt oder dass ihr Eau de Toilette nach ranzigen Blumen stinkt. Meine Stille ist ein Dialog. Meine Stille macht mir Angst. Wann denke ich eigentlich nicht? Ich rede im Schlaf, ich rede, während ich denke,

ich rede, wenn ich spreche, und warum sollte ich dann still sein? Stille ist eine Illusion. In meiner Stille sage ich dem Kerl, in den ich schon so lange heimlich verliebt bin, dass ich mir Kinder mit ihm vorstellen könnte. In meiner Stille bin ich ungefiltert. Kennen meine Freunde mich still? Kennt mich überhaupt jemand? Vielleicht ist Schreiben ein Ausdruck meiner Stille. In meiner Stille bin ich mir nie sicher. Es gibt mindestens eine Trilliarde Möglichkeiten, über etwas nachzudenken — eine Perspektive zu wählen. Wie sollte man da denn still sein können? Wenn ich still bin, bin ich tot. Ich glaube nicht an die Stille. Ich glaube ehrlich gesagt auch nicht daran, dass jemand, der meditiert, in dem Moment an nichts denkt. Vielleicht denkt er die ganze Zeit an „ich denke an nichts, ich denke an nichts, ich denke an nichts“ usw. Denkt er dann wirklich an nichts? In meiner Stille gibt es keinen Sinn. Sonst hätte ich doch das Bedürfnis, den Sinn zu kommunizieren. Mit wem rede ich hier eigentlich? Ich bin immer häufiger für andere still — doch innerlich noch immer laut. Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen für eine MittZwanzigerin. Meine Stille nicht zu kennen, lässt mich nach ihr suchen und das heißt: Ich bin am Leben.


VLA BURL

Vladimir Burlakov ist 26 Jahre alt, Schauspieler und lebt in Berlin.


ADIMIR LAKOV




Der leere Raum


TEXT & INTERVIEW: JONAS MEYER FOTOS: DAVID PAPROCKI

W W W.DAVIDPAPROCKI.COM

Es heißt, man könne aus jedem leeren Raum eine nackte Bühne machen. Nur zwei Personen brauche man und habe damit alles, was für eine Theaterhandlung notwendig sei – vorausgesetzt die eine Person sei Rezipient und die andere Akteur. Nun ist das mit den leeren Räumen so eine Sache in Berlin. In Zeiten knappen Wohnraums und steigender Mieten scheinen sie zu einer aussterbenden Gattung zu gehören. Doch wer in der Hauptstadt genau sucht, der findet sie noch, jene kleinen Oasen des Glücks, die genügend leeren Raum zu bieten haben, um als nackte Bühne akzeptiert zu werden. Die Hausnummer 79 in der Berliner Kastanienallee ist einer dieser exponierten Orte. Vor 118 Jahren entstand hier ein weitflächiger Fabrikkomplex, der bald Geburtsstätte war für industriell gefertigte Holzleisten. Unaufhörlich dröhnten die Maschinen, Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Es kamen zwei Weltkriege, eine Mauer wurde gebaut und 28 Jahre später wieder eingerissen. Nummer 79 überlebte und ließ sich 1994 von der Kunst erobern. Seitdem hört sie auf den

Namen „Dock 11“ und gehört zu den wohl spannendsten und charismatischsten Zentren für Tanz und Theater in Berlin, das zudem mit seinen 790 Quadratmetern genügend Fläche zur Entfaltung bietet. Das Raumproblem scheint also gelöst, eine Bühne wird sich leicht erschaffen lassen. Die Rezipientenrolle übernehmen wir, somit fehlt nur noch ein Akteur. Daher haben wir uns heute mit dem jungen Schauspieler Vladimir Burlakov verabredet, der uns bereits am Eingang von „Dock 11“ erwartet. Gemeinsam betreten wir das ehemalige Fabrikgelände, spazieren vorbei am großen Theatersaal und erreichen über eine Treppe den großen, lichtdurchfluteten Probenraum im ersten Stock. Angenehm still ist es hier, kein einziges Geräusch dringt von der belebten Kastanienallee nach innen. Vladimir lässt sich auf einem Stuhl in der Mitte des Saals nieder und lächelt. Instinktiv hat er gerade die Bühne eröffnet. Wir sind gespannt, was passiert. Vorhang auf!




„Im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, wie sehr man sich doch auf der Bühne öffnet und wie viel man von seiner eigenen Seele preisgeben kann.“

Jonas: Schon als kleines Kind wolltest du unbedingt Schauspieler werden? Erinnerst du dich noch, wie dieser Traum entstanden ist? Vladimir: Ich glaube, dafür gab es gar keinen konkreten Anlass. Dieser unbedingte Wunsch war eigentlich schon immer irgendwie präsent in meinem Leben. Interessanterweise hat meine Mutter ebenfalls in jungen Jahren angefangen, Schauspiel zu studieren. Sie musste dann aber leider ihr Studium abbrechen, weil sie mit mir und meiner Zwillingsschwester schwanger wurde. Deshalb sagt sie auch manchmal, dass ich ihren eigenen Traum weiterlebe, den sie selbst nie verwirklichen konnte – das ist wunderschön zu hören und trotzdem total traurig. Dabei hat meine Mutter nie in irgendeiner Form versucht, mich in diese Richtung zu schieben. Ganz im Gegenteil: Egal was ich für meine Schauspielkarriere unternommen habe, das geschah immer aus ureigenem Antrieb – und erzählt habe ich davon zuhause auch immer erst im Nachhinein. Seit ich denken kann war für mich immer absolut klar, dass Schauspielerei meine Kunstform ist. Jonas: Also hast du konsequent deine Kunst zum Beruf gemacht und bist professioneller Schauspieler geworden. Vladimir: Ja, allerdings scheue ich mich, diese Kunst profan als „Arbeit“ zu

bezeichnen, das würde meiner Leidenschaft dafür einfach nicht gerecht werden – obwohl man natürlich auch in diesem Beruf sehr viel arbeiten muss. Jonas: Du bist im Alter von neun Jahren mit deiner Familie von Moskau nach München gezogen. Hat dieser Umzug deinen großen Wunsch, Schauspieler zu werden, in irgendeiner Form geschmälert? Plötzlich warst du ja mit einer großen Sprachbarriere konfrontiert. Vladimir: Ehrlich gesagt war ich damals noch zu jung, um mir diese auch tatsächlich wichtige Frage zu stellen. Der Umzug selbst war für mich nicht problematisch. Wir hatten innerhalb der Familie immer ein so gutes und vertrauensvolles Verhältnis, dass ich nicht auf die Idee gekommen wäre, diese Entscheidung in irgendeiner Art in Frage zu stellen. Daher habe ich auch keine negativen Erinnerungen an die Anfangszeit in Deutschland, als man natürlich noch nichts hatte und sich erst einmal alles aufbauen und erarbeiten musste. Und ich weiß noch ganz genau, dass mein Traum von alldem unberührt blieb – selbst die große Sprachbarriere war innerhalb weniger Jahre überwunden. Jonas: Du hast einige Jahre später noch während deiner Schulzeit einen Theaterkurs bei den Münchener Kammerspielen belegt – dein erster Schritt in die Schauspielerei. Welche Erfahrungen hast du dort gesammelt?


Vladimir: Dieser Theaterkurs war für mich essenziell, weil dort Fragen behandelt wurden wie „Was ist überhaupt Theater?“. Ich weiß noch, wie ich gleich am ersten Tag zur Übung einen imaginären Schmetterling fangen musste – vor Publikum! Ich habe so viel geschwitzt wie noch nie zuvor in meinem Leben, weil ich damals zum allerersten Mal auf einer Bühne vor anderen Menschen spielen durfte. Das war ein unvergleichliches Gefühl. Jonas: Würdest du sagen, dass dir das Theater die Chance eröffnet hat, dich selbst besser kennenzulernen? Vladimir: Ja, absolut. Im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, wie sehr man sich doch auf der Bühne öffnet und wie viel man von seiner eigenen Seele preisgeben kann – auch wenn die verschiedenen Rollen jede Möglichkeit bieten, sich dahinter zu verstecken. Jonas: Nach deinem Schulabschluss im Jahr 2006 hast du insgesamt vier Jahre an der Otto-Falckenberg-Schule in München Schauspiel studiert. Wie würdest du deine Erfahrungen dort im Vergleich zum Theaterkurs beschreiben? Vladimir: Die Erfahrungen im Studium waren natürlich ungleich intensiver: Man hat sich quasi vier Jahre lang nur mit sich selbst beschäftigt.

Und man hat Rollen gespielt, die man wahrscheinlich so nie wieder spielen wird, weil sie so extrem weit von einem weg sind. Als Schauspieler strebt man ja immer nach dem Ideal, alles spielen zu können – aber dort kam man bei einigen Rollen wirklich an seine Grenzen. Irgendwann hatte ich aber das Gefühl, dass ich mich schauspielerisch immer mehr von dem entfernte, was ich eigentlich sein wollte – auch wenn ich mich durch das Studium nochmals besser kennenlernen konnte. Irgendwo in meinem Kopf gab es diesen Typus Schauspieler, der ich in Wirklichkeit nicht war. Erst als ich mehr Film gemacht habe und weniger Theater, habe ich wieder zu mir selbst gefunden. Und als ich nach zwei, drei Filmrollen erneut auf der Bühne stand, habe ich plötzlich gemerkt, dass ich dort ganz natürlich eine solche Kraft und Präsenz entwickelte, die ich vorher noch mühsam künstlich herstellen musste. Was mich außerdem am Schauspielstudium so beeindruckt hat, war die Tatsache, dass man sich mit so grundlegenden Fragen auseinandergesetzt hat wie „Was ist überhaupt Theater?“. Der englische Theaterregisseur Peter Brook hat dazu mal folgende These aufgestellt: „Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist.“




Vladimirs Stimme klingt sanft und unaufdringlich, wirkt aber gleichzeitig präzise und entschlossen. Seine Worte beziehen ihre Kraft aus dem Moment und hinterlassen dabei Fußspuren tiefer Überzeugung. Wir unterbrechen unser Gespräch für einige Augenblicke und lassen die Stille des großen Saals auf uns wirken. Kaum vorstellbar, dass hier einst lärmende Maschinen standen. Mit geschlossenen Augen versuchen wir, in unseren Gedanken das Bild jener Stahlgiganten nachzuzeichnen, die hier unaufhörlich im dieselgefütterten Takt ihre Arbeit verrichteten und die starken Mauern vibrieren ließen – doch nichts: Es will uns nicht gelingen. Vielleicht liegt es an der Präsenz des jungen Schauspielers, dass man einfach glauben mag, dieser Raum hätte noch nie eine andere Aufgabe gehabt als ein Ort des Theaters zu sein.

Jonas: Gibt es Rollen, die du besonders gerne spielst? Vladimir: Ja, ich liebe Charaktere mit einem doppelten Boden, die andere Menschen manipulieren, ja sogar böse sind. Wenn man eine echte Schauspielausbildung absolviert hat, verfügt man

über einen großen Vorteil: Man besitzt das notwendige Handwerkszeug, mit dem man sich einen Zugang zu Emotionen und Stimmungen verschaffen kann, die man im normalen Leben nie erleben und empfinden würde. Das hilft enorm, wenn man beispielsweise einen Mörder oder Vergewaltiger spielen muss. Hier kann man nicht so einfach auf vergleichbare eigene Erfahrungen und Emotionen zurückgreifen – man hat ja selbst weder gemordet noch vergewaltigt. Da ist es gut, über das entsprechende Wissen zu verfügen, das einen dazu befähigt, sich solch einer Rolle zu nähern und einen emotionalen Zugang zu einem derartigen Charakter zu finden. Jonas: Stellst du manchmal an dir selbst fest, wie du abseits von Film und Theater auch in alltäglichen Lebenssituationen spielst? Vladimir: Ja, das passiert in der Tat manchmal. Ich spiele dann zwar nicht unbedingt eine Rolle, aber ich reagiere trotzdem schauspielerisch auf andere Menschen. Es gibt einen Satz der Autorin Juli Zeh, der es auf den Punkt bringt: „Wir kommen mit einem anderen Menschen in Berührung und dieser Mensch schlägt in uns einen ganz bestimmten Ton an.“


„Ich liebe Charaktere mit einem doppelten Boden, die andere Menschen manipulieren, ja sogar böse sind.“

Ihrer Meinung nach fällt je nach Ton auch die Reaktion auf den Menschen ganz unterschiedlich aus. Diese Funktion ist bei mir ziemlich stark ausgeprägt. Jonas: Du hast nach deinem Studium fast nur noch als Filmschauspieler gearbeitet. Fehlt dir manchmal die Bühne? Vladimir: Ja, total! Meiner Meinung nach ist der Beruf des Theaterschauspielers auch fast ein ganz anderer – und dieser fehlt mir sehr. Nachdem ich mein Studium abgeschlossen hatte, erhielt ich zwar viele Angebote für Theaterengagements – allerdings von eher kleineren, regionaleren Häusern. Und ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich ganz gerne nach den Sternen greife und die größeren Häuser im Blick habe. Außerdem ist mir extrem wichtig, in welcher Stadt ich arbeite und lebe – und da ist Berlin im Moment unschlagbar. Ich merke direkt, wie sehr es mir fehlt, wenn ich mal für längere Zeit nicht da bin. Jonas: Wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass du von München nach Berlin gezogen bist? Vladimir: Nachdem wir 2012 in Marokko die Dreharbeiten zu „Eine mörderische

Entscheidung“ abgeschlossen hatten, flogen alle Kollegen zurück nach Berlin. Ich war der Einzige, der einen Flug nach München hatte – mit Zwischenstopp in Paris. Während alle anderen schon in der Luft waren, saß ich ganz alleine am überfüllten Flughafen von Casablanca und wartete scheinbar endlos darauf, dass endlich der Schalter der Air France geöffnet wurde. Da es keine freien Stühle und Bänke gab, saß ich auf dem Boden. Und als ich da so saß, fragte ich mich, warum ich hier auf dem Boden sitzen muss, wenn alle anderen schon fast in Berlin sind. Das war irgendwie ein Zeichen. Als ich zurück in München war, habe ich meine Sachen gepackt, meine Wohnung gekündigt und bin innerhalb einer Woche nach Berlin gezogen. Jonas: Der Film „Eine mörderische Entscheidung“, von dem du gerade gesprochen hast, basiert auf den Ereignissen der Nacht zum 4. September 2009, als auf Befehl eines deutschen Oberst bei Kunduz zwei Tanklastzüge bombardiert wurden und über 140 Menschen starben. Vor kurzem wurde dieses Dokudrama auf Arte und in der ARD zum ersten Mal gezeigt. Glaubst du, dass die Zuschauer sich mit so einen Film überhaupt ausreichend befassen? Schließlich sind sie schon seit Jahren durch die Medien mit dem Dauerthema Afghanistan-Krieg konfrontiert.




„Generell ist mir auch wichtig, dass mir eine Rolle ermöglicht, etwas Neues für mein Leben zu lernen.“

Vladimir: Man muss total unpolitisch und auf den Kopf gefallen sein, wenn eine solche Geschichte spurlos an einem vorübergeht. Es ist einfach wichtig, dass man sich mit solchen Themen befasst, egal ob es jetzt speziell um diesen Film geht oder ganz allgemein um andere Dinge, die um einen herum passieren. Ich selbst habe an mir festgestellt, dass ich innerhalb der letzten Jahre viel politischer und politikinteressierter geworden bin. Auch wenn ich seit 2008 keinen Fernseher mehr habe, nutze ich im Internet die Mediatheken, um hauptsächlich Politiksendungen zu schauen. Ich habe mich übrigens sehr gefreut, als die Anfrage zu „Eine mörderische Entscheidung“ kam. Das würde ich allerdings nicht auf den politischen Aspekt zurückführen – es ging mir vielmehr um die spannende Rolle eines jungen deutschen Soldaten im Afghanistan-Krieg, der nicht weiß, was ihn erwartet. Außerdem fand ich es spannend, mit so wundervollen Kollegen wie Axel Milberg, Matthias Brandt oder Ludwig Trepte zusammenarbeiten zu dürfen. Jonas: Verändert die intensive Beschäftigung mit solch einem Thema ganz allgemein den Blick auf die Dinge? Vladimir: Wenn man in der Rolle steckt, setzt man sich natürlich intensiv mit dem Thema auseinander. Das ist während der Dreharbeiten ja auch dauerpräsent.

Ist der Dreh abgeschlossen, streift man die Rolle aber wieder ab. Gerade für Schauspieler ist das ein wichtiger Schutzmechanismus, um im Kopf wieder frei zu sein für die nächste Rolle. Auch wenn es sich dabei um einen etwas ungleichen Vergleich handelt: Würde ein Arzt das persönliche Schicksal eines jeden Patienten zu sehr an sich heranlassen, würde er wahrscheinlich nach kurzer Zeit auch nicht mehr in der Lage sein, seine Arbeit ordentlich zu verrichten. Dazu kommt, dass die Tragödie für den Schauspieler im Gegensatz zum Arzt etwas Tolles ist, weil sie eine besondere Anforderung an sein Spiel darstellt. Das beste Beispiel hierfür ist das Drama „Marco W.“: Die Verfilmung des persönlichen Schicksals dieses jungen Mannes war für mich als Schauspieler eine interessante Herausforderung. Jonas: Was war für dich das Besondere an dieser Rolle? Vladimir: „Marco W.“ war eine absolute Hauptrolle, bei der ich schauspielerisch die gesamte Entwicklung der Figur darstellen durfte und von Hoffnung über Resignation bis Verzweiflung einen großen Bogen spannen konnte. Bei kleineren Rollen, bei denen die persönliche Drehzeit oft auf sechs, sieben Drehtage beschränkt ist, ist so eine ausführliche Darstellung der Figur natürlich nicht möglich.


Außerdem waren mir bei dieser Figur die persönliche Situation und Emotionalität so nah, dass ich manchmal das Gefühl hatte, gar nicht wirklich spielen zu müssen. Trotzdem war es physisch und psychisch mit das Intensivste, was ich bisher gemacht habe. Dazu kommt, dass von Marco in den Medien nur ein einziges Foto existierte, weshalb ich in meiner Interpretation der Rolle relativ frei war und keine Verantwortung für Mimik, Gestik und Habitus übernehmen musste. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn man so jemanden wie Romy Schneider spielen würde. Dafür war aber die Verantwortung gegenüber dem realen Marco umso größer, der am Set natürlich anwesend war und sicherstellte, richtig dargestellt zu werden. Jonas: Was treibt dich als Schauspieler an? Vladimir: Wahrscheinlich genau dasselbe, das jeden Menschen antreibt, nur in einem etwas anderen Aggregatszustand. Mich inspirieren zum Beispiel einige Kollegen sehr, allen voran Lars Eidinger, der ein großartiger Schauspieler ist. Ich schätze seine direkte und klare Art. Generell ist mir auch wichtig, dass mir eine Rolle ermöglicht, etwas Neues für mein Leben zu lernen oder durch eine Situation zu gehen, die ich vorher so noch nicht kannte. Das ist ja auch das Tolle an diesem Beruf: Man kann viele Leben leben, die man sonst nicht leben könnte.

Manchmal passt die Rolle auch so gut, dass sie fast wie eine Therapie wirkt, weil man in ihr etwas ausdrücken kann, das man so niemals rauslassen würde. Darüber hinaus liebe ich es, neue Menschen kennenzulernen und sie beim ersten Aufeinandertreffen bis ins Detail zu analysieren. Dann schwirrt mir nur diese eine Frage durch den Kopf: „Wer genau bist du, der mir da gerade gegenübersteht?“ Ich muss dieses Röntgen auch gar nicht aktiv betreiben, meine Umwelt fließt quasi in mich hinein. Jonas: Du hast bereits mit den größten Namen gedreht, die die deutsche Schauspielerlandschaft so zu bieten hat: Hannelore Elsner, Veronica Ferres, Joachim Król, Katja Riemann, Armin Rohde – um nur einige zu nennen. Vor kurzem hast du außerdem mit Götz George die Schimanski-Episode „Loverboy“ abgedreht, die in wenigen Wochen ausgestrahlt wird. Was nimmst du aus der gemeinsamen Arbeit mit diesen Persönlichkeiten mit? Vladimir: Das Schöne ist, dass ich bei vielen Kollegen immer wieder positive Überraschungen erlebe, die mir natürlich in Erinnerung bleiben. Außerdem merke ich, dass ich mich vor allem mit jenen Schauspielern identifiziere, bei denen ich große Übereinstimmungen mit mir selbst feststelle – sei es jetzt charakterlich oder was die Art und Weise angeht, wie sie spielen. Das gibt mir sehr viel Kraft.




„Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl‘ ihm von deinen Plänen.“


Jonas: Gibt es eine Figur, die du gerne einmal spielen würdest? Vladimir: Wie ich bereits erwähnt habe, sind die bösen Charaktere ja generell die spannenderen: Paranoide, Schizophrene, Psychopathen – da hat man beim Spielen einfach mehr Fläche. Aber eigentlich ist es viel schwieriger, absolute Normalos zu spielen, weil man da gar nichts greifen kann. Das ist eine echte Herausforderung. Ich spiele eine so ähnliche Figur übrigens bei meinem aktuellen Projekt „Nachthelle“, einem Mystery-Thriller von Florian Gottschick, den wir gerade in Brandenburg drehen. Meine Figur des Stefan ist ein ganz normaler Typ, der nicht wirklich über seine Gefühle redet und insgesamt mehr beobachtet als agiert. Diese Rolle ist weitaus schwieriger zu spielen als beispielsweise die des Autisten Philipp von Nordeck in „Verbrechen nach Ferdinand von Schirach“, in die ich im letzten Jahr geschlüpft bin. Es gibt da einfach nichts in der Figur, hinter dem man sich verstecken könnte. Jonas: Bist du auf eine gewisse Art und Weise gläubig? Vladimir: Ja, wahrscheinlich schon. Daher weiß ich auch nicht, was mir noch alles mit auf den Weg gegeben ist und wie mein großer Lebensplan letztendlich aussieht.

Es gibt ja den schönen Satz: Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl’ ihm von deinen Plänen. Eigentlich bin ich total glücklich mit allem, wie es ist. Denn ich weiß ganz genau, dass ich auf der Welt bin, um Schauspieler zu sein und zu spielen. Das ist der einzige Grund, warum es mich gibt.

Aus dem Innenhof dringen einige Stimmen in den ersten Stock. Wir öffnen ein Fenster und schauen nach unten: Vor dem großen Theatersaal im Erdgeschoss wurde gerade die Abendkasse geöffnet. Die ersten Zuschauer der heutigen Vorstellung sind eingetroffen und sammeln sich vor dem Eingang des Theaters. Auf unseren Gesichtern liegt ein Lächeln. Wer hätte vor 118 Jahren wohl damit gerechnet, als dieser Raum geschaffen wurde? Wir verlassen den Probenraum und schlendern zum Ausgang. Für einen Moment scheint es, als hätten sich die alten Fabrikmauern von ihren Plätzen erhoben und würden munter Beifall klatschen. Dabei wirken sie zufrieden und erleichtert. Es braucht hier keine dröhnenden Maschinen mehr, um den leeren Raum zu füllen. Nur einen guten Schauspieler.


MA MCK

Mark McKee is a 19-year-old amateur filmmaker living in Melbourne, Australia.


ARK KEE




The ultimate gift


TEXT: MARK MCKEE PHOTO: JANE MCNAUGHTON

Behind the thick layers of paint I can see that there is in fact a wall behind everything. Looking down the lane way faces look at me through the paint, each one of them with pensive sadness and happiness and all the rest. Perhaps melancholy is the best word. For the explosion of colour is not loud, perhaps I can hear rain drops falling off the tops of the buildings, trickling down through the alcoves of windows and sills and displaced bricks. I feel as if I am in the wall, part of this melancholy silence, watching the strangers walk by me. I sit there for days, watching the strangers as they look at me and laugh and smile and look away. Oh how they look away. Perhaps I am asleep, perhaps this silence is a dream. Perhaps this silence is in fact noise, a deafening silence. Perhaps I am in a dark room screaming at the top of my lungs. I feel, as I am part of this wall of silence, that I am merely an observer, unable to affect or have an effect on those that I witness. I feel as if I am being dragged back into the silence, into the blinding darkness.

Living through a lens, unable to affect. Witnessing destruction and sadism and brutality, yet I am silent. My eyes bleed ice, they are frozen in awe of the spectre that occurs around me. Perhaps there is pleasure to be had in the silence, perhaps silence could in fact be my remedy. Perhaps, perhaps. Perhaps noise is poisonous. Maybe, just maybe in this silence‌ maybe there is focus. Maybe my silence is not deafening, piercing or at all a burden. Maybe silence, maybe observation is gratifying. I am not like the others. I can understand, I can feel, I can empathise with them. Maybe silence is the ultimate perfection. The ultimate observation. I look over my shoulder into the abyss of silence, and realise that perhaps this is the ultimate gift. Perhaps.


W W W.KIMFREE.NE T

K FRE

Kim Free is a 29-year-old m usician living in Los Angeles, California.


KIM EE





Quiet minds TEXT: KIM FREE FOTO: ANDREW SEITZ

Is it possible to have a silent mind? If there were a way to ‘turn off’ my thoughts and still stay focused, I’d love to give it a try. Thoughts can get so loud. Over thinking can be irresistible, even though simple thoughts that arise in a quiet moment are often the most helpful. As I give more and more time to listen to myself, the easier and faster it becomes. A strong inner voice is so valuable, because when things are happening, they are usually happening fast. Pulling out of that momentum, even for a few seconds to think twice, can be just too difficult to remember. We love to be stimulated, and who wants to stop? I love caffeine, I love my phone, and I love to be busy. Especially when I’m busy with things I care about. It feels great to focus on relationships and projects that are truly satisfying, but even so, passions can create the

deepest wounds. Allowing our inner self to guide us can lead to the most spectacular failure or the sweetest happiness. Sometimes both at the same time! It’s a gamble. But either way, life can be so beautiful. Everyone wants to be satisfied, and when our surrounding reality fulfills who we truly are inside, it’s the best feeling. I’ve found the best way for me to stay in touch with who I am, my ideals, and my dreams is to take time to STOP, slow down, and get silent. This calms the thoughts racing through my head, and puts me in touch with that silent self that feels what is right. My inner voice always guides me in the right direction, but it needs to be loud enough to hear, and strong enough to trust. When I quiet my mind, my inner voice is strongest. Like watching balloons float up to the sky, or swimming underwater in a pool, silence frames reality, accenting everything we are in the middle of.


BEN IVOR

Ben Ivor y ist Musiker und lebt in Berlin.


N ORY

W W W.BENIVORY.COM






Aus Elfenbein


TEXT & INTERVIEW: JONAS MEYER FOTOS: STEVEN LÜDTKE W W W.STEVENLUEDTKE.DE

Es gibt Orte in Berlin, die brauchen etwas Zeit, um herauszufinden, wer sie wirklich sind. Manche verändern sich dabei so stark, als führten sie ein neues Leben. Gewiss, das Ganze geht nicht ohne Mut. Doch sind sie einmal angekommen in ihrem neuen Ich und können sein, was sie sein wollen in der großen Stadt, strahlen sie oft heller, als man es je zuvor vermutet hätte. Das „Prince Charles“ am Moritzplatz in Kreuzberg ist einer jener Orte. Dass der Club einmal ein öffentliches Schwimmbad war, daraus macht er keinen Hehl. Warum auch, schließlich sind die alten grünen Fliesen und das bunte Wasser-Mosaik Teil seiner ganz eigenen Identität. Sie geben ihm, woran es heutzutage doch so Vielem und so Vielen mangelt: einen eigenen Charakter.

Plötzlich wird es still, Spannung liegt in der Luft: Ein junger Mann hat die Bühne betreten. Mit einem Mal ist das goldene Deckenlicht dem Elfenbeinweiß seines futuristischen Kostüms gewichen und hat sich in die Dunkelheit des tiefen Raums zurückgezogen. Die Musik startet, der junge Mann beginnt zu singen: „We are the rigtheous ones.“ Es ist das Release-Konzert seines neuen Albums. Drei Wochen später. Wir sind an den Ort zurückgekehrt, an dem sich an jenem Freitagabend so viele Menschen versammelten, um der Stimme des jungen Mannes zu lauschen. Doch bis auf uns und diesen jungen Mann, der sich Ben Ivory nennt, ist heute niemand hier.

Es ist Freitagabend, mitten im August, mitten im „Prince Charles“. Eine Menschentraube wächst auf der Tanzfläche zwischen Mischpult und der kleinen Bühne, die sich neben den Umkleidekabinen des ehemaligen Hallenbads aufbaut.

Es herrscht eine seltsam-angenehme Stille. Wie vor drei Wochen ist das ehemalige Hallenbad auch diesmal von goldenem Licht erfüllt, das allerdings erst jetzt im menschenleeren Raum den vollen Charme des Ortes offenbart – erst jetzt, in der tiefen Stille.

Immer mehr Leute drängen sich in den kleinen Club, die Menschentraube wächst und wächst. Über ihre erwartungsvollen Gesichter legt sich ein Teppich aus goldenem Licht, der aus unzähligen kleinen Lampen von der Decke herabschwebt.

Wir lassen uns auf einer kleinen Mauer nieder, die früher wohl als Beckenrand fungierte. Ben leistet uns Gesellschaft und lässt ein freundliches Lächeln über sein Gesicht wandern.




„Musik war für mich eine eigene Welt, in die ich mich flüchten konnte, wenn ich die Realität mal nicht so prickelnd fand.“

Jonas: Du hattest bereits mit 14 Jahren deine eigene Band – ein gar nicht so ungewöhnliches Alter, wenn man auf die vielen jungen Talente schaut, die sich in Berlin tummeln. Liegt es alleine an dieser Stadt, dass man schon in jungen Jahren von dieser Kreativwelle mitgerissen wird? Ben: Berlin ist auf jeden Fall ein ideales und fruchtbares Pflaster, wenn man sich kreativ betätigen will. Man kommt hier mit so vielen unterschiedlichen Kulturen und künstlerischen Sichtweisen in Berührung, dass man früher oder später ganz automatisch in die Situation kommt, selbst aktiv zu werden und seiner Kreativität freien Lauf zu lassen. Meine eigene künstlerische Entwicklung ist aber nur zur Hälfte auf dieses ganz besondere Berlingefühl zurückzuführen, für die anderen 50 Prozent ist meine Familie verantwortlich. Da mein Vater Berufsmusiker war, meine Großmutter einen Chor leitete und meine Mutter sich intensiv mit Musik und Theater befasste, wurde ich bereits als Kind künstlerisch sehr geprägt. Mir wurde quasi das Bedürfnis in die Wiege gelegt, mich in dieser Welt auf eine kreative Art und Weise auszudrücken.

Jonas: Das heißt, dir war als Kind schon klar, was du einmal werden willst? Ben: Ich wollte schon immer Musiker werden und die Menschen unterhalten – mit gerade einmal drei Jahren habe ich meiner Mutter gesagt, dass ich später einmal Entertainer werden will. Musik war für mich eine eigene Welt, in die ich mich flüchten konnte, wenn ich die Realität mal nicht so prickelnd fand. Michael Jackson, David Bowie und Madonna haben damals einen kompletten musikalischen Kosmos kreiert, in den man eintauchen und sich fallen lassen konnte. In diesem Kosmos spielten Musik und visuelle Darstellung gleichermaßen eine wichtige Rolle, diese Kombination hat mich sehr fasziniert und inspiriert. Mein Ziel war immer total klar: Ich wollte ebenfalls eine derartige Welt erschaffen, in die sich andere Menschen zurückziehen können und die es ihnen ermöglicht, phantasievoller und feingeistiger zu sein, als es ihnen im normalen Leben gestattet ist. Leider war mir der Weg zu meinem Ziel alles andere als klar. Zuhause musste ich die unschöne, aber wichtige Erfahrung machen, dass ein Leben als Künstler nicht immer leicht ist und man schnell in existenzielle Nöte geraten kann.


Es gab manchmal Zeiten, in denen der Kühlschrank einfach leer blieb. Daher nahm ich mir vor, ganz verschiedene Kreativbereiche kennenzulernen und zu durchlaufen, um mir überall die Skills anzueignen, die ich brauche, um später als Künstler unabhängig und erfolgreich zu sein – und um meinen ganz eigenen Kosmos aus Musik und Visualität kreieren zu können. Jonas: War dies der Grund, warum du dich nach deinem Schulabschluss für eine klassische Fotografenausbildung entschieden hast? Ben: Ich habe eigentlich schon immer nebenbei fotografiert und mit 15 sogar den Deutschen Jugendfotopreis gewonnen. Ich wusste also, dass ich in dieser Disziplin über ein gewisses Talent verfüge, und habe mich daher entschlossen, beruflich in einem Kreativbereich zu starten, der für mich nicht ganz so unbekannt war. Diese Etappe meines Lebens war für mich total wichtig, weil ich mich dadurch ein Stück weit unabhängig machen und von zuhause abnabeln konnte: Ich hatte meine erste eigene Wohnung und konnte mir mein erstes eigenes Musikinstrument leisten – eine Gitarre.

Denn trotz meiner Ausbildung habe ich weiterhin Musik gemacht: Tagsüber wurde gearbeitet und nachts geprobt. Jonas: Und wie ging es nach der Ausbildung weiter? Ben: Ich habe vier Jahre in einem Fotolabor gearbeitet. Dort habe ich richtig viel gelernt und konnte wichtige Kontakte knüpfen, für die ich heute sehr dankbar bin. In diesem Fotolabor habe ich viele bekannte Fotografen kennengelernt, unter anderem auch Sven Marquardt. Zu ihm hat sich im Laufe der Jahre eine enge Freundschaft entwickelt, so hat er meinen Weg ein Stück weit begleitet. Sven lebt wie ich dieses Berlingefühl: Er bringt es durch seine Fotografie und eigene Person ähnlich rüber wie ich durch meine Musik und meine Projekte. Das Berghain hat für mich dabei ebenfalls eine besondere Bedeutung. Ich habe meine halbe Jugend dort verbracht, dieser Club hat mich total beeinflusst. Daher spielt der Titel meines Albums „Neon Cathedral“ auch in gewisser Weise auf diesen außergewöhnlichen Ort an: Er drückt den Spirit aus, der dort gelebt und gefeiert wird.






Jonas: Das Berghain ist ein Ort, der einerseits sehr an den Kräften zehren kann und andererseits gleichzeitig die Gabe besitzt, einen glücklich zu machen – jedenfalls für einige Stunden. Ben: Absolut – aber wie in jedem Club kommt es auch dort immer auf dich selbst beziehungsweise deine Einstellung an. Wenn du an einem Abend von vorneherein schon nicht so gut drauf bist, kann es sein, dass dir dort deine gesamte Energie gezogen wird. Dennoch hat das Berghain im Vergleich zu anderen Clubs etwas ganz Besonderes: Es wirkt fast meditativ und spirituell. Du kannst dich dort wirklich frei machen von allem, wenn du mit einer positiven Motivation losziehst. Und wenn du wieder gehst, bist du entweder absolut beflügelt oder total leer. Jonas: Wie würdest du dieses Berlingefühl beschreiben, von dem du eben gesprochen hast? Ben (lacht): Als eine gewisse StraßenköterÄsthetik. Berlin ist sehr roh und dirty,

dabei ständig in Bewegung. Die Stadt kommt nie an und wird nie fertig, sie befindet sich in einem unaufhörlichen Entwicklungsprozess – und irgendwie fühle ich mich als Mensch und Künstler genauso.

Wir erheben uns vom Beckenrand und schlendern ein wenig durch das alte Hallenbad. Im Eingangsbereich wurde das frühere Schwimmbecken zur Bar umfunktioniert, die das stimmungsvolle Herz des Clubs bildet. Über die Wand im Eingangsbereich erstreckt sich ein riesiges Mosaik mit Wasserund Fischmotiven. Schnell verlieren wir unseren Blick in den vielen bunten Mosaiksteinen und haben leise den Hall von Stimmen und das Plätschern des Wassers im Ohr. Ben lässt sich auf der kleinen Bühne am Kopf der Tanzfläche nieder. Über ihm dreht sich langsam eine Discokugel und lässt die vielen kleinen Deckenlichter gemütlich durch den Raum tanzen.

Jonas: Du hast dich im Laufe der Jahre mehr und mehr von deiner damaligen Band „SplinterX“ gelöst und dich zuneh-


„Das Berghain hat im Vergleich zu anderen Clubs etwas ganz Besonderes: Es wirkt fast meditativ und spirituell.“

mend auf deine Karriere als Solokünstler konzentriert. Was hat dich zu dieser persönlichen Veränderung bewegt? Ben: Ich war insgesamt sieben Jahre lang Teil dieser Band, die eher rohe und düstere Musik mit Hardrock-, Darkund Gothic-Einflüssen gemacht hat. Im Jahr 2007 – damals arbeitete ich noch im Fotolabor – haben wir sogar ein gemeinsames Album veröffentlicht. In diesem Jahr fand in Berlin auch die erste „Mercedes-Benz Fashion Week“ statt. Ich erhielt die einmalige Chance, den Soundtrack für die Kollektion des jungen Berliner Modedesigners Kilian Kerner zu schreiben. Diese Kooperation war so erfolgreich, dass wir das Ganze insgesamt fünfmal wiederholt haben. Während dieser Zeit wurde der elektronische Einfluss auf meine Kompositionen immer größer, ich habe mich musikalisch sehr verändert. Ich konnte meinen eigenen Musikstil definieren und wurde künstlerisch zunehmend unabhängiger von „SplinterX“. Im Jahr 2009 wurde ich bei einer Kilian Kerner Show von einem Major Label entdeckt, wodurch auch andere

Labels plötzlich auf mich aufmerksam wurden und mir diverse Angebote unterbreiteten. Und wie das im Leben so ist, entscheidet man sich nach reiflicher Überlegung für die insgesamt beste und sinnvollste Offerte. Jonas: Das heißt, du konntest dich nun voll und ganz auf deine Musik konzentrieren? Ben: Ganz genau! Wenige Monate später, Anfang 2010, starten schon die Aufnahmen zu meinem ersten eigenen Album. Mit der Produktion waren wir insgesamt drei Jahre beschäftigt. Aufgenommen haben wir in Schweden, gemastert in New York und gemixt im Berliner Hansa Studio. In diesen drei Jahren sind insgesamt 70 Songs entstanden, von denen es letztendlich 13 auf die Platte geschafft haben. Jetzt, wo das Soloalbum fertiggestellt und auf dem Markt ist, habe ich das Gefühl, an einem neuen Punkt meines Lebens angekommen zu sein. Eine weitere Etappe ist geschafft – und ich bin sehr gespannt, wohin mich mein weiterer Weg noch führen wird.








„Ben Ivory ist zu mir geworden und nicht umgekehrt.“ Jonas: Auf deiner Website beschreibst du dich selbst mit dem Begriff „Saviour“. Was genau willst du damit ausdrücken? Ben: Man darf das nicht missverstehen: Ich als Newcomer will mich natürlich nicht als den großen musikalischen Heilsbringer darstellen, das soll der Begriff absolut nicht transportieren. „Saviour“ ist vielmehr im Sinne von Bewahren und Fortführen zu verstehen. Man kann Popmusik ja generell nicht neu erfinden, sondern lediglich bei dem ansetzen, was andere einst erschaffen und kreiert haben. Ich liebe Popmusik sowie ihre großen Vertreter der 80er und 90er total und wollte daher ihre Ideen einfach weiterentwickeln. Meiner Meinung nach gibt es in Deutschland leider nichts Vergleichbares. Die musikalische Landschaft hier wird dominiert von deutschsprachigen Singer/Songwritern. Die machen alle tolle Musik und haben daher auch ihre absolute Berechtigung, aber mir fehlt hier einfach dieses internationale EntertainmentElement eines klassischen Pops, der trotzdem Tiefgang hat und anknüpft an das, was sich in diesem Genre in den späten 70ern und frühen 80ern entwickelt hat. Ich glaube, dass man die Popmusik jener Zeit auch heute noch anbieten kann, wenn man sie nur zeitgemäß interpretiert. Jonas: Viele Menschen verbinden Popmusik nicht unbedingt mit inhaltlicher Tiefe. Diese Tiefe suchen sie eher beispielsweise im Indie-Bereich. Hat die heutige Popmusik deiner Meinung nach ihre Inhalte verloren?

Ben: Ich würde sagen ja – auch wenn es sich dabei um eine sehr subjektive Einschätzung meinerseits handelt. Ich finde, die Popmusik ist insgesamt sehr flach geworden. Ich mag zum Beispiel die neue Single von Lady Gaga sehr, das ist eine super Nummer. Der Song wirkt authentisch und transportiert sicherlich ihre Seele – dennoch gibt er inhaltlich für mich nicht wirklich viel her. Mir ist es bei Ben Ivory wichtig, dass der Fokus viel stärker auf dem Inhalt bzw. den Lyrics liegt und dabei das unterstreicht, was neben dem musikalischen Part passiert. Aber auch dieses Empfinden ist wieder total subjektiv: Es gibt bestimmt den ein oder anderen, der sagt, das alles sei absolut naiv, was ich mache, und klinge total wie Schlager. Man weiß ja nie, wie die Meinungen so sind. Damit muss man einfach leben. Ich glaube trotzdem, dass ich mich auf dem richtigen Pfad befinde. In Deutschland wird so viel kopiert und Arbeit nach Plan verrichtet, dass man geradezu Musik vermisst, die neue Wege geht und auch einmal etwas riskiert – wie etwa neue Stile in der klassischen Popmusik auszuprobieren und zu etablieren. Bisher ist sie hier ja eher langweilig und klingt wie Plastik. Mit „Neon Cathedral“ habe ich daher versucht, Elemente vieler verschiedener Musikrichtungen in den Popsound des Albums zu integrieren und eingängige Hooklines zu erzeugen. Ich hoffe, damit konnte ich der allgemeinen musikalischen Entwicklung in Deutschland ein wenig entgegenwirken und an die Popmusik von früher anknüpfen.


Jonas: Dabei wirkt die Visualität von Ben Ivory ebenfalls wie eine Interpretation jener goldenen Zeit der Popikonen... Ben: Für mich war die Bühne immer schon mit Performance verbunden. Meine Großmutter, die nicht nur einen Chor leitete, sondern auch über einen gewissen Theaterbackground verfügte, hat mir früh bestimmte Skills mit auf den Weg gegeben. Sie sagte einmal zu mir: „Junge, du kannst nicht einfach nur auf die Bühne gehen und dein Liedchen runterrattern. Du musst den Leuten auch etwas bieten können und sie irgendwo abholen. Du hast Arme und Beine, also benutze sie!“ Sie hatte Recht, denn es ist tatsächlich so, dass man die Wirkung eines Songs durch Bewegung, Kostüm und Make-up wesentlich unterstreichen kann. Für meine Musik ist das umso wichtiger, da sie emotional ist und im besten Fall unter die Haut gehen soll. Jonas: Wie ist die Kunstfigur Ben Ivory entstanden, wie hat sie sich entwickelt? Ben: Diese Geschichte ist eigentlich etwas schizophren. Als Kind und Jugendlicher war ich immer sehr unsicher und wenig selbstbewusst. Ich fand mich selbst nie so toll, cool oder schön. Die Figur Ben Ivory gab mir damals einfach die Möglichkeit, mir ein Alter Ego zuzulegen und dadurch zu mehr Selbstbewusstsein zu finden. Wie Oscar Wild schon sagte: „Gib ihm eine Maske und er wird dir die Wahrheit sagen.“ Mittlerweile bin ich aber an einem ganz anderen Punkt angelangt.

Ben Ivory ist zu mir geworden und nicht umgekehrt. Daher ist es auch keine Kunstfigur mehr, sondern ein Teil meiner selbst. Natürlich ist Ben Ivory vom Look her nach wie vor sehr artifiziell. Dennoch steht dahinter eine authentische, greifbare Person mit einer menschlichen Seele, die das, was sie sagt und singt, auch so meint – eine Show ohne Fassade.

Ben verlässt die kleine Bühne und lächelt zufrieden. Dabei spiegeln sich die vielen goldenen Deckenlichter in seinen Augen, die von der Discokugel zum Tanzen gebracht wurden. Als wir uns von dem jungen Musiker verabschieden wollen, flackern hinter dem Mischpult aus der tiefen Dunkelheit drei rote Leuchtstoffröhren auf, die zu einer Herzform gebogen sind und nun im Sekundentakt pulsieren. Es wirkt, als hätte Ben das Herz des alten Schwimmbads gewonnen, das sich äußerst wohl zu fühlen scheint in seinem neuen Leben als Club „Prince Charles“. Es gibt eben Orte in Berlin, die brauchen etwas Zeit, um herauszufinden, wer sie wirklich sind. Doch sind sie einmal angekommen in ihrem neuen Ich und können sein, was sie sein wollen in der großen Stadt, strahlen sie oft heller, als man es je zuvor vermutet hätte – und mindestens so hell wie Elfenbein.




MA PANA

Matei Panainte is a 17-year-old student, m usician and photo ar tist living in Bucharest, Romania.


W W W.FACEBOOK.COM/WNISONPHOTOGR APHY

ATEI AINTE




Uni— verse of silence


TEXT & PHOTO: MATEI PANAINTE

Sometimes I feel overwhelmed by things. They gather. Therefore to have my silence, just mine, it’s important, in some moments even essential. When I refer to this silence it means that multitude of things which naturally dissolve and grow in this own silence.

All these create new emotions, in harmony with my life, with other sounds, with other images. Honestly, my ways of calming down are part of my creation process of my music and my photography. The way up there is grueling but full of serenity.

It’s about perspectives, the way in which some facts get or lose value. For me, when I search for silence, the music gets value which is hard to underestimate, this being the center of my relaxation.

I started few years ago, I continued, I continued and in this way they became defining elements for my personality. I created an universe of silence, unique and personal.

And here I refer to an underground music. I listen to all kinds of weird songs because this helps me to escape from the normal of normality.

To get there I need to be alone, by the side of someone else or something else my silence would gain a different color, a different meaning, ambivalent.

Just because this music it’s so different, it makes me see the things from the other angle, offering a special flavor to my silence. In this kind of states the imagination is unleashed and pushed by the music, the apparently small things, insignificant, become essential... the rays of the sun over skin... the smell of the morning near tea... the lights of the city reflected through the room’s walls... the room’s walls reflected over skin... the mornings of the city smelling... tea of the sun’s rays...

My silence... My silence is continuously influenced by the progress in music and in photography, by the moments of clarity of the mind and soul, by the sunset which puts me in shadow, by the sunset of the sky, by the sunset from the vinyl... all these while I’m listening to music... For the time being it’s an accomplishment of my existence. Sound. Image. And these bring me silence.


JU HEL

Julia Hell ist 27 Jahre alt, Grafikdesignerin und lebt in Berlin.


W W W.JULIA-HELL.COM

ULIA ELL




TEXT: JULIA HELL

FOTO: JANNIS HELL

Meine Stille ist Inspiration. Meine Stille ist erfüllt von visueller Kommunikation. Oft ist Stille Luxus, eine Oase fern des Alltags und des Akustischen, in der ich mich mit Kommunikationsformen und Ausdrucksweisen anderer Menschen beschäftige und mich von ihnen begeistern und verzaubern lassen kann. Diese stille Kommunikation kann bildlich sein, gezeichnet, gemalt oder fotografiert. Sie kann wörtlich sein oder skulptural. Man kann sie sehen und anfassen oder zumindest ihr Gefäß berühren. Meine Stille ist voller Emotionen. Oft ist sie eindrucksvoll, mal traurig, mal fröhlich, spannend oder kompliziert. Wenn sie da ist, habe ich das Gefühl,

mich aufzulösen und in ihr unterzugehen, um dann ihre kleinen und großen Schätze zu finden. Diese Schätze sind Ideen. Sie wachsen aus den Dingen, die ich in der Stille finde. Mache kann ich mitnehmen, andere muss ich zurücklassen und wieder andere entpuppen sich als Trugbilder. Meine Stille zu finden ist manchmal nicht einfach. Es bedarf besonderer Konstellationen in Raum und Zeit, um Sie zu fassen. Sie verlangt stets nach Abstand zum Gewohnten, nach Neugier, nach Offenheit und Erkenntnisdrang, um sich entfalten zu können. Wenn ich ihr all das bieten kann, dann schenkt sie mir ihre Essenzen und aus meiner Stille wird Kommunikation.


Stille Kommu— nikation


W W W.CDREIK AUSS-SCHAUSPIELER.DE

FRAN BRAND

Franziska Brandmeier ist 20 Jahre alt, Schauspielerin und lebt in Hamburg.


ANZISKA DMEIER




Innere Stimme


TEXT & INTERVIEW: JONAS MEYER FOTOS: STEVEN LÜDTKE W W W.STEVENLUEDTKE.DE

Von manchen Ecken Deutschlands scheint die große weite Welt zum Greifen nah. Wer hier verweilt, den packt die Sehnsucht – und Abenteuerlust beflügelt den Verstand. Der Grasbrookhafen im Herzen Hamburgs ist eine dieser Ecken. Hier an der Norderelbe wird der volle Blick auf das gelenkt, was so gern als Tor zur Welt bezeichnet wird: Dutzende Ozeanriesen aus aller Herren Länder legen an und übergeben ihre Fracht an ein Heer von Kränen, die flink wie Spinnen durch den Hafen krabbeln. Sind die Schiffe neu beladen, brechen sie auf in Richtung Ferne und verschwinden irgendwann am Horizont. Vor der Ubahn-Station Baumwall nordöstlich der Hafencity treffen wir die junge Schauspielerin Franziska Brandmeier. Nach einem herzlichen Hallo schlendern wir gemeinsam durch die Speicherstadt, laufen vorbei an der Elbphilharmonie und zahlreichen Kreativagenturen, Restaurants und Cafés, die alle hier ihr hanseatisches Zuhause gefunden haben. Nach einigen Minuten erreichen wir den Dalmannkai am Grasbrookhafen und

lassen uns auf einer kleinen Aussichtsplattform direkt am Wasser nieder. Das Tor zur Welt ist gut besucht an diesem Sonntagnachmittag, und so genießen wir mit vielen anderen den Mix aus rauem Wind und warmer Sonne. Möwen kreischen, die Luft schmeckt salzig und nach Freiheit. Spätsommer in Hamburg – wie wunderschön!

Jonas: Du hast vor wenigen Monaten dein Abitur gemacht. Stehen in deinem Leben jetzt alle Zeichen auf Schauspielerei? Franziska: Mit der Schule sind ziemlich viele Strukturen in meinem Leben weggefallen, jetzt muss ich mich erst einmal selbst finden. Auf jeden Fall ist die Schauspielerei ein sehr wichtiger Teil von mir, ich liebe sie sehr. Sie stützt mich und ist eine Konstante in meinem Leben, die mir über die Schulzeit hinaus geblieben ist. Es wird sich einfach zeigen, wie sich das Ganze im Laufe der nächsten Monate weiterentwickeln wird. Man selbst entwickelt sich ja auch mit jeder Rolle, die man spielt.




„Vor allem in meiner Anfangszeit hat mir das Ballett sehr geholfen, weil ich damals noch keinen Schauspielunterricht hatte und recht unerfahren war.“

Jonas: Dabei kommst du eigentlich aus einem ganz anderen Bereich: Seit du drei Jahre alt bist, tanzt du Ballett. Wurdest du diesbezüglich von deinen Eltern in irgendeiner Form beeinflusst? Franziska: Falls du damit auf diese berühmtberüchtigten Eislaufmütter anspielen solltest: Meine Eltern waren das absolute Gegenteil davon und haben mir alle Freiheiten gegeben. Das war für mich auch genau das Richtige, weil ich dadurch immer für mich ganz alleine herausfinden konnte, ob ich etwas wirklich mag und weiterverfolgen will. Tanzen war immer genau mein Ding, daher gehe ich nach wie vor regelmäßig zum Ballett-Training. Jonas: Und wie bist du vom Ballett zur Schauspielerei gekommen? Franziska: Das ist eine lustige Geschichte: Als ich etwa 14 Jahre alt war, fragte ein Filmproduktionsteam meine Eltern, ob sie einige Szenen auf dem Grundstück unseres Hauses drehen dürften. Meine Eltern hatten nichts dagegen und so wurde direkt vor unserer Haustür gefilmt. Das war alles total aufregend für mich.

Und da ich schon immer eine große Klappe hatte, habe ich bei diesen Leuten einfach mal nachgefragt, ob sie wüssten, wie man Schauspielerin wird, und ob sie mir da irgendwie weiterhelfen könnten - ich ahnte damals ja noch nicht, dass es dafür spezielle Agenturen oder Schulen gibt. Mir wurde von den Leuten eine Kinderschauspielschule empfohlen, an die meine Frage weitergeleitet wurde. Dort wurde ich aufgenommen und wenig später auch zu meinem ersten Casting geschickt. Es ging um eine kleine Rolle in der Hamburger Kinderkrimi-Serie „Die Pfefferkörner“, für die ich schließlich auch besetzt wurde. Damals haben wir unter anderem hier in der Speicherstadt gedreht. In meiner ersten Rolle musste ich zwar nicht so viel machen, aber es hat mir trotzdem total gefallen – und so hat alles angefangen. Jonas: Danach ging es für dich richtig los, du hast Rollen in bekannten TV-Produktionen wie „Die Kinder von Blankenese“, „Notruf Hafenkante“ oder „Soko“ übernommen. Franziska: Ja, das war toll. Vor allem der „Soko“Dreh in München hat mir richtig viel Spaß gemacht.


Dort durfte ich eine Ballett-Tänzerin spielen und konnte meine Rolle mit dem verbinden, was ich schon immer gemacht habe. Außerdem war es meine erste Produktion außerhalb Hamburgs und mir wurde allmählich klar, dass dieses Schauspielerding für mich nicht regional beschränkt sein muss. Jonas: Hilft dir deine Ballett-Ausbildung auch bei anderen Rollen? Franziska: Ja, recht viel sogar. Ballett ist eine sehr körperliche Disziplin: Man muss lernen, seinen eigenen Körper zu kontrollieren und ihn trotzdem im Fluss zu halten, damit es natürlich wirkt. Diese Fähigkeit ist in der Schauspielerei sehr hilfreich, weil es dort ebenfalls darum geht, den Körper unter Kontrolle zu halten und gleichzeitig nicht überkünstelt zu wirken. Vor allem in meiner Anfangszeit hat mir das Ballett sehr geholfen, weil ich damals noch keinen Schauspielunterricht hatte und recht unerfahren war. Ich habe mich daher einfach auf mein Ballettwissen gestützt und meinen Körper als Instrument gesehen, mit dem ich die Rolle ausfüllen kann.

Dieser wundervolle Spätsommertag schreit förmlich nach einem guten, heißen Kaffee. Wir verlassen die windund sonnenerfüllte Aussichtsplattform und steuern ein nahegelegenes CaféRestaurant an, das sich „CARLS Brasserie“ nennt und uns mit seiner breiten Glasfront direkt am Wasser lockt. Am Eingang begrüßt uns ein freundlicher Herr und führt uns zu einem Tisch mit Blick über den gesamten Hafen. Nur wenige Plätze im Inneren der Brasserie sind belegt. Die meisten Gäste haben sich für die Außenterrasse entschieden, um die warmen Sonnenstrahlen einzufangen. So umgibt uns eine angenehme Stille und ein Gefühl tiefer Entspannung stellt sich ein. Wir lassen unsere Blicke durch den lichtdurchfluteten Raum wandern: Dunkles Holz, schwere Lederbänke in Aubergine und Kachelbilder über der offenen Küche kombinieren hanseatische Zurückhaltung mit französischem Flair, verbinden Heimat und die große weite Welt. Jonas: Würdest du behaupten, dass du von Beruf Schauspielerin bist?




Franziska: Ich würde nicht so weit gehen und tatsächlich schon das als Beruf bezeichnen, was ich zur Zeit mache. Ich bin zwar mit dem Herzen voll dabei, habe viel Spaß und arbeite auch hart, wenn wir drehen oder ich mich auf eine Rolle vorbereite – dennoch gehe ich mit dem Wort Beruf eher vorsichtig um, da ich einen gehörigen Respekt vor Menschen habe, die in der Schauspielerei schon wirklich etwas erreicht haben. Jonas: Wie zum Beispiel Götz George, mit dem du vor kurzem eine „Schimanski“Episode gedreht hast? Franziska: Oh ja, der gehört auf jeden Fall dazu. Oder Anna Loos, die ich ebenfalls bei dieser Produktion sehr schätzen gelernt habe. Beide sind äußerst herzliche Menschen, weshalb die Atmosphäre während unseres Drehs in Rotterdam auch richtig familiär war. Ich habe dort versucht, schauspielerisch alles aufzusaugen und zu verinnerlichen. Anna hat mir beispielsweise geraten, in meinem Spiel noch mehr mit den Augen zu arbeiten, weil sie fand, dass ich einen guten Blick habe. Das hat mich sehr geehrt und mir geholfen, besser zu werden. Eine ähnliche Erfahrung durfte ich während der Dreharbeiten zu „Arnes Nachlass“ machen:

In einer Szene sollte mir Susanne von Borsody eine Ohrfeige geben. Wir hatten das Ganze im Vorfeld geprobt und genau besprochen, wie alles ablaufen soll. Als wir dann vor der Kamera standen, hat Susanne etwas komplett anderes gemacht. Ich war richtig erschrocken, aber das war auch ihr Ziel. Die Szene wirkte dadurch total authentisch. Ich weiß seitdem: Sollte ich im Laufe meines Schauspielerlebens auch mal jemandem in einer Szene eine Ohrfeige geben, werde ich es wohl genauso machen, wie ich es von Susanne gelernt habe. Jonas: Mit der Figur des Horst Schimanski, gespielt von Götz George, ist quasi eine ganze Generation deutscher Fernsehzuschauer aufgewachsen. Als TatortKommissar ermittelte er von 1981 bis 1991 in der ARD, seine Geschichte wird seit 1997 im ZDF in der Reihe „Schimanski“ weitererzählt. Wusstest du um die Bedeutung dieser Figur, als du für eine Rolle in der Episode „Loverboy“ gecastest bzw. besetzt wurdest? Franziska: Nein, ehrlich gesagt kannte ich Horst Schimanski nicht wirklich und musste erst einmal googlen – er quittierte seinen Dienst als Tatort-Kommissar ja zwei Jahre, bevor ich geboren wurde. Aber ich habe relativ schnell gemerkt, was für eine Institution diese Figur im deutschen Fernsehen ist und mit welcher Ikone man es zu tun hat.


„Wenn man etwas spielt, das sehr viel mit einem selbst zu tun hat, berührt einen das unter Umständen viel mehr als ein anderes Rollenprofil.“

Umso überraschter war ich am Set, als ich sah, wie jung Götz George wirkt und wie frisch er mit seinen 75 Jahren spielt. Das hat mich sehr beeindruckt. Jonas: Ihr habt im Juli die Dreharbeiten zu „Loverboy“ abgeschlossen. Springst du jetzt in die nächste Produktion? Oder hast du andere Pläne für die nächsten Monate? Franziska: Ich bewerbe mich zur Zeit an mehreren Schauspielschulen in München und Berlin. Außerdem habe ich einige Projekte in der Pipeline und stecke mitten in Castingprozessen. Ende des Jahres will ich noch verreisen, wahrscheinlich über Silvester als Bagpacker nach Bali. Diese Reisezeit ist ideal, weil da so gut wie keine Dreharbeiten stattfinden. Ich finde es total wichtig, die Welt kennenzulernen und mit anderen Kulturen in Berührung zu kommen, vor allem als Schauspieler. Was bringt es einem, wenn man im stillen Kämmerlein verstaubt? Jonas: Ist es dir wichtig, eher ernstere Rollen zu spielen? Oder es dir der Charakter der Figur eher egal, solange das Drehbuch gut ist? Franziska: Ich würde nicht sagen, dass mir das ganz egal ist. In den ernsteren Themen fühle ich mich schon sehr zuhause

– obwohl man auch in einer Komödie ein ernstes Thema in den Vordergrund rücken kann. In letzter Zeit habe ich hauptsächlich düstere und ernste Rollen übernommen, daher würde ich mich freuen, wenn ich mal wieder eine total fröhliche Figur spielen könnte. Ich bin ja selbst auch ein eher fröhlicher Mensch. Jonas: Viele Schauspieler empfinden es als größere Herausforderung, eine Figur zu spielen, deren Charakter möglichst weit von ihnen entfernt ist. Wie siehst du das? Franziska: Wenn man etwas spielt, das sehr viel mit einem selbst zu tun hat, berührt einen das unter Umständen viel mehr als ein anderes Rollenprofil. Das merkt zwar der Zuschauer nicht, weil er im Allgemeinen nur die 90 Minuten eines Film kennt, trotzdem arbeitet man als Schauspieler im Vorfeld mit dieser Rolle sehr intensiv und versucht, sie aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten – und diesen professionellen, objektiven Blick von außen auf sich selbst empfinde ich als große Herausforderung. Jonas: Siehst du selbst gerne fern und gehst oft ins Kino?






„Ich weiß, dass ich immer zurück nach Hause kommen kann, wenn ich meine Stille suche.“

Franziska: Ich lande ehrlich gesagt so gut wie nie vor dem Fernseher, ich bin eher eine Leseratte. Ins Kino gehe ich zwar auch nicht so oft, aber wenn ich mich einmal dazu entscheide, muss es ein richtig tolles Kino sein. Ich liebe zum Beispiel das Passage-Kino hier in Hamburg, die Atmosphäre vor und nach den Vorstellungen erinnert mich immer ein wenig ans Theater. Jonas: Magst du das Theater? Franziska: Oh ja, sehr! Ich habe leider selbst noch kein Theater gespielt. Trotzdem fühle ich mich dem sehr verbunden – durch das Ballett ist mir die Bühne ja nicht fremd. Ich würde die Theaterwelt gerne besser kennenlernen und hoffe deshalb auch, dass ich an einer der Schauspielschulen in München oder Berlin angenommen werde.

Jonas: Solltest du angenommen werden, müsstest du Hamburg verlassen. Würde dir das schwer fallen? Franziska: Ich komme ja nicht direkt aus Hamburg, sondern aus einem ruhigen Vorort – und dort war noch nie wirklich etwas los. Deshalb gibt es in mir einen enormen Erlebnisdrang, dem ich einfach nachgeben muss. Da ist eine Stimme, die ständig sagt: „Du musst raus, raus, raus!“ Hamburg selbst ist aber toll, ich hatte hier jahrelang Ballettunterricht und bin deshalb mehrmals pro Woche mit der Bahn in die Innenstadt gefahren. Es gibt hier viele Ecken, die ich sehr mag: Die Schanze zum Beispiel, aber auch die Colonnaden zwischen Gänsemarkt und Jungfernstieg. Dort habe ich mich nach dem Ballett oft mit einer Freundin auf einen KaramellMacchiato getroffen, da hängen viele Erinnerungen dran.


Trotzdem zieht es mich irgendwie hier weg – und ich glaube, wenn ich mich zwischen München und Berlin entscheiden müsste, würde die Wahl auf Berlin fallen. Diese Stadt scheint irgendwie so offen und so frei zu sein. Jonas: Fühlst du dich hier dennoch zuhause? Franziska: Absolut. Ich bin ein sehr wasserbezogener Mensch, daher könnte ich auch nie in einer Stadt leben, in der es nicht viel Wasser gibt. Und ganz egal, wohin es mich verschlägt: Ich weiß, dass ich immer zurück nach Hause kommen kann, wenn ich meine Stille suche. Und das liebe ich sehr.

Langsam legt sich die Dämmerung über den Hafen, wir beenden unser Gespräch. Für eine Weile noch beobachten wir die unermüdlichen Con-

tainerkräne, die fleißig ihre Arbeit verrichten. Unzählige Scheinwerfer erleuchten jetzt die vielen Ozeanriesen, deren stählerne Bäuche im Akkord geleert und wieder befüllt werden. In Kürze werden sie wieder aufbrechen in die Ferne und irgendwann am Horizont verschwinden. Ein freundliches Lächeln breitet sich über Franziskas Gesicht aus, ihre blaugrünen Augen wirken wach und entschlossen. Auch für sie scheint von dieser Ecke Deutschlands die große weite Welt zum Greifen nah. Wen die Sehnsucht packt und wer von Abenteuerlust beflügelt wird, der sollte losziehen in die Ferne. Man muss ja nicht am Horizont verschwinden wie die großen Schiffe. Und zurückkommen kann man immer noch.




OLG LAKR

Olga Lakritz ist 18 Jahre alt, Slam-Poetin und lebt in Z端rich.


LGA KRITZ




Wenn nichts pas— siert TEXT & FOTO: OLGA LAKRITZ

“Was bringt mir der neue Tag, wenn er sich wie jeder vergangene anfühlt?”


Und du sitzt immer noch da und schweigst Und Und Und Und Und Und Und

du du du du du du

sitzt sitzt sitzt sitzt sitzt

immer noch da und immer noch da immer noch immer

Nichts mehr. Wir haben uns in den Tiefen unseres Gespräches verloren, weil wir vergessen haben, an die Oberfläche zu tauchen, um Mal nach Luft zu schnappen. Stattdessen sind wir immer tiefer gesunken, bis wir dann auf dem Boden saßen. Wir haben uns in der Dunkelheit verirrt, sind tausend Gänge entlang gerannt, aber haben dabei nichts kapiert. Wir haben nur unsere Wut in Wörter gepackt und uns gegenseitig an den Kopf geworfen. Bloß geplatzt sind nicht unsere Köpfe, sondern die Seifenblase um uns herum. Ich weiß und du weißt, dass es nicht funktionieren wird, denn wir haben von allem ein bisschen zu viel — und doch zu wenig. Wir haben zu viel Wut aufeinander, aber zu wenig Mut, um es auszusprechen. Wir haben zu viel Angst vor der Zukunft, aber zu wenig Zuversicht in uns selbst.

Gleichzeitig haben wir den Mut, wir selbst zu sein, aber spüren zu wenig Wut, um uns zu äußern. Wir haben zu viel Zuversicht in die Welt und deswegen zu wenig Angst, die uns zur Veränderung treiben würde. Es bleibt immer alles gleich. Was bringt mir der neue Tag, wenn er sich wie jeder vergangene anfühlt? So sassen wir irgendwann nur noch da und warteten. Wir warteten darauf, dass einer von uns endlich einen Schlussstrich zog und den anderen verliess. Wenn ich an die Zeit zurück denke, kommt es mir so vor, als wären wir Wochen, Monate nur da gesessen und hätten uns beim Atmen zugehört, dabei haben wir uns ständig gestritten, haben rumgeschrien. Aber wenn ich zurück denke höre ich nur noch unsere Stille. Und du sitzt immer noch da und schweigst Und Und Und Und Und Und Und

du du du du du du

sitzt sitzt sitzt sitzt sitzt

immer noch da und immer noch da immer noch immer

Jetzt wo du weg bist, da höre ich nur noch meine Stille.


LU LEIST

Lukas Leister ist 23 Jahre alt, Student, Fotok端 nstler und lebt in Wien.


W W W.LUK ASLEISTER.DE

UKAS STER




Pauls Erbe

TEXT & FOTO: LUKAS LEISTER


»Ja?« Paul wohnte noch nicht allzu lange hier draußen. Drei Wochen war es jetzt her, dass er seine Einzimmerwohnung mit bester Lage an der Hauptverkehrsstraße Wanne-Eickels leergeräumt und schließlich mit einer halbvollen Sporttasche verlassen hatte. Aus Geld, das bemühte sich Paul meist sich selbst gegenüber möglichst lässig und unbeeindruckt zu betonen, machte er sich wirklich nicht viel. Als ihn dann jedoch vor zwei Monaten die Nachricht von seinem unerwarteten Erbe erreichte, überlegte Paul nicht lange. Die Dinge, die ihn hier noch hielten, hätte Paul sowieso an zwei Händen abzählen können – die Personen an einer. »Hallo?« Das Haus seiner Großtante – oder wie er die ihm unbekannte Schwester seiner ihm unbekannten Großmutter auch immer hätte bezeichnen müssen – stand abgelegen am Rande eines kleinen Mischwaldes, fünfhundert Meter hinter dem nächsten Ortsschild. Weit hatte er es also nicht, falls er sich mal etwas besorgen musste. Mit dem Fahrrad, dass er sich demnächst irgendwo kaufen wollte, bräuchte er keine zehn Minuten bis zum nächsten Supermarkt. Mit dem Geld von Großmutters Schwester würde er locker zwei Jahre über die Runden kommen. Paul war soweit zufrieden. Nur das ständige Brummen der Motoren, das Hupen der Autos und die Zischgeräusche des anhaltenden Linienbusses vor seinem Fenster, woran er sich während seiner Zeit an der Wanne-Eickeler Hauptstraße so sehr gewöhnt hatte, fehlte ihm.

Egal an welches seiner nun unzähligen Fenster er sich auch stellte, sah und hörte er nur ganz selten den ihm vertrauten Lärm eines vorbeifahrenden Autos. »Wer ist da?« Um der Stille, die ohne Verkehrsgeräusche unumgänglich schien, zu entkommen, hatte sich Paul angewöhnt, den Fernseher gar nicht mehr auszuschalten. Früher hatte er ihn wenigstens manchmal zum Schlafen abgestellt. Hier drehte er, wenn überhaupt, die Lautstärke minimal herunter. Als Paul nun mit dem Hörer in der Hand dastand, schaltete er ihn zum ersten Mal seit zwei Wochen aus, um zu hören, ob da am anderen Ende der Leitung jemand sprach, nur eben leise. Doch Paul hörte nichts. Sowieso wunderte er sich, wie das Telefon hatte läuten können, das noch genau so im Wohnzimmer seiner Großtante stand, wie sie es hinterlassen haben musste. Er hatte sicherlich keinen Vertrag verlängert oder abgeschlossen und würde den Teufel tun, die nächste Rechnung dafür zu zahlen. »Hallo? Idiot!« Paul knallte den Hörer auf die Station, blieb vor dem Telefon stehen und wartete, ob es nochmal klingeln würde. Doch nichts klingelte oder läutete. Nichts brummte, hupte oder zischte. Paul setze sich wieder in seinen geerbten Sessel, nahm die Fernbedienung, drückte auf On und schaute fern.


JON MEY

Jonas Meyer ist Designer, Herausgeber und lebt in Berlin.


W W W.JMVC.DE

ONAS YER




Meeres— rauschen


TEXT & FOTO: JONAS MEYER

Wie lange ich hier schon stehe, das weiß ich nicht. Einige Minuten vielleicht. Oder eine Stunde – wen kümmert’s. Zeit ist ohnehin nicht existent an diesem wundervollen Ort. Und so geht es gerade nur um mich, die Sonne und das Meer. Keinen einzigen Gedanken verschwende ich an jenes ständige Zuviel, das zuhause bereits hektisch mit den Hufen scharrt und zähnefletschend auf mich wartet. Die Drohkulisse, die es aus der Ferne aufbaut, reicht einfach nicht an mich heran: Sie wird verschluckt vom Rauschen des Pazifiks und verschwindet irgendwo im Dunkelblau. Während sich meine Augen in der Unendlichkeit des Horizonts verlieren, wächst langsam in mir die Frage nach dem Sinn – dem Sinn, zurückzukehren und mich jenem ständigen Zuviel zu

unterwerfen, das nur darauf wartet, mich zu packen. Plötzlich höre ich Stimmen hinter mir: Cris und Rem wollen in Santa Barbara sein, bevor es dunkel wird. Die Sonne, das Meer und ich schauen uns traurig an und fallen uns in die Arme: Es ist Zeit, sich zu verabschieden. Als wir uns ein letztes Mal umarmen, streckt mir der Pazifik ein kleines Geschenk entgegen: „Das ist etwas von meinem Meeresrauschen, es beschützt dich vor dem Monster.“ Überglücklich packe ich das Geschenk in meine Tasche, laufe zur Straße und steige ins Auto. „See you soon!“, flüstere ich leise. Ich komme bald wieder. Denn hier geht es nur um mich, die Sonne und das Meer.


T H E M Y PA G E S M A G A Z I N E

WIR DANKEN ALLEN VON GANZEM HERZEN, DIE UNS SEIT DREI JAHREN AUF UNSEREM WEG BEGLEITEN UND UNS JEDEN TAG IN DEM BESTARKEN, WAS WIR TUN.



IMPRESSUM M Y P M AGA Z I N E T H E M Y PAG E S M AGA Z I N E S C H L E S I S C H E ST R. 19, 10997 B E R L I N, G E R M A N Y +49 (0) 30 . 22 39 31 72 - I N FO@ M Y P- M AGA Z I N E.CO M H E R AUS G E B E R: J O N A S M E Y E R & LU K A S L E I ST E R KO N Z E P T I O N & D E S I G N: J O N A S M E Y E R ( J M VC) R E DA K T I O N: J O N A S M E Y E R & M A X I M I L I A N KÖ N I G A RT I K E L- FOTO G R A F I E & B I L D B E A R B E I T U N G: LU K A S L E I ST E R, OS M A N BA L K A N, DAV I D PA P RO C K I, ST E V E N LÜ DT K E, M A X I M I L I A N M OT E L & RO B E RTO B RU N D O FOTO G R A F I E T I T E L- E D I TO R I A L: OS M A N BA L K A N COV E R M O D E L: DAV I D P E ROZ, B E R L I N

M Y P- M AGA Z I N E.C O M COPYRIGHT BY JONA S MEYER & LUK A S LEISTER GERMANY 2013 - ALL RIGHTS RESERVED W W W. J M V C . D E W W W. LU K A S L E I S T E R . D E



Mei ne

STILLE


I N S P I R I E RT VO N D E R W U N D E RVO L L E N M U S I K DER FOAL S

„I know you ran away I know my feeling ok? But now I‘ve found love The feeling won‘t go I see you walk away Feeling ok Happy now! Happy now? Stay with me“

L AT E N I G H T


MYP-MAGA ZINE.COM © GERMANY 2013 A L L R I G H T S R E S E RV E D


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.