Broschuere innen

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Osteuropa in deutschen Medien – das ist mehr als russische Panzer im Kaukasus und ein eigenwilliges Brüderpaar in der polnischen Politik. Ungewöhnliche Geschichten, die Menschen und Orte lebendig und einfühlsam beschreiben und dabei dennoch die nötige Distanz wahren, beweisen dies. Doch solche Texte haben es zunehmend schwer, sich in der täglichen Flut politischer Nachrichten durchzusetzen. Deshalb verleiht das Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung n-ost in diesem Jahr zum zweiten Mal den n-ost Reportagepreis. Er ist mit 2.500 Euro (1.Preis), 1.000 Euro (2. Preis) und 500 Euro (3. Preis) dotiert und wird vom Polnischen Institut Berlin und der Klosterwasser Vertriebs GmbH unterstützt. Als einziger Preis zeichnet der n-ost Reportagepreis Journalistinnen und Journalisten für herausragende Texte über Mittelund Osteuropa in deutschsprachigen Medien aus. Die diesjährigen Preisträger kehren in ihren Beiträgen Klischees über das Leben in Osteuropa um und stellen Gewissheiten infrage. So beschreibt Boris Herrmann in „Aufschwung Ost“ (2. Preis) deutsche Handwerker, die als Gastarbeiter auf polnischen Baustellen die teuren einheimischen

Der n-ost Reportagepreis Kollegen ersetzen. Andreas Unger hat für seine Reportage „Aber die Zigeuner sind geblieben“ (ebenfalls 2. Preis) in Rumänien recherchiert, wo Zigeuner die verlassenen Höfe der ausgewanderten Siebenbürger Sachsen hüten und deutsche Traditionen pflegen. Die russische Journalistin und n-ost-Korrespondentin Renata Kossenko schließlich begleitet in „Die strahlende Gewissheit“ (3. Preis) eine Frau, die immer wieder in ihr radioaktiv verseuchtes Heimatdorf im Ural zurückkehrt und kranken Nachbarn hilft. Die Reportagen sind in etablierten deutschsprachigen Tageszeitungen und Magazinen erschienen. „Geschichten zu erzählen, die überraschen, darin liegt der Reiz einer guten Reportage. Den Gewinnern des Preises ist das in herausragender Weise gelungen“, urteilt der Jury-Vorsitzende Werner D’Inka. Die Jury


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hat in diesem Jahr bewusst darauf verzichtet, einen ersten Platz zu vergeben und bringt damit ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass Redaktionen und Journalisten trotz des schnelllebigen Medienalltags mehr Energie in aufwändig recherchierte und stilistisch erstklassige Reportagen investieren müssen. Wir danken Vorjury und Jury für ihre engagierte ehrenamtliche Arbeit. Den Preisträgern gratulieren wir herzlich und ermutigen sie und ihre Kollegen, jenseits politischer Nachrichten weiter nach ausgefallenen Geschichten zu suchen und mit Hingabe an der Vollkommenheit ihrer Reportagen zu feilen, um Leser zu bewegen und in die Winkel Osteuropas mitzunehmen. Berlin, im September 2008

Christina Hebel 2. Vorsitzende

Matthias Echterhagen Geschäftsführer


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Susanne Amann

Die Vorjury

(Redakteurin Spiegel-Online, Hamburg)

Tatjana Brode (freie Journalistin, Berlin)

Hanno Christ (Fernsehredakteur, Berlin)

Melanie Longerich (freie Journalistin, n-ost-Vorstandsmitglied, Berlin/Warschau)

Christian Mihr (Redaktionsleiter euro|topics, Berlin)

Bernhard Rude (Leiter der Ostkurse - Weiterbildung fĂźr Journalisten aus Osteuropa beim Institut zur FĂśrderung publizistischen Nachwuchses, MĂźnchen)


(Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung)

Werner D’Inka

(Leiterin des Hauptstadtstudios beim Deutschlandradio)

Sabine Adler

(Direktor des Polnischen Instituts Berlin)

Tomasz Dąbrowski

(Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen Zeitung)

Dr. Christian Böhme

Die Jury

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(Leiterin des VLP-Instituts für regionale Journalistik in Prag)

Ludmila Rakusanova

(freie Publizistin)

Sonja Margolina

(Institut für Journalistik, Universität Dortmund)

Prof. Dr. Horst Pöttker

(Leiter von Scoop, Vereinigung für investigativen Journalismus, Dänemark)

Henrik Kaufholz

(Geschäftsführer der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas)

Uwe Neumärker

(Unternehmer)

Uwe Leuschner

(Geschäftsführender Vorstand der BMW Stiftung Herbert Quandt)

Markus Hipp

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3*

VON

B ORIS H ERRMANN

RESLAU. Nüchtern betrachtet ist es nur ein Schwimmbad. Ein besonders schönes und großes zwar, mit Strömungskanal, finnischer Saunalandschaft und osmanischem Badetempel, aber doch bloß ein Schwimmbad. Pawel Morash hat so seine Schwierigkeiten damit, die Sache nüchtern zu betrachten. Vor zwei Jahren wurde er zum Projektmanager des Aquaparks in Breslau ernannt, seither hat er acht Kilo abgenommen. Er ist 33 Jahre alt, seine Haare sind schneeweiß. Die täglichen Probleme auf einer Großbaustelle wie dieser – Lieferverzug, Kostengeschacher, bürokratische Kleinkriege – haben ihn im Zeitraffer altern lassen. Aber nun steht Polens größtes Spaßbad unmittelbar vor der Eröffnung. Noch wenige Wochen, dann sollen sich hier, einen Steinwurf vom Hauptbahnhof entfernt, an die 3 000 Gäste pro Tag vergnügen. Es gibt ein exklusives Wellnessmenü mit Ziegenmilchkuren und Schlammkammern für Paare, einen Rutschbahn-Turm mit Sprungschanze und einen Wüstenraum, der einen Tag in der Saharasonne imitiert. Pawel Moras hat in seiner Heimatstadt eine künstliche Urlaubswelt aufgebaut, und er findet, dass sich sein körperlicher Einsatz dafür allemal gelohnt hat. Für ihn ist der Aquapark nichts weniger als ein Symbol für ein neues Europa. Oder, wenn er es doch einmal nüchtern betrachtet, für ein Stück Normalität. Diese neue Normalität beginnt bereits außerhalb der fast zwei Hektar großen Schwimmhalle. Auf dem Parkplatz. Dort stehen ein Kleinbus aus Celle, ein Lieferwagen aus Annaberg-Buchholz und ein Firmenwagen aus Bretnig. Es sind die Autos der ersten deutschen Gastarbeiter in Polen. „Die Welt steht hier auf dem Kopf“, sagt Moras. Er ist der Ansicht, sie steht da gut. Während die Ministerpräsidenten von Thüringen und Sachsen-Anhalt weiterhin lautstark vor osteuropäischen Fachkräften auf dem deutschen Arbeitsmarkt warnen und der CSUPolitiker Joachim Herrmann sogar allen Ernstes davon spricht, dass die Aufhebung der Arbeitsbeschränkungen einem „Öffnen der Schleusentore“ gleichkäme, scheint sich da draußen in der Realität eine ganz andere Entwicklung abzuzeichnen. Nicht die Polen strömen in den deutschen Osten, sondern die Deutschen in den polnischen Westen. Die Fliesen im Aquapark werden von der Firma Flemming aus Oelsnitz im Vogtland verlegt. Der Edelstahlbauer kommt aus dem Erzgebirge, die Heizungsmonteure aus dem Eichsfeld. Es sind keine riesigen Baufirmen, sondern mittelständische Betriebe und selbstständige Handwerker. Von den rund 200 Arbeitern, die derzeit auf Breslaus berühmtester Baustelle die letzten Handgriffe erledigen, kommen 80 Prozent aus Deutschland. Sie sind

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billiger als ihre polnischen Kollegen am Ort. Der Schreinermeister Michael Hecker reist jeden Montag aus Malgersdorf bei Passau an. Sieben Stunden dauert die Autofahrt von Niederbayern nach Niederschlesien. Er sagt: „Zu Hause sitzen und warten, bis die Arbeit kommt, macht keinen Sinn. Sie kommt nämlich nicht.“ Also fährt er dorthin wo die Arbeit ist. Nach Polen. Im feuchttropischen Klima des Hallenbades sägt Hecker täglich zehn Stunden lang Holzbalken zurecht, schraubt Alutüren an und setzt Fensterscheiben ein. Er ist weit weg von seiner Familie und er schwitzt wie ein Bär. Aber er meckert nicht. „Bauwerke dieser Größenordnung gibt es bei uns nicht. Und wenn es so was gibt, dann streiten sich viele darum, bis der Preis versaut ist“, schreit er über den Lärm seiner Kreissäge hinweg. In Polen ist es genau umgekehrt. Dort steigen die Preise in der Baubranche gerade in Schwindel erregende Höhen, weil es wesentlich mehr Arbeit als Arbeiter gibt. Knapp eine Million Polen sind seit dem EU-Beitritt ihres Landes im Mai 2004 über deutsche Spargelfelder hinweg nach Großbritannien und Irland gezogen. Dorthin, wo es gutes Geld und keine Beschränkungen für Bürger aus Osteuropa gibt. Auswandern ist in Polen zum Volkssport geworden. Der Arbeitgeberverband in Warschau schätzt, dass deshalb allein im Baugewerbe

200 000 Fachkräfte fehlen, um die Nachfrage zu befriedigen. Seit im Frühjahr bekannt wurde, dass Breslau eine der vier polnischen Ausrichterstädte der FußballEuropameisterschaft 2012 sein wird, sind die Preise erst recht explodiert. Laut Plan müssen in den kommenden fünf Jahren mehrere hundert Autobahnkilometer nach Berlin und Kiew gebaut werden, auf denen im Frühsommer 2012 die Fußballfans in jenes Stadion rollen sollen, das es freilich auch noch nicht gibt. Die Eisenbahnverbindungen nach Warschau und Posen bedürfen dringend einer Generalüberholung, der Flughafen ebenfalls. Zudem sollen im Großraum Breslau demnächst mindestens 23 Hotels aus dem Boden wachsen. So ganz nebenbei will die Stadt ja auch noch die Expo 2012 ausrichten. An großen Zielen mangelt es nicht. Wohl aber an kräftigen Händen, die diese Pläne in Bausubstanz verwandeln. Der Aquapark, so viel steht fest, ist erst der Anfang einer neuen Völkerwanderung nach Niederschlesien. Deutsche Arbeiter werden in den nächsten Jahren in Breslau genauso händeringend gebraucht, wie Ukrainer, Weißrussen, Chinesen und Exilpolen. Michael Hecker hat nach aufreibender Suche immerhin vier Facharbeiter aus Breslau gefunden, die ihm zu seinen Konditionen beim Einsetzen der 2 500 Quadratmeter großen Glasfassade in der

nach einigen Tagen bemerkt. Er ist ein latzhosiger EU-Diplomat, der nicht in Ländergrenzen, sondern in Objekten denkt. „Am Liebsten würde ich noch ein weiteres Jahr in diesem Objekt arbeiten“, sagt er. Im September beginnt aber schon der nächste Arbeitseinsatz. Diesmal in einem Objekt in Lettland. Das leidige Vorurteil, wonach die Osteuropäer den Deutschen die Jobs wegnehmen, klingt auf der Baustelle des Aquaparks noch absurder als es ohnehin schon ist. Projektmanager Pawel Moras erzählt, dass die Angebote der Firmen aus Deutschland zum Teil bis zu zwanzig Prozent unter den Preisen liegen,

Die Zeiten, in denen polnische Arbeiter rund um die Uhr zu Billiglöhnen geschuftet haben, sind vorbei. Zumindest in der Baubranche.

Schwimmhalle helfen wollten. „Das klappt prima mit dieser Truppe. Alle sehr freundlich“, sagt der Schreiner aus Bayern. Sein Polnisch lasse zwar sehr zu wünschen übrig, aber „szybszy heißt schneller“, so viel weiß er inzwischen. Der Rest funktioniert über Zeichensprache. Dass einer seiner polnischen Mitarbeiter taubstumm ist, hat Hecker erst

Projektmanager Pawel Moras glaubt, dass Breslau heute die amerikanischste Stadt Europas ist. Er meint das positiv.

die in Breslau verlangt werden. Die Zeiten, in denen polnische Arbeiter rund um die Uhr zu Billiglöhnen geschuftet haben, sind vorbei. Zumindest in der Baubranche. Wenn Moras hört, dass ein deutscher Fliesenleger auf seiner Baustelle 2 000 Euro verdient, lässt er milde lächelnd den Rauch seiner Mentholzigarette aus der Nase steigen: „Das kriegt ein Fliesenleger in Polen mittlerweile auch.“ Was er aber in der Regel nicht so leicht bekommt, sind günstige Baustoffe. Für Großabnehmer kostet eine Tonne Beton in Deutschland derzeit etwa 30 Euro. In Polen sind es knapp 50. Ein Kubikmeter Schotter ist im Nachbarschaftsvergleich fast doppelt so teuer. Auch Schreinermeister Hecker bringt sein Material aus Passau mit. „So lange die Alutüren in Bayern billiger sind, fahre ich sie hierher.“ Der Pole Pawel Moras, der seine wirtschaftlichen Grundüberzeugungen vorwiegend den Büchern des liberalen Vordenkers Adam Smith verdankt, nimmt diese Entwicklung so hin, wie sie ist. „Das ist die alte Regel von der unsichtbaren Hand des Marktes“, sagt er. „Hätte ich jetzt die Idee, in Breslau ein Haus zu bauen, würde ich mir alles im Baumarkt in Görlitz bestellen und damit 30 Prozent sparen.“ Für ihn ist das kein Problem, sondern eine Errungenschaft. Bei allen Nebenwirkungen, die so ein Aufschwung eben mit sich bringt, die jüngere Geschichte von Breslau ent-

BORIS HERRMANN

hält Spuren einer Märchenerzählung. Jene Inselstadt an der Oder, die in den zurückliegenden tausend Jahren mal Wrotizla, Wretslaw, Presslaw und Bresslau hieß, die polnisch, böhmisch, österreichisch, preußisch und deutsch war, die unzählige Male belagert, mehrfach stark beschädigt und einmal komplett vernichtet wurde, sie beginnt wieder zu blühen. Es ist, als ob es die Geschichte am Ende doch gut meint mit dieser Stadt. „Gibt es weltweit eine andere Metropole, die einen hundertprozentigen Wechsel der Bevölkerung erlebt hat?“, fragt Moras. Seine hochgezogenen Schultern sagen nein. Unter den Menschen, die nach dem zweiten Weltkrieg in die leergeräumte Stadt kamen, waren auch seine Eltern. Die Mutter stammte aus dem Karpatenvorland, der Vater aus Zentralpolen. Bis Ende der Achtzigerjahre war das Wort Breslau in Wroclaw praktisch verboten. Heute stört sich daran niemand mehr. Es ist nur noch der deutsche Name für eine polnische Stadt. Aus dem ewigen Kriegsschauplatz ist längst ein moderner Investitionsstandort geworden. Moras glaubt sogar, dass Breslau heute die amerikanischste Stadt Europas ist. Er meint das positiv. Alle Bewohner seien mehr oder weniger neu hier, daher der unbändige Eifer, etwas aufzubauen. Die koreanische Firma LG errichtet am Stadtrand gerade eine Niederlassung auf einer der größten Baustellen Europas, der Internetriese Google baut ein Forschungslabor im Zentrum. Das Einzige, was Breslau allmählich ausgeht, sind die Arbeitslosen. „Wir sind die erste Generation, die sich hier wohl fühlt“, sagt Pawel Moras. Und deshalb ist er sich auch so sicher, dass diese Generation ihre Freizeit in Wohlfühlbädern verbringen wird. Er will seiner Stadt Lebensqualität verkaufen. Und die Deutschen helfen ihm dabei. Zum Abschied kündigt Moras an, dass er jetzt noch etwas Politisches loswerden muss: „Die letzten zwei Monate waren alles andere als konstruktiv für das Ansehen von Polen in Europa. Wir sind hier die Einzigen, die positive Meldungen produzieren“, sagt er. Bevor er von den Bauherren der deutschen Firma Interspa zum Schwimmbad-Manager ernannt wurde, hat er in Dortmund Germanistik und Europawissenschaften studiert. In Breslau engagierte er sich einige Jahre im Vorstand der Edith-Stein-Gesellschaft für die deutsch-polnische Versöhnung, er saß für die liberale Bürgerplattform im Rathaus und als Staatssekretär für Bildung und Sport in der niederschlesischen Regionalverwaltung. Der Aquapark ist für ihn die Fortsetzung seiner Politik. Die junge Wohlfühl-Generation aus Breslau sieht der Eröffnung ungeduldig entgegen. Im Radio wird gerade berichtet, dass die deutschen Bauarbeiter schon baden.

Polens Baubranche gehen die Arbeitskräfte aus – gute Chancen für Firmen aus Deutschland, die oft preiswerter sind als einheimische

Aufschwung Ost

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Berliner Zeitung · Nummer 199 · Montag, 27. August 2007

2. Preis


Seine ersten journalistischen Erfahrungen sammelt Boris Herrmann 2004 als freier Mitarbeiter für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Durch sein Praktikum in der Sportredaktion der Süddeutschen Zeitung spezialisiert er sich zunächst auf diesem Gebiet. Der Verband der Deutschen Sportjournalisten zeichnet ihn 2006 mit dem Sonderpreis für die beste Reportage über die Fußball-WM in Deutschland aus. Seit einem Jahr beschäftigt sich Boris Herrmann intensiv mit Polen. Mit der Absicht, zu einem realistischen Bild über das Nachbarland beizutragen, schreibt er über politische, wirtschaftliche und kulturelle Themen. Noch bis Ende 2008 volontiert er bei der Berliner Zeitung.

Geboren 1978 in Karlsruhe. Studium der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin, Auslandsstudium an der Universidad de Sevilla (Spanien).

2. Preis

Bor is Her r m a nn

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Polens Baubranche gehen die Arbeitskräfte aus – gute Chancen f ür Firmen aus Deutschland, die oft preiswerter sind als einheimische

Aufschwung Ost Berliner Zeitung, 27.08.2007

BRESLAU. Nüchtern betrachtet ist es nur ein Schwimmbad. Ein besonders schönes und großes zwar, mit Strömungskanal, finnischer Saunalandschaft und osmanischem Badetempel, aber doch bloß ein Schwimmbad. Pawel Morash hat so seine Schwierigkeiten damit, die Sache nüchtern zu betrachten. Vor zwei Jahren wurde er zum Projektmanager des Aquaparks in Breslau ernannt, seither hat er acht Kilo abgenommen. Er ist 33 Jahre alt, seine Haare sind schneeweiß. Die täglichen Probleme auf einer Großbaustelle wie dieser – Lieferverzug, Kostengeschacher, bürokratische Kleinkriege – haben ihn im Zeitraffer altern lassen. Aber nun steht Polens größtes Spaßbad unmittelbar vor der Eröffnung. Noch wenige Wochen, dann sollen sich hier, einen Steinwurf vom Hauptbahnhof entfernt, an die 3 000 Gäste pro Tag vergnügen.


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Es gibt ein exklusives Wellnessmenü mit Ziegenmilchkuren und Schlammkammern für Paare, einen Rutschbahn-Turm mit Sprungschanze und einen Wüstenraum, der einen Tag in der Saharasonne imitiert. Pawel Moras hat in seiner Heimatstadt eine künstliche Urlaubswelt aufgebaut, und er findet, dass sich sein körperlicher Einsatz dafür allemal gelohnt hat. Für ihn ist der Aquapark nichts weniger als ein Symbol für ein neues Europa. Oder, wenn er es doch einmal nüchtern betrachtet, für ein Stück Normalität. Diese neue Normalität beginnt bereits außerhalb der fast zwei Hektar großen Schwimmhalle. Auf dem Parkplatz. Dort stehen ein Kleinbus aus Celle, ein Lieferwagen aus Annaberg-Buchholz und ein Firmenwagen aus Bretnig. Es sind die Autos der ersten deutschen Gastarbeiter in Polen. „Die Welt steht hier auf dem Kopf“, sagt Moras. Er ist der Ansicht, sie steht da gut. Während die Ministerpräsidenten von Thüringen und Sachsen-Anhalt weiterhin lautstark vor osteuropäischen Fachkräften auf dem deutschen Arbeitsmarkt warnen und der CSU-Politiker Joachim Herrmann sogar allen Ernstes davon spricht, dass die Aufhebung der Arbeitsbeschränkungen einem „Öffnen der Schleusentore“ gleichkäme, scheint sich da draußen in der Realität eine ganz andere Entwicklung abzuzeichnen.Nicht die Polen strömen in den deutschen Osten, sondern die Deutschen in den polnischen Westen. Die Fliesen im Aquapark werden von der Firma Flemming aus Oelsnitz im Vogtland verlegt. Der Edelstahlbauer kommt aus dem Erzgebirge, die Heizungsmonteure aus dem Eichsfeld. Es sind keine riesigen Baufirmen, sondern mittelständische Betriebe und selbstständige Handwerker. Von den rund 200 Arbeitern, die derzeit auf Breslaus berühmtester Baustelle die letzten Handgriffe erledigen, kommen 80 Prozent aus Deutschland. Sie sind billiger als ihre polnischen Kollegen am Ort. Der Schreinermeister Michael Hecker reist jeden Montag aus Malgersdorf bei Passau an. Sieben Stunden dauert die Autofahrt von Niederbayern nach Niederschlesien. Er sagt: „Zu Hause sitzen und warten, bis die Arbeit kommt, macht keinen Sinn. Sie kommt nämlich nicht.“ Also fährt er dorthin wo die Arbeit ist. Nach Polen. Im feuchttropischen Klima des Hallenbades sägt Hecker täglich zehn Stunden lang Holzbalken zurecht, schraubt Alutüren an und setzt Fensterscheiben ein. Er ist

weit weg von seiner Familie und er schwitzt wie ein Bär. Aber er meckert nicht. „Bauwerke dieser Größenordnung gibt es bei uns nicht. Und wenn es so was gibt, dann streiten sich viele darum, bis der Preis versaut ist“, schreit er über den Lärm seiner Kreissäge hinweg. In Polen ist es genau umgekehrt. Dort steigen die Preise in der Baubranche gerade in Schwindel erregende Höhen, weil es wesentlich mehr Arbeit als Arbeiter gibt. Knapp eine Million Polen sind seit dem EU-Beitritt ihres Landes im Mai 2004 über deutsche Spargelfelder hinweg nach Großbritannien und Irland gezogen. Dorthin, wo es gutes Geld und keine Beschränkungen für Bürger aus Osteuropa gibt. Auswandern ist in Polen zum Volkssport geworden. Der Arbeitgeberverband in Warschau schätzt, dass deshalb allein im Baugewerbe 200 000 Fachkräfte fehlen, um die Nachfrage zu befriedigen. Seit im Frühjahr bekannt wurde, dass Breslau eine der vier polnischen Ausrichterstädte der Fußball-Europameisterschaft 2012 sein wird, sind die Preise erst recht explodiert. Laut Plan müssen in den kommenden fünf Jahren mehrere hundert Autobahnkilometer nach Berlin und Kiew gebaut werden, auf denen im Frühsommer 2012 die Fußballfans in jenes Stadion rollen sollen, das es freilich auch noch nicht gibt. Die Eisenbahnverbindungen nach Warschau und Posen bedürfen dringend einer Generalüberholung, der Flughafen ebenfalls. Zudem sollen im Großraum Breslau demnächst mindestens 23 Hotels aus dem Boden wachsen. So ganz nebenbei will die Stadt ja auch noch die Expo 2012 ausrichten. An großen Zielen mangelt es nicht. Wohl aber an kräftigen Händen, die diese Pläne in Bausubstanz verwandeln. Der Aquapark, so viel steht fest, ist erst der Anfang einer neuen Völkerwanderung nach Niederschlesien. Deutsche Arbeiter werden in den nächsten Jahren in Breslau genauso händeringend gebraucht, wie Ukrainer, Weißrussen, Chinesen und Exilpolen. Michael Hecker hat nach aufreibender Suche immerhin vier Facharbeiter aus Breslau gefunden, die ihm zu seinen Konditionen beim Einsetzen der 2 500 Quadratmeter großen Glasfassade in der Schwimmhalle helfen wollten. „Das klappt prima mit dieser Truppe. Alle sehr freundlich“, sagt der Schreiner aus Bayern. Sein Polnisch lasse zwar sehr zu wünschen übrig, aber „szybszy heißt schneller“, so viel weiß er inzwischen. Der


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Rest funktioniert über Zeichensprache. Dass einer seiner polnischen Mitarbeiter taubstumm ist, hat Hecker erst nach einigen Tagen bemerkt. Er ist ein latzhosiger EU-Diplomat, der nicht in Ländergrenzen, sondern in Objekten denkt. „Am Liebsten würde ich noch ein weiteres Jahr in diesem Objekt arbeiten“, sagt er. Im September beginnt aber schon der nächste Arbeitseinsatz. Diesmal in einem Objekt in Lettland. Das leidige Vorurteil, wonach die Osteuropäer den Deutschen die Jobs wegnehmen, klingt auf der Baustelle des Aquaparks noch absurder als es ohnehin schon ist. Projektmanager Pawel Moras erzählt, dass die Angebote der Firmen aus Deutschland zum Teil bis zu zwanzig Prozent unter den Preisen liegen, die in Breslau verlangt werden. Die Zeiten, in denen polnische Arbeiter rund um die Uhr zu Billiglöhnen geschuftet haben, sind vorbei. Zumindest in der Baubranche. Wenn Moras hört, dass ein deutscher Fliesenleger auf seiner Baustelle 2 000 Euro verdient, lässt er milde lächelnd den Rauch seiner Mentholzigarette aus der Nase steigen: „Das kriegt ein Fliesenleger in Polen mittlerweile auch.“ Was er aber in der Regel nicht so leicht bekommt, sind günstige Baustoffe. Für Großabnehmer kostet eine Tonne Beton in Deutschland derzeit etwa 30 Euro. In Polen sind es knapp 50. Ein Kubikmeter Schotter ist im Nachbarschaftsvergleich fast doppelt so teuer. Auch Schreinermeister Hecker bringt sein Material aus Passau mit. „So lange die Alutüren in Bayern billiger sind, fahre ich sie hierher.“ Der Pole Pawel Moras, der seine wirtschaftlichen Grundüberzeugungen vorwiegend den Büchern des liberalen Vordenkers Adam Smith verdankt, nimmt diese Entwicklung so hin, wie sie ist. „Das ist die alte Regel von der unsichtbaren Hand des Marktes“, sagt er. „Hätte ich jetzt die Idee, in Breslau ein Haus zu bauen, würde ich mir alles im Baumarkt in Görlitz bestellen und damit 30 Prozent sparen.“ Für ihn ist das kein Problem, sondern eine Errungenschaft. Bei allen Nebenwirkungen, die so ein Aufschwung eben mit sich bringt, die jüngere Geschichte von Breslau enthält Spuren einer Märchenerzählung. Jene Inselstadt an der Oder, die in den zurückliegenden tausend Jahren mal Wrotizla, Wretslaw, Presslaw und Bresslau hieß, die polnisch, böhmisch, österreichisch, preußisch und deutsch war, die unzählige Male belagert, mehrfach stark beschädigt und einmal komplett vernichtet wurde, sie beginnt wieder

zu blühen. Es ist, als ob es die Geschichte am Ende doch gut meint mit dieser Stadt. „Gibt es weltweit eine andere Metropole, die einen hundertprozentigen Wechsel der Bevölkerung erlebt hat?“, fragt Moras. Seine hochgezogenen Schultern sagen nein. Unter den Menschen, die nach dem zweiten Weltkrieg in die leergeräumte Stadt kamen, waren auch seine Eltern. Die Mutter stammte aus dem Karpatenvorland, der Vater aus Zentralpolen. Bis Ende der Achtzigerjahre war das Wort Breslau in Wroclaw praktisch verboten. Heute stört sich daran niemand mehr. Es ist nur noch der deutsche Name für eine polnische Stadt. Aus dem ewigen Kriegsschauplatz ist längst ein moderner Investitionsstandort geworden. Moras glaubt sogar, dass Breslau heute die amerikanischste Stadt Europas ist. Er meint das positiv. Alle Bewohner seien mehr oder weniger neu hier, daher der unbändige Eifer, etwas aufzubauen. Die koreanische Firma LG errichtet am Stadtrand gerade eine Niederlassung auf einer der größten Baustellen Europas, der Internetriese Google baut ein Forschungslabor im Zentrum. Das Einzige, was Breslau allmählich ausgeht, sind die Arbeitslosen. „Wir sind die erste Generation, die sich hier wohl fühlt“, sagt Pawel Moras. Und deshalb ist er sich auch so sicher, dass diese Generation ihre Freizeit in Wohlfühlbädern verbringen wird. Er will seiner Stadt Lebensqualität verkaufen. Und die Deutschen helfen ihm dabei. Zum Abschied kündigt Moras an, dass er jetzt noch etwas Politisches loswerden muss: „Die letzten zwei Monate waren alles andere als konstruktiv für das Ansehen von Polen in Europa. Wir sind hier die Einzigen, die positive Meldungen produzieren“, sagt er. Bevor er von den Bauherren der deutschen Firma Interspa zum Schwimmbad-Manager ernannt wurde, hat er in Dortmund Germanistik und Europawissenschaften studiert. In Breslau engagierte er sich einige Jahre im Vorstand der Edith-SteinGesellschaft für die deutsch-polnische Versöhnung, er saß für die liberale Bürgerplattform im Rathaus und als Staatssekretär für Bildung und Sport in der niederschlesischen Regionalverwaltung. Der Aquapark ist für ihn die Fortsetzung seiner Politik. Die junge Wohlfühl-Generation aus Breslau sieht der Eröffnung ungeduldig entgegen. Im Radio wird gerade berichtet, dass die deutschen Bauarbeiter schon baden.


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Besucher finden Weilau verwunschen. Die Weilauer finden: Es ist, wie es ist

Alexander Miku sieht seine Cousine nicht mehr oft: Adriana ist die erste Zigeunerin aus Weilau, die studiert

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Der Weg übers Wasser: ein paar Bretter

Von diesem Unterschied weiß die alte Sächsin Susana Iancu zu erzählen. Genauer gesagt: zu schweigen. Sie hat einen Zigeuner geheiratet. Die zierliche, gebrechliche Frau muss den Kopf in den Nacken legen, wenn sie nach vorn schaut, denn ihre monumentale schwarze Brille mit den dicken Gläsern rutscht ihr gerne von der feinen Nase. „Es war keine Schande mit ihm“, stellt sie gleich einmal klar, „er war ein guter Mann.“ Für ihren Zoltan habe es gute Gründe gegeben: „Ich bin nach dem Geld gegangen“, sagt sie, und wer an dieser Stelle auf ein ironisches Lächeln wartet, wird enttäuscht. Nach einer Weile ergänzt sie: „Ein guter Musiker war er auch, und ein scheener Mann!“ Dann schweigt sie. Und zwar davon, dass ihre Familie sie verstieß, dass sie fortan gemieden wurde unter den Sachsen. Das ergänzt statt ihrer der Historiker Joachim Krauß. Er hat einige Monate in Weilau gelebt und währenddessen die Zigeuner ins Herz geschlossen. Die Hochachtung, mit der die Zigeuner von „ihren“ Sachsen sprechen, sieht er kritisch: „Der Knecht spricht besser über den Herrn als der Herr über den Knecht. Für die meisten Sachsen war das mit den Zigeunern eher ein bisschen peinlich. Es widersprach auch ihrer Idee von der Volkskirche, wonach die Sachsen die einzig vollwertigen Gemeindemitglieder waren.“ Das ist auch der Grund, warum die Zigeuner bis 1989 keine Kirchenbeiträge zahlten, erzählt der ehemalige Weilauer Pfarrer Wolfgang Rehner. „Sonst hätten sie auch den Gemeindekurator und das Presbyterium wählen dürfen. Das wäre den Sachsen zu weit gegangen.“ Doch sie brauchten sich, die Sachsen und die Zigeuner, denn hart war die Arbeit

ie Sachsen aber waren jetzt Flüchtlinge und keine Bauern mehr, der Boden war nicht ihr Boden. Etwa zur Hälfte blieben sie in Deutschland und Österreich. Andere waren in der sowjetischen Zone hängen geblieben, in Böhmen, Ostdeutschland oder Teilen Österreichs, und wurden zurückgeschickt. Manche kamen in Arbeitslager. Etwa 270 Sachsen kehrten schließlich heim nach Weilau. Doch dort lebten jetzt Ungarn und Rumänen. Ältere Weilauer nennen beide

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und reichlich. Und sie mochten sich. So stand es um die Sachsen und die Zigeuner, bis der Krieg aus Deutschland über die Wälder kam und die Weilauer Sachsen fand, die den Zigeunern die Schlüssel gaben zu treuen Händen. Und so molken und fütterten sie die Kühe der Sachsen, erzählt die alte Frau Lengyel. Wieder beginnt das wache Mienenspiel ihres Gesichts, über das manchmal ein junges Strahlen huscht oder eine alte Verstörung, die man erst begreift, wenn sie die Geschichte erzählt von den Russen, dem Gemeindekurator und dem Huhn: Einmal habe sich ein Zigeuner erlaubt, ein Huhn zu schlachten, ein Sachsenhuhn, aber da habe ihn sich der Herr Gemeindekurator zur Brust genommen und recht heftig ausgescholten! „Na, und später sind die Russen gekommen von der Roten Armee“, erzählt Frau Lengyel und legt ihre Hand auf die Wange. „Ojoj! Viel Hunger hatten die und keine Sorge, wem die Hühner gehören!“ Als die Russen weiterzogen, taten die Zigeuner weiter ihre Arbeit. Denn wenn die Sachsen erst wiederkommen würden, sollten sie mal sehen, was sie an ihren Zigeunern hatten.

siebenbürgen

05. 2007 chrismon 17

siebenbürgen

05. 2007 chrismon 21

„Früher war es auch nicht gut. Aber besser.“ Georg Moser ist einer der letzten Weilauer Sachsen

Zwischen den sanften Hügeln Transsilvaniens dauert die Feldarbeit ein bisschen länger

a kommt es wieder, schleppend erst, dann schubweise: der Dachboden, die Soldaten. Die Schlüssel und die Kirche. Der Kurator, das Huhn. Maria Lengyel sinkt zurück, kramt nach den richtigen Worten, Jahren, Namen. Die Stirn unter dem zerschlissenen Kopftuch kräuselt sich, jeder Gesichtsmuskel setzt ein Dutzend Falten in Bewegung, so viele davon haben ihr die 82 Jahre ins Gesicht geschrieben. Ihre Augen schrecken auf, als sie wieder auftaucht aus der Vergangenheit und erzählt, was sie mitgebracht hat. „Im Vierundvierzigerjahr war’s, da sind unsere Sachsen weg. Haben müssen fliehen, ja, der Krieg! Aber wir Zigeuner sind geblieben. Die Frauen haben sich versteckt im Wald, denn die Soldaten von der Roten Armee haben Frauen gesucht. Ich war auf

dem Dachboden, zwei Tage hab ich müssen bleiben ohne Essen und ganz ruhig. Nicht haben sie mich gefunden, keiner hat mich angelangt!“ Über 600 Siebenbürger Sachsen hatten zuvor dem deutschen Militärbefehl gehorcht, ihre Pferde und Ochsen vor die Wagen gespannt und waren aufgebrochen gen Westen, Richtung Niederösterreich. Es sei ja nicht für ewig, so hatten die meisten gehofft und gaben die Schlüssel für Viehstall, Weinkeller und Wohnhaus ihren Zigeunern. Ihren Zigeunern, denn die hatten sich damals gern auf einem Sachsenhof als Tagelöhner verdingt. Hier galten sie eben nicht, wie weitum, als heimatlos, dubios, rastlos. Sondern als Weilauer. Als brave Zigeuner, wie es hieß. ❯

Text: Andreas Unger Fotos: Espen Eichhöfer

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ihre Zigeuner. Ausgerechnet sie lassen heute die deutsche Tradition fortleben

Sondern auch die Nachbarn, mit denen sie mehr als 200 Jahre eng zusammengelebt hatten:

Als die Siebenbürger Sachsen aus Weilau flohen, ließen sie nicht nur ihre Höfe zurück.

Aber die Zigeuner sind geblieben

siebenbürgen

22 chrismon 05. 2007

Nicht weglaufen: Maria Lengyel passt schon auf

siebenbürgen

18 chrismon 05. 2007

Gruppen noch heute „Neusiedler“ oder „Kolonisten“. Die Sachsen durften sich dazuquetschen, geduldete Besucher auf dem eigenen Hof. Ein einziges Durcheinander muss das gewesen sein, an das sich die Alten heute nicht mehr richtig erinnern. Oder erinnern wollen. Vermischt haben sich die Volksgruppen jedenfalls kaum, das ist bis heute so geblieben: Die Ungarn beten im katholischen, die Rumänen im orthodoxen Gotteshaus. Dass die protestantische Kirche nicht orthodox geworden ist, liegt an den Zigeunern. „Wir haben gekämpft, damit es unsere Kirche bleibt!“, erinnert sich Maria Lengyel, hebt die Rechte und ballt die hagere Faust. Langsam, mühsam hinkt sie hinüber zur Anrichte in ihrer niederen Stube am Dorfrand. Sie zieht eine deutsche Bibel heraus, die ihr einst eine Sächsin geschenkt hat. Zerschlissen sind Naht und Einband, Eselsohren und Risse zeugen vom frommen Gebrauch. Frakturbuchstaben erzählen die Geschichten vom „Herrn Christ“. Die Bibel hat sie ihren Glauben gelehrt – und die deutsche Sprache. „Ich habe nicht gelernt zu lesen, aber meine Schwester hat mir immer die Geschichten von den Bildern erzählt“, sagt sie und deutet auf einen SchwarzWeiß-Druck, auf dem David mit dem abgeschlagenen Haupt Goliaths zu sehen ist: „Er war ja noch ein Kind, aber er hat den Riesenmenschen besiegt!“ Nach dem Krieg kam die neue Ordnung. Äcker und Vieh wurden in Kollektiven und Genossenschaften zusammengefasst. Ab 1954 bekamen die Sachsen ihre Höfe zurück, nicht aber ihr Land. Ob Sachsen, Zigeuner, Rumänen oder Ungarn, ob Bauern, Knechte oder Tagelöhner: Alle waren jetzt

iel zu umständlich, fanden die Ingenieure und ließen die Stöcke herausreißen. Die alten Sorten Gutedel und Mädchentraube wurden durch neue ersetzt, die an Querdrähte statt an Stäbe gebunden wurden, zwecks Zeitersparnis. Jahrespläne wurden aufgestellt, Obstbäume gepflanzt, dem Jahr wurde der Rhythmus der neuen Zeit verpasst: Im Juni ernteten sie Sauerkirschen, dann Frühäpfel, dann Sommeräpfel, Birnen, Pflaumen, Spätäpfel, Trauben und schließlich Nüsse. Und es funktionierte ja, die Ingenieure wussten schon, was sie taten. Und es ging ja aufwärts. Doch in der Zwischenzeit konnten sich diejenigen Weilauer, die in Deutschland und Österreich geblieben waren, schon Autos leisten, Häuser und Urlaube. Es war ein verheißungsvolles Land, dieses Deutschland, und es stand den sogenannten Volksdeutschen noch immer offen. Und so zogen seit den Siebzigern immer mehr von ihnen in die Bundesrepublik, die letzten nach Ceaus¸escus Sturz 1989. Georg Moser ist neben seinem Bruder der einzige Sachse, der noch mit seiner Familie hier geblieben ist. Mit seiner rumänischen Frau Veronika spricht er Rumä-

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Arbeiter. „Wir Zigeuner waren ja vorher nie gleich. Erst dann wurden wir gleicher“, erinnert sich die ältere Weilauerin Silvia Boros. Alles sollte anders, besser werden. „Früher haben wir im Frühjahr die Weinstöcke zugeschnitten. Dann haben wir acht Wochen gewartet, bis die Äste weinten und sich biegen ließen. Dann haben wir jeden Stock an einem Stab nach oben gebunden, wie ein Herz.“

Adriana hat Wimperntusche aus der Stadt mitgebracht. Ob sie ihrer Schwester steht? Die Oma weiß nicht recht

2. Preis

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as wäre kein schlechter Schlusssatz, falls die deutsche Geschichte Weilaus hier zu Ende wäre. Falls die Zigeuner sie nicht fortschreiben würden. Dass die deutschen Wurzeln hier neue Blüten treiben, zeigt etwa der Schulbus, den eine Partnergemeinde aus Sachsen dem Ort gestiftet hat. Oder das Plumpsklo der Familie T,ut,ura, das tapeziert ist mit Postern der deutschen Popsternchen Yvonne Catterfeld, Preluders und Overground. Aufgehängt haben sie die Schwestern Adriana und Larissa T,ut,ura, die hier zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter auf einem Grundstück leben, das ihnen einst eine alte Sächsin vermacht hat. Adriana, die ältere der beiden Schwestern, ist 21 und ganz zierlich. Auf ihrem TShirt steht „Gothic Girl“, sie hat robuste, dunkle Locken und oft ein Lächeln um die Lippen. Das Heimweh plagt sie ein bisschen, seit sie in die Großstadt Sibiu gegangen ist, um Deutsch und Rumänisch zu studieren. Alle zwei Wochen fährt sie nach Hause. „In der Stadt muss ich mich ewig

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nisch, mit Bruder und Sohn Sächsisch, daneben Romanes und ein bisschen Ungarisch. „Bloß so viel, dass sie mich nicht verkaufen können“, sagt er, während das Radio in der Stube auf Rumänisch rauscht. Der magere Mann mit den blauen Augen kauert auf einem Stuhl. „Früher mit den Sachsen war alles in guter Form und Ordnung. Jetzt ist es anders. Aber wenn man zusammenlebt, hat es keinen Sinn, sich zu streiten. Wir kommen schon aus. Ich wollte auch auswandern, aber in Deutschland haben sie die Papiere nicht bestätigt. So bin ich geblieben. Früher war es auch nicht gut, aber besser.“

eilau, auf Rumänisch Uila, auf Ungarisch Vajola, gegründet von den Siebenbürger Sachsen, die im zwölften Jahrhundert aus dem Nordwesten des deutschen Sprachraums eingewandert waren. „Sachsen“ heißen sie, weil in alten ungarischen Urkunden von den Deutschen als „saxones“ die Rede ist. Sie buken Brot und ernteten Obst, sie kelterten Wein, fütterten Vieh und brannten Schnaps zwischen den sanften Hügeln Transsilvaniens, im Norden Siebenbürgens, dem Land hinter den Wäldern. Dort, wo noch heute im Herbst der Hunger die Wölfe aus dem Wald treibt, sodass sie sich schadlos halten an den Schafherden hinterm Dorf. Dort, wo noch heute keine Straße durchführt, bloß eine endet. Neuerdings kommen öfters Besucher aus der reichen Welt diese Straße entlang. Ihnen trotten Pferdegespanne im Zickzack entgegen auf einem Weg, der an manchen Stellen nur aus den Rändern von Schlaglöchern besteht. Die Besucher sehen verwitterte Schindeln, die sich mit ihrem Gewicht an die alten Dachstühle schmiegen. Sie sehen blinde Fenster, die in ausgebleichten Rahmen stecken, oder eine Kuh, die am Straßenrand gehäutet und ausgenommen wird.

Espen Eichhöfer chauffierte die Weilauer Jugendlichen in seinem gemieteten Kleinstwagen zur Disko ins Nachbardorf — drei saßen vorn, vier hinten

Andreas Unger wurde zum Abschied von den Weilauern reich beschenkt: mit Walnüssen, Äpfeln und selbst gebranntem Pflaumenschnaps

schminken und überlegen, was ich anziehe. In Weilau kann ich sein, wie ich bin. Dafür ist es hier im Dorf ein bisschen, na ja, wie in einem Dorf.“ Die Leute in der Stadt merken, dass sie Zigeunerin ist. „Sie fragen, ‚Wo warst du, dass du so braun bist?‘ Ich sage, ‚Ich bin von Natur aus so.‘ – ‚Bist du Zigeunerin?‘, fragen sie und dann: ‚Und du studierst? Sprichst du auch Romanes? Und kannst du auch so wild tanzen?‘“ Das sei ja noch harmlos, es gehe auch bösartiger. „Es heißt, wir sind schmutzig und stehlen.“ „Wir“, sagt sie – und setzt sich gleichzeitig ab. „Die anderen Leute sind auch nicht viel besser als wir! Ich will, dass die Leute sehen, dass ich studiere! Und dass ich hellere Haut habe. Ich glaube, bei uns ist mal ein Sachse reingerutscht, denn wir sind nicht so dunkel wie die richtigen Zigeuner.“ Adriana ist stolz, dass sie studiert. Als erste Zigeunerin Weilaus? „Ja!“, platzt es aus ihr heraus, sie strahlt und schaut blitzschnell zu Boden, als schäme sie sich ein bisschen für diesen Stolz in ihrer Stimme. Die alte Frau Lengyel, ihre Urgroßtante, wirft einen liebevollen Blick auf Adriana und Larissa und sagt: „Sie haben zwei gute Schädel.“ ❮

Um Weilaus Mitte, mit dem Kirchturm, der deutschen Schule und dem Gemeindehaus, stehen seit Jahrhunderten stolz die kleinen Sachsenhöfe aus lehmverputztem Fachwerk. Am Dorfrand wohnten die Zigeuner, die sich selbst so und nicht etwa „Roma“ nennen. Um 1800 sind sie wohl dazugestoßen, so genau weiß das niemand mehr. Auch nicht, wann sie neben ihrer Muttersprache Romanes auch Sächsisch lernten, eine Spielart des Deutschen, die fast schon eine eigene Sprache ist; oder warum sie sich protestantisch taufen ließen nach Art ihrer Sachsen und mit ihnen die Kirche besuchten; oder wann die Männer ihre schwarzen runden Hüte und die Frauen ihre bunten Röcke ablegten und sesshaft wurden. Wobei „sesshaft“ nicht heißt, dass sie viel zu Hause gewesen wären. Denn die Weilauer Zigeunermänner waren weithin bekannt als die funkelndsten, frohsten, traurigsten, jedenfalls besten Musikanten der Gegend. Bis hinauf zur Bukowina an der ukrainischen Grenze fuhren sie mit Geige, Zambal und Kontrabass, wenn im Nachbarort Botsch ein Anruf oder Telegramm eingegangen war mit der Bitte, man möge einen Weilauer „Taraf“ schicken, also eine Band. Wochenlang waren sie manchmal unterwegs, von einem Fest zum anderen. Noten konnten sie nicht lesen, aber Melodien aus dem Stand nachspielen, das allemal. Die Strauß’schen Dreiviertelschlager standen hoch im Kurs, dazu rumänische Saˆa rbaˇ, ungarische Csárdás und, als Zugabe, die alten Zigeunerlieder. Auch für die Weilauer Sachsen spielten sie auf. Tanzen durften dabei nur die Sachsen, so viel Unterschied musste sein. ❯

05 .2007 chrismon 15

Heute sind sie es, die Weilau am längsten bewohnen. Und die die deutsche Kultur weitertragen, nachdem sie in den letzten 60 Jahren ein einziges Kommen und Gehen sahen: Nachdem die Sachsen geflohen waren, siedelten Ungarn, dann kamen Rumänen dazu und schließlich wieder einige Sachsen, die es aber nicht mehr lange aushielten in Weilau. Nur die Zigeuner blieben.

Die Jahre haben Spuren hinterlassen auf Maria Lengyels Gesicht – und auf ihrer deutschen Bibel

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Der Stoff, aus dem Verschwörungstheorien sind

Zum Zusammenhang von Friedenssicherung und Verteilungsgerechtigkeit in einer Ethik der internationalen Beziehungen Vom 22. bis 24. Juni 2007 Evangelische Akademie Thüringen Zinzendorfplatz • 99192 Neudietendorf Telefon 036202 984-0 • Fax 036202 984-22 buechner@ev-akademie-thueringen.de www.ev-akademie-thueringen.de

Gerechtigkeit und Frieden?

Die Welt ist kleiner geworden, die globale Vernetzung enger und die Komplexität größer. Zentrale Probleme wie die Friedenssicherung oder das ökologische Überleben sind in ihrer Entstehung national oder regional weder verstehbar noch zu lösen. Gleiches gilt für die internationale Verteilungsgerechtigkeit. Wir brauchen globale Werte und Strukturen, um angemessen handeln zu können. Wo sie nicht erkennbar sind, das Vertrauen in die Steuerungskompetenz politischer Systeme und Akteure fehlt, fallen Verschwörungstheorien auf fruchtbaren Boden. Die Evangelischen Akademien fragen nach, klären auf, laden ein zum Gespräch.

Die Notwendigkeit globaler Werte und Strukturen

Evangelische Akademien in Deutschland

RUMÄNIEN

MOLDAWIEN

05. 2007 chrismon 19

Viele wollen fort: Rumänien, weit im Osten Europas, verliert Jahr für Jahr an Einwohnern

SERBIEN

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UNGARN

siebenbürgen


Andreas Unger absolvierte Praktika beim Tagesspiegel, bei der Welt, beim Magazin der Süddeutschen Zeitung und bei der Sächsischen Zeitung. Seit 2005 schreibt der freie Journalist Reportagen unter anderem für chrismon, den Tagesspiegel und brandeins, daneben dreht er Beiträge für das Bayerische Fernsehen. 2007 gewann er den Journalisten-Preis des Weißen Rings. Inhaltlich konzentriert er sich auf alles außer Sport.

Geboren 1977, aufgewachsen in Niederbayern. Studium der Diplom-Journalistik an der LudwigMaximilians-Universität München und der Internationalen Beziehungen an der Georgetown University in Washington DC. Besuch der Deutschen Journalistenschule.

2. Preis

A ndr e as Unger

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Als die Siebenbürger Sachsen aus Weilau flohen, ließen sie nicht nur ihre Höfe zurück. Sondern auch die Nachbarn, mit denen sie mehr als 200 Jahre eng zusammengelebt hatten: ihre Zigeuner. Ausgerechnet sie lassen heute die deutsche Tradition fortleben.

Aber die Zigeuner sind geblieben Chrismon, Mai 2007

Da kommt es wieder, schleppend erst, dann schubweise: der Dachboden, die Soldaten. Die Schlüssel und die Kirche. Der Kurator, das Huhn. Maria Lengyel sinkt zurück, kramt nach den richtigen Worten, Jahren, Namen. Die Stirn unter dem zerschlissenen Kopftuch kräuselt sich, jeder Gesichtsmuskel setzt ein Dutzend Falten in Bewegung, so viele davon haben ihr die 82 Jahre ins Gesicht geschrieben. Ihre Augen schrecken auf, als sie wieder auftaucht aus der Vergangenheit und erzählt, was sie mitgebracht hat. „Im Vierundvierzigerjahr war’s, da sind unsere Sachsen weg. Haben müssen fliehen, ja, der Krieg! Aber wir Zigeuner sind geblieben. Die Frauen haben sich versteckt im Wald, denn die Soldaten von der Roten


Aber die Zigeuner sind geblieben

Andreas Unger

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Armee haben Frauen gesucht. Ich war auf dem Dachboden, zwei Tage hab ich müssen bleiben ohne Essen und ganz ruhig. Nicht haben sie mich gefunden, keiner hat mich angelangt!“ Über 600 Siebenbürger Sachsen hatten zuvor dem deutschen Militärbefehl gehorcht, ihre Pferde und Ochsen vor die Wagen gespannt und waren aufgebrochen gen Westen, Richtung Niederösterreich. Es sei ja nicht für ewig, so hatten die meisten gehofft und gaben die Schlüssel für Viehstall, Weinkeller und Wohnhaus ihren Zigeunern. Ihren Zigeunern, denn die hatten sich damals gern auf einem Sachsenhof als Tagelöhner verdingt. Hier galten sie eben nicht, wie weitum, als heimatlos, dubios, rastlos. Sondern als Weilauer. Als brave Zigeuner, wie es hieß. Heute sind sie es, die Weilau am längsten bewohnen. Und die die deutsche Kultur weitertragen, nachdem sie in den letzten 60 Jahren ein einziges Kommen und Gehen sahen: Nachdem die Sachsen geflohen waren, siedelten Ungarn, dann kamen Rumänen dazu und schließlich wieder einige Sachsen, die es aber nicht mehr lange aushielten in Weilau. Nur die Zigeuner blieben. Weilau, auf Rumänisch Uila, auf Ungarisch Vajola, gegründet von den Siebenbürger Sachsen, die im zwölften Jahrhundert aus dem Nordwesten des deutschen Sprachraums eingewandert waren. „Sachsen“ heißen sie, weil in alten ungarischen Urkunden von den Deutschen als „saxones“ die Rede ist. Sie buken Brot und ernteten Obst, sie kelterten Wein, fütterten Vieh und brannten Schnaps zwischen den sanften Hügeln Transsilvaniens, im Norden Siebenbürgens, dem Land hinter den Wäldern. Dort, wo noch heute im Herbst der Hunger die Wölfe aus dem Wald treibt, sodass sie sich schadlos halten an den Schafherden hinterm Dorf. Dort, wo noch heute keine Straße durchführt, bloß eine endet. Neuerdings kommen öfters Besucher aus der reichen Welt diese Straße entlang. Ihnen trotten Pferdegespanne im Zickzack entgegen auf einem Weg, der an manchen Stellen nur aus den Rändern von Schlaglöchern besteht. Die Besucher sehen verwitterte Schindeln, die sich mit ihrem Gewicht an die alten Dachstühle schmiegen. Sie sehen blinde Fenster, die in ausgebleichten Rahmen stecken, oder eine Kuh, die am Straßenrand gehäutet und ausgenommen wird.

Um Weilaus Mitte, mit dem Kirchturm, der deutschen Schule und dem Gemeindehaus, stehen seit Jahrhunderten stolz die kleinen Sachsenhöfe aus lehmverputztem Fachwerk. Am Dorfrand wohnten die Zigeuner, die sich selbst so und nicht etwa „Roma“ nennen. Um 1800 sind sie wohl dazugestoßen, so genau weiß das niemand mehr. Auch nicht, wann sie neben ihrer Muttersprache Romanes auch Sächsisch lernten, eine Spielart des Deutschen, die fast schon eine eigene Sprache ist; oder warum sie sich protestantisch taufen ließen nach Art ihrer Sachsen und mit ihnen die Kirche besuchten; oder wann die Männer ihre schwarzen runden Hüte und die Frauen ihre bunten Röcke ablegten und sesshaft wurden. Wobei „sesshaft“ nicht heißt, dass sie viel zu Hause gewesen wären. Denn die Weilauer Zigeunermänner waren weithin bekannt als die funkelndsten, frohsten, traurigsten, jedenfalls besten Musikanten der Gegend. Bis hinauf zur Bukowina an der ukrainischen Grenze fuhren sie mit Geige, Zambal und Kontrabass, wenn im Nachbarort Botsch ein Anruf oder Telegramm eingegangen war mit der Bitte, man möge einen Weilauer „Taraf“ schicken, also eine Band. Wochenlang waren sie manchmal unterwegs, von einem Fest zum anderen. Noten konnten sie nicht lesen, aber Melodien aus dem Stand nachspielen, das allemal. Die Strauß’schen ˇ, unDreiviertelschlager standen hoch im Kurs, dazu rumänische Sârba garische Csárdás und, als Zugabe, die alten Zigeunerlieder. Auch für die Weilauer Sachsen spielten sie auf. Tanzen durften dabei nur die Sachsen, so viel Unterschied musste sein. Von diesem Unterschied weiß die alte Sächsin Susana Iancu zu erzählen. Genauer gesagt: zu schweigen. Sie hat einen Zigeuner geheiratet. Die zierliche, gebrechliche Frau muss den Kopf in den Nacken legen,wenn sie nach vorn schaut, denn ihre monumentale schwarze Brille mit den dicken Gläsern rutscht ihr gerne von der feinen Nase. „Es war keine Schande mit ihm“, stellt sie gleich einmal klar, „er war ein guter Mann.“ Für ihren Zoltan habe es gute Gründe gegeben: „Ich bin nach dem Geld gegangen“, sagt sie, und wer an dieser Stelle auf ein ironisches Lächeln wartet, wird enttäuscht. Nach einer Weile ergänzt sie: „Ein guter Musiker war er auch, und ein scheener Mann!“ Dann schweigt sie. Und zwar davon, dass ihre Familie sie verstieß, dass sie fortan gemieden wurde unter den Sachsen. Das ergänzt statt ihrer der Historiker Joachim Krauß.


Aber die Zigeuner sind geblieben

Andreas Unger

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Er hat einige Monate in Weilau gelebt und währenddessen die Zigeuner ins Herz geschlossen. Die Hochachtung, mit der die Zigeuner von „ihren“ Sachsen sprechen, sieht er kritisch: „Der Knecht spricht besser über den Herrn als der Herr über den Knecht. Für die meisten Sachsen war das mit den Zigeunern eher ein bisschen peinlich. Es widersprach auch ihrer Idee von der Volkskirche, wonach die Sachsen die einzig vollwertigen Gemeindemitglieder waren.“ Das ist auch der Grund, warum die Zigeuner bis 1989 keine Kirchenbeiträge zahlten, erzählt der ehemalige Weilauer Pfarrer Wolfgang Rehner. „Sonst hätten sie auch den Gemeindekurator und das Presbyterium wählen dürfen. Das wäre den Sachsen zu weit gegangen.“ Doch sie brauchten sich, die Sachsen und die Zigeuner, denn hart war die Arbeit und reichlich. Und sie mochten sich. So stand es um die Sachsen und die Zigeuner, bis der Krieg aus Deutschland über die Wälder kam und die Weilauer Sachsen fand, die den Zigeunern die Schlüssel gaben zu treuen Händen. Und so molken und fütterten sie die Kühe der Sachsen, erzählt die alte Frau Lengyel. Wieder beginnt das wache Mienenspiel ihres Gesichts, über das manchmal ein junges Strahlen huscht oder eine alte Verstörung, die man erst begreift, wenn sie die Geschichte erzählt von den Russen, dem Gemeindekurator und dem Huhn: Einmal habe sich ein Zigeuner erlaubt, ein Huhn zu schlachten, ein Sachsenhuhn, aber da habe ihn sich der Herr Gemeindekurator zur Brust genommen und recht heftig ausgescholten! „Na, und später sind die Russen gekommen von der Roten Armee“, erzählt Frau Lengyel und legt ihre Hand auf die Wange. „Ojoj! Viel Hunger hatten die und keine Sorge, wem die Hühner gehören!“ Als die Russen weiterzogen, taten die Zigeuner weiter ihre Arbeit. Denn wenn die Sachsen erst wiederkommen würden, sollten sie mal sehen, was sie an ihren Zigeunern hatten. Die Sachsen aber waren jetzt Flüchtlinge und keine Bauern mehr, der Boden war nicht ihr Boden. Etwa zur Hälfte blieben sie in Deutschland und Österreich. Andere waren in der sowjetischen Zone hängen geblieben, in Böhmen, Ostdeutschland oder Teilen Österreichs, und wurden zurückgeschickt. Manche kamen in Arbeitslager. Etwa 270 Sachsen kehrten schließlich heim nach Weilau. Doch dort lebten jetzt Ungarn und Rumänen. Ältere Weilauer nennen beide Gruppen noch heute

„Neusiedler“ oder „Kolonisten“. Die Sachsen durften sich dazuquetschen, geduldete Besucher auf dem eigenen Hof. Ein einziges Durcheinander muss das gewesen sein, an das sich die Alten heute nicht mehr richtig erinnern. Oder erinnern wollen. Vermischt haben sich die Volksgruppen jedenfalls kaum, das ist bis heute so geblieben: Die Ungarn beten im katholischen, die Rumänen im orthodoxen Gotteshaus. Dass die protestantische Kirche nicht orthodox geworden ist, liegt an den Zigeunern. „Wir haben gekämpft, damit es unsere Kirche bleibt!“, erinnert sich Maria Lengyel, hebt die Rechte und ballt die hagere Faust. Langsam, mühsam hinkt sie hinüber zur Anrichte in ihrer niederen Stube am Dorfrand. Sie zieht eine deutsche Bibel heraus, die ihr einst eine Sächsin geschenkt hat. Zerschlissen sind Naht und Einband, Eselsohren und Risse zeugen vom frommen Gebrauch. Frakturbuchstaben erzählen die Geschichten vom „Herrn Christ“. Die Bibel hat sie ihren Glauben gelehrt – und die deutsche Sprache. „Ich habe nicht gelernt zu lesen, aber meine Schwester hat mir immer die Geschichten von den Bildern erzählt“, sagt sie und deutet auf einen Schwarz-Weiß-Druck, auf dem David mit dem abgeschlagenen Haupt Goliaths zu sehen ist: „Er war ja noch ein Kind, aber er hat den Riesenmenschen besiegt!“ Nach dem Krieg kam die neue Ordnung. Äcker und Vieh wurden in Kollektiven und Genossenschaften zusammengefasst. Ab 1954 bekamen die Sachsen ihre Höfe zurück, nicht aber ihr Land. Ob Sachsen, Zigeuner, Rumänen oder Ungarn, ob Bauern, Knechte oder Tagelöhner: Alle waren jetzt Arbeiter. „Wir Zigeuner waren ja vorher nie gleich. Erst dann wurden wir gleicher“, erinnert sich die ältere Weilauerin Silvia Boros. Alles sollte anders, besser werden. „Früher haben wir im Frühjahr die Weinstöcke zugeschnitten. Dann haben wir acht Wochen gewartet, bis die Äste weinten und sich biegen ließen. Dann haben wir jeden Stock an einem Stab nach oben gebunden, wie ein Herz.“ Viel zu umständlich, fanden die Ingenieure und ließen die Stöcke herausreißen. Die alten Sorten Gutedel und Mädchentraube wurden durch neue ersetzt, die an Querdrähte statt an Stäbe gebunden wurden, zwecks Zeitersparnis. Jahrespläne wurden aufgestellt, Obstbäume gepflanzt, dem Jahr wurde der Rhythmus der neuen Zeit verpasst: Im Juni ernteten sie Sauerkirschen, dann Frühäpfel, dann Sommeräpfel, Birnen, Pflaumen,


Aber die Zigeuner sind geblieben

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Spätäpfel, Trauben und schließlich Nüsse. Und es funktionierte ja, die Ingenieure wussten schon, was sie taten. Und es ging ja aufwärts. Doch in der Zwischenzeit konnten sich diejenigen Weilauer, die in Deutschland und Österreich geblieben waren, schon Autos leisten, Häuser und Urlaube. Es war ein verheißungsvolles Land, dieses Deutschland, und es stand den sogenannten Volksdeutschen noch immer offen. Und so zogen seit den Siebzigern immer mehr von ihnen in die Bundesrepublik, die letzten nach Ceaus ¸escus Sturz 1989. Georg Moser ist neben seinem Bruder der einzige Sachse, der noch mit seiner Familie hier geblieben ist. Mit seiner rumänischen Frau Veronika spricht er Rumänisch, mit Bruder und Sohn Sächsisch, daneben Romanes und ein bisschen Ungarisch. „Bloß so viel, dass sie mich nicht verkaufen können“, sagt er,während das Radio in der Stube auf Rumänisch rauscht. Der magere Mann mit den blauen Augen kauert auf einem Stuhl. „Früher mit den Sachsen war alles in guter Form und Ordnung. Jetzt ist es anders. Aber wenn man zusammenlebt, hat es keinen Sinn, sich zu streiten. Wir kommen schon aus. Ich wollte auch auswandern, aber in Deutschland haben sie die Papiere nicht bestätigt. So bin ich geblieben. Früher war es auch nicht gut, aber besser.“ Das wäre kein schlechter Schlusssatz, falls die deutsche Geschichte Weilaus hier zu Ende wäre. Falls die Zigeuner sie nicht fortschreiben würden. Dass die deutschen Wurzeln hier neue Blüten treiben, zeigt etwa der Schulbus, den eine Partnergemeinde aus Sachsen dem Ort gestiftet hat. Oder das Plumpsklo der Familie T,ut,ura, das tapeziert ist mit Postern der deutschen Popsternchen Yvonne Catterfeld, Preluders und Overground. Aufgehängt haben sie die Schwestern Adriana und Larissa T,ut,ura, die hier zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter auf einem Grundstück leben, das ihnen einst eine alte Sächsin vermacht hat. Adriana, die ältere der beiden Schwestern, ist 21 und ganz zierlich. Auf ihrem T-Shirt steht „Gothic Girl“, sie hat robuste, dunkle Locken und oft ein Lächeln um die Lippen. Das Heimweh plagt sie ein bisschen, seit sie in die Großstadt Sibiu gegangen ist, um Deutsch und Rumänisch zu studieren. Alle zwei Wochen fährt sie nach Hause. „In der Stadt muss ich mich ewig schminken und überlegen,was ich anziehe. In Weilau kann

ich sein, wie ich bin. Dafür ist es hier im Dorf ein bisschen, na ja, wie in einem Dorf.“ Die Leute in der Stadt merken, dass sie Zigeunerin ist. „Sie fragen, ‚Wo warst du, dass du so braun bist?‘ Ich sage, ‚Ich bin von Natur aus so.‘ – ‚Bist du Zigeunerin?‘, fragen sie und dann: ‚Und du studierst? Sprichst du auch Romanes? Und kannst du auch so wild tanzen?‘“ Das sei ja noch harmlos, es gehe auch bösartiger. „Es heißt, wir sind schmutzig und stehlen.“ „Wir“, sagt sie – und setzt sich gleichzeitig ab. „Die anderen Leute sind auch nicht viel besser als wir! Ich will, dass die Leute sehen, dass ich studiere! Und dass ich hellere Haut habe. Ich glaube, bei uns ist mal ein Sachse reingerutscht, denn wir sind nicht so dunkel wie die richtigen Zigeuner.“ Adriana ist stolz, dass sie studiert. Als erste Zigeunerin Weilaus? „Ja!“, platzt es aus ihr heraus, sie strahlt und schaut blitzschnell zu Boden, als schäme sie sich ein bisschen für diesen Stolz in ihrer Stimme. Die alte Frau Lengyel, ihre Urgroßtante, wirft einen liebevollen Blick auf Adriana und Larissa und sagt: „Sie haben zwei gute Schädel.“


uf den ersten Blick ist TatarskajaKarabolka eintypisches tatarischesDorf. Sauber, ordentlich, und vor jedem Haus steht ein hoher Holzzaun. Doch vor der Gefahr, die sie am meisten bedroht, schützt die Menschen hier kein Zaun, schützt sie nicht einmal der Staat. Die Gefahr dringt durch die Wände, durch die Haut, in die Knochen. „In jedem Haus hier wütet der Krebs“, sagt Gultschara Ismagilowa. Sie lässt die Zauntür zufallen. Neben dem Haus rostet ein Auto, das irgendwann einmal weiß war und Gultscharas Vater gehörte, dem Leiter des Dorfsowjets, es war der einzige Luxus, den er sich leistete. Die Tochter sagt, ihr Vater habe von einem besseren Leben für die Dorfbewohner geträumt. Dann starb er an Krebs. Nun leitet Gultschara, heute 61, die Bewegung „Für ein Karabolka ohne Radioaktivität“. Tatarskaja Karabolka liegt mitten im Ural, an der Grenze zwischen Europa und Asien. Die Gegend war fruchtbar, ursprünglich: Birkenwälder voller Beeren und Pilze, Seen und Flüsse voller Fische. Dann verrauchten die ersten Werke des sowjetischenIndustriezentrums Tscheljabinsk die Luft. Und dann wurde, unter absoluter Geheimhaltung, 40 Kilometer von Karabolka entfernt eine Nuklearfabrik errichtet. 1949 war das. Eine geheime Stadt war geboren. Sorokowka war ihr erster Name, sie hatte viele, damit man sie besser verstecken konnte, heute nennt man sie Osersk. Lange tauchte sie auf keiner Landkarte auf. Die besten sowjetischen Wissenschaftler, Physiker und Chemiker aus allen Landesteilen, arbeiteten dort. Einen Atomschild gegen die USA sollten sie errichten, Uran anreichern, bis waffenfähiges Plutonium herauskam. Es war Stalins Antwort auf Hiroshima und Nagasaki. „Majak“ hieß das Werk, Stolz einer wachsenden Weltmacht. „Der Boden bebte unter unseren Füßen“, erinnert sich Gultschara an ihre erste Begegnung mit der geheimen Welt von Majak. Es war ein Herbsttag im Jahr

A

1957, vor 50 Jahren. Gultschara war elf und grub mit anderen Schülern aus dem Dorf Kartoffeln aus, als die Ernte um 16 Uhr 22 plötzlich von einer Explosion unterbrochen wurde. Panik brach aus, die Menschen dachten an einen Krieg, sie liefen ins Dorf, verrammelten Fenster und Türen und warteten aufdie nächste Explosion. Aber die kam nicht. Auch nicht am folgenden Tag. Mit dem Zeigefinger wischt Gultschara den Staub vom Fensterbrett, sie erträgt ihn nicht. Damals, nach der Explosion, hatte sich überall ein merkwürdiges Pulver abgesetzt. In der Schule wischten die Kinder es mit Chlorlösung weg. So lautete die Anordnung. Der Staub kam aus der dunklen Wolke, die gleich nach der Explosion am Horizont aufgetaucht war. Erst Jahrzehnte späDie Gärten ter lernte Gultverseucht mit schara das Wort Strontium 90, „Ost-Ural-Spur“ kennen, mit dem die Äcker Wissenschaftler die radioaktive Vervoller schmutzung bePlutonium zeichnen. 300 Kilometer lang, 50 Kilometer breit. Mehr als 20 000 Menschen rund um die Geheimstadt Sorokowka versuchten damals, zu erraten, was die Explosion zu bedeuten hatte. In der Fabrik Majak wusste man es genau: Ein Betontank mit flüssigen Nuklearabfällen war explodiert – wegen Verstößen gegen die Kühlvorschriften, wie Ermittlungen später ergaben. Mit 666 Millionen Gigabecquerel wurde allein das Werksgelände verstrahlt. Vor Tschernobyl, das 29 Jahre später nach Berichten von Greenpeace und anderen Experten noch 20 Mal schlimmer ausfallen sollte, war es die größte Atomkatastrophe der Welt. Und niemand erfuhr davon. 10 000 Menschen wurden im Laufe der ersten zwei Monate von Soldaten abgeholt und weggebracht. Warum, erfuhren sie nicht. Die leeren Häuser wurden zerstört, das Vieh getötet, damit die Besitzer

Von Renata Kossenko, Tatarskaja Karabolka

Erst kam der Staub, dann das Schweigen – vor 50 Jahren explodierte in der russischen Atomfabrik Majak radioaktiver Abfall. Bis heute kämpfen die Opfer um Anerkennung

Die strahlende Gewissheit

DONNERSTAG, 1. NOVEMBER 2007 / NR. 19 714

nicht mehr zurückkehrten. Nichts aus ihrem früheren Leben durften sie mitnehmen. Alles war mit radioaktiven Isotopen verseucht. Gultschara Ismagilowa deutet aufein altes Schwarz-Weiß-Foto, das an der Wand hängt, ihre Großeltern. Auch das Foto ist verstrahlt. Wären die Soldaten in Gultscharas Dorf gekommen, sie hätte das Bild wohl nicht behalten dürfen. Aber die Soldaten kamen nicht. Karabolka ist eine von drei hoch verstrahlten Siedlungen, die nie evakuiert worden sind. Das Schicksal des Dorfes lässt sich aus Geheimdokumenten rekonstruieren, die erst in den 90er Jahrenveröffentlicht wurden. Es stellte sich heraus: Auch Karabolka hatte eigentlich umgesiedelt werden sollen. Das Geld dafür war aus Moskau bereitgestellt worden, und in Moskau traf auch wenig später ein Bericht über die Evakuierung von Karabolka ein. In Wirklichkeit aber waren nur die Russen aus dem Dorf abgeholt worden – die Tataren dagegen wurden zu Aufräumarbeiten verpflichtet. Die „freiwilligen“ Arbeitseinsätze wurden von Armeeangehörigen in Atemmasken begleitet. Auch Gultschara musste aufs Feld, wie alle aus ihrer Schule. Den ganzen Oktober über warfen sie eben geerntete verseuchte Kartoffeln in Gruben, die anschließend von Traktoren zugeschüttet wurden. Ohne Handschuhe krabbelten sie auf den Feldern umher. In den Pausen kochten sie Kartoffeln, die sie heimlich aus den Gruben gerettet hatten, in Wasser aus dem verseuchten Fluss. Schon damals reagierten ihre Körper. Ein Junge wurde taub, Gultscharas Bruder verlor sein Haar, ihre Mutter erlitt eine Frühgeburt. Im folgenden Sommer konnte Gultschara das Bett nicht mehr verlassen. Drei Wochen lag sie im Delirium, mit 41 Grad Fieber. Sie übergab sich, die Gelenketaten so weh,dass sie nicht mehr laufen konnte. Strahlenkrankheit – auch das war so ein Wort, das Gultschara erst mit der Perestroika kennenlernte. Als sie, die alsArzthelferin arbeitet, sichdie ersten offenen Studien über Radioaktivität ansah,

Aktivistin. Gultschara Ismagilowa erlebte das Unglück mit, heute hat sie Krebs.

wurde ihr seltsam zumute. Sie ahnte, dass Strahlung den Krebs verursacht haben könnte, an dem ihr Vater gestorben war, an dem ihre Mutter und ihr Bruder leiden. Den Krebs, der in fast jedem Haus in ihrem Heimatdorf anzutreffen ist. Die Perestroika brachte aber auch Hoffnung – zunächst. 1993 erhielten die sogenannten „Liquidatoren“, die Aufräumarbeiter, grundsätzlich das Recht auf soziale Vergünstigungen. Gultschara hoffte auf ein neues Leben für ihr Dorf und sich selbst. Doch 1998 lehnte das regionale

Amt für sozialen Schutz ihren und die Anträge ihrer Klassenkameraden ab. Ihre Teilnahme an den Aufräumarbeiten könne nicht nachgewiesen werden. Seitdem findet Gultschara nur noch wenig Schlaf. Nach ihren Arbeitstagen in der Klinik setzt sie sich an den Schreibtisch, ummit dem Staatzu kämpfen. Sie schreibt Anträge, Briefe, Klagen, oft die ganze Nachthindurch. 2002 hatsie einGerichtsverfahren gewonnen, nun ist sie als Liquidatorin anerkannt. Auch vielen Nachbarn hat sie geholfen. Etwa 200 Prozesse hat sie schon geführt. Dieses Jahr hatsie für ihren Kampf den Preis einer Menschenrechtsorganisation bekommen. Gultschara lächelt, wenn sie die Auszeichnung herzeigt. Sie lächelt selten. Sie ärgert sich zu oft. Denn vorbei sind die Kämpfe noch lange nicht. Trotz der Warnungen von Umweltschützern behauptet das regionale Ministerium für radioaktive und ökologische Sicherheit immer noch, das Dorf sei nicht gefährdet. „Diese Menschen sind als Betroffene nicht anerkannt. Das heißt, sie haben keine Strahlendosis abbekommen“, hat Ministeriumsleiter Gennadij Podtesow gerade Ende September erst erklärt. Insgesamt geht es um 7000 Menschen in der ganzen Gegend. Die Gutachten des russischen Wetterdienstes „Rosgidromet“ zeugen dagegen von einer hohen radioaktiven Belastung des Dorfes. Und auch Wladimir Tschuprow von Greenpeace sagt: „Karabolka ist stark verschmutzt.“ Erde und Pflanzen in den Gärten zum Beispiel sind stark mit Isotopen des Uranspaltprodukts Strontium 90 belastet, die bis zu 25,9 Gigabecquerel Strahlung freisetzen. Die kritische Grenze liegt bei 11,1. Auf den Ackerflächen, die zwei Kilometer vom Dorf entfernt liegen, ist die Nutzung sogar offiziell erlaubt – Greenpeace hat bei Tests aber mittlerweile nachgewiesen, dass die Verschmutzung durch die Isotope von Plutonium 239 und 240 zehn Mal höher ist, als Richtlinien das vorsehen. „Die Bauern dreschen ihr Stroh direkt an der Ost-Ural-Spur, in hochverstrahlter Umgebung. Die Kühe fressen

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Fotos: dpa, Renata Kossenko

DER TAGESSPIEGEL

das Heu, die Bauern essen die Kühe und ihre Milchprodukte.“ Jedes Jahr sterben in Karabolka 15 bis 20 Menschen, vor allem an Krebs. Wer konnte, ist geflohen. In ihr Heimatdorf kehren die Menschen erst zurück, wenn sie tot sind. Um auf einem der acht Friedhöfe begraben zu werden. Was suchst du noch hier, wird Gultscharaoft gefragt. Seit40Jahren hat sieeinen zweiten Wohnsitz, doch jeden Freitag kehrt sie in ihr Dorf zurück, nach Karabolka, wo ihre Mutter wohnt. Oft bringt Gultschara Brot mit, viele im Dorf sind arbeitslos. Schmerzstillende Medikamente hat sie auch dabei. In der Dorfapotheke sind sie meistens ausverkauft. Was sie in Karabolka sucht? Manchmal stellt sie sich diese Frage selbst, nachts, wenn sie nicht schlafen kann. Mit der ersten Morgenröte verlässt sie dann das Haus und geht die Straße der Oktoberrevolution entlang, wo immer mehr Häuser leer stehen, hinter Holzzäunen, die ihre Besitzer nicht schützen konnten. Manchmal bleibt sie vor einem Haus stehen. An Straßburg denkt sie dann, an den Europäischen Gerichtshof. Da herrsche Gerechtigkeit, hat sie gehört. Da könne sie den russischen Staat anklagen, wegen 50 Jahren voller Lügen. Die endgültige Umsiedlung Karabolkas könne sie dort einfordern und Entschädigung für das Leid, das der Staat mit seinen Atomexperimenten angerichtet hat. Vielleicht könnte sie sogar fordern, Majak zu schließen – denn Majak ist immer noch aktiv, und 1976 ist noch eine Fabrik dazugekommen, die radioaktive Abfälle verarbeitet. Vor einer WocheerstistindieserFabrik ein Tankgebrochen, einer mit flüssigem radioaktivem Abfall. Eineinhalb Kilometer weit ist das Zeug die Straße entlanggelaufen. Bloß ist da noch dieser andere Gedanke. Der Gedanke an einen Feind, der den Kampf gegen die Strahlung aussichtslos macht. Es ist der Krebs. Auch Gultschara hat ihn, in der Leber. Bei der letzten Untersuchung haben sie ihr gesagt, dass der Tumor um zehn Zentimeter gewachsen ist.

Zeitbomben. Tanks voller radioaktiver Flüssigkeit im Majak-Werk. Erst vor einer Woche ist ein ähnlicher gebrochen, der Inhalt lief aus.

DIE DRITTE SEITE

3. Preis


Geboren 1984 in Riga, 1988 Umzug nach Moskau. Studium der Politikwissenschaft an der Moskauer Staatlichen Linguistischen Universität. Diplomarbeit über den Einfluss der Massenmedien auf den politischen Prozess in Russland und Deutschland. Renata Kossenko pendelt zwischen Russland und Deutschland und arbeitet für russische und deutsche Medien. Während ihres letzten Aufenthaltes in Deutschland absolvierte sie ein Praktikum bei den Grünen im Bundestag. Seit 2008 ist sie Umweltredakteurin der Jugendzeitung “Akzia” in Moskau. Nebenbei assistiert sie bei Filmproduktionen, momentan bei einem deutschen Dokumentarfilm über das Schicksal von Michail Chodorkowski.. Seit der Recherchereise in die radioaktive Gegend bei Tscheljabinsk ist sie aktiv bei Greenpeace Russland Renata Kossenko ist seit 2005 Mitglied von n-ost.

R enata Kossenko

3. Preis

Erst kam der Staub, dann das Schweigen – vor 50 Jahren explodierte in der russischen Atomfabrik Majak radioaktiver Abfall. Bis heute kämpfen die Opfer um Anerkennung.

Die strahlende Gewissheit Der Tagesspiegel, 01.11.2007

Auf den ersten Blick ist Tatarskaja Karabolka ein typisches tatarisches Dorf. Sauber, ordentlich, und vor jedem Haus steht ein hoher Holzzaun. Doch vor der Gefahr, die sie am meisten bedroht, schützt die Menschen hier kein Zaun, schützt sie nicht einmal der Staat. Die Gefahr dringt durch die Wände, durch die Haut, in die Knochen. „In jedem Haus hier wütet der Krebs“, sagt Gultschara Ismagilowa. Sie lässt die Zauntür zufallen. Neben dem Haus rostet ein Auto, das irgendwann einmal weiß war und Gultscharas Vater gehörte, dem Leiter des Dorfsowjets, es war der einzige Luxus, den er sich leistete. Die Tochter sagt, ihr Vater habe von einem besseren Leben für die Dorfbewohner geträumt. Dann starb er an Krebs. Nun leitet Gultschara, heute 61, die Bewegung „Für ein Karabolka ohne Radioaktivität“.


Die strahlende Gewissheit

Renata Kossenko

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Tatarskaja Karabolka liegt mitten im Ural, an der Grenze zwischen Europa und Asien. Die Gegend war fruchtbar, ursprünglich: Birkenwälder voller Beeren und Pilze, Seen und Flüsse voller Fische. Dann verrauchten die ersten Werke des sowjetischen Industriezentrums Tscheljabinsk die Luft. Und dann wurde, unter absoluter Geheimhaltung, 40 Kilometer von Karabolka entfernt eine Nuklearfabrik errichtet. 1949 war das. Eine geheime Stadt war geboren. Sorokowka war ihr erster Name, sie hatte viele, damit man sie besser verstecken konnte, heute nennt man sie Osersk. Lange tauchte sie auf keiner Landkarte auf. Die besten sowjetischen Wissenschaftler, Physiker und Chemiker aus allen Landesteilen, arbeiteten dort. Einen Atomschild gegen die USA sollten sie errichten, Uran anreichern, bis waffenfähiges Plutonium herauskam. Es war Stalins Antwort auf Hiroshima und Nagasaki. „Majak“ hieß das Werk, Stolz einer wachsenden Weltmacht. „Der Boden bebte unter unseren Füßen“, erinnert sich Gultschara an ihre erste Begegnung mit der geheimen Welt von Majak. Es war ein Herbsttag im Jahr 1957, vor 50 Jahren. Gultschara war elf und grub mit anderen Schülern aus dem Dorf Kartoffeln aus, als die Ernte um 16 Uhr 22 plötzlich von einer Explosion unterbrochen wurde. Panik brach aus, die Menschen dachten an einen Krieg, sie liefen ins Dorf, verrammelten Fenster und Türen und warteten auf die nächste Explosion. Aber die kam nicht. Auch nicht am folgenden Tag. Mit dem Zeigefinger wischt Gultschara den Staub vom Fensterbrett, sie erträgt ihn nicht. Damals, nach der Explosion, hatte sich überall ein merkwürdiges Pulver abgesetzt. In der Schule wischten die Kinder es mit Chlorlösung weg.So lautete die Anordnung. Der Staub kam aus der dunklen Wolke, die gleich nach der Explosion am Horizont aufgetaucht war. Erst Jahrzehnte später lernte Gultschara das Wort „Ost-Ural-Spur“ kennen, mit dem Wissenschaftler die radioaktive Verschmutzung bezeichnen. 300 Kilometer lang, 50 Kilometer breit. Mehr als 20.000 Menschen rund um die Geheimstadt Sorokowka versuchten damals, zu erraten, was die Explosion zu bedeuten hatte. In der Fabrik Majak wusste man es genau: Ein Betontank mit flüssigen Nuklearabfällen war explodiert – wegen Verstößen gegen die Kühlvorschriften, wie Ermittlungen später ergaben. Mit 666 Millionen Gigabecquerel

wurde allein das Werksgelände verstrahlt. Vor Tschernobyl, das 29 Jahre später nach Berichten von Greenpeace und anderen Experten noch 20 Mal schlimmer ausfallen sollte, war es die größte Atomkatastrophe der Welt. Und niemand erfuhr davon. 10.000 Menschen wurden im Laufe der ersten zwei Monate von Soldaten abgeholt und weggebracht. Warum, erfuhren sie nicht. Die leeren Häuser wurden zerstört, das Vieh getötet, damit die Besitzer nicht mehr zurückkehrten. Nichts aus ihrem früheren Leben durften sie mitnehmen. Alles war mit radioaktiven Isotopen verseucht. Gultschara Ismagilowa deutet auf ein altes Schwarz-Weiß-Foto, das an der Wand hängt, ihre Großeltern. Auch das Foto ist verstrahlt. Wären die Soldaten in Gultscharas Dorf gekommen, sie hätte das Bild wohl nicht behalten dürfen. Aber die Soldaten kamen nicht. Karabolka ist eine von drei hoch verstrahlten Siedlungen, die nie evakuiert worden sind. Das Schicksal des Dorfes lässt sich aus Geheimdokumenten rekonstruieren, die erst in den 90er Jahren veröffentlicht wurden. Es stellte sich heraus: Auch Karabolka hatte eigentlich umgesiedelt werden sollen. Das Geld dafür war aus Moskau bereitgestellt worden, und in Moskau traf auch wenig später ein Bericht über die Evakuierung von Karabolka ein. In Wirklichkeit aber waren nur die Russen aus dem Dorf abgeholt worden – die Tataren dagegen wurden zu Aufräumarbeiten verpflichtet. Die „freiwilligen“ Arbeitseinsätze wurden von Armeeangehörigen in Atemmasken begleitet. Auch Gultschara musste aufs Feld, wie alle aus ihrer Schule. Den ganzen Oktober über warfen sie eben geerntete verseuchte Kartoffeln in Gruben, die anschließend von Traktoren zugeschüttet wurden. Ohne Handschuhe krabbelten sie auf den Feldern umher. In den Pausen kochten sie Kartoffeln, die sie heimlich aus den Gruben gerettet hatten, in Wasser aus dem verseuchten Fluss. Schon damals reagierten ihre Körper. Ein Junge wurde taub, Gultscharas Bruder verlor sein Haar, ihre Mutter erlitt eine Frühgeburt. Im folgenden Sommer konnte Gultschara das Bett nicht mehr verlassen. Drei Wochen lag sie im Delirium, mit 41 Grad Fieber. Sie übergab sich, die Gelenke taten so weh, dass sie nicht mehr laufen konnte. Strahlenkrankheit – auch das war so ein Wort, das Gultschara erst mit der Perestroika kennenlernte. Als sie, die als Arzthelferin


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Renata Kossenko

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arbeitet, sich die ersten offenen Studien über Radioaktivität ansah, wurde ihr seltsam zumute. Sie ahnte, dass Strahlung den Krebs verursacht haben könnte, an dem ihr Vater gestorben war, an dem ihre Mutter und ihr Bruder leiden. Den Krebs, der in fast jedem Haus in ihrem Heimatdorf anzutreffen ist. Die Perestroika brachte aber auch Hoffnung – zunächst. 1993 erhielten die sogenannten „Liquidatoren“, die Aufräumarbeiter, grundsätzlich das Recht auf soziale Vergünstigungen. Gultschara hoffte auf ein neues Leben für ihr Dorf und sich selbst. Doch 1998 lehnte das regionale Amt für sozialen Schutz ihren und die Anträge ihrer Klassenkameraden ab. Ihre Teilnahme an den Aufräumarbeiten könne nicht nachgewiesen werden. Seitdem findet Gultschara nur noch wenig Schlaf. Nach ihren Arbeitstagen in der Klinik setzt sie sich an den Schreibtisch, um mit dem Staat zu kämpfen. Sie schreibt Anträge, Briefe, Klagen, oft die ganze Nacht hindurch. 2002 hat sie ein Gerichtsverfahren gewonnen, nun ist sie als Liquidatorin anerkannt. Auch vielen Nachbarn hat sie geholfen. Etwa 200 Prozesse hat sie schon geführt. Dieses Jahr hat sie für ihren Kampf den Preis einer Menschenrechtsorganisation bekommen. Gultschara lächelt, wenn sie die Auszeichnung herzeigt. Sie lächelt selten. Sie ärgert sich zu oft. Denn vorbei sind die Kämpfe noch lange nicht. Trotz der Warnungen von Umweltschützern behauptet das regionale Ministerium für radioaktive und ökologische Sicherheit immer noch, das Dorf sei nicht gefährdet. „Diese Menschen sind als Betroffene nicht anerkannt. Das heißt, sie haben keine Strahlendosis abbekommen“, hat Ministeriumsleiter Gennadij Podtesow gerade Ende September erst erklärt. Insgesamt geht es um 7.000 Menschen in der ganzen Gegend. Die Gutachten des russischen Wetterdienstes „Rosgidromet“ zeugen dagegen von einer hohen radioaktiven Belastung des Dorfes. Und auch Wladimir Tschuprow von Greenpeace sagt: „Karabolka ist stark verschmutzt.“ Erde und Pflanzen in den Gärten zum Beispiel sind stark mit Isotopen des Uranspaltprodukts Strontium 90 belastet, die bis zu 25,9 Gigabecquerel Strahlung freisetzen. Die kritische Grenze liegt bei 11,1. Auf den Ackerflächen, die zwei Kilometer vom Dorf entfernt liegen, ist die Nutzung sogar offiziell erlaubt – Greenpeace hat bei Tests aber mittlerweile nachgewiesen, dass die Verschmutzung durch die

Isotope von Plutonium 239 und 240 zehn Mal höher ist, als Richtlinien das vorsehen. „Die Bauern dreschen ihr Stroh direkt an der Ost-UralSpur, in hochverstrahlter Umgebung. Die Kühe fressen das Heu, die Bauern essen die Kühe und ihre Milchprodukte.“ Jedes Jahr sterben in Karabolka 15 bis 20 Menschen, vor allem an Krebs. Wer konnte, ist geflohen. In ihr Heimatdorf kehren die Menschen erst zurück, wenn sie tot sind. Um auf einem der acht Friedhöfe begraben zu werden. Was suchst du noch hier, wird Gultschara oft gefragt. Seit 40 Jahren hat sie einen zweiten Wohnsitz, doch jeden Freitag kehrt sie in ihr Dorf zurück, nach Karabolka, wo ihre Mutter wohnt. Oft bringt Gultschara Brot mit, viele im Dorf sind arbeitslos. Schmerzstillende Medikamente hat sie auch dabei. In der Dorfapotheke sind sie meistens ausverkauft. Was sie in Karabolka sucht? Manchmal stellt sie sich diese Frage selbst, nachts, wenn sie nicht schlafen kann. Mit der ersten Morgenröte verlässt sie dann das Haus und geht die Straße der Oktoberrevolution entlang, wo immer mehr Häuser leer stehen, hinter Holzzäunen, die ihre Besitzer nicht schützen konnten. Manchmal bleibt sie vor einem Haus stehen. An Straßburg denkt sie dann, an den Europäischen Gerichtshof. Da herrsche Gerechtigkeit, hat sie gehört. Da könne sie den russischen Staat anklagen, wegen 50 Jahren voller Lügen. Die endgültige Umsiedlung Karabolkas könne sie dort einfordern und Entschädigung für das Leid, das der Staat mit seinen Atomexperimenten angerichtet hat. Vielleicht könnte sie sogar fordern, Majak zu schließen – denn Majak ist immer noch aktiv, und 1976 ist noch eine Fabrik dazugekommen, die radioaktive Abfälle verarbeitet. Vor einer Woche erst ist in dieser Fabrik ein Tank gebrochen, einer mit flüssigem radioaktivem Abfall. Eineinhalb Kilometer weit ist das Zeug die Straße entlanggelaufen. Bloß ist da noch dieser andere Gedanke. Der Gedanke an einen Feind, der den Kampf gegen die Strahlung aussichtslos macht. Es ist der Krebs. Auch Gultschara hat ihn, in der Leber. Bei der letzten Untersuchung haben sie ihr gesagt, dass der Tumor um zehn Zentimeter gewachsen ist.


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Nominierte Reportagen

Sebastian Blottner Den rohen Klotz Russland modellieren (Freitag, 21.12.2007)

Jens Mühling Jagd im Nebel (Der Tagesspiegel, 27.02.2008)

Simone Schlindwein Das Haus des Schreckens (Spiegel Spezial, Dezember 2007)

Stefan Schocher Hauptsache sie sind weg (woxx, Februar 2008)

Rainer Schulze Der Weg durch die Berge (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.07.2007)

Thomas Trappe Ein Dialekt droht zu verschwinden (FAZ, 06.11.2007)

Sören Urbansky Jenseits des Steppenhügels (Neue Zürcher Zeitung, 26.10.2007)


n-ost

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Das Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung n-ost führt Medieninitiativen, Journalistinnen und Journalisten aus rund 20 Ländern zusammen. Sie verbindet ein europäischer Blick, der von Ost nach West geht. Im Mittelpunkt steht die Berichterstattung aus und über Osteuropa. Dabei setzen sich n-ost-Mitglieder für eine Stärkung der Medienfreiheit und gegen Begrenzungen der journalistischen Arbeit ein: Das Netzwerk organisiert journalistische Fortbildungen, Fachkonferenzen, Recherchereisen und internationale Medienprojekte. Mit einem Artikel- und Radiodienst beliefert n-ost Medien und Hörfunkanstalten in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Kontakt: n-ost – Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung Matthias Echterhagen Neuenburger Straße 17 10969 Berlin Tel. +49-30-259 3283 0 Fax +49-30-259 3283 24 E-Mail: n-ost@n-ost.de Internet: www.n-ost.de


euro|topics

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Die prämierten Texte des n-ost Reportagepreises 2008 erscheinen im Oktober 2008 auch im Online-Magazin des Medienpartners euro|topics in den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch. euro|topics informiert in vier Sprachen über politische, kulturelle und gesellschaftliche Debatten aus 28 Ländern. Die tägliche Presseschau macht Debatten und Meinungen europaweit zugänglich, die Medien bislang auf nationaler Ebene führen. Das wöchentlich erscheinende Magazin setzt Themen und liefert Hintergrundinformationen zu wichtigen europäischen Fragen. So fördert euro|topics transeuropäische Diskussionen und die Herausbildung neuer Netzwerke des medialen, kulturellen und politischen Austauschs. Die tägliche Presseschau kann als kostenloser E-Mail-Newsletter bestellt werden. euro|topics ist ein Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). n-ost erstellt euro|topics seit Mai 2008 im Auftrag der bpb mit einer Redaktion in Berlin, Übersetzern sowie Korrespondenten in fast allen EU-Ländern und der Schweiz. www.eurotopics.net


Sponsoren & Förderer

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Das Polnische Institut Berlin befasst sich mit der Präsentation und Förderung polnischer Kultur und Geschichte in Deutschland. Es versucht den immer noch bestehenden Vorurteilen eines Teils des deutschen Publikums über Polen entgegenzuwirken und Interesse nicht nur für die vielfältige polnische Kultur, sondern auch für die Geschichte, die Traditionen und das europäische Engagement Polens zu wecken. Das Institut ist eine Einrichtung des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Polen. Zu den Hauptaufgaben gehört die Etablierung der polnischen Kultur an den wichtigsten Kulturzentren des Landes sowie die Beteiligung Polens an internationalen Projekten und Vorhaben. Darüber hinaus ist das Polnische Institut bemüht, nachhaltige Kontakte zwischen polnischen und internationalen Partnern zu knüpfen, die aktiv am internationalen Kulturaustausch teilnehmen. Zu den bewährten Organisationsformen von Kulturveranstaltungen gehören die Koproduktionen mit lokalen, renommierten Kultureinrichtungen, die auch den Zuspruch des lokalen, erfahrenen Publikums gewährleisten. Dabei ist es ebenso wichtig, effektiv auf möglichst breite Künstler-, Multiplikatoren- und Expertenkreise einzuwirken. Zu den Prioritäten des Polnischen Instituts gehört der Aufbau und die Pflege möglichst guter und enger Beziehungen zu Vertretern der Medien. Das Programm des Instituts umfasst Projekte in den Bereichen Film, Literatur, Musik, Theater und Bildende Kunst. Der Schwerpunkt bei der Auswahl des Programms liegt auf der aktuellen, neuesten und zeitgenössischen Kunst und Kultur, um dadurch zeigen zu können, wie dynamisch sich die polnische Kultur entwickelt und wie junge polnische Künstler mutig und äußerst erfolgreich neue Wege des künstlerischen Ausdrucks beschreiten. Dank der sich stets verjüngenden Künstlergeneration hat Polen nicht nur eine facettenreiche Geschichte hinter sich, sondern auch großartige Entwicklungsperspektiven vor sich.


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Herausgeber: n-ost Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung Neuenburger Straße 17 10969 Berlin Tel. +49-30-259 3283 0 Fax +49-30-259 3283 24 E-Mail: n-ost@n-ost.de Internet: www.n-ost.de

Verantwortlich für den Inhalt: Christina Hebel, 2. Vorsitzende Matthias Echterhagen, Geschäftsführer

Redaktion: Ulrike Gruska Dörthe Ziemer

Gestaltung: Michael Clemens, Berlin (www.saafir.de)

Druck: 15 Grad, Berlin (www.15grad.de)

© n-ost September 2008


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