myp MAGAZINE #11

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MYP MAGAZINE



SA


F R A N Z GR IL L PARZ ER

Monde und Jahre verg aber ein schöner Mom leuchtet das Leben hindurch.


gehen, ment


Mein Souvenir AUSGABE #11



Wenn meine Erinnerung verblassen will und Gedanken vergehen, muss ich mein Herz nur in deine schützenden Hände legen. Denn dort hilfst du ihm, nicht zu vergessen. Du bist mein Souvenir.



14

19 2

ELISA SC HLOT T

SOPHIE EULER

34

19 8

JO NATHAN KLUTH

P H I L I P P BL O C H

40

204

WINC ENT WEISS

N ATA ŠA V U Č KO V I Ć

46

2 10

TIEMO HAUER

FÁ BI O M I G U E L RO Q U E

72

2 16

JASMIN LIEBETR AU

RO BI N KATE R

78

222

NIRAV SOLANK I

TA N JA F RE U D E N TH A L E R

84

228

JOA HERRENKNEC H T

H E N RI KE O T T

102

234

KAKKMADDAFAKKA

J U L I A N S C H I E V E L KA M P

126

240

ANJA BALSSAT

J O N A S M E YE R

1 32

246

ISABELLA PIKART

LU KA S L E I S TE R

1 38 INA & SANDER JA I N

148

254

JULIAN HEUN

DA N KE

154

256

SARAH NEUENDO RF

I M P RE S S U M

1 60

258

JANNIK SC HÜMA N N

I N S P I RATI O N

In


nhalt


Gewidmet allem, das uns erinnern lässt.



ELISA SCHLOT T IST 19 JAHRE ALT, SCHAUSPIELERIN UND LEBT IN LONDON. WWW.DIE-AGENTEN.DE

Elisa Schlo


a ott




Sommerspiel IN T ERVIEW & TE X T: JONAS ME YE R FOT OS : DAV ID PAPROC KI

Das Schönste, was man von Berlin mitnehmen

Es gibt also einiges, was die alten Mauern zu

kann, ist der Sommer. Jahr für Jahr aufs Neue

erzählen hätten. Bis zum Rand sind sie gefüllt

flutet er die Straßen mit einem Meer aus Sonnen-

mit unzähligen Erinnerungen, die sich Jahr für

strahlen und gibt allen Wärmehungrigen jenes

Jahr wie unsichtbare Baumringe in ihr steiner-

unbeschwerte Lächeln zurück, das man im ewig

nes Gedächtnis schreiben. Und so lauschen sie

dunklen und unerbittlichen Berliner Winter für

auch heute aufmerksam der jungen Schauspiele-

immer verloren geglaubt hatte.

rin, die mit dem Sommer gerade fröhlich um die Wette strahlt.

Der Kalender zeigt den achtzehnten Juni, also wird der Sommer offiziell erst in ein paar Tagen

Elisa Schlott ist eigentlich Berlinerin durch und

in der Hauptstadt erwartet. Doch er ist jetzt

durch. Im Märkischen Viertel geboren und in

schon da – er konnte einfach nicht länger warten:

Pankow aufgewachsen, hat sie im Oktober 2012

Zu karg und eisig waren die letzten Monate, zu

für ein Jahr der deutschen Metropole den Rücken

groß die Sehnsucht der Menschen nach Licht und

gekehrt und ist nach London gezogen.

Leichtigkeit. Heute ist sie trotzdem in Berlin, denn am Abend Und so sitzen wir gemeinsam mit dem Sommer

stehen einige Nachsynchronisationen in einem

und der jungen Schauspielerin Elisa Schlott im

Studio in der Chausseestraße an. Die 19-jährige

verwunschenen Garten von Clärchens Ballhaus.

Schauspielerin ist also auf Kurzbesuch in ihrer

Genau 100 Jahre ist es nun her, als Fritz Bühler

Heimatstadt. Und weil ein Tag nicht wirklich viel

und seine Frau Clara Habermann das Tanzlokal

ist, werden in Clärchens Ballhaus prompt Wiener

in der Auguststraße in Berlin-Mitte eröffneten. In

mit Kartoffelsalat geordert – ein Stück Zuhause,

guten wie in schlechten Tagen feierte man hier

das es in London nicht gibt.

und tanzte, entfloh dem grauen Alltag und genoss sein Leben – damals wie heute, ein ganzes Jahrhundert lang.


Jonas: Du bist im Herbst letzten Jahres nach London ge-

Elisa:

zogen. Gab es dafür einen bestimmten Grund?

Als ich nach London kam, bin ich zu einer Gastfamilie gezogen und habe zwei Monate eine

Elisa (grinst):

Sprachschule besucht, um ein halbwegs gefes-

Naja, nach dem Abi sind plötzlich alle meine

tigtes Englisch zu haben. Danach habe ich mich

Freunde ins Ausland gegangen und haben sich

am Actors Center beworben – eine von Schau-

auf der ganzen Welt verteilt. Nach Costa Rica,

spielern, Regisseuren und Produzenten gegrün-

Südafrika oder Frankreich hat es sie verschlagen.

dete Institution für Ihresgleichen, wo man diverse

Da habe ich mich gefragt, was ich selbst eigent-

Kurse belegen und sich weiterbilden kann. Man

lich noch hier mache.

zahlt eine Jahresgebühr von etwa 50 Pfund und

Nein, ganz im Ernst: Ich bin nach London ge-

zusätzlich je nach Kurs einen entsprechenden

gangen, weil ich dort einige Schauspielkurse

Betrag, der aber extrem niedrig ist.

absolvieren wollte – es gibt dort einfach so viele

Nachdem ich am Actors Center angenommen

Möglichkeiten.

wurde, habe ich im Laufe der Monate verschiedene Kurse belegt. So war ich beispielsweise in

Jonas:

einem „Method Acting“-Workshop, der von einem

Und diese Möglichkeiten gibt es in Berlin bzw.

sehr imposanten amerikanischen Schauspieler

Deutschland nicht?

namens Sam Douglas geleitet wurde. Und ich habe einen Kurs von Scott Williams belegt, in

Elisa:

dem ich mir die sogenannte „Meisner-Technik“

Nein, nicht wirklich. In London ist man viel näher

aneignen konnte: Dabei geht es darum, beim

dran am internationalen Markt. Außerdem ist es

Spielen seine Aufmerksamkeit nicht auf die

cool, so etwas mal in einer anderen Sprache zu

eigene Person zu richten, sondern voll und ganz

machen – eine wirklich neue Erfahrung!

auf sein Gegenüber. So soll erreicht werden, dass

Ich bin mir auch noch gar nicht so ganz sicher,

man Spielsituationen emotional besser begreifen

ob ich in Zukunft die Schauspielerei überhaupt

und erfassen kann, weil man als Schauspieler

professionell betreiben will. Wenn es so kommen

immer der Gefahr ausgesetzt ist, zu sehr in den

sollte, will ich auf jeden Fall in der Lage sein, in-

eigenen Gedanken gefangen und dadurch in ge-

ternational arbeiten zu können. Daher bin ich

wisser Weise blockiert zu sein.

auch froh, so viel gemacht zu haben in London.

Ich habe in den letzten Monaten viel gelernt und bin daher gespannt, ob ich dieses Wissen mal

Jonas:

praktizieren kann. Das hängt ja davon ab, ob ich

Welches Programm hast du denn in den letzten

tatsächlich hauptberufliche Schauspielerin werde

Monaten absolviert?

oder nicht.




Eigentlich war ich ja immer jemand, der ziemlich schüchtern ist und sich nicht gerne in den Vordergrund drängt. Jonas: Welcher Beruf käme denn neben der Schauspie-

Nach dem Musical-Casting war ich ziemlich ent-

lerei noch für dich in Frage?

täuscht und habe mich deshalb ohne Wissen meiner Eltern im Internet bei einer Schau-

Elisa:

spielagentur beworben, die Kindercastings für

Ich habe total Lust, irgendetwas zu studieren.

junge Rollen durchführen. Die Leute von der

Daher habe ich mich auch für das kommende Win-

Agentur haben sich auch tatsächlich gemeldet –

tersemester an der HU und FU für Theaterwis-

und so bin ich dann irgendwie in die Schauspie-

senschaften und Kunstgeschichte beworben. Im

lerei reingerutscht.

September komme ich ja eh zurück aus London. Mal sehen, ob ich angenommen werde.

Jonas:

Vorher freue ich mich aber total auf den Juli, weil

Und welcher war der erste Film, in dem du mit-

ich dann an der Guildhall School einen vierwö-

gewirkt hast?

chigen Schauspiel-Sommerkurs belegen werde. Ich glaube, dass mir dieser Kurs extrem dabei

Elisa:

helfen wird, mich zu entscheiden, welche Rich-

Das war „Das Geheimnis von St. Ambrose“, in

tung ich in meinem Leben einschlagen werde.

dem ich mit Ulrich Mühe spielen durfte. Wir haben

Es gibt ja nur zwei Möglichkeiten: Entweder

damals insgesamt sechs Wochen in Schottland

komme ich komplett verzaubert aus dem Kurs

gedreht, das habe ich total genossen.

heraus und weiß, dass ich Schauspielerei noch intensivieren und studieren will, oder ich merke,

Jonas:

dass es nur ein Hobby ist und ich beruflich noch

Wusstest du nach diesem ersten Film bereits,

etwas anderes tun muss.

dass du so etwas öfter machen willst?

Jonas:

Elisa:

Dabei kannst du bereits jetzt eine gewisse Berufs-

Eigentlich war ich ja immer jemand, der ziemlich

erfahrung vorweisen, schließlich hast du schon in

schüchtern ist und sich nicht gerne in den Vor-

jungen Jahren mit der Schauspielerei begonnen.

dergrund drängt. Aber als damals zum ersten

Erinnerst du dich noch an dein erstes Projekt?

Mal die Kamera auf mich gerichtet war, war diese Schüchternheit komplett vergessen. Ich hatte das

Elisa:

Gefühl, plötzlich in einer anderen Welt zu sein.

Ja, das war ein Werbespot für „Kellogg’s Frosties“

Richtig klick gemacht hat es aber erst bei dem

auf Teneriffa. Da war ich ungefähr zehn oder elf

zweiten Film, in dem ich mitspielen durfte: „Die

Jahre alt. Ich hatte auch mal ein Musical-Casting,

Frau vom Checkpoint Charlie“ mit Veronica Ferres

durch das ich aber ziemlich schnell gemerkt habe,

in der Hauptrolle. Das war eine coole Zeit! Wir

dass Singen gar nichts für mich ist – obwohl ich

haben in Rumänien, Helsinki und Leipzig gedreht,

es liebe, selbst Musik zu machen.

das hat damals alles so viel Spaß gemacht. Durch dieses Projekt hat es mich gepackt und ich wusste, dass ich das unbedingt weitermachen will.


Jonas: Und das hat alles einfach so neben der Schule

Ich habe ein 14-jähriges Mädchen gespielt, das

funktioniert?

zusehen musste, wie seine Mutter ein kleines Baby umbringt. Diese Tat hat das Mädchen inner-

Elisa:

lich total zusammenbrechen lassen.

Irgendwie schon. Bei meinen ersten Projekten

Der Dreh damals war hart. So habe ich zum ersten

war ich ja auch noch in der Grundschule, da war

Mal gemerkt, dass Schauspielerei wirklich rich-

das nicht so wild. Außerdem hatte ich dort zum

tige Arbeit ist. Vorher war das für mich ja alles

Glück supertolle Lehrer, die mich sehr unterstützt

mehr oder weniger nur ein Spaß.

haben.

Nach den 35 Drehtagen war ich daher auch ziem-

Als ich aufs Gymnasium kam, wurde es aller-

lich erschöpft und hatte einige Zeit daran zu knab-

dings etwas komplizierter. Die Lehrer hatten eine

bern. Aber im Endeffekt hat sich die Arbeit total

sehr strenge Haltung und gaben mir klar zu ver-

gelohnt: Als ich den fertigen Film gesehen habe,

stehen: „Wenn du fehlst, fehlst du. Dann musst

war ich total glücklich.

du schauen, wie du dir den Stoff aneignest. Wenn du zurückkommst, erwarten wir, dass du auf dem gleichen Stand bist wie die anderen.“ Das

Elisa lächelt. Ihr freundliches und offenes Wesen

war im ersten Moment hart, aber ich hatte auch

wirkt gerade so unerschütterlich wie die alten

diesmal wieder Glück: Meine Klassenkameraden

Gemäuer des Ballhauses, die seit einem Jahr-

haben für mich mitgeschrieben, mir das Material

hundert allen Widrigkeiten trotzen und damit ein

zukommen lassen und mich total unterstützt. Im

klares Bekenntnis zum Optimismus ablegen.

Endeffekt habe ich gar nicht so viel verpasst, denn gedreht habe ich meistens während der Ferien.

Der Sommer sitzt nach wie vor mit uns am Tisch

Dabei war nicht nur meine Mutter sehr darauf be-

und verfolgt gespannt, was Elisa zu erzählen

dacht, dass ich nicht zu viele Fehltage habe: Mir

hat. Als hätten sie sich vorher abgesprochen,

selbst war es mindestens genau so wichtig, nicht

werfen sie sich gegenseitig die Bälle zu: Lächelt

abgehängt zu werden. Und wenn ich ehrlich bin,

sie ihn an, kontert er mit Sonnenstrahlen. Taucht

bin ich auch gerne zur Schule gegangen.

er den Himmel in sein leuchtendes Blau, funkeln ihre Augen in derselben Farbe zurück – wie zwei

Jonas:

Schauspieler, die gerade auf der Bühne stehen

Als du auf dem Gymnasium warst, hast du auch

und auf das Spiel des jeweils anderen reagieren.

deinen ersten Kinofilm gedreht. Elisa: Genau, das war der Debutfilm „Draußen am See“ von Felix Fuchssteiner. Wir haben damals im Jahr 2009 in meinen Sommerferien gedreht, insgesamt gab es 35 Drehtage.




Ich finde es immer komisch, wenn Schauspieler erzählen, wie viel sie sich bei anderen abgeschaut haben.

Jonas:

Jonas:

Fällt es dir leicht, dich von solchen komplexen und

Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman

intensiven Rollen wieder zu lösen?

von Bernhard Schlink und thematisiert die RAFVergangenheit von vier Personen, die nach knapp

Elisa:

zwanzig Jahren wieder aufeinandertreffen und

Ich glaube, dass ich das recht gut kann. Trotzdem

ein gemeinsames Wochenende in einem Land-

nehmen einen manche Rollen natürlich mehr mit

haus verbringen. Wie hast du dich auf dieses

als andere. Als ich zum Beispiel vor drei Jahren

politisch wie gesellschaftlich immer noch heikle

„Fliegende Fische müssen ins Meer zurück“ ge-

Thema RAF vorbereitet?

dreht habe, hatte ich eine Regisseurin, die mich emotional sehr gefordert hat.

Elisa:

Außerdem war ich damals erst 16 Jahre alt

Ich hatte aus der Schule eine gewisse Grund-

und zum ersten Mal in meinem Leben für sechs

kenntnis. Darüber hinaus habe mich aber

Wochen komplett von zuhause weg – ohne Fa-

natürlich auch ein wenig eingelesen und mir bei-

milie und Freunde allein in einem kleinen Dorf

spielsweise den Film „Der Baader-Meinhof-Kom-

in der Schweiz, wo wir gedreht haben. Wenn ich

plex“ angeschaut.

abends endlich in meinem Bett lag, war ich ziem-

Allerdings ist „Das Wochenende“ in erster Linie

lich fertig. Die intensive Rolle und das Alleinsein

kein politischer Film, sondern stellt die zwi-

waren in gewisser Weise eine doppelte Heraus-

schenmenschlichen Beziehungen und Proble-

forderung für mich.

matiken der Akteure in den Vordergrund. Das unterscheidet das Drehbuch auch im Wesentli-

Jonas:

chen vom Roman, wo die politische Komponente

Vor kurzem feierte der Kinofilm „Das Wochen-

viel stärker im Fokus steht. So ging es der Regis-

ende“ Premiere, in dem du die Rolle der Doro

seurin und Autorin Nina Grosse im Wesentlichen

spielst. War es für dich eine besondere Erfahrung,

um die Charaktere an sich: Sie wollte zeigen, was

neben Größen wie Katja Riemann, Barbara Auer

sich in deren Köpfen im Laufe der Zeit verändert

oder Sebastian Koch zu spielen?

hat – und was nicht. So haben wir uns im Rahmen der Vorbereitung

Elisa:

auch alle in dem Haus getroffen, in dem wir

Lustigerweise wusste ich in der ersten von ins-

später gedreht haben, und dort tatsächlich vorab

gesamt drei Castingrunden noch gar nicht, dass

ein gemeinsames Wochenende verbracht.

dieser Film ein so großes Ding wird. Umso größer war dann natürlich die Überraschung, welche großen Namen für den Streifen besetzt sind. Es war toll, mit diesen Schauspielern drehen zu dürfen.


Elisa: Wir haben in den zwei Tagen viel gelesen, wich-

Ich finde es immer komisch, wenn Schauspieler

tige Szenen durchgenommen und auch schon mit

erzählen, wie viel sie sich bei anderen abgeschaut

den Proben begonnen. Das war enorm hilfreich,

haben und dadurch jetzt wissen, wie die das so

weil wir uns dadurch alle kennenlernen konnten,

machen. Ich finde, jeder sollte seine ganz eigene

bevor der Dreh überhaupt losging.

Art und Weise entwickeln, wie er spielt und an seine Rolle herantritt.

Jonas:

Insgesamt war es aber natürlich toll, mit diesen

Man hat das Gefühl, in den 98 Filmminuten alle

außergewöhnlichen Schauspielern in „Das Wo-

zwischenmenschlichen Konflikte zu erleben, die

chenende“ zusammenzuarbeiten, weil alle so

man so aus dem wahren Leben kennt. Macht das

glaubwürdige Darsteller waren.

die Vorbereitung auf die Rolle in solch einem Film einfacher? Man muss ja eigentlich nur wahres Leben spielen...

Wir unterbrechen unsere Unterhaltung für einige Minuten und machen uns langsam auf den Weg in

Elisa:

Richtung Naturkundemuseum, wo wir Elisa foto-

Ja, vielleicht. Für mich war es aber eher wichtig,

grafieren wollen.

sich den Kopf nicht so sehr über die Materie an sich zu zerbrechen, sondern einfach zu spielen

Von den alten Mauern des Ballhauses verab-

und zu sehen, wie es sich entwickelt.

schieden wir uns mit dem Versprechen, recht

In dem Zusammenhang war es gut, vorher schon

bald wiederzukommen, um ihre unsichtbaren

mit allen Darstellern zusammengesessen zu

Baumringe der Erinnerung wieder ein kleines

haben. So konnten wir darüber reden, welche

Stückchen wachsen zu lassen.

Intention eine Szene hat, wo sie uns hinführt, wo wir vor der Szene waren und wo wir als Figur hin-

Gemütlich schlendern wir die Auguststraße ent-

wollen. Dadurch hat sich dann in der Szene selbst

lang, stets begleitet vom Berliner Sommer, der

einfach sehr viel ergeben, das Spiel wirkte wahr-

uns nicht aus den Augen lässt. Schließlich biegen

haftig und sehr authentisch.

wir in die Oranienburger Straße ein, kaufen Eis und bleiben für eine Weile stehen. Der kühle

Jonas:

Nachtisch will schnell verzehrt werden, schließ-

Hast du von deinen Kollegen schauspielerisch

lich schaut uns der Sommer gerade direkt über

etwas mitgenommen?

die Schulter und bringt das Eis zum Schmelzen.




Jonas:

Elisa:

Im September kommst du zurück nach Berlin. Wie

Meine Familie und meine Freunde. Ich bin ein

war es, fast ein Jahr von seiner Heimatstadt ge-

Mensch, der einfach von vielen Freunden um-

trennt zu sein?

geben sein muss. Ansonsten werde ich sehr schnell einsam.

Elisa: Komisch. London ist ja vollkommen anders als

Jonas:

Berlin und doppelt so vollgepackt mit Menschen.

Du findest also dein Zuhause eher in bestimmten

Die Stadt ist irgendwie viel geschäftiger, alle Leute

Personen als an bestimmten Orten?

sind total konsumorientiert und shoppen rund um die Uhr. Zudem ist London viel internationaler –

Elisa (schweigt für einen Moment):

wenn man will, kann man innerhalb der Stadt in

Ja, das könnte man so sagen.

seinem eigenen Land wohnen. Das war zwar am Anfang alles recht spannend,

Jonas:

aber mittlerweile bin ich richtig müde von dem

Dann kannst du ja überall auf der Welt zuhause

Leben dort. Nichts ist von Dauer in London, man

sein...

erlebt ein ständiges Kommen und Gehen. Ich war so froh, als ich mir einen gewissen Freundeskreis

Elisa (lacht):

aufgebaut habe, der aber leider nicht lange hielt:

Ja, aber nur, wenn dort alle meine Lieben bei mir

Nach drei Monaten waren alle Leute wieder weg.

wären. Aber eigentlich fühle ich mich in Berlin

Die Zeit in London habe ich schon sehr genossen,

am ehesten zuhause. Die Stadt hat einfach einen

aber ich freue mich auch, wenn ich wieder zurück

gewissen Flair, den ich sehr mag: Auf der einen

nach Berlin komme – und viele schöne Erinne-

Seite ist Berlin eine Metropole, auf der anderen

rungen im Gepäck habe.

Seite gibt es Viertel, die wie kleine Dörfer wirken. Ich liebe es daher total, in meinem Kiez in Pankow

Jonas:

unterwegs zu sein. Ich treffe da einfach so viele

Was an Berlin hast du denn in London am meisten

Menschen, die ich mag. Und dieses Miteinander

vermisst?

dort ist viel schöner als die Anonymität Londons.


Ich bin ein Mensch, der einfach von vielen Freunden umgeben sein muss. Ansonsten werde ich sehr schnell einsam.

Jonas: Dein persönliches Berliner Souvenir sind also

Auf Elisas Lächeln und funkelnde Augen reagiert

deine Erinnerungen an den Pankow-Kiez...

der Sommer mit einem Meer aus Sonnenstrahlen und absoluter Wolkenlosigkeit.

Elisa: Ganz genau, das ist mein Andenken.

Was würde man nur darum geben, einige der Sonnenstrahlen einzufangen und in den unerbittlichen Winter zu tragen, der in wenigen Monaten

Dicht gefolgt vom Sommer spazieren wir über

das frische Blau zu tristem Grau verwandeln wird.

die Chausseestraße und biegen in die Invaliden-

Wie ein kleines Souvenir müsste man die Strahlen

straße ein. Nach wenigen Metern erhebt sich vor

einfach in die Tasche stecken können. So hätte

unseren Augen ein imposanter Komplex aus his-

man immer ein Andenken an die wundervolle Ju-

torischen Gebäuden. Wo im 19. Jahrhundert noch

niwärme bei sich, wenn es draußen wieder nass

die Königliche Eisengießerei zu Berlin angesiedelt

ist und kalt.

war und massive Schätze für die Ewigkeit gefertigt wurden, stellen heute Naturkundemuseum

Elisa hält für einen Moment inne, schließt die

und Institut für Biologie der Öffentlichkeit ihr

Augen und lächelt. Sanft breitet sich die Nachmit-

kostbares Wissen zur Verfügung.

tagssonne auf ihrem Gesicht aus.

Gerade unterziehen sich die ehrwürdigen Ge-

Das Schönste, was man von Berlin mitnehmen

mäuer einer kleinen Schönheitskur: Ihre Fassade

kann, ist der Sommer.

wird behutsam renoviert, denn sie soll gewappnet sein für das, was sich Zukunft nennt – und die Er-

Man muss ihn nur im Herzen tragen.

innerung lebendig halten an eine andere Zeit. Dann bleibt er auch im Winter. Elisa Schlott und der Berliner Sommer betreten die Bühne – und erneut beginnt das Spiel der beiden gut gelaunten Protagonisten:




Jona Kl


JONATHAN KLUTH IST 25 JAHRE ALT, SINGER-SONGWRITER UND LEBT IN BERLIN.

athan luth

WWW.JONATHAN-KLUTH.DE




Schöner Morgen T EXT: JONATHAN KLUTH FOT O: ROBE RTO BRUNDO

Die Stadt ist wie ein Spiegel, in den man jeden

Wenn ich an die Zeit in Mannheim denke, werde

Tag schauen muss. So lange ich da bin, erzählen

ich kühl und unruhig, gleichzeitig emotional und

mir die quadratischen Backsteine abgekühlte und

nostalgisch. All die Jahre haben meine Geigensai-

brennende Geschichten über meine Seele.

ten gehalten, das raue Pferdehaar und Kolophonium haben sie überstanden, Sonne und Regen,

Einmal im Jahr, wenn der Jungbusch blüht,

viele Winter und Sommer. Ein Jahr ist es her, dass

kriecht die Hitze guter Freunde, der Schweiß und

ich nach Berlin gezogen bin. Ich öffne den Koffer

der Geruch von Bier und Zigaretten in die Klamot-

meiner Violine und stelle fest, dass eine Saite

ten und setzt sich fest.

gerissen ist. Wenn Dinge sich auflösen, werden sie woanders zu etwas Neuem.

Lieb mich und akzeptier mich. Eine Selbstaufgabe hat immer die Folge der noch höheren Unzufrie-

Ich höre „Starwars“ von Pohlmann und trällere

denheit mit der Gesamtsituation.

„Train yourself to let go...“. Es ist ein schöner Morgen.



Wince Weis


ent ss

WINCENT WEISS IST 20 JAHRE ALT, MUSIKER UND LEBT IN MÜNCHEN. WWW.WINCENTWEISS.DE




Salzige Luft T EXT: W INC E NT W E ISS FOT O: SAS C HA W E RNIC KE

Ich bin nie alleine. Denn überall wo ich bin, ist sie

Mit einem Koffer in der Hand. Und meiner Gitarre

bei mir: Meine Gitarre! Seit 16 Monaten ist sie

auf dem Rücken.

chronisch an meiner Seite. Zusammengefunden haben wir im Internet, in einem Online-Shop.

München ist jetzt meine neue Stadt. Eigentlich ist

Als ich ihr kleines Foto sah, wusste ich: Die

das ist ein sehr schöner Ort - aber leider einer

muss ich haben - sofort! Denn sie sah nicht nur

ohne Meer. Das hatte ich früher direkt vor der

unglaublich schön aus, sondern war auch ein

Tür. Und jetzt trennen mich und das viele salzige

echtes Schnäppchen: Nur 500 Euro hat sie gekos-

Wasser der Ostsee mehrere hundert Kilometer.

tet. Das Geld dafür habe ich mir trotzdem hart zusammengespart und dafür Dinge wie meine

Das gleiche gilt für meine Familie. Sie ist jetzt

Playstation verkauft.

ebenfalls ganz weit weg von mir.

Ja, so war das damals. Und heute erinnert sie

Aber meine Gitarre ist ja noch da. Und wenn ich

mich an alles, was ich in der letzten Zeit erlebt

auf ihren sechs Saiten spiele, sehe ich das Meer

habe: Reisen in die Karibik, Ausflüge nach Berlin,

und meine Familie vor mir. Ich schmecke die sal-

Köln, Hamburg. Und Ans Meer.

zige Luft. Und sehe die Gesichter der Menschen,

Wenn ich auf ihr spiele, habe ich Bilder in meinem

die ich mag.

Kopf. Meistens sehr schöne. Von Freunden, die ich gerade nicht sehen kann. Ich sehe sogar Lieder.

Auf den Gitarren-Hals habe ich mir übrigens den

Lieder, die ich liebe, oder solche, die ich längst

Namen meiner kleinen Schwester geschrieben.

nicht mehr hören kann.

Aber die Gitarre selbst hat keinen Namen!

Sie erinnert mich auch an Zuhause, denn da

Warum? Ich habe schon oft überlegt, wie ich sie

wohne ich jetzt nicht mehr. Um Musik zu machen,

nennen könnte. Otto, Claudia, Johnny?

habe ich gerade meine Heimat Eutin in Schleswig-

Nein - kein Name dieser Welt kann sagen, was sie

Holstein verlassen.

für mich ist...



Tiem Ha


mo auer

TIEMO HAUER IST 23 JAHRE ALT, MUSIKER UND LEBT IN STUT TGART. WWW.TIEMO-HAUER.DE





Junitag IN T ERVIEW & TE X T: JONAS ME YE R FOT OS: MAX IMILIAN LE DE RE R

Im ewigen Kalender der Jahreszeiten gibt es

Nur wenige Menschen verlaufen sich zu diesem

wohl kaum etwas Entspannteres zwischen zwei

Ort, der eigentlich zu den zentralsten der Haupt-

Berliner Wintern als die ersten Tage im Juni:

stadt gehört.

Die ungemütlichen Eisheiligen hat man aus dem Haus komplimentiert und kann nun ungestört

Es ist kurz vor 17 Uhr. Wir haben also noch ein

eintauchen in das Meer warmer Sonnenstrah-

wenig Zeit, bis wir Tiemo Hauer treffen. Der

len, das sich erfahrungsgemäß in nur wenigen

23-jährige Musiker wird übermorgen sein Live-

Wochen zu einem zähen Brei aus Gluthitze ver-

Album „Zweihundertvierzigtausend“ veröffentli-

wandeln wird.

chen und ist daher für einige Tage von Stuttgart nach Berlin gereist.

Doch so weit ist es noch nicht. Dieser freundliche und unaufgeregte Mittwochnachmittag ist wie

Während wir uns in einem kleinen Café auf einer

geschaffen dafür, die Seele baumeln zu lassen.

gemütlichen Sitzecke niederlassen mit und uns

Und Kaffee zu trinken. Aber wo?

mit Wasser, Kaffee und Kuchen eindecken, lassen wir unseren Blick über den Litfaßplatz schweifen.

Das Areal um den Hackeschen Markt im Herzen

Einige Meter entfernt von uns sitzt ein junger

Berlins gehört im Allgemeinen nicht unbedingt zu

Mann, der mit seiner dunklen Sonnenbrille und

den ersten Adressen, wenn es darum geht, fried-

Gitarre neben sich so unaufgeregt wirkt wie

lich und fernab jeder Hektik zusammenzusitzen.

dieser sonnige Junitag. Ein freundliches Lächeln breitet sich auf dem

Im Allgemeinen.

Gesicht des Mannes aus, der nach seiner Gitarre greift und zielgerichtet auf uns zukommt. Das ist

Denn die Gleise der S-Bahn scheinen hier eine

er also. Nach einem kräftigen Händedruck nimmt

unsichtbare Trennwand zu errichten, die den

der Musiker auf unserer kleinen Sitzecke Platz

breiten Menschenstrom nach Norden lenkt und

und greift zu seiner Sonnenbrille, hinter der zwei

die Südseite dafür zu so etwas wie einer Ruhe-

strahlend blaue Augen zum Vorschein kommen.

zone erklärt. Dort am Litfaßplatz lässt es sich entspannt aushalten.

Herzlich willkommen, Tiemo Hauer!






Jonas:

Tiemo:

Die Gelegenheiten, sich mal in aller Ruhe mit

Ich muss ja immer irgendetwas erleben. Mir ist in

deinen Freunden hinzusetzen und gemütlich

den letzten Jahren ganz massiv aufgefallen, dass

einen Kaffee zu trinken, sind bestimmt selten

es zwar cool ist, ständig auf Tour zu sein und in

geworden in deinem Leben – immerhin warst du

diesem Rhythmus „Musik produzieren – vor Publi-

in den letzten Monaten ziemlich viel unterwegs...

kum spielen – wieder Musik produzieren – wieder vor Publikum spielen“ zu leben. Dabei erlebe ich

Tiemo:

aber immer wieder mehr oder weniger dieselben

Ach, eigentlich gar nicht. Ich finde diese Frei-

Thematiken und daher auf Dauer nichts wirklich

räume im Alltag immer noch recht oft. Bei mir

Neues mehr.

läuft ja auch alles eher nach Phasen ab: Mal ist

Wenn ich merke, dass ich ganz viele Songs über

mein Terminkalender über längere Zeit komplett

ein und dieselbe Situation schreiben könnte, weiß

vollgepackt, mal gibt es wieder Zeiten, wo wenig

ich, dass es Zeit ist, etwas zu verändern. Und ein

oder gar nichts ansteht. Und dadurch, dass ich

Tapetenwechsel kann durchaus hilfreich sein,

noch in Stuttgart wohne, wo auch die meisten

mal ganz neue Dinge zu erleben, andere Men-

meiner Freunde leben, können wir uns doch recht

schen kennenzulernen und nicht im gewohnten

häufig sehen und etwas unternehmen.

Trott zu verharren.

Jonas:

Jonas:

Sollte man dieses „noch“ besonders hervorhe-

Du hast im Jahr 2006 begonnen, selbst zu kom-

ben? Planst du, deine Heimatstadt Stuttgart zu

ponieren und eigene Texte zu schreiben. War dies

verlassen?

ein besonderer Punkt in deinem Leben, der dir in Erinnerung bleibt?

Tiemo: Ich weiß noch nicht so recht. Ich mag Stuttgart

Tiemo:

wirklich total gerne und freue mich sehr, hier

2006 war für mich tatsächlich ein besonderes

diesen Fixpunkt zu haben, an den ich nach dem

Jahr und in gewisser Weise auch ein Wende-

vielen Unterwegssein immer wieder zurückkeh-

punkt. Ich hatte bis dahin nur in einer englisch-

ren und in mein gewohntes Umfeld eintauchen

sprachigen Band gespielt, wo ich mit den Texten

kann.

nicht wirklich viel zu tun hatte. Dann bin ich aber

Aber so ein wenig zieht es mich auch weg. Ich

zu einer deutschsprachigen Band gewechselt

weiß zwar nicht, was in den nächsten Jahren in

und hatte plötzlich die Möglichkeit, selbst an den

meinem Leben so passiert, aber auf Dauer werde

Texten mitzuschreiben und mich überhaupt mit

ich wahrscheinlich nicht in Stuttgart bleiben.

der Sprache auseinanderzusetzen. Dadurch habe ich gemerkt, dass mir das irgendwie total liegt

Jonas:

und ich mir viele Dinge von der Seele schreiben

Was würdest du dir denn von einem Tapeten-

kann, die mich beschäftigen. Außerdem hat es

wechsel erhoffen?

auch richtig viel Spaß gemacht.


Meine Songs schreibe ich eigentlich meistens über Themen, über die ich so von Person zu Person gar nicht reden würde. Tiemo: Dass ich dann in der Konsequenz auch meine

Ich bin sicher, dass es Menschen gibt, die das

eigenen Songs geschrieben und am Klavier ver-

können. Ich würde mir allerdings nicht anma-

tont habe, lag einfach daran, dass ich irgendwann

ßen, das von mir selbst zu behaupten – aber ich

nicht mehr in dieser Band gespielt habe, sondern

habe ja auch meine Musik als Stütze: Meine Songs

erst einmal alleine unterwegs war.

schreibe ich eigentlich meistens über Themen, über die ich so von Person zu Person gar nicht

Jonas:

reden würde. Ob es jetzt beispielsweise ganz all-

Die deutsche Sprache hat also für dich eine ganz

gemein um Dinge wie Trennungen geht oder eher

besondere Bedeutung?

um zutiefst private und persönliche Thematiken, ich könnte mich nie vor jemanden hinsetzen und

Tiemo:

anfangen, mir das einfach so von der Seele zu

In den Anfängen noch nicht wirklich, da habe ich

reden. Wenn ich das alles in einen Songtext verar-

gar nicht darüber nachgedacht, wozu Sprache in

beite und über den Sound transportiere, fällt das

Songtexten fähig ist. Ich habe einfach nur aufge-

wesentlich leichter.

schrieben, was mich bewegt. Das hat sich aber

Und mittlerweile glaube ich, dass ich mit meiner

über die letzten Jahre sehr verändert.

Musik die Botschaft und das Gefühl dahinter eher

Inzwischen sehe ich das Schreiben als eine echte

noch intensivieren kann. Einfach nur jemandem

Herausforderung, weil mir aufgefallen ist, wie kri-

zu erzählen, wie es mir geht, hätte da nicht den-

tisch die Leute bei deutschen Texten sind – viel

selben Effekt.

kritischer übrigens als bei englischen. Im Allgemeinen sind zwar die deutschen Mainstream-

Jonas:

pop-Texte auch nicht wirklich toll, aber sobald

Das hört sich so ähnlich an wie bei Schauspielern,

man nicht diese Schiene fährt und für sich den

die zu jemand anderem werden, sobald sie in ihr

Anspruch entwickelt hat, mit seiner Musik die

Kostüm schlüpfen. Ist deine Musik in gewisser

Menschen auch in gewisser Weise zum Nachden-

Weise das, was für Schauspieler das Kostüm ist?

ken zu bringen, wird man ganz besonders kritisch beäugt und auf Qualität geprüft.

Tiemo: Nein, nicht ganz. Im Gegensatz zu einem Schau-

Jonas:

spieler, der ja versucht, durch die Rolle ein ande-

Würdest du die These unterstützen, dass man mit

rer zu werden, will ich in meiner Musik ganz ich

der deutschen Sprache tatsächlich auf den Punkt

selbst sein. Ich glaube allerdings, dass ich in der

genau jedes Gefühl und jede emotionale Situation

Musik vielleicht einen anderen Mut aufbaue, der

ausdrücken kann, wenn man nur tief genug in

es mir ermöglicht, jene Dinge auszusprechen, die

diesem riesigen Wortschatz sucht?

ich ohne Musik nicht mitteilen würde.






Jonas: Mut war in den letzten Jahren auch in anderer

Tiemo schweigt für einen Moment und lässt

Hinsicht ein wichtiges Thema in deinem Leben

seinen Blick über den Litfaßlatz wandern. Dabei

– schließlich erfordert es eine gewisse Portion

wirkt es, als würde sich seine innere Haltung

davon, wenn man beabsichtigt, sich von einem

auf den ganzen Körper übertragen und ihm eine

Majorlabel zu trennen und etwas Eigenes auf die

gewisse physische Aufrichtigkeit verleihen, mit

Beine zu stellen.

der er die Bedeutung seiner Botschaft unterstreicht.

Tiemo: Für mich war dieser Schritt sehr wichtig. Mein

Die wunderbare Nachmittagssonne schenkt uns

damaliges Label hatte mich zwar nicht wirk-

gerade ihr schönstes Licht, also beschließen

lich eingeschränkt und insgesamt finde ich auch

wir, ein wenig die Umgebung zu erkunden. Wir

nicht, dass Majorlabels für Künstler schlecht sind,

verlassen das kleine Café und laufen Richtung

trotzdem war mir persönlich dieses klitzekleine

Museumsinsel.

Bisschen an Eingriff schon zu viel. Und da ich mich nun wohler fühle als vorher, weiß ich, dass

Am Säulengang vor der Alten Nationalgalerie

es der richtige Weg war.

machen wir Halt und nutzen die Kulisse der erha-

Zwar ist es jetzt natürlich auf der einen Seite

benen Gemäuer, um einige Fotos zu schießen.

immer so, dass ich ganz alleine dafür verantwort-

Tiemo lässt sich zwischen zwei Säulen nieder

lich bin, wenn ich mal auf die Schnauze falle. Auf

und stellt seine Gitarre ab. Wie ein stiller Beglei-

der anderen Seite habe ich aber die Gewissheit,

ter wartet sie geduldig und lauscht den Worten

dass meine Musik von innen heraus funktioniert,

ihres Besitzers.

wenn ich erfolgreich bin. Und das ist ein tolles Gefühl. Jonas: Jonas:

War Musikmachen in Deiner Familie eigentlich ein

Bist du außerhalb der Musik auch so pragma-

großes Thema?

tisch? Tiemo: Tiemo:

Nein, irgendwie gar nicht. Mein Vater hat nie ein

Ja, ich glaube schon. Ich bin jemand, der sich von

Musikinstrument gespielt, lediglich meine Mutter

bestimmten Dingen relativ schnell distanziert,

vor etlichen Jahren mal ein wenig Gitarre.

wenn er merkt, dass sie nicht so richtig passen. Das ist zwar nicht unbedingt immer hilfreich, aber es fühlt sich besser an.


Heute klickt man einfach nach einigen Sekunden weiter, wenn’s nicht gefällt. Das finde ich irgendwie schade.

Tatsächlich Musik gehört haben wir nur, wenn

Tiemo lächelt und grüßt freundlich zurück. Dann

wir mit dem Auto in Urlaub gefahren sind oder

greift er seine Gitarre und wir spazieren weiter.

so. Dieses hundertprozentige Interesse für Musik gab es in meiner Familie daher nur bei mir. Jonas: Jonas:

Die Klickzahlen einiger deiner Videos bei YouTube

Gibt es Musik, die dich gerade besonders inspi-

kratzen an der Millionengrenze. Siehst du die Ver-

riert?

breitung deiner Musik über soziale Netzwerke als wichtige Komponente deiner Arbeit, oder spielt

Tiemo:

das für dich gar keine so große Rolle? Immerhin

Ja, zur Zeit ist das die isländische Band „Sigur

wäre es noch vor zehn Jahren nicht so ohne Wei-

Rós“. Die machen unfassbar geile Musik, ich ver-

teres möglich gewesen, in so kurzer Zeit ein so

ehre sie sehr. Sie transportieren durch ihre Musik

breites Publikum zu erreichen.

eine unglaubliche Melancholie, erzeugen einerseits viele ruhige Momente und sind andererseits

Tiemo:

total dynamisch – dann lassen sie es krachen bis

Ich nehme das schon wahr, was da passiert, und

zum Gehtnichtmehr.

finde es immer wieder beeindruckend, welche

Ich höre aber auch gerne deutsche Musik, die in

Macht so etwas entwickeln kann. Aber es gibt

die Richtung „Element of Crime“ geht. Und ich

natürlich auch negative Seiten daran: Durch die

mag Gisbert zu Knyphausen, seine Texte schätze

Tatsache, dass Musik immer, überall und für

ich wirklich sehr.

jeden verfügbar ist, geht in gewissem Maße auch die Wertigkeit verloren. Man denkt ja einfach nicht mehr darüber nach, wie viel Arbeit eigent-

Wir ziehen weiter zum Lustgarten und wandern

lich dahinter steckt, wenn man so einen Song

am Kupfergraben vorbei bis zur Monbijoubrü-

schreibt, produziert und eventuell noch ein schö-

cke. Tiemo lehnt sich an die Brüstung und richtet

nes Video dazu macht.

seinen Blick auf das Wasser des Kanals.

Früher habe ich total gerne eine Schalplatte genommen und von vorne bis hinten durchgehört.

Einige Ausflugsschiffe schleichen dort so lang-

Heute klickt man einfach nach einigen Sekunden

sam den Seitenarm der Spree entlang, als

weiter, wenn’s nicht gefällt. Das finde ich irgend-

würden sie ihren Passagieren den jungen Stutt-

wie schade.

garter Musiker als Berliner Attraktion präsentieren. Einige Leute knipsen Erinnerungsfotos, andere winken.






Wenn meine Songs andere Menschen aufbauen, ist das die schönste Bestätigung, die ich mir vorstellen kann. Jonas: Trotzdem muss deine Musik ja eine gewisse

Bei Live-Alben spürt man die besondere Atmo-

Relevanz für etliche Menschen haben und sie an

sphäre beim Auftritt, das macht diese Platten ein-

einem bestimmten Punkt abholen, sonst wären

fach magischer und auch ein Stückchen cooler als

die Klickzahlen nicht so hoch.

Studioalben.

Tiemo:

Jonas:

Das ist ja wiederum ein Aspekt, den ich daran

Wann ist die Entscheidung gefallen, ein Live-

sehr mag: Ich kann in gewisser Weise in Klickzah-

Album zu produzieren?

len messen, wie gut oder schlecht meine Musik ankommt. Allerdings ist das nicht vergleichbar

Tiemo:

mit dem Feedback, das ich während eines Live-

Als wir im Herbst 2012 unsere letzte Tour gespielt

Auftritts erhalte: Wenn ich während eines Kon-

haben, gab es irgendwann die Idee, eine Live-DVD

zerts in die Gesichter der Menschen blicke und

zu produzieren. Da so eine DVD aber wahnsin-

dort genau ablesen kann, was meine Musik in

nig kostenintensiv ist und wir so etwas in dem

ihnen bewirkt und was sie gerade fühlen, ist das

Moment gar nicht stemmen konnten, haben wir

etwas ganz Anderes.

uns als Alternative für ein Live-Album entschie-

Ab und zu passiert es, dass man im Publikum ein

den und schließlich das Konzert in Stuttgart mit-

Schniefen hört oder jemandem die Tränen run-

geschnitten.

terkullern, weil ihn einer meiner Songs in seinem tiefsten Inneren berührt hat. Eigentlich will ich

Jonas:

ja niemanden zum Weinen bringen - aber dieses

Das Album trägt den Titel „Zweihundertvierzig-

Feedback auf meine Musik ist dann so intensiv,

tausend“. Wie kam es zu diesem Namen?

unmittelbar und authentisch, dass ich das in der Form auf YouTube auch mit einer Million Klicks

Tiemo:

nie erhalten könnte.

Wir waren in den letzten vier Jahren wirklich viel unterwegs und hatten in der Zeit unzählige Miet-

Jonas:

wagen genutzt. Bei den Abrechnungen kann man

Sind diese intensiven Momente und Reaktionen

ja genau sehen, wie viele Kilometer man mit dem

des Publikums auch mit ein Grund, warum du dich

jeweiligen Auto zurückgelegt hat.

dazu entschieden hast, ein Live-Album herauszu-

Also haben wir uns mal den Spaß gegönnt, alle

bringen?

Strecken zu addieren, und heraus kam diese verrückte Zahl. Als wir uns dann irgendwann später

Tiemo:

mal im Tourbus über diese riesige Summe unter-

Ja, auf jeden Fall. Diese Momente, die man

halten hatten, kam plötzlich die Idee auf, dass

gemeinsam mit dem Publikum erlebt, sind ein-

man dem Live-Album diesen Titel geben könnte.

fach einmalig.


Jonas: Du sagst von dir selbst, dass du ein Mensch bist,

Gerade in Momenten, wo ich mir mal wieder nicht

der emotional Achterbahn fährt und diese extre-

sicher bin, ob ich das alles nur für mich mache,

men Gefühlshöhen und –tiefen irgendwie ausdrü-

oder ob auch andere irgendetwas davon haben,

cken muss. Gibt es einen Song von dir, der diese

treiben mich solche Feedbacks an, immer weiter-

Achterbahnfahrt in besonderer Weise beschreibt?

zumachen mit meiner Musik. Und das macht mich glücklich.

Tiemo: Ich glaube, dass man meine Achterbahnfahrt der Gefühle weniger an einem einzelnen Song ablesen

Wieder halten wir an und genießen mit Blick

kann. Wenn man aber alle meine Stücke zusam-

auf den Kanal die letzten warmen Sonnenstrah-

men betrachtet, erkennt man sie schon eher. Die

len. Unbeirrbar fließt das Wasser an uns vorbei,

meisten meiner Songs habe ich geschrieben,

immer nach vorne, immer geradeaus.

wenn ich gerade ein Tief hatte und besonders gut reflektieren konnte. Bei emotionalen Hochs war

Es kann gar nicht anders.

ich eigentlich eher mit Freunden unterwegs und hatte weniger das Bedürfnis, einen neuen Song zu

Tiemo lehnt an einem Geländer und schweigt. Für

kreieren.

einen Moment scheint er eins zu werden mit den

Interessanterweise hat das Schreiben aber

Jahrhunderte alten Bauwerken um ihn herum,

immer geholfen, von einem Tief wieder in ein

die unzählige Geschichten vom Leben erzählen

Hoch zu kommen, und hat so gewissermaßen die

könnten. Man müsste ihnen nur aufmerksam

Achterbahn nach oben getrieben.

zuhören.

Jonas:

Ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf dem

Erfährst du von deinen Fans ähnliche Feedbacks?

Gesicht des jungen Musikers aus, seine hell-

Haben deine Stücke das Potenzial, Menschen von

blauen Augen funkeln im Licht der Nachmittags-

einem Tief in ein Hoch zu schießen?

sonne.

Tiemo:

Manchmal braucht es nur einen entspannten Tag

Derartige Feedbacks erhalte ich immer wieder,

zwischen zwei Wintern, um glücklich zu sein.

vor allem über das Internet. Dafür ist dieses Medium ja wiederum ideal, weil es eine unmit-

Mit einem Meer warmer Sonnenstrahlen.

telbare und spontane Reaktion auf meine Musik erlaubt. Wenn meine Songs andere Menschen aufbauen, ist das die schönste Bestätigung, die ich mir vorstellen kann.

Und guter Musik.




JASMIN LIEBETRAU IST 32 JAHRE ALT, INTERIOR DESIGNERIN UND LEBT IN BERLIN. WWW.MUSKAT18.DE BE BERLIN DESIGN-SOUVENIR AWARD

Jasmin Liebetr


n rau





Souvenir Sammlung T EXT: JASMIN LIE BE TRAU FOT O: MAX IMILIAN KÖNIG

Ein Menschenleben stelle ich mir als eine große

Mit kleinen Objekten und Dingen jedoch gebe ich

Collage von Momenten vor. Besondere Momente

persönlichen Erlebnissen eine sichtbare Form.

passieren einfach und werden irgendwann zu

Steine, Holzstücke, Miniaturen oder Figuren,

Erinnerungen. Zeit spielt dabei eine große Rolle.

bewahren für mich symbolisch das Andenken an einen bestimmten Ort, ein wichtiges Ereignis und

Es kann ein Jahr, ein Monat, ein Tag oder nur

diese Zeit.

ein einziger Augenblick sein, den ich als bloße, gedankliche Erinnerung in meinem Kopf fest-

Jedes Souvenir ist zugleich auch ein wertvolles

halten kann.

Fundstück, das in selbstgebauten Holzkästchen seinen Platz findet und meinen Erinnerungen zu einer besonderen Kollektion werden lässt.


Ni So


NIRAV SOLANKI IS A 31-YEAR-OLD PHOTOGRAPHER

LIVING IN LONG BEACH, CALIFORNIA .

WWW.NIRAVSOLANKI.COM

irav olanki




The Colors of Earth T EXT & PHOTO: NIRAV SOLANKI

I recently visited Flagstaff, Arizona to shoot a

This particular photo was taken at the Sunset

wedding for a client of mine and since Flagstaff is

Crater Volcano National Monument Park. I was

well over 8 hours from where I reside, I decided to

moved by the texture and the colors of earth.

go exploring while I was there. In the background, the mountains add depth to the Arizona is truly a magnificent state that has so

entire image. I stood for a few minutes embracing

much natural beauty that one can appreciate,

this magnificent sight that is not seen everyday.

especially for a photographer.

This sight was only one of many I had witnessed on my journey.



JOA HERRENKNECHT IST 30 JAHRE ALT, PRODUKT- UND GRAFIKDESIGNERIN UND LEBT IN BERLIN WW W.JOA-HERRENKNECHT.COM BE BERLIN DESIGN-SOUVENIR AWARD

Joa Herrenk


knecht




Entdeckungsreise IN T ERVIEW & TE X T: JONAS ME YE R FOT OS: MAX IMILIAN KÖNIG

Wer offen ist für fremde Städte, Länder und

eines stimmungsvollen Backsteinbaus. Hohe

Kulturen, der weiß, dass die wahren Schätze

Decken und große Fenster schaffen hier großzü-

meist abseits allgemeiner Trampelpfade liegen.

gig Platz und Licht, um Gedanken fliegen und

Es bedarf nur etwas Mut und Neugier, um die

Ideen wachsen zu lassen.

gewohnten Wege zu verlassen und einzutauchen in die unbekannte Welt der Seitenstraßen und

Mit einem freundlichen Lächeln empfängt uns

Hinterhöfe. Hier verstecken sich die spannend-

die junge Designerin an der Tür und gewährt

sten Geschichten, die nur darauf warten, gefun-

uns Einlass in ihr Reich. Wie kleine Kinder in

den und gehört zu werden.

einem Süßwarenladen wissen wir gar nicht, wo wir zuerst hinschauen sollen: In jeder Ecke des

Doch um wirklich Neues zu entdecken, muss man

hellen und großzügigen Studios türmen sich

gar nicht in die Ferne reisen: Oft genügt bereits

Kleinode aus Entwürfen, Mustern, Skizzen, Pro-

ein kurzer Abstecher in die Nachbarschaft. Oder

totypen und Produkten. Man könnte hier Stunden

in den Berliner Stadtteil Friedrichshain.

verbringen und Tage – und hätte immer noch nicht alle Schätze entdeckt.

Hier, wo sich die Frankfurter Allee wie eine pulsierende Hauptschlagader durch die Häuserrei-

Auf einem Tisch in der Mitte des Raums ist gerade

hen gräbt, scheint die Geburtsstätte aller

ein überdimensionaler Berliner Stadtplan ausge-

geheimnishütenden Hinterhöfe zu sein. Nur

breitet – eine Tischdecke, die Joa entworfen und

wenige Schritte braucht es von der U-Bahnsta-

gemeinsam mit ihrem Praktikanten Sep umge-

tion Samariterstraße, um den Lärm der großen

setzt hat, um sie beim beBerlin Design-Souvenir

Straße abzuschütteln und eine Oase der Ruhe zu

Award einzureichen. Es wird ein neues Andenken

betreten.

für Berlin gesucht, das mehr Charakter hat als die üblichen Kitschprodukte der zahllosen Sou-

In dieser Hinterhofoase hat sich vor einem Jahr

venirläden der Stadt. Die junge Designerin gehört

Joa Herrenknecht eingerichtet. Ihr Studio für

zu den 20 Nominierten, die es mit ihren Ideen in

Grafik- und Produktdesign liegt im ersten Stock

die letzte Wettbewerbsrunde geschafft haben.





Ich versuche schöne Dinge zu erschaffen, an denen sich andere Menschen erfreuen oder etwas damit anfangen können. Jonas: Du bist in Kanada geboren und hast bereits in

Nur bleibt nach dem Studium natürlich fast nie-

Städten wie Mailand, New York oder Sydney

mand dort, die meisten ziehen weg in größere

gelebt – deine Vita liest sich wie eine kleine Wel-

Städte.

treise. Jonas: Joa (lächelt):

Dich selbst hat es ja auch nicht in Karlsruhe

Ja, das stimmt. Schon als Kind durfte ich viele

gehalten: Nach deinem Abschluss bist du direkt in

verschiedene Ecken der Welt kennenlernen, weil

die USA gegangen.

meine Eltern oft und gerne gereist sind. Dieses Gen habe ich wohl geerbt. Die meiste Zeit meines

Joa:

Lebens habe ich aber tatsächlich in Süddeutsch-

Ich wollte einfach ins Ausland und bin daher für

land verbracht: Ich bin in unmittelbarer Nähe zur

einige Zeit nach New York gezogen. Von dort ging

französischen und schweizer Grenze aufgewach-

es dann weiter nach Sydney, wo ich noch ein

sen und habe später dann an der HfG in Karlsruhe

Grafikstudium drangehängt habe – und wo ich

Produktdesign studiert.

eigentlich auch bleiben wollte.

Jonas:

Jonas:

Erinnerst du dich noch, warum du dich gerade für

Aber?

Produktdesign entschieden hast? Joa: Joa:

Ein Freund von mir wollte sich gemeinsam mit

Eigentlich wollte ich zuerst Architektur studie-

mir in Berlin selbständig machen, also bin ich

ren und habe deshalb auch vor dem Studium ein

letztes Jahr zurück nach Deutschland gekommen.

Praktikum bei einem Architekten gemacht. Der

Die Idee mit der Selbständigkeit war immer da:

hat mir aber dringend davon abgeraten, weil man

Mit 30 ist man für so einen Schritt im besten Alter.

als selbständiger Architekt nicht wirklich viel

Und so langsam sollte man eh mal in die Puschen

bauen kann, und meinte, dass Design viel interes-

kommen, wenn man später eine eigene Family

santer und kreativer wäre.

will.

Ich wollte immer etwas erschaffen, daher habe ich

Aber aus unserem gemeinsamen Plan wurde

mich für Produktdesign entschieden. Im Endef-

nichts. Und ich habe mir gedacht: Wenn ich ja eh

fekt war diese Entscheidung auch super, weil mir

schon hier bin, kann ich das auch einfach alleine

das Studium total Spaß gemacht hat und es an

machen.

der HfG auch viele Freiheiten, eine tolle Werkstatt und gute Profs gab.


Jonas:

Joa:

Das hört sich alles sehr nach „easy going“ an.

Absolut. Das Gute an Berlin ist, dass es einem eine so immense Freiheit lässt – alleine durch

Joa (lacht):

die Tatsache, dass das Leben hier günstig ist und

Ist ja auch alles nicht so schwer: Man besorgt sich

man nicht im Verkehrschaos versinkt. Das wäre in

ein Ticket und fliegt einfach.

New York oder London so nicht denkbar. Ich kann

Aber im Ernst: So „easy going“ ist der Schritt

hier entspannt arbeiten und dabei trotzdem den

in die Selbständigkeit natürlich nicht, ganz im

internationalen Markt bedienen, meine Kunden

Gegenteil: Das ist eine wirklich große und wich-

kommen aus aller Welt.

tige Entscheidung im Leben. Letztendlich bin ich

In Berlin findet man diese besondere Kombination

diesen Weg gegangen, weil ich nach wie vor etwas

aus neu-deutscher Lässigkeit und urdeutscher

erschaffen wollte und es dazu für mich keine

Verlässlichkeit, das funktioniert ziemlich gut.

bessere Möglichkeit gab. Nach meinem ersten

Insgesamt steckt eine unglaubliche Kraft und

Jahr in der Selbständigkeit kann ich guten Gewis-

Energie in der Stadt, das ist echt toll.

sens sagen: richtige Entscheidung, super Job! Jonas: Jonas:

Wer sich selbständig macht, sieht ja irgendwo

Zu deinem Team gehören mittlerweile zwei Prak-

einen Bedarf, auf den er mit seinem Angebot

tikanten und ein Freelancer. War es schwierig, für

reagieren will. Wie sieht das bei dir aus?

dein Studio gute Leute zu finden? Joa: Joa:

Es ist nicht so, dass die Welt unbedingt noch

Nein, ganz im Gegenteil. Ich erhalte richtig viele

einen weiteren Stuhl bräuchte – das ist mir dur-

Anfragen für Praktika. Und so blöd es sich auch

chaus bewusst. Aber darum geht es mir auch gar

anhören mag: Die momentane Wirtschaftskrise

nicht. Meinen Beruf verstehe ich mehr als ein

in vielen europäischen Ländern treibt die talen-

Geben und weniger als ein Nehmen. Ich versuche

tiertesten und motiviertesten jungen Leute nach

schöne Dinge zu erschaffen, an denen sich andere

Berlin. Die Stadt zieht einfach magisch an – wäre

Menschen erfreuen oder etwas damit anfangen

ich in Karlsruhe ansässig, wären die Anfragen

können. Meine Leuchten sind dafür ein gutes

wohl nicht so zahlreich.

Beispiel, so etwas mache ich echt gerne – und bisher klappt es.

Jonas: Dieser Berlin-Faktor ist also für dein Studio ein Bonus?






Wenn draußen auf der Straße so viel los ist, braucht man einfach einen Rückzugsort, an dem man sich wohlfühlt.

Jonas:

Wir unterbrechen für einen Moment, denn Joa

Deine Kreativität wird also aus einer Vielzahl von

hat vorgeschlagen, unser Gespräch im Freien

Erinnerungen befeuert...

fortzusetzen. Wir greifen unser Equipment und begleiten die Designerin durch eine Tür zu einer

Joa:

Treppe, die in die oberen Etagen des Backstein-

Ja, in gewisser Weise schon. Deshalb mag ich

baus führt. Joas Kollegen fahren ihre Rechner

auch unsere Idee mit dem Berliner Stadtplan in

runter und folgen uns mit Gläsern und Geträn-

Form einer Tischdecke so, mit dem wir uns beim

ken. Es ist 18:00 Uhr, sozusagen Feierabend.

Design-Souvenir Award beworben haben. Es ist einfach eine schöne Vorstellung, gemeinsam am

Oben angekommen öffnet man uns die Pforte ins

Küchentisch zu sitzen und sich gegenseitig die

Freie: Wir betreten eine kleine Dachterrasse, die

vielen Orte der Stadt zu zeigen, an die man ganz

uns einen wundervollen Blick über die Haupt-

bestimmte Erinnerungen und Erlebnisse knüpft –

stadt schenkt.

das ist wie eine kleine Entdeckungsreise! Wir haben die Tischdecke übrigens ganz bewusst von Hand gezeichnet und sie nicht klinisch rein

Jonas:

gehalten, damit man darauf rumkritzeln oder eine

Du warst schon an so vielen Orten auf der Welt.

Stelle einkringeln kann. In Berlin wird ja auch an

Wie beeinflussen diese Reisen dein Design?

jeder Ecke getagged und gesprüht.

Joa:

Jonas:

Alles, was du gestern, heute oder morgen erlebst,

Du hast die Stadt in den letzten Monaten sicher

geht in irgendeiner Art und Weise in deine Ent-

auch ausführlich erkundet. Stößt du hier auf viele

würfe ein. Denn überall, wo du auf der Welt

Orte oder Dinge, bei denen du das Gefühl hast,

unterwegs bist, siehst du Dinge, die du richtig gut

dass sie dringend verbessert oder verschönert

findest und bei denen du dich fragst, wie du sie

werden müssten?

am besten in einer neuen Idee verarbeiten kannst. Das Problem ist eigentlich nur, dass die ganzen

Joa:

Eindrücke und Erlebnisse eine riesige Bildersam-

Ja, das passiert tatsächlich öfter. Man glaubt ja

mlung in deinem Kopf erzeugen, die du erst einmal

nicht, wie sehr ein Charakter von seiner Form

ordnen musst. Am Anfang eines neuen Projekts

beeinflusst wird – und welche Stimmungen diese

steht nämlich immer ein großes Fragezeichen –

Form erzeugen kann.

und du brauchst das passende Bild aus deiner

Man muss sich nur folgende drei Situationen vor-

Erinnerung, um dich inspirieren zu lassen das

stellen: Man steht in einer Bruchbude, im Super-

Fragezeichen aufzulösen.

markt oder in einem Spa. Wenn man sich jetzt zu allen drei Orten eine Stimmung überlegen müsste, wäre dies bei jedem Ort total verschieden.


Die Stimmung lässt sich variieren, indem man

Daher will ich in Zukunft mehr mit Produktion-

die Atmosphäre eines Raums verändert. Und das

spartnern und an Wegen zur direkten Vermark-

passiert im Wesentlichen über Formen, Farben

tung arbeiten. Wenn jemand mich anruft und sagt,

und Licht.

das und das will ich haben, dann will ich in der

Das ist übrigens dasselbe wie bei Kleidung, im

Lage sein zu sagen ‘Ja, hier gibt es das... und der

Prinzip ist es alles eins. Man muss dabei nur auf-

Preis ist auch okay’ - Außerdem will ich gerne ein

passen, dass man selbst nicht zu oberflächlich

Café oder Restaurant einrichten, überhaupt wird

wird und beispielsweise darüber richtet, wie

Inneneinrichtung immer wichtiger.

gut oder schlecht jemand zu Hause eingerichtet oder gekleidet ist, denn der Mensch dahinter ist

Jonas:

natürlich immer wichtiger als die Fassade. Schön-

Hast du selbst eigentlich ein Lieblingsstück?

heit schützt nicht vor einem schlechten Charakter, aber das ist ja klar.

Joa:

Bei meiner Arbeit geht es mir auch nicht darum,

Als Kind hatte ich immer eine Decke, die ich so

unbedingt die teuersten Gegenstände in einem

geliebt habe, dass ich mir sicher war, später mal

Raum zusammenbringen zu müssen. Mir ist ein-

mit ihr begraben zu werden. Und wer weiß, viel-

fach wichtig, das Umfeld positiv zu beeinflussen:

leicht interpretiere ich irgendwann mal diese

Wenn ich jemandem dabei helfen kann, seine

Decke neu und produziere sie - es wäre über-

Wohnung ein Stückchen schöner zu machen,

haupt ein sehr schönes Ziel, ein Lieblingsstück für

freue ich mich total.

jemanden zu entwerfen.

Denn wenn draußen auf der Straße so viel los ist, braucht man einfach einen Rückzugsort, an dem man sich wohlfühlt. Ästhetik kann man auch mit

Wir stoppen das Aufnahmegerät. Für einige

geringen finanziellen Mitteln schaffen - aber das

Minuten lassen wir unseren Blick über die zahl-

Interesse dafür ist wichtig.

losen Dächer Berlins wandern.

Jonas:

Wie viele Seitenstraßen und Hinterhöfe mag es

Hast du eine Vision, in welche Richtung sich dein

noch geben in dieser Stadt? Und wie viele Schä-

Studio entwickeln soll?

tze mögen dort wohl darauf warten, endlich entdeckt und gehoben zu werden?

Joa: Ich will in Zukunft auf jeden Fall mehr selbst pro-

Joa dreht ihr Gesicht in die Abendsonne und

duzieren. Oft stehen wir vor dem Problem, dass

lächelt zufrieden. Ihre Entdeckungsreise hat

wir einen Prototypen haben, der erfolgreich in

gerade erst begonnen.

der Presse ist, aber den wir nicht schnell genug als Endprodukt raushauen können, weil entweder

Dazu braucht sie keinen Stadtplan.

ein vernünftiger Produzent fehlt oder die Einzelproduktion zu teuer ist.

Aber vielleicht eine Tischdecke.




Kakk madd


AXEL UND PÅL VINDENES SIND MITGLIEDER DER BAND KAKKMADDAFAKKA UND LEBEN IN BERGEN, NORWEGEN. WWW.KAKKMADDAFAKKA .COM

k dafakka





Alle Zeit der Welt IN T ERVIEW & TE X T: JONAS ME YE R FOT OS: MAX IMILIAN KÖNIG

Die Orte, an denen man die Zeit vergessen kann,

Nintendo-Games aus den Neunzigern und lecker

sind rar geworden in Berlin. Aus allen Ritzen des

Kuchen mit Sahne oder ohne. Alles liebevoll. Und

jungen Hauptstadtbetons drückt sich mittler-

unaufgeregt.

weile ein klebriges Höherschnellerweiter, das wie Baumharz an Fingern und Kleidung haftet.

Hier wollen wir heute Nachmittag Axel und Pål

Unterlegt von einem ewig-wummernden Beat

Vindenes treffen, die quasi als Repräsentanten

kriecht es langsam die zahllosen neuen Glasfas-

ihrer Band Kakkmaddafakka aus dem schönen

saden herab, um sich wie ein Klebefilm über die

Bergen nach Berlin gereist sind.

Straßen zu legen und auch die letzten Bastionen der Zeitlosigkeit zu erobern.

Gott sei Dank, will man fast sagen, denn es wäre mit dem kompletten Aufgebot der insgesamt fünf

Ein Entkommen scheint kaum möglich – es sei

Musiker und drei Backgroundtänzer wohl etwas

denn, man ist mobil. Und so treibt es Rosmarie

eng geworden in dem kleinen Bus.

Köckenberger mit ihrem „Kjosk“ von Saison zu Saison in eine andere Ecke Berlins, die noch nicht

Wir sind eine halbe Stunde zu früh. Unser Foto-

von dem klebrigen Höherschnellerweiter erfasst

graf Maximilian König hat also alle Zeit der Welt,

wurde. Der „Kjosk“, das ist eigentlich ein Doppel-

um das Equipment aufzubauen und die Location

decker-Bus, gebaut im Jahr 1965 und die meiste

zu inspizieren. Als wir uns wenig später im Erd-

Zeit seines Lebens im Dienste der Berliner Ver-

geschoss des „Kjosk“ einen kleinen Vorabkaffee

kehrsbetriebe unterwegs.

gönnen wollen, schallt aus der ersten Busetage plötzliches Gelächter. Neugierig steigen wir die

Doch das war einmal. Mittlerweile genießt der

schmale Treppe nach oben und entdecken Axel

Best Ager in vollen Zügen seinen Ruhestand. Und

und Pål, die ausgelassen an den alten Nintendo-

erlebt gleichzeitig seinen zweiten Frühling. Vor

Konsolen rumdaddeln.

kurzem hat das rollende Hierdarfstduglücklichsein einen neuen Standort erobert und bietet in

Vorbildlich, die Beiden sind schon da! Herzlich

der Cuvrystraße im Nordosten Kreuzbergs alles,

willkommen in Berlin. Und herzlich willkommen

was das Herz begehrt: Kaffee, Bier, Eis am Stiel,

im „Kjosk“.






Jonas:

Pål:

Seit heute ist euer neues Album „Six months is

Wir gönnen uns selbst nicht wirklich viel Frei-

a long time“ offiziell erhältlich. Wie geht’s euch

zeit und arbeiten hart, egal ob wir gerade unter-

damit, dass euer drittes Baby nun endlich das

wegs sind oder zuhause in Bergen sitzen. Es gibt

Licht der Welt erblickt hat?

Leute, die uns das gar nicht abnehmen. Wenn sie unsere ausgelassenen Shows sehen, glauben sie,

Axel:

dass alles so easy ist, wie es auf der Bühne wirkt.

Das fühlt sich absolut großartig an! Wir haben

Welche Kraftanstrengung hinter dem Ganzen

ziemlich lange an dieser Platte gearbeitet und

steht, davon haben sie leider keine Ahnung.

sind daher total froh, dass wir den Leuten wieder viele neue Kakkmaddafakka-Songs vorstellen

Jonas:

können.

Ihr setzt in eure Auftritte ein enormes Maß an Kraft und Energie, die ihr auf das Publikum über-

Jonas:

tragt. Woher nehmt ihr eure Power?

Erinnert ihr euch, wann die allererste Idee zu diesem Album entstanden ist?

Axel: Wenn du nicht wirklich liebst, was du da tust,

Pål:

funktioniert es nicht. Dann wärst du nach wenigen

Wir haben eigentlich schon direkt mit dem Release

Tagen einfach total fertig. Uns macht diese Arbeit

unseres zweiten Albums „Hest“ damit begonnen,

richtig Spaß und wir haben uns vor langer Zeit

neue Songs zu schreiben – und das auch seitdem

dazu entschieden, unsere gesamte Aufmerksam-

kontinuierlich getan.

keit auf die Musik zu richten. Wir wissen, dass wir für eine gute Sache arbeiten, und das treibt uns

Jonas:

an. Außerdem könnten wir eh nicht lange stillsit-

Ihr habt in den letzten zwei Jahren so viele

zen, ohne irgendetwas zu tun.

Konzerte und Festivals gespielt, dass ihr quasi „always on the road“ gewesen seid. Wie ist es

Jonas:

euch gelungen, da noch das Songschreiben

Wie würdet ihr den Sound eures neuen Albums

dazwischenzuschieben?

beschreiben? Was hat sich verändert?


Es geht uns nicht in erster Linie darum, die Instrumente perfekt zu beherrschen. Wir wollen vielmehr eine Geschichte erzählen.

Pål: Insgesamt gibt es gar keine so großen Verände-

Wir sind bereits in sehr jungen Jahren mit Musik

rungen im Kakkmaddafakka-Sound, die Songs

in Berührung gekommen, die dadurch schon recht

sind einfach nur etwas ruhiger. Der größte Unter-

früh ein wichtiger Teil unseres Lebens wurde.

schied zu „Hest“ ist wohl, dass wir diesmal die

Man entwickelt so eine ganz bestimmte Art und

Platte in einem wesentlich besseren Studio auf-

Weise, mit Musik umzugehen, und lernt viel über

nehmen konnten.

die Bedeutung und Wirkung z.B. von Melodien. Trotzdem machen wir immer noch Popmusik

Axel:

und verfolgen daher einen ganz anderen Ansatz:

Ich würde es mal so formulieren: Während wir

Es geht uns nicht in erster Linie darum, die Ins-

durch „Hest“ erst nach und nach gelernt haben,

trumente perfekt zu beherrschen. Wir wollen

wie man gute Songs schreibt, konnten wir das bei

vielmehr eine Geschichte erzählen. Ich würde

„Six months is a long time“ von Anfang an prak-

übrigens auch nie von uns selbst behaupten, dass

tizieren. Alle Tracks auf der neuen Platte sind

wir die allerbesten Sänger oder Gitarrenspieler

mit der gleichen Technik entstanden wie nur die

sind – obwohl uns viele Leute sagen, dass wir gut

besten auf „Hest“.

seien. Das schätze ich wirklich sehr.

Jonas:

Pål (lacht):

Hilft es euch beim Songschreiben, dass ihr alle

Die haben wahrscheinlich auch noch nie einen

eine klassische Musikausbildung habt?

richtig guten Sänger oder Gitarrenspieler gehört. Unser Vater beispielsweise hat eine klassische

Pål:

Gitarrenausbildung, der ist wirklich extrem gut.

Für mich persönlich spielt das keine große Rolle.

Aber er übt auch jeden Tag zwei bis drei Stunden,

Ich schreibe Songs eher instinktiv und überlege

und das mit seinen 45 Jahren.

nicht wirklich, wie ich systematisch die Sache am

Aber ganz im Ernst: Natürlich ist es ein Kom-

besten angehen könnte.

pliment, wenn einem die Leute sagen, man sei gut. Ich selbst würde dieses Kompliment aber in

Axel:

erster Linie auf unseren Pianisten Jonas Nielsen

Das stimmt. Sie hilft uns auch nicht bei der Art

beziehen, der beherrscht sein Instrument näm-

und Weise, wie wir unsere Instrumente spielen.

lich absolut großartig.

Aber trotzdem hat diese klassische Musikausbildung einen entscheidenden Vorteil:






Bei uns ist alles mehr oder weniger wie am ersten Tag, es gibt nur eine einzige Regel: die „rule of being cool“.

Jonas: Gibt es auf dem neuen Album einen Song, der

Axel und Pål machen es sich gemütlich und

euch besonders beschäftigt hat?

lassen sich geduldig von Max fotografieren. Auch wenn ihr Terminkalender heute randvoll ist mit

Axel:

Interviews und Promo-Terminen, wirken sie

Oh ja, das ist der Song „Saviour“. Ich habe echt

gerade, als hätten sie alle Zeit der Welt.

seit vielen Jahren versucht, ein Stück wie dieses zu schreiben, aber ich habe es nie hinbekommen. Ich hatte eigentlich schon aufgegeben – aber

Jonas:

zack! Plötzlich war der Song da. Ich dachte: Das

Ihr habt mit „Restless“ vor wenigen Jahren einen

kann doch nicht wahr sein! Warum klappt das mit

Song geschaffen, der mittlerweile fester Bestand-

einem Mal so einfach, was seit Ewigkeiten nicht

teil der Indie-Kultur ist und dort bereits jetzt als

klappen wollte?

Klassiker gelten kann. Dementsprechend verbin-

Vielleicht lag es daran, dass wir wild gefeiert

den unzählige Menschen diesen Track mit ganz

hatten und am Tag darauf total im Off waren.

bestimmten Situationen oder Gefühlen. Gibt es in

Jedenfalls war der Song danach von jetzt auf

eurem Leben auch derartige, besondere Songs?

gleich in meinem Kopf. Axel: Jonas:

Dass du „Restless“ als Klassiker bezeichnest, ist

Bringen sich alle Bandmitglieder in ähnlicher Art

echt schön zu hören. Vielen Dank dafür! Es ist ja

und Weise ein, wenn es darum geht, neue Songs

auch tatsächlich unser Bestreben, zeitlose Musik

zu schreiben? Oder habt ihr da eine gewisse Hie-

zu machen. Und wenn dadurch wirklich ein oder

rarchie?

mehrere Klassiker entstehen sollten, ist das natürlich toll.

Pål:

Richtige Klassiker sind übrigens auch unsere

Jeder bringt sich ein und trägt Ideen vor. Wenn

wichtigste Inspirationsquelle, man nehme nur so

eine Idee gut ist und funktioniert, ist es egal, von

großartige Songs wie „Africa“ von Toto oder „Dan-

wem sie kam. Es zählt dann nur das Ergebnis,

cing Queen“ von Abba. Und natürlich gibt es auch

einzig und allein der Song entscheidet.

für uns ganz bestimmte Lieder, die mit besonderen Stimmungen und Gefühlen verknüpft sind. Jede Stimmung hat quasi ihren eigenen Song.

Wir entscheiden uns, die Treppen nach unten zu steigen und im Freien einige Fotos zu schießen.

Jonas:

Vor dem Bus sind liebevoll einige Holzbänke auf-

Und für welche Stimmung ist die Kakkmaddaf-

gebaut, auf denen man stundenlang verweilen

akka-Musik gemacht?

könnte.


Jonas:

Jonas:

Und für welche Stimmung ist die Kakkmadda-

Hattet ihr auch von Anfang an das Gefühl, musika-

fakka-Musik gemacht?

lisch gut zueinander zu passen?

Pål:

Pål:

Wir versuchen, in unserer Musik in erster Linie

Wir haben alle eine sehr, sehr ähnliche Einstel-

diejenigen Lebenssituationen zu beschreiben und

lung, was die Musik aber auch den Spaß angeht.

zu verarbeiten, die wir selbst erlebt haben – und

Es liegt auch irgendwie etwas ganz Besonderes

die sind sehr, sehr unterschiedlich. Ich glaube

in der Luft, wenn wir zusammen auf der Bühne

daher, dass wir für sehr viele Stimmungen den

stehen und spielen – und diese Energie spüren

jeweiligen Song parat haben.

auch die Leute im Publikum.

Jonas:

Axel:

Ihr habt euch bereits im Jahr 2004 gegründet. Hat

Wir haben in unserem Leben ja auch noch nie

sich seitdem etwas innerhalb eurer Freundschaft

mit jemand anderem gespielt und kennen daher

verändert?

gar nichts anderes. Für uns ist dieses Besondere eigentlich total normal.

Axel: Nein, überhaupt nicht. Ich erkenne keinen Unter-

Jonas:

schied zwischen damals und heute. Aber eigent-

Wie und wo habt ihr eigentlich eure drei männli-

lich denken wir auch nicht wirklich über so etwas

chen Backgroundsänger aufgegabelt? Die Jungs

wie Zeit nach. Bei uns ist alles mehr oder weniger

sind ja mittlerweile ein echtes Markenzeichen

wie am ersten Tag, es gibt nur eine einzige Regel:

eurer Band.

die „rule of being cool“. Axel: Ach, die waren plötzlich einfach da, das muss

An einer Häuserwand im Hintergrund prangt ein

wohl um das Jahr 2006 gewesen sein.

überdimensionales 198 Streetart-Painting, das

Wir wollten ursprünglich nur mit mehr Leuten

wie ein Mahnmal wirkt gegen jenes ewige Höher-

abhängen, wenn wir unterwegs oder auf Tour

schnellerweiter, das diese wunderschöne Ecke

waren, und dadurch die Band etwas größer

Berlins bisher Gott sei Dank verschont hat. Ein

machen. Die Jungs standen irgendwann einfach

Geschäftsmann ist dort dargestellt, gesichts- und

mit auf der Bühne und sind quasi dort geblieben.

namenlos. An beiden Händen trägt er schwere

Das ist die ganze Story. Unglücklicherweise hat

Uhren aus Gold, die ihn in Ketten legen und für

sich vor kurzem einer der Drei verletzt, aber er

immer die Zeit ketten.

spielt jetzt unsere Percussions und die anderen beiden tanzen weiter.




Bei Musik geht es nicht darum, ein guter Musiker zu sein. Bei Musik geht es darum, dass sie echt ist. Und von Herzen kommt.


Jonas: Ihr lebt alle nach wie vor in Bergen. Ist das ein

Und darauf kommt es doch eigentlich an, oder?

guter Ort, um kreativ arbeiten zu können? Bei Musik geht es nicht darum, ein guter Musiker Pål (grinst):

zu sein. Bei Musik geht es darum, dass sie echt ist.

Ja, absolut! Es regnet einfach so viel, dass einem

Und von Herzen kommt.

gar nichts anderes übrig bleibt, als zuhause zu sitzen und irgendetwas zu machen. Aber im Ernst: Bergen ist richtig toll. Die Land-

Langsam müssen wir uns verabschieden, denn

schaft ist unglaublich schön, man kann alles zu

in wenigen Stunden fliegen die beiden Musiker

Fuß erreichen und wir haben ein tolles Studio

zurück nach Bergen.

dort. Auch viele andere Bands tummeln sich in der Stadt.

Für einen kurzen Moment wirkt es, als hätte man aus der bemalten Häuserwand im Hintergrund

Jonas:

ein lautes Seufzen gehört. Vielleicht wäre er ja

Und welches Andenken an eure Heimatstadt tragt

gerne mitkommen, der große Gefangene der Zeit.

ihr mit euch, wenn ihr gerade irgendwo auf der

Aber er kann einfach nicht, denn er ist gefesselt

Welt unterwegs seid? Welche Bilder habt ihr im

an die Uhr. Und das zähe Höherschnellerweiter

Kopf?

klebt schon viel zu lange an ihm.

Pål:

Axel und Pål lässt das gänzlich unbeeindruckt,

Ich würde auf jeden Fall sagen, dass ich an das

auf ihren Gesichtern breitet sich das zufrie-

Meer und die Berge denke – absolut spektakulär!

denste aller Lächeln aus. Und dabei scheint es, als ob auch dem „Kjosk“ gerade ein leichtes Grin-

Axel:

sen über die Motorhaube fahren würde.

Das stimmt, Bergen ist untrennbar mit dieser schönen Naturkulisse verbunden. Ich mag es

Alle sind sich einig: Wer ein Rezept braucht

außerdem, dass es da so hanseatisch und inter-

gegen das klebrige Harz des Höherschnellerwei-

national zugeht. Es macht mich total stolz, diese

ter, muss einfach zeitlos sein. Und einen Klassi-

offene Stadt in der Welt repräsentieren zu dürfen.

ker erschaffen.

Und ich hoffe, dass Bergen auch ein wenig stolz auf uns ist – auch wenn wir nicht überragend sind

Bei den einen ist das ein Bus. Und bei den ande-

in dem, was wir tun.

ren ein Song.

Wir lieben es einfach, Musik zu machen, und freuen uns riesig, wenn uns die Leute sagen, dass wir tolle Songs schreiben.

Dann hat man alle Zeit der Welt.




ANJA BALSSAT IST 36 JAHRE ALT, KOMMUNIKATIONSDESIGNERIN UND LEBT IN KÖLN. WWW.TECHTICK.DE

A B


Anja Balssat




Die Sekunde T EXT & FOTO: ANJA BALS SAT

Ich weiß nicht. Wer alles bestimmt. Wem was gehört. Was mir gehört. Aber ich habe einen Platz. Einen Platz. Auf dem ich sitzen darf. Ein Stein. Ein Stein unter einem Baum. Ein Baum. Dessen Geäst grüngesiebte Lichter bricht. Von wohlwollenden Wolken umsäumt. In diesem Moment gehört mir eine Sekunde. Eine Sekunde. Voll Licht. Eine Sekunde. Für mich. Nun gehört mir ein Stein. Er ist mein Thron. Mir gehört ein Baum. Der mir ein Sombrero sein will. Er dient mir. In der Sekunde meines Besitzes. Die wohlwollenden Wolkentupfen. Akzentuieren den Moment. Der mir gehört. Mir Sitzenden. Unter einem Baum. Umgeben von schillernden Lichtern. Bin ich unendlich reich. Für immer gehört sie mir. Die Sekunde.



Is


ISABELLA PIKART IST DESIGNERIN UND LEBT IN BERLIN. WWW.VAPORET TA .ORG

sabella Pikart





Kleine Kreaturen T EXT: ISABE LLA PIKART FOT O: ROBE RTO BRUNDO

Mariana Magtaz, Kuratorin und Galeristin der

Erinnerungen an einen Sommertag, ein flüchti-

„Escola de Arte e Metal“ in São Paulo, bat mich zur

ger Moment, der ein Gefühl lässt, das bleibt. Es

Eröffnung meiner Ausstellung, etwas auf Deutsch

klopft ein paar Jahre später an und ist wieder da.

auf eine grosse Wand mit Kreide zu schreiben. So

So wird aus einem Kieselstein, einer Welle, einem

entstand über meine Arbeit mein Andenken an

Sandkorn eine Zeichnung, ein Bild, eine Skulptur.

diesen Moment: Meine Skulpturen wurden kleiner und tragbarer. Eine Reise in den Süden - „L‘Histoire de Mimi Cri“

Sie wurden zu Schmuck, den wir an uns tragen

São Paulo, 23.8.2012

können.

Ein paar Steine auf der Straße, Sand der aus

Kleine Kreaturen, Lebewesen, ihre Namen sind

Meiner Tasche rieselt, das Blau der Kacheln eines

„Ouro Branco“, „Pool Blue“ und „Bicho“.

Schwimmbads.



Ina & Sander Jain INA JAIN IST 28 JAHRE ALT, SCHRIFTSTELLERIN UND FREIE JOURNALISTIN UND LEBT IN BONN SANDER JAIN IST 27 JAHRE ALT, FOTOGRAF UND FOTOJOURNALIST UND LEBT IN BONN UND IN TOFINO, CANADA . WWW.SANDERJAINPORTFOLIO.COM




Fliegende Fische T E X T: INA JAIN FOT O : SANDE R JAIN

wir bringen fischen das fliegen bei pinsel aus sternscherben rahmen wir welt gebrannte kinder spucken kein feuer wir schmelzen gleichzeit im werdewachs warum wir lichttropfen halten am feuerglas wenn es dunkel bleibt falte die nacht wandler verglühen im werdegang du bist nicht allein im flachland keimt licht alle farben weiß knüpfen die netzhaut es schneit auf der lichtung aus glas lichter irren nicht wir sehen uns wieder fliege mit fischen sie kennen den weg



Andenken gegenüber T EXT: INA & SANDE R JAIN

S: :-)

I: Im Fluss oder auf der Flucht?

I: :-) Was bringt Dich zum Lachen?

S: Mein Ideal ist, mit dem Weg zu fließen, mein Weg zu sein, in und mit jedem Moment. Aber oft

S: Die Realität ist lustig an sich. Wenn ich es

bleibe ich hängen und habe das Gefühl, alles

schaffe, die Dinge für das zu sehen, was sie sind,

rauscht vorbei. Es ist ein Wechselspiel, durch das

dann muss ich einfach schmunzeln.

ich mir immer bewusster werde. Mein Weg ist die einzige Zuflucht, die einzige Orientierung.

I: Und jetzt? I: Was bedeutet Ruhe für Dich? S: Frage oder Antwort? S: Wenn ich es schaffe, zu sein und keine GedanI: Frage.

ken und Erwartungen zu kreieren, die mich vom Wesentlichen ablenken würden. Zu viele Gedan-

S: Antwort?

ken und Erwartungen verstellen die klare Sicht. Im inneren Frieden fühle ich mich lebendig,

I: Wohin gehst Du?

erfahre mich als liebender Mensch - bin im Fluss.

S: Ich gehe immer weiter zu mir selbst.

I: Momente der Ruhe?

I: Woran orientierst Du Dich?

S: Ich habe selten Ruhe. Aber ein Moment der Ruhe ist, wenn ich in der Präsenz eines Menschen

S: Ich folge bewusst und unbewusst meinem

bin, den ich liebe und einfach nur sein kann. Oder

Herzen, indem ich mich von meinen Träumen

wenn ich draußen in der Wildnis von Natur umge-

leiten lasse und dem stelle oder ausweiche, was

ben bin und die Elemente spüre, mich selbst

mich quält. Ich laufe mir selbst entgegen.

erfahre. Das inspiriert und heilt mich. Und Medi-

Ich brauche das Gefühl zu wachsen und niemals

tation ist ein Werkzeug für mich, um auch ganz

damit aufzuhören. Mich inspiriert unendliches

bewusst zu mir zu kommen, wenn ich mich mal

Werden.

verlassen habe. Und für Dich?


I: Ich glaube, ich habe gar keine so große Sehn-

Dem sollte man vertrauen. Andenken an ange-

sucht nach Ruhe.

nehme Erlebnisse können mir Hoffnung und Vor-

Mir macht Ruhe oft Angst. Sie ist für mich mit

freude auf weitere bewusste Momente machen.

Stillstand verbunden. Momente der inneren Ruhe

Menschen können einander Andenken an sich

sind oft Momente, die außen gar nicht ruhig sind.

selbst sein. Bestenfalls erinnert man jemanden

Ein schöner Moment mit jemandem, in dem ich

durch sein eigenes Sein an sich selbst und umge-

ausgelassen bin, lache, spiele, dann fühle ich

kehrt.

mich innerlich ruhig, weil er erfüllt ist. Neben einem Pferd herzugehen und zu merken, dass der

I: Andenken sind eine Erinnerung an die Zukunft...

Takt stimmt, das Meer anzusehen... Auch da stellt

Zukunft oder Vergangenheit?

sich Ruhe ein. S: Zukunft. Und die Zukunft ist das Jetzt. Zeit ist S: Ruhe ist wohl oft mehr Sein als Denken.

eine Illusion für mich, die nur Relevanz hat, wenn ich nicht im Moment bin. Alles was ich mir wün-

I: Was ist ein Andenken für Dich?

sche zu finden, liegt Hier und Jetzt. Meine Zukunft ist das Jetzt. Mich an Träumen zu orientieren, mir

S: Es ist etwas, das mich an mich selbst erin-

der vollen Realität des Jetzt bewusst zu werden.

nern kann, an bewusst erlebte Momente meines Weges; an Elemente, die Teil von mir gewor-

I: Was träumst Du?

den sind. Es ist sozusagen ein Tool, mit dem ich Zugang Momenten finde, die mit Sinn gefüllt sind/

S: Alles. Momente. Ich glaube, man kann nur

waren. Ein Andenken soll mich fühlen lassen.

Momente träumen.

Man nimmt aus vielen wahren Momenten Souvenirs mit, aus der Angst heraus, dass die Momente

I: Das ist die Schönheit von Träumen.

vergehen oder vielleicht auch weil man sie nicht ganz bewusst erlebt hat. Dabei sind wir eigent-

S: Konkrete Träume sind aber auch der Hinter-

lich unser eigenes Andenken, denn die Erfahrung

grund, auf dem ich im Jetzt bleibe, um genau dort

selbst ist das Souvenir. Sie ist Teil von einem, hat

anzukommen. Und wenn ich es schaffe, einen

einen zu dem gemacht, was man gerade ist.

Moment hier und jetzt zu träumen, dann wird

Auch wenn ich die Idee von materiellen Anden-

er auch real werden, weil ich schon den ersten

ken romantisch finde, fällt es mir selber manch-

Schritt damit getan habe. Irgendwann finde ich

mal schwer, sie anzunehmen, weil ich weiß, dass

mich dann in meinem eigenen Traumbild wieder

eigentlich das Selbst sein bestes Andenken ist.

und erkenne, dass ich sehend dahin gereist bin.



Forts. I: Kann man Träume abbilden?

werden, dann dürfte ich mich noch nicht einmal über meinen Körper definieren :-)

S: Ich schöpfe Träume aus dem Hier und Jetzt und

Bestenfalls schafft man es, das pure Bewusstsein

versuche sie in Momentaufnahmen einzufangen.

zu sein. Nichts zu versuchen und alles zuzulas-

Deshalb fotografiere ich. Diese sind dann meine

sen. Dann zeigt sich die Magie im Moment. Und

Andenken an mich selbst und können mich und

wenn nicht, dann ist man gerade in Gedanken.

hoffentlich auch viele andere wiederum inspi-

Woran denkst Du?

rieren und zum Träumen anregen. Hast Du einen konkreten Traum?

I: Meistens an den nächsten Schritt. Ich gehe mit den Gedanken nicht zu weit in die

I: Der Traum wandelt sich mit mir in jedem

Zukunft, weil ich nicht glaube, dass man den

Moment.

Weg durch Denken alleine finden kann. Und ein

Ich habe ein Gefühl dafür, wie sich Träume anfüh-

Stück weit sind meine Gedanken immer bei den

len aber selten eine konkrete Vision. Vielleicht

Menschen, die mir wichtig sind. Schön sind die

mal mit einem Auto einfach nur unterwegs sein

Momente, in denen ich träume, abschweife - in

und da anhalten können, wo ich möchte, mal

die Welten in mir. Das sind die Welten, aus denen

mit den wichtigsten Menschen zusammen in

heraus ich schreibe. In ihnen fühle ich mich zu

einer Community leben. Mal auch einfach nur in

Hause.

meinem Bett liegen, geborgen sein. Die Träume sind ganz abhängig vom Moment... Träume sind

S: Oft sind wir uns nicht bewusst, dass wir selber

alles für mich, und meine Antwort darauf wirkt so

unser größtes Rätsel sind. Das mag ich am kreati-

banal. Eigentlich kann die Antwort auf die Frage

ven Arbeiten. Du erkundest Dich selbst und kom-

gar nicht spektakulär genug sein. So wichtig fühlt

munizierst mit anderen.

es sich für mich an, zu träumen. I: Deshalb ist es so faszinierend, S: Du fühlst also, dass die Realität ein Traum ist...

wenn ich mich in einem Kunstwerk wiederfinde, weil ich dadurch an mich selbst erinnert werde.

I: Realität und Traum gehören für mich untrenn-

Das ist oft ganz unerwartet. Es ist genauso

bar zusammen und inspirieren sich.

besonders, mich in dem zu sehen, was ich selber

Was inspiriert Dich?

schreibe, wie mich in Kunst anderer wiederzusehen. Das finde ich oft sogar noch magischer.

S: Wahre Momente. Etwas ganz Neues, etwas wirklich Authentisches und Zauberhaftes kann

S: Für mich ist eine künstlerische Arbeit dann

für mich nur aus dem puren Moment entstehen.

besonders, wenn sie die Offenheit besitzt, als

Im Moment liegt die magische Möglichkeit alles

Schlüssel zum Träumen zu dienen. Erst der

durch nichts und nichts durch alles zu finden, weil

Betrachter macht sie vollkommen, real, zu einem

ich dort die größte Freiheit und Unvoreingenom-

lebendigen Andenken, indem er sie mit sich selbst

menheit habe. Wollte ich beispielsweise ein Fisch

füllt.



JULIAN HEUN IST 24 JAHRE ALT, SLAM POET UND AUTOR UND LEBT IN BERLIN. WWW.JULIANHEUN.DE

Julian Heun




Eine indische Rupie in einer Dose T EX T: JULIAN HE UN FOT O: ROBE RTO BRUNDO

Ich weiß nicht mehr, wie es genau geschah, aber

Glasgängen ihre seltsame Neigung für Schlagho-

ich stand in Bangalore neben einem Straßenstand

sen befriedigten.

für gebratene Eingeweide und hatte kein Geld mehr. Eine unglückliche Mischung aus gestrich-

Bankautomat für Bankautomat, doch es gab kein

enen Flügen und fehlgeschlagenen Überweisun-

Geld. Meist war ich zu schwach, die Bettler anzus-

gen trug Schuld.

chauen. Bis irgendwann auf halbem Weg zu den Bankautomaten in einem Slum ein kleiner Junge

Also ging ich tagelang immer wieder zum Geld-

vor mir stand in einer Wand aus Geruch. Er war

automaten durch die Slums und hasste die Stadt

von seinen Eltern zum Betteln verkleidet worden

mit ihrem Smog und der fettigen Luft, die einen

als der Affengott Hanuman. Mit der einen Hand

Schmierfilm auf die Haut legte. In Indien kann man

formte er eine Essgeste und mit der anderen hielt

Essen für Kleinstbeträge kaufen, aber irgend-

er seinen lila Affenschwanz. Aber diesmal konnte

wann war die letzte Münze weg und sogar die

ich nicht weggucken und was blieb mir, außer zu

verbrannten Schafsinnereien unerschwinglich.

sagen, dass ich nichts habe, gar nichts.

Das Blickfeld quoll über vor blauer Plastikplanen

Da lächelte er, fasste in ein Beutelchen und reichte

der sich aneinanderdrängenden Behausungen

mir daraus eine Rupie. Die Rupie hat wie jede

aus Altmetallstücken, Pappfronten, Paletten-

einen Wert von 1,7 Cent und ich bewahre sie in der

kisten und immer wieder jenen blauen Plastik-

abgebildeten Dose auf. Sie ist mir heilig. Deshalb

planenfetzen. Hügel aus Müll wie Vorgärten. Aber

möchte ich sie auch nicht fotografieren. Wenn

alles Interesse für die Fremde war überdeckt von

man es versuchte, entstünde eine digitale Rück-

meiner Kraftlosigkeit und Aggressivität. Nichts

kopplung, die Linse splitterte. Sicherlich käme ein

essen können, nichts tun können, nur warten und

lila beschwanzter Trockennasenaffe herbeigeeilt,

schwitzen. Dann die unwirklichen Shoppingcen-

der - bevor das Glaskonfetti zu Boden gefallen

ter voll geleckter Bars und Läden für IT-Yuppies,

wäre - dem Photograph die Kamera entrisse und

an deren Fassaden der Blick ausrutschte und

sie kreischend am Sockel einer großen Hanuman-

gegen reiche Inder prallte, die in den unterkühlten

Skulptur opferte.



Sarah Neuend


SARAH NEUENDORF IST 23 JAHRE ALT, GRAFIKDESIGNERIN UND LEBT IN BERLIN. WWW.SARAH-NEUENDORF.DE

h dorf

WWW.SARAH-NEUENDORF.TUMBLR.COM




Ein Stück von mir T EXT & IL LUST RATION: SARAH NE UE NDORF

Kunst ist mein Souvenir

Illustrationen spiegeln einen Teil des Künstlers wieder, etwas, das tief im Verborgenen liegt.

Wenn ich zeichne, reise ich. Der erste Strich bringt

Hat sich in der Arbeit nun Schmerz, Freude,

mich auf den Weg in die Welt. Ich reise nicht mit

Trauer oder Glück manifestiert, oft bleibt es dem

Bahn und Bus - ich reise schneller. Tusche bringt

Betrachter auf den ersten Blick verborgen. Öffnet

mich zu den Walen, Fineliner in den Schnee der

sich der Beobachter, ist er bereit, einzutauchen in

Arktis und das raue Aquarellpapier ist die Haut der

das Werk, spürt er die Gefühle, so wird er die Welt

Inuit. Aufnehmen und Erleben, hören und sehen,

des Künstlers bereisen. Oder er erlebt sein eige-

tasten und schmecken und ich kann zurück ohne

nes Entdecken und nimmt seinen Teil des Anden-

jedes Souvenir. Aschenbecher in Walfischform,

kens mit, dass nur ihm gehört.

Schlüsselanhänger mit Babyrobbenfell und die Tüte getrockneter Narwalhaut bleiben zurück.

Für mich enthält jede Arbeit ein Stück von mir und wird als visuelles Andenken an das jeweilige

Ich habe andere Andenken.

Gefühl bleiben.



Jannik Schü


JANNIK SCHÜMANN IST 20 JAHRE ALT, SCHAUSPIELER UND LEBT IN BERLIN.

k ümann

WWW.JANNIKSCHUEMANN.COM




Lichter der Stadt IN T ERVIEW & TE X T: JONAS ME YE R FOT OS: STE PHE N GWALTNE Y

Damals regnete es, das weiß man noch. Zwar

Zwei Jahre ist es also her, dass wir uns zum

erst etwas mehr, dann wieder weniger. Aber es

ersten Mal gegenübersaßen. Und wie damals

regnete.

treffen wir Jannik auch heute an irgendeinem Tag im Mai zum Interview. Nur dass es diesmal

Und draußen war es grau, nichtssagend grau:

nicht Berlin ist. Sondern New York.

Man musste Schutz suchen in einem Café im Prenzlauer Berg und sich mit dem leuchtenden

Der 21-jährige ist für einige Wochen in der großen

Orange vieler kleiner Lampen verbünden, um

Stadt, weil er sich eine kleine Auszeit nimmt und

gegen dieses elende Grau anzukämpfen - und

für einen Moment verschnaufen will. Er hat viel

um eine interviewwürdige Atmosphäre für einen

gearbeitet in den letzten Monaten, in den letzten

jungen Schauspieler zu erschaffen.

Jahren.

Damals, das war im Mai 2011. Und der junge

Unser heutiger Treffpunkt heißt Ecke 8th Avenue

Schauspieler, das war Jannik Schümann. Erst

/ West 40th Street, Jannik wartet bereits. Es ist

wenige Monate vorher war der gebürtige Ham-

gerade einmal 9:30 Uhr, doch während das hei-

burger nach Berlin gezogen, um sich ganz und

matliche Berlin um diese Uhrzeit erst zöger-

gar seinem Beruf zu widmen. Um sich freizu-

lich erwacht, ist New York schon längst auf den

schwimmen und zu wachsen. An der Stadt, am

Beinen - oder vielleicht immer noch? Wer weiß

Leben und an sich selbst.

das schon.

Als Kind wurde Jannik von seiner heutigen Agen-

Wir beginnen den Tag eher unamerikanisch mit

tin entdeckt – in einer Tankstelle beim Süßigkei-

Kaffee und Croissant und lassen uns von dem

ten kaufen. Aus purem Zufall. Und so kam es,

geschäftigen Menschenstrom aufsaugen, der

dass er Schauspieler wurde und wir an jenem

entlang der 8th Avenue fließt.. Der Strom treibt

Nachmittag im Mai 2011 zum Interview verabre-

uns nach Norden Richtung Times Square – jenem

det waren. Damals flüchteten wir vor dem Grau

Ort, der wohl wie kein zweiter als Sinnbild für

in das Café mit dem orangenen Licht. Wir rede-

das niemals schlafende, aufgeregte und exzes-

ten über sein Leben, seine Wünsche, Träume und

sive New York steht.

Sehnsüchte. Und über seine große Leidenschaft für die Schauspielerei.







Wer einmal erlebt hat, wie die Stars hier in den Musicals gefeiert werden, der versteht, warum der Broadway das Nonplusultra ist.

Jonas: Du bist bereits zum zweiten Mal innerhalb eines

Trotzdem war auch bei diesem zweiten New York-

Jahres zu Besuch in New York. Wird die Stadt ir-

Aufenthalt wieder der Theaterdistrikt die erste

gendwann zur Routine?

Anlaufstelle.

Jannik:

Jonas:

Ganz und gar nicht! Als ich vor drei Wochen

Bereits vor zwei Jahren hattest Du uns mit glän-

nach New York reingefahren bin und die Skyline

zenden Augen verraten, wie sehr dein Herz für

wieder vor Augen hatte, war die Aufregung genau

Musicals schlägt. Diese Leidenschaft scheint also

so groß wie beim ersten Besuch vor einem Jahr

ungebrochen...

- mein Herz ist quasi aus dem Körper herausgesprungen. Irgendwie ist es jedes Mal wieder ein

Jannik:

total beeindruckendes Gefühl, weil die Stadt einen

Oh ja - in New York verging bisher kein Abend, an

magisch anzieht.

dem ich nicht in einer Broadway-Show war! Meine große Leidenschaft ist und bleibt einfach das Mu-

Jonas:

sical, daran hat sich nichts geändert.

Gibt es denn eine Ecke in New York, die dich besonders reizt?

Jonas: Leider wird in Deutschland das Genre des Musi-

Jannik:

cals im Gegensatz zu den USA eher stiefmütter-

Ja, tatsächlich hat der zentrale Theaterdistrikt

lich behandelt.

rund um den Times Square eine absolute Magnetfunktion für mich. Letztes Jahr habe ich es

Jannik:

erst nach vier Tagen geschafft, mich von dieser

Das stimmt. In den Staaten haben die Menschen

Gegend zu lösen und mal weiter downtown zu

ein ganz anderes Gefühl für diese Kunstform. Und

fahren, wo es diese typischen Straßenraster nicht

überhaupt hat das Musical hier einfach ein viel hö-

mehr gibt.

heres gesellschaftliches Standing. Als Darsteller

Ich fand es im Nachhinein total schade, dass

kann man einfach nicht weiter aufsteigen als am

ich nicht früher auf größere Entdeckungsreise

Broadway zu spielen. Das ist das Höchste der Ge-

im East und Village gegangen bin, weil ich die

fühle, denn der Broadway ist weltweit Nummer

Gegend dort ebenfalls total mag. In den kleinen

eins.

und beschaulichen Straßen kann man sich total

Es ist unglaublich, wie hoch die Qualität ist, die

verlieren, weil New York einen auch gerade dort

einem hier auf den Bühnen geboten wird.

in seinen Bann zieht. Da ich die Stadt aber noch besser kennenlernen wollte, habe ich diesmal meine Fühler weiter ausgestreckt und mir auch andere Ecken genauer angesehen.


Alles ist auf den Punkt genau: Jede Bewegung

Vor dem Port Authority Bus Terminal machen

sitzt, jede Stimme ist perfekt, jeder Ton wird ge-

wir Halt und drehen unsere Köpfe nach rechts:

troffen und sogar die Tonmischung ist genial.

Blitzartig springt uns die Stein, Glas und Farbe

Daher war für mich bisher jeder Abend in New

gewordene Reizüberflutung des Times Square

York ein Highlight.

ins Gesicht - ein permanentes Zuviel, das sich

Und auch das Publikum ist ein ganz anderes als

aus jeder Wandpore drückt.

in Deutschland: Im Theater und in den Shows sieht man wesentlich mehr junge Menschen als

Fasziniert von dieser übermächtigen Imposanz

bei uns. Das liegt wahrscheinlich daran, dass hier

werfen wir uns in den bunten Ameisenhaufen.

für die meisten Vorstellungen wenige Stunden

Gigantische

vor Beginn Tickets zum Discountpreis verkauft

wie Ikonenbilder an den Fassaden der Häuser-

werden. Das macht die oft sehr teuren Karten für

schluchten und präsentieren die Antlitze der

Schüler und Studenten erschwinglich.

Musical-Stars.

Broadway-Werbeplakate

hängen

Vielleicht sollten die deutschen Theater und Musicals auch mal überlegen, ob sie nicht verstärkt

Ziemlich große Bühne für die große Bühne.

solche Last-Minute-Tickets anbieten wollen. Dann wären die Häuser bestimmt nicht so leer.

Jannik strahlt über beide Ohren, in seinen Augen

Es gibt übrigens noch einen weiteren Unterschied

spiegeln sich die Lichter der großen Stadt. Links

zu Deutschland: Während bei uns hauptsächlich

und rechts von uns reiht sich ein Theater an das

mit den Stücken selbst geworben wird, stehen in

andere, ständig buhlend um die Gunst des Zu-

den USA vor allem die Stars im Vordergrund, mit

schauers und um die Krone der besten Show.

deren Gesichtern und Namen man die Show ver-

Hier liegen sie also, die Bretter, die die Welt be-

kauft. Dementsprechend reagiert auch das Pub-

deuten.

likum ganz anders, wenn bekannte Darsteller die Bühne betreten. Sobald beispielsweise am Broadway im Musical

Jonas:

„Phantom der Oper“ das Phantom zum ersten Mal

Als wir uns im Mai 2011 zum ersten Mal trafen,

in Erscheinung tritt, wird frenetisch applaudiert

hattest Du gerade „Homevideo“ abgedreht.

und gejubelt.

Danach hat sich bei dir ziemlich viel getan...

Das passiert bei uns eher selten. Wer einmal erlebt hat, wie die Stars hier in den Musicals ge-

Jannik:

feiert werden, der versteht, warum der Broadway

Ja, dieses Projekt hat mir beruflich einen kräf-

das Nonplusultra ist - und warum jeder Darstel-

tigen Schub gegeben: Nach „Homevideo“ habe ich

lers auf das Ziel hinarbeitet, hier irgendwann

richtig viel gearbeitet und tolle Rollen gespielt. Ich

einmal aufzutreten.

bin total glücklich darüber, wie sich alles entwickelt hat.






Rückblickend kann ich sagen: Es gab für mich noch nie eine so große Herausforderung wie „Spieltrieb“.

Jonas:

Jannik:

Eines der bemerkenswertesten Projekte ist dabei

Das Buch ist eigentlich nicht verfilmbar, nicht nur

zweifelsohne der Film „Spieltrieb“, in dem du für

wegen der besonderen Sprache und der vielen

eine der Hauptrollen besetzt wurdest.

schwerwiegenden Nietzsche-Sätze. Das Thema ist einfach ziemlich heikel, schließlich geht es um

Jannik:

das Ziel des 18jährigen Alev, Macht über andere

Absolut! Zwar gab es die Anfrage für den Film

Menschen auszuüben und sie zu kontrollieren.

sowie die erste Castingrunde bereits, bevor wir

Er ist fest davon überzeugt, dass alle Menschen

uns im Mai 2011 zum Interview trafen, allerdings

manipulierbar sind, wenn man nur die entspre-

wurde das Projekt aufgrund diverser Finanzie-

chenden Weichen stellt und an den entschei-

rungsfragen erst einmal wieder auf Eis gelegt.

denden Rädchen dreht. Es geht ihm nicht um Gut

Nachdem ich lange Zeit nichts mehr davon gehört

oder Böse, sondern um die Logik der Dinge - das

hatte, gab es Ende 2011 plötzlich grünes Licht

ist seine sogenannte Spieltheorie.

und es ging weiter.

Alev ist gerade erst auf eine neue Schule ge-

Ich wurde zur zweiten und dritten Castingrunde

wechselt, wo er sich prompt neue Opfer sucht:

Anfang Januar 2012 eingeladen, weil dort ver-

So stiftet er seine Mitschülerin Ada dazu an, den

schiedene Darsteller-Konstellationen ausprobiert

Sportlehrer Smutek zu verführen – und Ada gibt

wurden. Danach habe ich zwei qualvolle Wochen

sich aus Liebe zu Alev diesem perfiden Plan hin.

mit Warten verbracht, bis endlich der erlösende

Als ich das Buch im Rahmen der Castingvorbe-

Anruf kam und ich die Zusage hatte, für die Rolle

reitungen zum ersten Mal gelesen hatte, dachte

des Alev besetzt zu sein. Ich bin in die Luft ge-

ich nur: Ach du heilige Nuss, wie soll ich das

sprungen und habe geschrien vor Glück! Und im

bloß spielen, wenn ich die Rolle bekomme? Und

Mai 2012 haben wir dann in München angefangen

wie bringe ich das meinen Eltern bei, was ich da

zu drehen.

mache? Ich habe im echten Leben noch nie einen Menschen kennengelernt, der ansatzweise so

Jonas:

wäre wie Alev.

Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Juli Zeh – ein wundervolles und fesselndes

Jonas:

Buch, das sich den Theorien Nietzsches ver-

Die Frage ist ja, ob es überhaupt einen Menschen

schreibt und durch das man sich im wahrsten

gibt, der so ist wie Alev.

Sinne des Wortes durcharbeiten muss. Man stößt in dem Buch auf so viele wichtige Sätze, die sehr

Jannik:

viel Zeit und Raum brauchen. Wie bringt man

Ich weiß es nicht. Jedenfalls kann ich es mir nicht

diese Informationsgewalt in einem Film unter?

vorstellen. Selbst einer so fiesen Figur wie der des Henry aus „Homevideo“ ist man ja irgendwann schon einmal in seinem Leben begegnet oder hat von ihr gehört.


Alev unterscheidet sich dagegen von allem, was

seine Zimmergenossen im Internat stärker be-

ich bisher kannte – alleine schon durch seine

leuchten musste, fielen dafür auf der anderen

Sprache. Eigentlich redet er nie „normal“, sondern

Seite Rollen raus, die im Buch hauptsächlich die

nur in bedeutungsschweren Sätzen und Zitaten.

Figur der Ada berühren und somit für die Drei-

Das zieht sich konstant durch das gesamte Dreh-

ecksbeziehung Alev-Ada-Smutek keine unmittel-

buch und somit auch durch den kompletten Film.

bare Bedeutung haben.

Bevor die Dreharbeiten losgingen, hatte ich absolut keine Ahnung, wie ich um Himmels Willen

Jonas:

diese Texte über die Lippen bekommen soll,

Wie hast du dich dem Drehbuch genähert und dich

sodass es für das Publikum glaubhaft ist.

auf diese komplexe Rolle vorbereitet?

Und selbst während der Dreharbeiten haben wir uns manchmal gedacht: Ob das alles in allem

Jannik:

so funktioniert? Ich hatte anfangs echt ziemlich

Ich habe das Drehbuch schlicht und einfach aus-

Muffensausen, aber letztendlich hat es doch ge-

wendig gelernt, weil es mir sonst nicht möglich

klappt. Rückblickend kann ich sagen: Es gab für

gewesen wäre, diese schwerwiegenden Sätze

mich noch nie eine so große Herausforderung wie

so zu sprechen, als wären sie normale Alltags-

„Spieltrieb“.

sprache. Außerdem war es sehr hilfreich, dass im Dreh-

Jonas:

buch die einzelnen Seiten nur auf der Vorderseite

Wie ist es euch gelungen, die 600 Seiten und rund

bedruckt waren. Wenn ich es also aufgeschlagen

zwei Jahre erzählte Zeit des Romans in 90 Mi-

habe, gab es zwei Hälften: Der rechte Teil war be-

nuten Film zu packen?

schriftet, der linke dagegen frei. Dort konnte ich meine Anmerkungen und Analysen zu jedem ein-

Jannik:

zelnen Satz meiner Rolle aufkritzeln.

Man muss den Film als ein eigenes Werk be-

Davor musste ich aber erst einmal Nietzsche

trachten: Um das Wesentliche dieses 600-Seiten-

verstehen und mich mit seinen Theorien ausein-

Buchs in einem 90-Minuten-Film unterbringen zu

andersetzen, sonst wäre es mir wahrscheinlich

können, ließ man beispielsweise Alev direkt in der

nicht gelungen, Alevs Sätze so umfangreich zu

ersten Filmszene auftreten, obwohl er im Roman

analysieren und für mich persönlich zu deuten.

erst viel später und nach einer erzählten Zeit von

Ohne Nietzsche hätte ich Alev nicht verstanden.

etwa einem Jahr die Bühne betritt. Man wollte die

Das ist ja auch überhaupt das Abgefahrene an der

Handlung der 90 Filmminuten konsequent auf das

Schauspielerei: Dass man sich durch die Vorbe-

Dreieck Alev, Ada und Smutek maßschneidern.

reitung auf Rollen mit Themen auseinandersetzt,

Daher wurde etwa die Hälfte aller Roman-Figuren

mit denen zumindest ich mich eher nicht mal so

gestrichen. Und während man beispielsweise auf

eben auseinandergesetzt hätte oder mich in ab-

der einen Seite Personen wie Alevs Eltern oder

sehbarer Zeit detailliert befassen würde.






Wenn ich morgens in den Anzug geschlüpft bin, war ich plötzlich nicht mehr Jannik. Jonas:

Jonas:

Ist Nietzsche etwas, das sich in dir manifestiert

Hattest du nicht die Befürchtung, dass das tiefe

hat und über die Rolle hinaus präsent geblieben

Eintauchen in diese Rolle dein eigenes Werte-

ist?

system beeinflussen könnte?

Jannik:

Jannik:

Natürlich entwickelt man sich durch die Ausein-

Nein, ganz im Gegenteil. Ich würde sagen, dass ich

andersetzung mit einer solchen Problematik auch

durch „Spieltrieb“ eine gewisse Wachsamkeit ent-

intellektuell ein Stückchen weiter und nimmt das

wickelt habe. Es werden einem viele Dinge klarer,

über die Rolle hinaus für sein Leben mit, trotzdem

vor allem in Bezug auf das menschliche Handeln

muss man zu den Gedanken und Vorstellungen

und die Gefahr der Manipulierbarkeit.

Alevs eine klare Grenze ziehen. Alev und ich, wir beide haben nichts gemeinsam.

Jonas: Hast Du bei der Analyse deiner Rolle versucht

Jonas:

herauszufinden, wie Alev überhaupt zu dem Men-

Hattest du denn mit Alev etwas gemeinsam, als

schen werden konnte, der er ist?

du die Rolle gespielt hast? Jannik: Jannik:

Naja, Alev ist ein eiskalter Mensch, der nichts für

Ich würde sagen, dass ich Alev war.

die Gefühle anderer übrig hat und selbst auch keine Emotionen zulässt – bis auf wenige Mo-

Jonas:

mente. Und in genau diesen wenigen Momenten

War es für dich schwierig, dich von dieser Rolle

scheint er mit seinen Gefühlen total überfordert

wieder zu trennen, mit der du so verwachsen

zu sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass in seiner

warst?

Kindheit irgendetwas Schlimmes passiert sein muss, das dafür verantwortlich ist.

Jannik:

Im Buch wie im Film bleibt dieser Aspekt aber

Ehrlich gesagt hat mir das Kostüm ziemlich dabei

absolut offen. Daher muss sich jeder Zuschauer

geholfen, die Rolle wieder loszuwerden. Wie im

ein eigenes Bild machen und für sich selbst eine

Buch fällt Alev auch im Film durch seine teure

mögliche Erklärung finden. Mir jedenfalls hat es

und exzentrische Kleidung auf, durch die er sich

sehr geholfen, zu Alev eine fiktive Biographie an-

von seinen Klassenkameraden in krasser Weise

zulegen, durch die ich halbwegs nachvollziehen

unterscheidet: Er trägt Designeranzug, spitze Le-

konnte, warum dieser Mensch so ist, wie er ist.

derschuhe und Burberry-Mantel. Wenn ich morgens in den Anzug geschlüpft bin,

Jonas:

war ich plötzlich nicht mehr Jannik. Als wäre

Wie werden deiner Meinung nach die Zuschauer

plötzlich ein Hebel umgelegt worden, dachte ich

auf „Spieltrieb“ reagieren?

wie Alev, bewegte mich wie Alev, redete wie Alev. Und umgekehrt konnte ich abends wieder Jannik sein, wenn ich den Anzug abgestreift habe.


Jannik: Ich glaube, dass dieser Film sehr provozieren

Kaum sind wir die Treppen hinaufgestiegen,

wird. Es gibt viele beklemmende, traurige und

begrüßt uns die hohe Mittagssonne mit ihrem

teils schockierende Szenen, bei denen ich mir vor-

grellsten Weiß.

stellen kann, dass die Zuschauer großen Schmerz empfinden werden.

Wir schauen uns um: Das also ist Brooklyn. Ir-

Wenn das passieren würde, wäre ich sehr zu-

gendwie schön hier, alles wirkt so ruhig und

frieden – denn dann wüsste ich, dass ich als

beschaulich. Zufrieden schlendern wir zum

Schauspieler funktioniert hätte. Einige der Szenen

Brooklyn Bridge Park, lassen uns auf einer

sind so sogar so abstoßend, dass den Zuschauern

großen Wiese nieder und bestaunen die Skyline

gar nichts anderes übrig bleiben wird als mich zu

von Manhattan, die direkt vor unseren Füßen

hassen. Das wäre großartig, denn dann hätte ich

liegt.

als Schauspieler wirklich gewonnen. Jonas:

Überwältigt vom Farb- und Lichtermeer des

Am 15. September wirst du im Berliner Tatort zu

Times Square setzen wir unsere kleine Reise

sehen sein, wo Du einen jugendlichen U-Bahn-

durch Manhattan fort und laufen einige Zeit den

Schläger spielst, der verdächtigt wird, eine Person

Broadway entlang Richtung Süden. Irgendwie

zu Tode geprügelt zu haben – ebenfalls eine Rolle,

brauchen wir mehr Luft, mehr Freiheit, mehr

die die Zuschauer eher hassen als lieben werden.

Sonne: Hier in den tiefen Häuserschluchten verirrt sich einfach zu wenig natürliches Licht auf

Jannik:

den Boden. Am Herald Square entscheiden wir

Ja, das stimmt. Dieser Tatort basiert auf einer

uns daher kurzerhand, in die U-Bahn zu steigen

wahren Begebenheit aus dem Jahr 2009. Am

und downtown zu fahren. Und so geht es im F-

Münchener S-Bahnhof Solln wurde der 50-jäh-

Train ruppig, aber zügig unter dem East River

rige Familienvater Dominik Brunner ermordet,

hindurch nach Brooklyn.

weil er einige Schüler vor jugendlichen Schlägern beschützen wollte. Im Berliner Tatort, den wir vor

In der U-Bahn sitzen wir uns schweigend gegen-

kurzem abgedreht haben, ist die Handlung aber

über, schauen einander an, beobachten andere.

etwas abgewandelt. Trotzdem geht es um Zivilcourage und die Tatsache, dass die Leute eher

Während Janniks hellblauen Augen durch den

wegsehen als eingreifen.

Wagon wandern und unauffällig die nähere

Ich bin total dankbar, dass ich diese Rolle spielen

Umgebung abtasten, hüllen die schummrigen

durfte. Ich mag es einfach, wenn ich Charaktere

Deckenleuchten und das matte Metall der Wand-

darstellen kann, die meilenweit entfernt sind von

verkleidung den Innenraum in zartes Gold.

meiner eigenen Persönlichkeit. Ich übernehme zwar auch ganz gerne mal eine Rolle, in der ich

Der F-Train hat mittlerweile den East River pas-

der Schwarm der Schule bin und mich alle lieben,

siert und ruckelt an der York Street ein. Wir

aber das andere ist für mich doch irgendwie eine

finden, dass wir genug Zeit im Untergrund ver-

größere Herausforderung.

bracht haben, verlassen die U-Bahn und streben Richtung Ausgang.




Mich begleiten immer die Gedanken an meine Freunde und die Gewissheit, sie alle wiederzusehen, wenn ich nachhause komme.

Jonas: Wie verlief der Dreh?

„LENALOVE“ ist interessanterweise der erste Kinofilm, der sich dem Thema Cybermobbing

Jannik:

widmet. Die Dreharbeiten dazu beginnen im Ok-

Der Dreh war in zweierlei Hinsicht eine außerge-

tober.

wöhnliche Erfahrung. Zum einen hatte ich während der gesamten Produktion mit einem richtig

Jonas:

starken grippalen Infekt zu kämpfen, weshalb ich

Da spielst du aber ausnahmsweise mal keinen

mich immer noch wundere, wie ich diesen Dreh

Bösewicht...

überstehen konnte. Zum anderen war es aber natürlich trotzdem toll, mit Dominic Raacke und

Jannik:

Boris Aljinovic zu drehen. Der Tatort ist ja eine

Nein. Tim ist zwar auch nicht der nette Junge

solche Institution im deutschen Fernsehen, dass

von nebenan, immerhin vertickt er Drogen und

man anfangs dachte, man würde tatsächlich vor

wohnt im Heim. Aber er ist auch keine Figur, die

den Kommissaren Ritter und Stark stehen.

irgendwelche Menschen umbringt. Diese Rolle

Daher war ich im ersten Moment schon ein wenig

ist wieder etwas komplett anderes, auch was die

eingeschüchtert, was sich aber nach kurzer Zeit

Vorbereitung angeht. Zwar werde ich auch wie

gelegt hat. Es macht sehr viel Spaß, mit den

sonst auf die Straßen gehen und nach bestimmten

beiden zu drehen und zu arbeiten.

Menschentypen schauen, aber diesmal wohl nach ganz anderen Charakteren. Darauf freue ich mich

Jonas:

sehr.

Du beginnst gerade mit den Vorbereitungen für deine Rolle im Film „LENALOVE“, bei dem Grimme-Preisträger Florian Gaag Regie führen

Der Mittag ist ein gutes Stück älter geworden, die

wird. Dieser Film stellt ebenfalls einen starken

Sonne steht tiefer. Wir machen uns wieder auf

Bezug zur Realität her - worum geht es genau?

den Weg zurück nach Manhattan, denn es zieht uns ins Greenwich Village – jener Gegend, in der

Jannik:

Jannik sich so gerne verliert und fallen lässt.

Der Titel „LENALOVE“ bezieht sich auf den Nick-

Wir wandern also die Promenade der Brooklyn

name der jugendlichen Lena, die im Chat gemobbt

Heights entlang und steigen an der High Street

wird und daraufhin flieht. Ich spiele den 18-jäh-

in den A-Train, der uns an der 14 Street auspuckt.

rigen Tim, der der große Schwarm von Lena ist und sie am Ende rettet.

Es Zeit ist für einen großen Americano. Und so betreten wir einen kleinen Coffeeshop am Jackson Square Park, wo wir uns an den großen Fenstern des Cafés niederlassen.


Jonas:

Janniks Augen tasten schon wieder ihre Um-

Welche Erkenntnisse bringst du außerdem aus

gebung ab, unauffällig wandern sie durch das

New York mit, wenn du in wenigen Tagen wieder

kleine Café. Für einen Moment verharren sie bei

nach Berlin zurückfliegst?

einem Gast, ziehen nach wenigen Sekunden zum nächsten weiter und verlieren sich irgendwann

Jannik:

im bunten Treiben auf der anderen Fensterseite

Ich war jetzt vier Wochen hier, das ist eine irr-

des Coffeeshops.

sinnig lange Zeit. Ich habe das Gefühl, in diesen Wochen wieder ein Stückchen gewachsen zu sein in meinem Leben und finde es total schön, dass

Jonas:

mein Reise-Stickeralbum um einige Andenken

Ist das Beobachten von Menschen grundsätzlich

reicher geworden ist.

Teil deiner Vorbereitung auf Rollen?

Letztes Jahr war ich noch als Tourist hier und bin in acht Tagen von Freiheitsstatue zu Empire State

Jannik:

Building gehetzt. Jetzt jogge ich morgens durch

Ja, allerdings ist es mir als Schauspieler wichtig,

den Central Park, schlendere durch die Gassen im

nicht einfach das Verhalten anderer Menschen zu

Village und sauge die Häuserschluchten in mich

kopieren, sondern eher ihre Gestik und Mimik in

auf - wie ein echter New Yorker. So fühlt es sich

bestimmten Situationen zu studieren. Vor allem

zumindest an. Und dabei ist der „places to be

wenn sie sich unbeobachtet fühlen, offenbaren

before you die“-Schatz in meinem Kopf wieder ein

sich die interessantesten Details, z.B. wenn

Stück größer geworden.

jemand im Café sitzt, liest und sich am Kopf kratzt. Und diese Details sind es, nach denen ich suche.

Jonas: Gab es ein Andenken an Berlin, das du mit nach

Jonas:

New York gebracht hast?

Sind diese Details in New York andere als in Berlin?

Jannik: Es ist eigentlich egal, wohin ich reise: Mich be-

Jannik:

gleiten immer die Gedanken an meine Freunde

Ne, in New York ist alles nur etwas schneller und

und die Gewissheit, sie alle wiederzusehen, wenn

wirkt wie vorgespult. Alles ist irgendwie wie mal

ich nachhause komme.

zwei. Aber davon abgesehen funktionieren Menschen in bestimmten Dingen auf der ganzen Welt mehr oder weniger gleich.




Ich glaube nicht an Zufälle. Alles, was im Leben passiert, hat irgendeinen Sinn und Zweck. Sogar die kleinsten Kleinigkeiten haben eine Bedeutung und lassen einen wachsen – und darauf kommt es an.


Jonas: Erinnerst du dich noch an den Moment, als deine

Wir wollen den Tag im Central Park ausklingen

Agentin dich vor vielen Jahren durch Zufall in

lassen, jener grünen Lunge, die New York vor

einer Tankstelle entdeckt und angesprochen hat?

dem Ersticken bewahrt.

Jannik:

Und so liegen wir irgendwann einfach da und

Ja, das habe ich noch sehr deutlich vor Augen.

atmen tief die Luft der großen Stadt ein, die so friedlich vor uns liegt. Oder wir vor ihr.

Jonas: Hast du dich jemals gefragt, wie dein Leben wohl

Wir beobachten, wie das sanfte Licht des New

verlaufen wäre, wenn es diesen Zufall nicht gegen

Yorker Abends allmählich den Central Park in

hätte?

das gleiche zarte Gold hüllt, das uns mittags in der U-Bahn begegnet ist.

Jannik: Ich glaube nicht an Zufälle. Alles, was im Leben

Jannik schweigt und richtet seinen Blick auf

passiert, hat irgendeinen Sinn und Zweck. Sogar

die imposante Skyline. Vergnügt lässt er seine

die kleinsten Kleinigkeiten haben eine Bedeutung

strahlend blauen Augen von Wolkenkratzer zu

und lassen einen wachsen – und darauf kommt

Wolkenkratzer tanzen. Als sie den höchsten

es an.

Punkt erreichen, ziehen sich die Mundwinkel des jungen Schauspielers weit nach oben – genau wie damals an jenem Nachmittag im Mai 2011.

Wir verlassen das kleine Café und steuern den Jackson Square Park auf der anderen Seite der

Als es regnete und er das Grau besiegt hat.

Straße an. Nachdem wir dort einige Portraits geschossen haben, packen wir unser Equipment zusammen und winken ein vorbeifahrendes Taxi herbei.

Nur mit einem Lächeln.


Soph Eule


hie er

SOPHIE EULER IST 31 JAHRE ALT, TEXTILDESIGNERIN UND SIEBDRUCKERIN UND LEBT IN BERLIN. WWW.DAWANDA .COM/SHOP/KRAMURIKISTE BE BERLIN DESIGN-SOUVENIR AWARD




Santa Monica T EXT & FOTO: SOPHIE E ULE R

Ein Andenken verbinde ich immer mit plastischen

hätte ich für dieses Vergnügen auch das Dop-

Souvenirs aus dem Ausland, die, zurück in der

pelte bezahlt: So wie ich mich gefühlt habe, als

Heimat, meistens ihre Funktion als Staubfänger

ich mit ca 10 km/h auf der Strandpromenade

einwandfrei erfüllen oder ziemlich schnell in der

entlang gecruist bin, müssen sich Harley David-

Altkleidersammlung landen, weil sie doch nicht

son Fahrer mit 200 Sachen auf der Landstraße

so tragbar und cool sind, wie sie es am Strand

fühlen (assoziierte ich wahrscheinlich aufgrund

von _____ waren. Wäre ich nicht in Los Angeles

des tiefliegenden, großen Sitzes und der breiten

gewesen, könnte ich diesen Text bereits wieder

Lenkstange, denn außer dem Mitfahrgefühl einer

beenden...

Vespa 50 Speciale, hatte ich keinen Vergleich).

Im März 2009 flogen meine beste Freundin und

Genau dieses Gefühl wollte ich zu Hause in Berlin

ich nach Santa Monica, eine Stadt in L.A. County,

auch haben! Unbeschwert, lässig, entspannt. Es

deren Strand-Pier man vor allem in diversen ame-

war für mich ganz klar, ich musste ein Cruiser

rikanischen Fernsehsendungen sehr oft zu sehen

Bike kaufen, aber eines, das kalifornischen Sand

bekommt. Anfangs kam mir vieles künstlich vor

im Reifenprofil hat, eines mit Charakter!

und ich war irritiert von den vielen Unbekannten, die alle sehr überschwänglich wissen wollten,

In der 3rd Promenade klapperte ich alle Fahrrad-

wie es mir geht. Für mich waren das Gute-Laune-

geschäfte ab. Alle hatten nur Neuware für einige

Terroristen, die alle gleichzeitig mit den Waffen

100 Dollar. Niemand wusste von einem „Second

der „daily happiness“ Amok liefen. Eine Überfor-

Hand Cruiser“ Shop. Niemand außer Dave! Dave

derung für eine grantige Österreicherin wie mich.

arbeitete bei einer amerikanischen Version von Intersport in der Radabteilung und gab mir den

An einem sonnigen Tag beschlossen wir, uns

entscheidenden Tipp. Gleich in der Nähe des Piers

Räder auszuborgen und am Strand entlang zu

sei ein Fahrradverleih. Offiziell würden dort keine

fahren. Für 10 Dollar die Stunde erhielt ich ein

Räder verkauft, aber ich solle danach fragen und

amerikanisches Cruiser Bike. Im Nachhinein

„Grüße von Dave“ bestellen.


Eine Stunde später war ich Besitzerin eines

Der Kurier fluchte bei jedem Schritt im Stiegen-

gebrauchten schwarzen Cruiser Bikes mit rosa

haus über die schwere Riesentasche und ich

Felgen und einem Fahrradkörbchen. Kosten: 40

konnte erahnen, was mir erspart geblieben ist!

Dollar! Ob Dave was davon abbekam, blieb ein Geheimnis.

Ich bin stolz auf mein Andenken, und wenn die Sonne über Berlin scheint, cruise ich los, erin-

Für meinen Rückflug nach Berlin musste ich laut

nere mich an den Strand von Santa Monica, frage

Air New Zealand nur noch eine spezielle „Fahr-

Fremde im Vorbeifahren nach ihrem Befinden,

radtasche“ kaufen. Zurück zu Dave. Er verkaufte

grüße mit einer lässigen Handbewegung meine

mir nicht nur die Spezialtasche, sondern zerlegte

langhaarigen, bärtigen Kollegen auf ihren Harleys

mein Fahrrad dafür auch noch in seine Einzelteile.

und fühle mich unbeschreiblich gut!

Die Tasche kostete übrigens 54,99 Dollar. In eine polizeiliche Fahrradkontrolle sollte ich Alles einfacher als ich dachte, aber die Gedanken

aber lieber nicht geraten, denn mein Cruiser hat

an die Heimfahrt mit dem Bus vom Berliner Flug-

keine Handbremsen. Die würden nur den rosa

hafen in meine Wohnung lösten inneren Stress

Lack von den Felgen wetzen. Ich bremse mit

aus. Die Tasche war extrem schwer, sperrig, und

Rücktritt, wenn die Kette zur Abwechslung mal

ich hatte ja auch noch meinen Koffer dabei...

nicht rausspringt! Die Lenkstange wackelt etwas und der Sitz quietscht von Jahr zu Jahr mehr,

Ankunft in Berlin-Tegel: Keine schwarze Tasche

weil die Federn rosten. Bergauf zu fahren fordert

weit und breit! Alles umsonst? Nach 15 Minu-

sportliche Höchstleistungen, weil es keine Gang-

ten aufgeregten Nachfragens entpuppte sich die

schaltung gibt.

Situation als Glücksfall. Mein Fahrrad steckte in London fest und wurde mir dann einen Tag später

Ach ja und bei Regen werde ich extrem nass.

von einem Kurier direkt in meine Wohnung im

Bei Cruisern hat man keine Schutzbleche, weil

ersten Stock geliefert.

uncool...


PHILIPP BLOCH IST 23 JAHRE ALT, STUDENT UND KREATIVSCHAFFENDER UND LEBT IN WILHELMSHAVEN. WWW.HUMMELMORS.DE

Philipp Bloch






Das Fenster T EXT & FOTO: PHILIPP BLOC H

Der Anblick eines Andenkens lässt uns alle an

Optimist, ich will leben. In meinem Fokus steht

etwas denken. Viele Menschen kaufen, verschen-

die Hoffnung. Ich will sagen: „Es kommt wie es

ken oder erben Andenken, die an einen besonde-

kommt. Lass es kommen.“ Das macht mich neu-

ren Moment oder eine geliebte Person erinnern

gierig. Das macht mein Leben so lebenswert. Wie

sollen.

eine rasante Autofahrt, bei der hinter jeder Kurve etwas anderes auf mich wartet - eine Heraus-

Ich dagegen bin anders. Ich bin gut im Weg-

forderung, ein nicht vorhersehbares Hindernis.

schmeißen. Im Wegschmeißen von Dingen, die

Genau an das möchte ich denken. Das ist mein

mich ständig dazu bringen, an das Vergangene zu

Andenken. Der Gedanke an eine wunderbare

denken. An schöne Momente, die - genau so - nie-

Zukunft, der Gedanke an das Leben.

mals wiederkommen werden. An Menschen, die es so nie wieder in meiner Gegenwart geben wird.

Und trotz meiner Lust am Wegschmeißen besitze ich Andenken. Vielleicht weil ich ein ganz norma-

Ich kann mich nicht an alte Tage klammern. Das

ler Mensch bin, vielleicht weil ich die Melancholie

wäre falsch gegenüber meiner inneren Zuver-

doch brauche.

sicht. Es wäre Melancholie. Dieser anlastende Zustand macht mich nicht glücklich. Nein, er

Ich besitze aber nichts Großes. Vielmehr Bilder,

erdrückt mich.

Fotos, Motive. Das sind meine Andenken. Ein Ausschnitt aus einer vergangen Zeit, die so zwar nie

Der Anblick eines Andenkens macht mich

mehr wieder kommt, aber die ein Fenster wider-

schwach. Er sagt meiner Seele: „Das war schön

spiegelt, durch das ich kurz einmal durchschauen

damals. Das wird so nie wieder passieren.“

kann, um mich zu erinnern.

An alte Zeiten denken, um sich darin verlieren

Falls ich jemals vergessen werde, wie es war, was

zu können, lässt meine Seele leiden. Aber ich bin

dort war, wo ich war.


Nat Vu


NATAŠA VUČKOVIĆ IST 25 JAHRE ALT, STUDIERT GRAFIKDESIGN UND LEBT IN HAMBURG. WWW.NAVUCKO.COM WWW.FACEBOOK.COM/NAVUCKO

taša uckovic





Pierres Geheimnis T EXT & FO TO: NATAŠA V UČ KOV IĆ

Der Eiffelturm. Auf meinem Tisch, dem dunkel-

am Seine-Ufer seit mittlerweile 52 Jahren, wie

braunen Holztisch aus Mahagoni im Wohnzimmer.

ich bei meinem letzten Besuch einige Tage zuvor

Da steht er. Natürlich nicht der echte. Der wäre

erfahren durfte. Es können auch schon 53 Jahre

auch etwas zu groß gewesen. Aber eine maß-

sein. Das ist ihm nicht so wichtig. Überhaupt hat

stabsgetreue Miniaturausgabe davon. Wenn ich

Pierre ein sehr liebevolles Verhältnis zur Zeit.

ihn ansehe, dann die Augen schließe und einen

Alles, was er macht, ob er morgens seinen hell-

kurzen Moment abwarte, dann passiert etwas

grünen Holztisch aufbaut, auf dem die vielen mitt-

Wunderbares:

lerweile ganz gelb gewordenen Bücher liegen, oder ob er einen neuen Kunden begrüßt, der wie

Auf einmal bin ich wieder mitten in Paris. Ich laufe

zufällig an seinem Stand stehen bleibt; all das tut

an den vielen kleinen Ständen der Künstler und

er mit Bedacht und ohne auch nur einen Anflug

Buchverkäufer am Ufer der Seine vorbei. Laufe

von Hektik.

ich wirklich? Nein. Ich schlendere. Langsam. Ohne jede Eile. Hin und wieder bleibe ich stehen. Zum

Einmal habe ich ihn gefragt, was denn sein

Beispiel bei Pierre. Pierre ist ein kleiner, hagerer

Geheimnis sei. Ich bewunderte seine unerschüt-

Mann, der früher einmal sehr gut ausgesehen

terliche Ruhe und wohltuende Gelassenheit und

haben muss. Heute, mit seinen 83 Jahren steht er

hatte mir fest vorgenommen, dahinter zu kommen.

noch immer hier hinter seinem kleinen Stand. Er

Pierre zeigte sein schönstes Lächeln und sagte

verschwindet fast hinter den hohen Stapeln von

nur: „Geheimnis, Mademoiselle? Ich kämpfe nicht

alten, gebundenen Büchern, die er dort feil bietet.

gegen die Sekunden, Minuten und Stunden, wie so

Ein kurzes Lächeln, verschmitzt und freundlich,

viele andere Menschen. Die Zeit ist mein Freund.

so wie Pierre gerne lächelt, wenn er ein bekann-

Ich komme gut mit ihr aus. Warum also sollte ich

tes Gesicht entdeckt, huscht über seinen großen,

versuchen, sie zu besiegen?“

breiten Mund, als ich an seinen Stand trete. Dann öffne ich wieder die Augen und schaue „Bonjour, Mademoiselle“, sagt er und schaut mich

noch eine ganze Weile den Eiffelturm auf meinem

dabei mit seinen braunen, nicht zu eng zusammen

Holztisch an. Pierre hat Recht, denke ich dann und

liegenden Augen freundlich an. Pierre steht hier

muss nun selber lächeln.


Fábio M Roqu


FÁBIO MIGUEL ROQUE IS A 28-YEAR-OLD PHOTOGRAPHER LIVING IN LISBON, PORTUGAL . WWW.CARGOCOLLECTIVE.COM/FABIOROQUE

Miguel ue





Wonderful Balance T EXT & P H OTO: FÁBIO MIGUE L ROQUE

Having this opportunity to describe something

There were very many good moments, but some

through text and image as “My Souvenir,” I decided

bad ones as well: many feelings of frustration

to dedicate this project to my two year old son,

were had, my career stagnated due to shifting

Tomé.

priorities and fatigue, which rendered my unable to visit the cinema, or do anything for that matter.

I, unlike most people, always doubted that I would one day become a father. Not that I didn’t want to

My project could be entirely different, but it is not.

be one, but I always imagined that fate, for some

The project is my souvenir, representing a won-

reason, would not give me this opportunity. We

derful balance that has been maintained over two

have such doubtful and enduring feelings towards

years. As a father, I have experienced unimagi-

several ideas or situations, but I was mistaken.

nable and indescribable sensations and emotions during this period of time. And, of course, all that

With great anticipation I waited eight months,

has been temporarily cast aside, such as trips to

although he was born prematurely. I don’t have

the cinema and involvement with my career, has

any experience and knowledge in this field, but

been reestablished with a new sense of normalcy

like with many situations and experiences, we

and a desire to improve greatly and significantly.

slowly learned.


ROBIN KATER IST 21 JAHRE ALT, STUDIERT FOTODESIGN UND LEBT IN BERLIN. WWW.ROBINKATER.DE


Robin Kater





Für immer wach T EXT & FOTO: ROBIN KATE R

Als Kind brachte ich von all’ meinen Reisen irgen-

Diese Andenken sind nun nicht mehr materiell,

dein Andenken mit nach Hause, sei es ein Kus-

sondern eigentlich weder greifbar und leicht mit

cheltier, eine Postkarte oder “irgendetwas zum

Anderen teilbar.

Hinstellen”. Diese Gegenstände sind daraufhin leider häufig

So erinnere ich mich beispielsweise oft an

in allen möglichen Ecken meines Zimmers ver-

einen einzelnen Tag, den ich mit meiner Familie

schollen oder verstaubten in Regalen.

während eines Schottlandurlaubs erlebt habe.

Wenn ich sie ansah, wusste ich zwar noch unge-

Sonne, Meer, Wald, Berge, Klippen, Wind, Wald-

fähr, wo dieser Gegenstand herkam, aber oft gab

wege, eine Bucht... All das sind die einzelnen

es dazu keine bestimmte Geschichte, die mir

Andenken, die mir diesen Tag immer noch nahezu

wieder einfallen würde.

lebhaft vor Augen führen.

Seitdem ich eine Kamera besitze und diese aktiv

An diesem Tag habe ich auch fotografiert. Ich

nutze, stelle ich fest, dass mein Andenken an

hoffe, dass die Bilder, die ich dort gemacht habe,

alles, was mir besonders erscheint, durch meine

mein Andenken an die Stimmung an diesem Tag

Bilder gewährleistet wird. Dies sind nicht unbed-

für immer wach halten.

ingt Momente, die mit der Kamera festgehalten wurden, sondern vor allem Orte und Stimmungen an denselben, die sich irgendwo in meinem Gedächtnis eingenistet haben.


Tanja Freuden


TANJA FREUDENTHALER IST 24 JAHRE ALT, KOMMUNIKATIONSDESIGNERIN UND LEBT IN STUT TGART. WWW.TANJAFREUDENTHALER.DE

a nthaler





Der wahre Genuss T EXT: TA NJA FRE UDE NTHALE R FOT O: SA N DRIN E MAUSE UND TANJA FRE UDE NTHALE R

Se souvenir de... Jäger und Sammler, durchstreifen Metropolen, jagend nach Erinnerungen, dem einzigartigen Stück. Sprinten durch Massen, Menschen, die bummeln, aus verschiedenen Welten, sind schon vorbei. Fokussiert auf die Highlights, von einem zu nächsten, blitzend und zoomend, blenden sie aus. Tausend Bilder im Chip, keines im Kopf hinter der Linse, verfliegt der Moment. Verpassen das Wichtige, der wahre Genuss. Die Erinnerung bleibt, zumindest im Bild.


Henrik Ott HENRIKE OT T IST 31 JAHRE ALT, KOMMUNIKATIONSDESIGNERIN UND LEBT IN BERLIN. WWW.DESIGN-OT T.DE BE BERLIN DESIGN-SOUVENIR AWARD


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Große Liebe T EXT: HE NRIKE OT T FOT O: M ARK HALBSTARK

Es begann damit, dazugehören zu wollen. Einige Jahre später war es der Wunsch, einen Gedanken mit mir zu tragen. Einen Gedanken, der Hoffnung gibt. Später wurde daraus eine große Liebe. Seitdem ist es ein allumfassender Plan. Manchmal ein spontaner Moment – ein Witz. Was es bleibt: Ein Souvenir, das mich an jeden dieser Momente erinnert.



Ju Schieve


JULIAN SCHIEVELKAMP IST 19 JAHRE ALT, FOTOKÜNSTLER UND LEBT IN KÖL N. WWW.JULIANSCHIEVELKAMP.COM

Julian velkamp





TE X T & FOTO: JUL IAN S C HIE V E LKAMP

Die lange Nacht der Musen Eden Calling: Inmitten einer Frühlingslichtung

ich anmerken: Das Ganze ist gar nicht so mär-

wache ich unter einem raschelnden Meer dicht

chenhaft wie es klingt, denn das Kitzeln überdi-

bewachsener Baumkronen auf, als ein leichter

mensionaler Mikrosporen in der Nase ist wirklich

Hauch die farbenprächtige Wildflora um mich

unerträglich.

herum erzittern lässt. Während ich versuche, den Duft von feuchtem Eichenholz zu erhaschen,

Wenn ich heute daran zurückdenke, genieße ich

bringt mich ein fernes Raunen aus der Fassung.

den Moment häufig mit einer Zigarette und einem

Ich habe das seltsame Gefühl, die vernarbten Ast-

Notizblock, auf dem ich einfach die Gedanken ein-

löcher einiger Bäume flüstern meinen Namen.

fange, die mir in Form von goldglühendem Blü-

Klingt fast wie Herbstlaub im Auslauf des Windes,

tenstaub in der Luft erschienen.

hat dabei jedoch seinen ganz eigenen Charakter. Ich fiel nur einen kurzen Moment in die Hänge des Einen tiefen Atemzug lang halte ich still, bis ich

Waldes, aber wenn ich guten Kitsch nicht so lieben

pollenartige Körnchen bemerke, die von oben hin-

würde, wäre ich dort wahrscheinlich nie gelandet.

unter fallen und in den Boden sickern. Die Erde leuchtet auf und weitet sich, lässt Wurzeln um

Es war jedoch ausgeschlossen, mich bloß auf eine

meinen Körper ranken, um mich zu halten.

verschwommene Traumvorstellung zu beschränken, die irgendwann in den Winkeln meiner

Bevor ein solch utopischer Waldzauber die Fan-

Gedankenkonstruktionen dahinvegetiert. Ich war

tasien des einen oder anderen beflügelt, muss

zu Hause.


Jonas Mey


s yer

JONAS MEYER IST DESIGNER UND

HERAUSGEBER UND LEBT IN BERLIN. WWW.JMVC.DE




About Sharing T EX T: JONAS ME YE R FOT O: ROBE RTO BRUNDO

Dass dieser Moment kommen würde, das wuss-

Reden ging nicht, Tränen blockierten den Hals.

ten wir beide nur zu gut. Dabei lag er noch vor

Trotzdem nahmst du dieses Buch, das ein stän-

einer Stunde so unendlich weit im Irgendwann,

diger Begleiter war auf deiner langen Reise und

dass er einfach nicht präsent sein wollte in unse-

braune Flecken hatte vom schmutzigen Brunnen.

ren Köpfen, nicht existent sein durfte in unseren Herzen. Und so sahen wir auch gar nicht ein, nur

Ich solle es behalten, sagtest du, denn ich könne

einen einzigen Gedanken an das zu verschwen-

damit deine Sprache lernen.

den, was uns jetzt so plötzlich und brutal den

Wie sie klingen würde, würdest du mir demonst-

Boden unter den Füßen wegriss.

rieren, und last mir die laut ersten Zeilen vor:

Dabei standen wir gar nicht. Sondern saßen.

Miércoles, 17 de marzo. HISTORIA DE DIOS.

Nebeneinander. Schweigend, früh morgens am

Descubrir que no se es inmortal, que hay más

Brunnen. Irgendwie schien sich gerade der ganze

dioses, cuya vida tampoco es eterna. El drama de

Schmutz der Stadt in diesem trüben Wasser auf-

saberse absoluto, pero sólo para sus criaturas.

zulösen – jener großen Stadt, die noch schlief, obwohl es bereits hell war.

„Nein“, fuhr ich dich an, „hör auf! Merkst du denn nicht, dass du es dadurch nur noch schlimmer

Wir waren wach, immer noch. In zwei Stunden

machst?“

würdest du aufbrechen zum anderen Ende der Welt, würdest zurückkehren in dein Leben und

Wir standen auf und liefen einige Schritte mit

mich zurücklassen in meinem.

Beinen aus Blei. Der Moment des Abschieds, der eben noch irgendwo im Irgendwann lag, stand uns

Und so sahen wir hilflos dabei zu, wie die Zeit

nun Auge in Auge gegenüber – und nahm dich mit.

unsere letzten gemeinsamen Minuten fraß. Eine nach der anderen, rasend schnell und doch so

Nur das Buch lies er da. Und deine letzten Worte.

quälend langsam, dass der Schmerz uns zu zerreißen drohte.

„Life’s about sharing, Jonas!“



Lu Le


LUKAS LEISTER IST 23 JAHRE ALT, FOTOGRAF UND STUDENT UND LEBT IN FURTWANGEN. WWW.LUKASLEISTER.DE

ukas eister




Ein halbes Jahr T EXT: LUKAS LE ISTE R FOTO: BE AT E ISE LE

Der schwarze Fleck, da wolle er keine beschöni-

Doch trösten konnte er mich nicht und wollte ich

gende Umschweife machen, sei ein haselnuss-

mich auch nicht lassen.

großer Tumor mitten im Stammhirn. Dr. Larsson tippte mit seinem Mittelfinger unerträglich sou-

Stattdessen schien mir seine Hand wie ein heißes

verän auf dem Ausdruck der Röntgenaufnahme

Bügeleisen, das sich langsam seinen Weg durch

herum. Es hatte mich schon immer gestört, wenn

meine Jacke, meinen Pullover und meine Haut

Leute anstatt des Zeigefingers, der seine zei-

brannte. Erschrocken von der Hitze, die sich

gende Funktion ja nicht offensichtlicher im Namen

plötzlich in meinem Körper ausbreitete, schubste

tragen könnte, den Mittelfinger zum Deuten

ich seine Hand ungewollt grob von mir.

benutzten. Dass es dann letzten Endes Larssons souveräner Mittelfinger sein musste, der mir das

Davon unbeeindruckt schaute mir Dr. Larsson,

attestierte, was ich die letzten Tage befürchtete,

der wohl auf eine Reaktion von mir wartete, mit

war wie ein finaler Tritt in sowieso schon ange-

einem starrem Blick in die Augen. Genau wie ich

brochene Rippen.

rechnete er wohl damit, dass ich jeden Moment in Tränen aus- und dann zusammenbrechen würde.

Überhaupt wirkte alles an Larsson so unan-

Doch irgendwie schaffte ich es ruhig zu bleiben,

genehm gefestigt und sicher. Seine klare, tiefe

nichts zu sagen und regungslos dazustehen, für

Stimme, seine kerzengerade Haltung und das

eine - vielleicht auch zwei - Minuten.

markante Gesicht machten ihn zu dem, was man im Groben und Ganzen als genaues Gegenteil von

Meine vermeintliche Gefasstheit ließ augen-

mir bezeichnen kann.

scheinlich auch den Arzt zumindest für einen kurzen Moment stutzen und verstummen, was

Es täte ihm leid sagte er, während er wie ein-

mir für einen noch viel kürzen Moment ein bei-

studiert seine Hand mit tröstender Absicht auf

nahe befriedigendes Gefühl gab, mein Gegenüber

meiner knorrigen Schulter parkte.

aus seiner Routine gerissen zu haben.


Dass ich schon die letzten zwei Tage abwechselnd

Ob ich schon gepackt hätte, fragte er mich. „Nein.“,

geweint, geschrien, nichts gegessen und wenig

sagte ich und nickte trotzdem zustimmend, dass

geschlafen hatte, konnte er nicht wissen und ich

das wohl das Nächste sei, was zu tun wäre.

hätte den Teufel getan und es ihm erzählt. Draußen vor der Klinik schien die Sonne. Ich „Wie lange?“, war das Erste was ich dann mit doch

schaute auf meine Uhr. Es war März, der zweiund-

peinlich zittriger Stimme über die Lippen brachte

zwanzigste, Mittagszeit. Larsson hatte recht, ich

– das hatte ich mir zurechtgelegt. In Arztserien

musste packen. In drei Stunden ging mein Flieger.

schafft das Stellen dieser Frage für gewöhnlich einen dramatisch anmutenden Pathos. In meiner

Ich nahm mein Notizbuch aus der Tasche und

Situation war es nicht pathetisch und wenn über-

schlug den Jahreskalender auf der dritten Seite

haupt mutete es erbärmlich an. Indessen bot es

auf.

der Souveränität Larssons Gelegenheit, sich in voller Pracht zurückzumelden.

Ein halbes Jahr im besten Fall, dann wäre es Sep-

Das könne er nicht sagen, da müsse man erst

tember und bald Herbst.

genauere Tests durchführen, es wäre mir nur nahezulegen, auch wenn er sicherlich leicht reden hätte, nicht den Kopf in den Sand zu ste... „Wie lange?“, unterbrach ich ihn. Larsson hielt inne. Drei, vier Monate, wenn man sofort mit der Behandlung beginne und die Medikamente anschlügen, vielleicht auch ein halbes Jahr. Man könne mich heute noch aufnehmen, er würde sich persönlich darum kümmern.





Wir danken allen von ganzem Herzen, die uns seit über zwei Jahren auf unserem Weg begleiten und uns jeden tag in dem bestärken, was wir tun.


Impressum MYP MAGAZINE THE MY PAGES MAGAZINE SCHLESISCHE STR. 19, 10997 BERLIN, GERMANY +49 (0) 30 . 22 39 31 72 - INFO@MYP-MAGAZINE.COM HERAUSGEBER & REDAKTION: JONAS MEYER & LUKAS LEISTER GRAFISCHE KONZEPTION & DESIGN: JONAS MEYER (JMVC) FOTOGRAFISCHE KONZEPTION: DAVID PAPROCKI FOTOGRAFIE & BILDBEARBEITUNG: DAVID PAPROCKI - MAXIMILIAN KÖNIG STEPHEN GWA LTNEY - MAXIMILIAN LEDERER ROBERTO BRUNDO COVERMODEL: ELISA SCHLOT T (DIE AGENTEN)

W W W. M Y P - M A G A Z I N E . C O M W W W. J MVC. D E W W W. LUK A S L EI ST ER . D E

C O PY RIG H T BY J O NA S MEYER & LUK A S L EI ST ER G E RM A N Y 2 0 1 3 - A L L R I G H T S R ES ERV ED




Inspiriert durch Kalifornien im Frühling. DEDICATED TO CRISTIANO QUEIROZ JR. AND REMINGTON RIEHL .


W W W. M Y P - M A G A Z I N E . C O M © GERMANY 2013


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