n-ost reportagepreis 2017
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WIR DANKEN UNSEREN FÖRDERERN
n-ost reportagepreis 2017
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n-ost Reportagepreis 2017 • VORWORT
VORWORT Den Strom von Eilmeldungen durchbrechen, Konzentration bündeln für das Verständnis komplexer, einander immer schneller ablösender Themen, genau hinschauen: Die neun Geschichten, die für den n-ost-Reportagepreis 2017 nominiert sind, ermöglichen diesen Ausstieg aus dem Hamsterrad. Die Textreportage „71 Leben“ (S. 36) versetzt uns zurück in den Sommer 2015, als der Fund eines Kühllasters voller Toter zum Symbol der Flüchtlingskrise wurde. Das Radiofeature „Ingredients of democracy“ (S. 54) begleitet sechs Jahre nach Beginn der griechischen Finanzkrise zwei junge Leute bei ihrem Versuch, ein neues Griechenland aufzubauen. Und die Fotostrecke „Kalter Frieden“ (S. 78) zeigt in unaufgeregten Bildern aus Bergkarabach einen jahrzehntealten Konflikt, der jederzeit wieder als akute Krise in unseren Schlagzeilen landen kann. Diese und sechs weitere Geschichten aus Russland, Albanien, Kosovo, Litauen und der Slowakei lernen Sie auf den folgenden Seiten kennen. Wir danken allen Bewerberinnen und Bewerbern für insgesamt 143 Einreichungen, den Vorjurys und Jurys für ihr gründliches Urteil und unseren Partnern Renovabis und Brot für die Welt für die erneute Zusammenarbeit. Ein besonderer Dank geht an drei neue Förderer des n-ost-Reportagepreises: die Fazit-Stiftung, die Otto Brenner Stiftung und die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit. Viel Vergnügen bei der Lektüre!
Salome Ast, Projektleitung
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n-ost Reportagepreis 2 017 • INHALT
INHALT
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TEXTREPORTAGE
RADIOREPORTAGE
FOTOREPORTAGE
Recherchepreis Osteuropa
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48 Vorjury 49 Jury 50 Preisträgerin 52 Nominierte 54 Nominierter
59 Jury 60 Preisträger 74 Nominierte 78 Nominierter
85 Preisträger 2017 86 Preisträger 2016
Vorjury Jury Preisträgerin Nominierter Nominierter
92 Shortlist 93 Über n-ost 94 Impressum
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Textreportage Alice Bota Roman Deininger Felix Hutt
Dieser Mann will ins Gefängnis | Stolz und Vorurteil | 71 Leben
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n-ost Reportagepreis 2017 • TEXT
✍ textreportage Vorjury
Ulrike Butmaloiu Dozentin und Journalistin
Kathrin Klette Redakteurin, Neue Zürcher Zeitung
Knut Krohn Redakteur, Stuttgarter Zeitung
Tobias Kühn Redakteur, Jüdische Allgemeine
Inga Niemann Projektmanagerin, Literarisches Colloquium Berlin
Lisa Palmes Freie Literaturübersetzerin
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n-ost Reportagepreis 2 017 • TEXT
✍
Fotos: privat
textreportage jury
Christian Böhme
Fabian Dietrich
Werner D’Inka
Redakteur, Der Tagesspiegel
Chefredakteur, Dummy Magazin
Herausgeber, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Henrik Kaufholz
Sonja Margolina
Horst Pöttker
Redakteur, Politiken
Publizistin und Autorin
Professor emer. am Institut für Journalistik, TU Dortmund
Jana Simon
Charlotte Wiedemann
Schriftstellerin und Journalistin, Die Zeit
Freie Autorin und Kolumnistin
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textreportage PREISTRÄGERin
✍ Dieser Mann will ins Gefängnis von Alice Bota Die Zeit‚ 09.06.2016 Alice Botas Reportage ist eine Zumutung. Oder wie soll man einen Artikel über jemanden nennen, der seine Hoden auf dem Roten Platz festnagelt? Der zulässt, dass sich seine Freundin zur Strafe einen halben Finger abschneidet, weil sie was mit einem anderen hatte. Und der mit aller Macht in ein russisches Gefängnis will. Wer ist dieser Pjotr Pawlenski? Ein Irrer? Ein politischer Künstler? Und dann möchte man gar nicht mehr aufhören zu lesen. Wie Alice Bota es schafft, Pawlenski gerecht zu werden, ihn weder zu glorifizieren noch zu verurteilen, das ist nämlich große Kunst. Und wie sie die Hilflosigkeit des Ermittlungsbeamten schildert, ebenfalls. Werner D’Inka, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
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Fotos: Sebastian Bolesch
Foto:Foto: Sebastian Matthias Bolesch Ziegler
Alice bota Alice Bota (*1979) wurde in Krapkowice, Polen, geboren. 1988 emigrierte sie mit ihrer Familie nach Norddeutschland. Nach dem Abitur studierte sie Politikwissenschaft, Soziologie und Neuere Deutsche Literatur in Kiel, Berlin, Potsdam und Poznań. 2005 wurde Alice Bota an der Deutschen Journalistenschule in München aufgenommen, seit 2007 ist sie Redakteurin im Politikressort der Zeit mit Schwerpunkt auf Ost- und Ostmitteleuropa. 2012 veröffentlichte sie zusammen mit Khuê Pham und Özlem Topcu das Buch „Wir neuen Deutschen“, drei Jahre danach einen Essay im Sammelband „Testfall Ukraine“. Seit eineinhalb Jahren arbeitet Alice Bota als Korrespondentin der Zeit in Moskau.9
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Dieser Mann will ins Gefängnis
von Alice Bota
Er nagelt seine Hoden auf dem Roten Platz fest. Näht sich die Lippen zu. Spielt Aufstände nach. Er sieht sich als politischen Künstler – der russische Staat hält ihn für einen irren Randalierer. Jetzt hat sich Pjotr Pawlenski etwas ausgedacht, das radikaler ist als alle seine Inszenierungen davor.
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ie soll man einen Mann nennen, den es nach möglichst vielen Jahren im Knast verlangt? Die drei Jahre, die ihm drohen, reichen ihm nicht. Er fordert, in den Untiefen eines russischen Gefängnisses zu verschwinden, in dem das Essen selten reicht und die Zellen überfüllt sind. Ein Strafmaß von 20 Jahren hält er für angemessen. Er steckt in einem Käfig, eine Rippe von prügelnden Polizisten gebrochen, und ruft der Richterin zu: „Ich will wegen Terrorismus angeklagt werden!“ Und schweigt fortan im Gerichtssaal 82, Moskauer Meschanski-Bezirksgericht. „Pjotr Pawlenski. Geboren am 8. März 1984“, nuschelt die Richterin. „Gemeldet in St. Petersburg. Zwei Kinder. Arbeitet nicht. Korrekt?“ Sie schaut Pawlenski an. „...“ „Kennen Sie Ihre Rechte?“ „...“ Schweigen, das lauter dröhnt, als Worte es könnten.
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Pjotr Pawlenski will mit diesem Machtapparat nicht reden. Was er ihm mitzuteilen hat, hat er auf andere Weise gesagt. „Politische Kunst“, so nennt Pawlenski, was er tut. Seine jüngste Aktion: In der Nacht zum 9. November 2015 gießt er Benzin über eine der hölzernen Türen der wuchtigen Geheimdienstzentrale, die unter dem Namen Lubjanka bekannt ist. Die Tür ist mehrere Meter hoch. Pawlenski zündet sie an. Dann nimmt er den Benzinkanister in beide Hände, baut sich vor den Flammen auf und wartet. Die Lubjanka ist seit fast einem Jahrhundert Symbol staatlicher Willkürherrschaft. Hier hat der sowjetische Geheimdienst gemordet und gefoltert, hier reihten sich verzweifelte Menschen in Schlangen ein, um etwas über den Verbleib ihrer verschwundenen Angehörigen zu erfahren. Die Mauern der Lubjanka sind mit Blut getränkt. Es ist ein Ort des Grauens, der Nacht für Nacht hübsch beleuchtet wird. Heute arbeitet hier der russische Inlandsgeheimdienst FSB.
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Um 1:16 Uhr werden die Wachleute alarmiert. Gefängnis, der Prozess – all das hat Pawlenski so Einer rennt zur brennenden Tür, so zeigen es Bilder eingeplant. Er setzt der Radikalität des Machtapder Überwachungskamera. Zwei Journalisten, die parats die Radikalität seiner Inszenierung entgegen. Pawlenski eingeweiht hat, kommen dazu. „Haltet Pjotr Pawlenski stellt eine alte Frage neu: Was ihn!“, schreit der Wachmann. Er packt Pawlen- ist Kunst, was will Kunst – und wo liegen ihre ski am Arm. Pawlenski steht da, in Pose erstarrt, Grenzen? Nach seiner Festnahme im November 2015 die Journalisten filmen. Die Bilder, die in diesem Moment entstehen, sind für Pawlenski Teil seines heißt es, Pawlenski komme für einen Monat in Werks. Der Wachmann greift ihn im Nacken und Haft. Am Heiligabend folgt eine Verlängerung der Untersuchungshaft, ebenso im Januar, dann drückt ihn zu Boden. Das Benzin läuft aus. Später, als er im Gefängnis sitzt, wird Pawlen- im Februar, im April, so geht es immer weiter. Der ski Briefe an die Zeit schreiben. In einem heißt es Machtapparat lässt sich Zeit. Pawlenskis Anwalt, über seine Aktion: „Das ist ein Erfolg, von dem ich der den Wunsch seines Mandanten ignoriert, auf nicht zu träumen gewagt habe.“ Er wird verhaftet, Jahre im Gefängnis zu bleiben, schaltet den Euroer wird vor Gericht gestellt. Was könnte er mehr päischen Gerichtshof für Menschenrechte ein: Pawwollen? lenski habe niemanden verletzt und nicht zu fliehen „Bedrohung“, Ugrosa, hat er diese Aktion ge- versucht. Aber Pjotr Pawlenski bleibt in Haft. Aus nannt. Er sieht im Geheimdienst eine „terroristi- seinem Käfig schaut er dem Hin und Her vor Gesche Organisation“. Früher hieß sie KGB, heute richt zu, so wie ein Theaterregisseur seinen Schauheißt sie FSB. Der Name mag sich geändert ha- spielern zuschaut. Und doch ist es sein Leben, über ben, das Ziel ist dasselbe geblieben: Angst verbrei- das hier verhandelt wird, seine Zukunft, die auf ten, Menschenleben zerstören. Das ist Pawlenskis dem Spiel steht. Pjotr Pawlenskis Bekanntheit begann mit eiÜberzeugung. Der letzte Künstler, der dem russischen Staat nem zugenähten Mund. Es war am 23. Juli 2012, zum Opfer fiel, war der ukrainische Regisseur Oleh einige Monate nachdem die Band Pussy Riot in der Senzow. Laut Geheimdienst hatte er Terroranschlä- Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale ein „Punkgege geplant. Außerdem soll Senzow an den Haupt- bet“ gegen den russischen Präsidenten Wladimir quartieren zweier politischer Parteien auf der von Putin und den Patriarchen der Russisch-OrthodoRussland annektierten Krim die Türen angezündet xen Kirche aufgeführt hatte. Drei Frauen der Band haben – also zündete Pawlenski die Tür der Lub- werden angeklagt, ihnen drohen bis zu sieben Jahre janka an. Senzow wurde im Sommer 2015 zu 20 Haft. Woraufhin Pawlenski sich den Mund zunäht Jahren Lagerhaft verurteilt – also fordert Pawlenski und sich in St. Petersburg vor einer Kathedrale posvor Gericht jetzt ebenfalls 20 Jahre. tiert. Name der Aktion: „Naht“. Pawlenskis Idee ist es, dem russischen Staat Die Polizei rückt an. Beamte stellen ihm Fradie Maske herunterzureißen. An ihm selbst soll der gen, die er nicht beantworten kann, seine Lippen Staatsterror sichtbar werden. Was wie die Selbst- sind ja zugenäht. Also nehmen sie ihn mit. Ärzte opferung eines Irren wirkt, folgt einem Kalkül. öffnen die Naht, eine Psychiaterin erklärt Pawlenski Die Verhaftung, die Polizisten, das Ausharren im für psychisch gesund. Fortan bringt er die Routinen 11
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des Machtapparates durcheinander. Pawlenski offenbart dessen Hilflosigkeit, weil er sich anders verhält, als sich Gesetzesbrecher sonst verhalten: Er trägt keine Waffen, meistens trägt er nicht einmal Kleidung. Er läuft nie weg. Er sagt nie etwas. Bei jedem seiner Auftritte sind Journalisten und Fotografen zugegen. Seine Aktionen leben von den Bildern und den Texten, die sich hinterher verbreiten. Aktion „Kadaver“: Pawlenski wickelt sich vor dem Stadtparlament von St. Petersburg nackt in eine Stacheldrahtrolle – die Polizisten legen eine Blümchendecke über ihn, weil sie nicht wissen, was sie tun sollen.
Später hört Pawlenski auf, sich selbst wehzutun, und das ist der Punkt, an dem er beginnt, dem Staat wehzutun. Aktion „Fixierung“: Er nagelt seinen Hodensack am Roten Platz in Moskau fest. Anderthalb Stunden sitzt er da. Die Polizisten wollen ihn festnehmen, aber er kann nicht aufstehen. Aktion „Abtrennung“: Er sitzt nackt mit einem Messer auf der Mauer der berüchtigten Moskauer Serbski-Psychiatrie, gerade hat er ein Stück seines Ohrläppchens abgeschnitten – die herbeigerufenen Polizisten rufen nach den Psychiatern. Später hört Pawlenski auf, sich selbst wehzutun, und das ist der Punkt, an dem er beginnt, dem Staat wehzutun. Die erste Aktion, bei der sich Pawlenski nicht bewusst verletzt, nennt er „Freiheit“, Swoboda. Im Dezember 2013 erlebt Pawlenski mit, wie Hunderttausende Menschen auf dem Maidan, dem zentralen Platz der ukrainischen Hauptstadt Kiew, größtenteils friedlich protestieren. Das russische 12
Staatsfernsehen aber redet von einem faschistischen Aufstand. Dass sich hier ein Volk erhebt, zum Subjekt seiner Geschichte wird, elektrisiert Pawlenski. Am 23. Februar, dem „Tag des russischen Vaterlandsverteidigers“, inszeniert er einen Mini-Maidan im Herzen von St. Petersburg. Mit Helfern sammelt er Reifen und Blech, die Reifen zünden sie an, mit Knüppeln schlagen sie auf das Metall. Jemand hisst eine ukrainische Fahne. Pawlenski wird wegen Vandalismus angeklagt. Aber er hört nicht auf. Die brennende Tür an der Geheimdienstzentrale ist seine bislang radikalste Tat. Sie könnte ihn die Freiheit kosten. Aber ganz Russland würde es miterleben. Pawlenski hat längst einen Grad an Aufmerksamkeit erreicht, den sich ein Künstler nur wünschen kann. Als Pawlenski für einen staatlichen Kunstpreis vorgeschlagen, aber nicht zugelassen wird, treten einige Mitglieder der Jury aus Protest zurück. Er bekommt den internationalen Václav-Havel-Preis für kreativen Dissens. Der österreichische KulturAttaché möchte Bilder seiner Aktionen in Wien ausstellen. In Deutschland erscheint demnächst die Übersetzung seines künstlerischen Manifests. Es gibt Russen, denen es so vorkommt, als habe Pawlenski eine Dunstglocke über dem Land aufgebrochen: Hunderte Künstler, Kuratoren und Galeristen verleihen ihm für das Anzünden der Tür symbolisch ein „Künstlerdiplom“. Aber es gibt auch Russen, die dem Staatsfernsehen glauben, wenn es das Bild eines lebensmüden Verrückten zeichnet. Diese Russen sind in der Mehrzahl. Journalisten können Pjotr Pawlenski nicht in seiner Zelle besuchen. Man kann aber schriftliche Fragen an ihn schicken, über seinen Anwalt und eine Menschenrechtsorganisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Briefe an politische
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Gefangene weiterzuleiten. Man kann im Gericht an seinen Käfig herantreten, ihm Fragen zurufen, ein paar Minuten lang, bis die Richterin den Saal betritt und Pawlenski verstummt. Man kann mit Menschen reden, die Pawlenski begegnet und verändert zurückgeblieben sind. Und man kann Oksana Schalygina treffen, Pawlenskis Lebensgefährtin, Mutter seiner beiden Töchter. Sie deutet jetzt seine Aktionen und führt sie weiter. Er sitzt im Gefängnis, sie ist sein Draußen. Eine Wohnung in Moskau wie viele andere, eine Wohnung in Moskau wie keine andere. Ein Zimmer, eine Küche, gewischter Boden, weiße Wände. Nur ein Bett, sonst keine Möbel. An manchen Tagen klopft die Nachbarin an die Tür und erzählt, die Polizei sei wieder da gewesen und habe Fragen gestellt. Es ist ein eisiger Tag im Januar 2016, Oksana Schalygina sitzt in der Küche, groß und schmal und fast so bleich wie ihre weiß blondierten kurzen Haare. Nebenan spielen die Kinder, Lilja ist fünf, Alisa sieben Jahre alt. An einer Wand ist ein Bild von Putin aufgemalt, über den Augen und dem Mund jeweils ein Balken: „Mother of god, send Putin away“, eine Zeile aus dem „Punkgebet“ von Pussy Riot. Liebe Mutter Gottes, bitte schick Putin fort. Dort, wo die Wand fast den Boden berührt, hat Alisa Bilder festgeklebt, die sie in einer Zeitschrift entdeckt hat. „Das sind Kinder, die im Gefängnis leben, weil ihre Mütter da eingesperrt sind.“ Sie und ihre Schwester wissen, dass auch ihr Vater einsitzt. Wofür? „Weiß nicht mehr“, nuschelt Alisa, die Ältere. „Weil er eine Tür angezündet hat!“, ruft Lilja, die Jüngere. Oksana Schalygina sagt, sie habe erst am Tag nach der Aktion von der brennenden Tür erfahren. Was könnte sie auch sonst sagen, ohne sich
zu belasten? In seinen Briefen aus dem Gefängnis schreibt Pawlenski über Oksana: „Sie unterstützt mich nach all ihren Möglichkeiten. Wir leben praktisch seit zehn Jahren zusammen, natürlich beeinflusst mich ihre Persönlichkeit teilweise. Wichtig ist, dass wir gemeinsam entscheiden, wie wir zusammen sein wollen.“ Eine gemeinsame Entscheidung: Sie besucht ihn nicht in der Haft. Dafür müssten sie einen Antrag stellen. Sie wollen aber diesen Staat um nichts bitten. Auch nicht, wenn dann zwei kleine Mädchen ihren Vater monatelang nicht sehen können. An einem verschneiten Wintertag nimmt Oksana Schalygina dann doch die Metro, fährt die sechs Stationen und stapft mit Lilja und Alisa durch den Schnee zum Gefängnis Butyrka. Das Gebäude war, als es unter Katharina der Großen gebaut wurde, eine Festung. Später, unter Stalin, wurden hier Tausende Gefangene erschossen. Schalygina stößt die Eingangstür auf und stellt sich ans Ende einer der Schlangen, die zu den Schaltern führen. Sie braucht eine Unterschrift von Pawlenski, damit sie die Vollmacht für sein Konto hat. Den Kindern sagt sie, sie sollen im Nebenraum warten. Der Nebenraum, das ist ein gekachelter Schlauch mit vergitterten, durchnummerierten Luken in meterdicken Wänden. Sie unterteilen die Welt in drinnen und draußen. Alisa und Lilja sehen Besucher mit prall gefüllten Plastiktüten, die hastig Kekspackungen und Bonbontüten aufreißen und jeden Bonbon, jeden Keks einzeln auspacken. Was so groß ist, dass sich etwas darin schmuggeln ließe, muss zerkleinert werden. Still schauen die beiden Mädchen zu, wie die Ware auf die andere Seite gereicht wird, durch die meterdicken Luken, in die Welt der Gefangenen, die Welt von Pjotr Pawlenski. Seine Welt, das ist jetzt eine Zelle mit mehreren Häftlingen. Das ist „Kalter Krieg“ mit den 13
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Wächtern. Das ist ein streng geregelter Tag, bis um Schreibtisch mit einem Computer, hier hat Scha22 Uhr die Nachtbeleuchtung anspringt. Pawlenski lygina an einem eigentümlichen Magazin namens will nachts lesen, also zerstört er die vier gedimmten Politische Propaganda gearbeitet. In der Mitte des Lampen, damit es stockdunkel in der Zelle ist und Zimmers ein kleiner Tisch und zwei Stühle, hinten die Wärter wieder das helle Hauptlicht einschalten im Raum ein Gasherd, darauf ein einzelner Topf. Sie müssen. Seine Welt, das ist gelegentliche Isolations- besitzen fast nichts. Ihre Wohnung, ihre Leben, ihre Kinder: Die beihaft als Strafe und gestrichener Ausgang. Ihre, Oksana Schalyginas Welt, das sind jetzt Freunde und den sehen all das als Beweis dafür, dass sie leben, wie Unterstützer, das ist die Wohnung in Moskau, in sie denken. Leben und Handeln dürfen nicht vonder sie umsonst wohnen kann, das sind Spenden für einander getrennt sein, finden Pawlenski und Schaden Lebensunterhalt, das sind Interviews mit der lygina. Und so lehnen sie Begriffe wie „Mama“ und Presse und die stundenlangen Gerichtssitzungen, „Papa“ ab, lassen sich von ihren Kindern stattdessen in denen sie nah an Pawlenskis Käfig sitzt und mit Ksuscha und Petja nennen, die Koseformen von Okihm flüstert. sana und Pjotr. Das Wort „Familie“: gestrichen. Sie „Gäbe es die Kinder nicht, dann wäre vieles ein- seien ein „Kreis Nahestehender“, offen für andere. facher für uns“, sagt Schalygina. „Wenn mir etwas „Liebe“? Kommerziell verdorben. Die Wahrheit sagen, passiert, dann haben wir niemanden, der sich um wahrhaftig handeln: das Wichtigste überhaupt. sie kümmern kann.“ „Wenn jemand sagt, ich würde dieses oder jenes machen, aber ich Von welchem Punkt an versperkann nicht, weil ich Kinder habe, ren die Lebensvorstellungen der dann werden Kinder zu einem Machtinstrument“, schreibt PawEltern den Weg ihrer Kinder? lenski in einem seiner Briefe. Der Wunsch nach einer FamiEinmal fängt Oksana Schalygina etwas mit eilie stammt aus einer Zeit, als Pjotr Pawlenski noch nicht der Künstler war, der er heute ist. In den nem anderen Mann an, kein Problem eigentlich, vergangenen Jahren hat sich das Paar verändert, so aber sie bringt es nicht fertig, Pjotr davon zu erzähwie sich manche Terroristen verändern, bevor sie in len, anders als vereinbart. Also ersinnt sie eine Strafe den Untergrund gehen. Sie haben sich „von Ballast für sich selbst: Den kleinen Finger will sie sich abbefreit“, so sagt es Oksana Schalygina. Bedürfnisse schneiden. Pjotr ist einverstanden. Nachts, als die anabgelegt, Besitz aufgegeben. Sie besitzen zwar eine deren schlafen, schneidet sie zwei Glieder des Fingers Wohnung in St. Petersburg, Pawlenskis Mutter hat ab. Während Schalygina diese Geschichte erzählt, sie ihnen geschenkt, aber sie besteht nur aus einem während sie überlegt, an welchem Tag genau sie sich großen Zimmer und einem Klo, eine Dusche gibt es bestrafte, dreht sich Alisa, die bis dahin versunken nicht. Auf dem Boden ein Lager aus Isomatten, auf vor sich hin gespielt hat, zu ihrer Mutter um und sagt dem sie alle gemeinsam schliefen. Die linke Wand einen leisen Satz mit der Kraft eines Fausthiebs: „Das haben die Kinder vollgemalt. Daneben steht ein war am 1. November vor einem Jahr.“ 14
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Von welchem Punkt an versperren die Lebensvorstellungen der Eltern den Weg ihrer Kinder? Alisa und Lilja gehen nicht zur Schule, weil die Schule nach Meinung ihrer Eltern dazu dient, den Menschen an das für ihn Unzulässige zu gewöhnen. Alisa, die Ältere, spielt Schach und lernt Thaiboxen, es ist der Hauch einer Tagesstruktur, die die Mutter verlangt. Sie hat ihr auch lesen beigebracht. Gerade hat das Kind eine Biografie von Emma Goldman durch, einer amerikanischen Anarchistin des frühen 20. Jahrhunderts. Auf dem Heimweg vom Gefängnis kehrt Oksana Schalygina mit ihren beiden Töchtern in ein Restaurant ein. Sie bestellen Reis mit Gemüse; sie essen keine Tiere. In der Ecke steht ein Aquarium, Lilja, die Jüngere und Wildere, baut sich davor auf, beobachtet die Fische, die in der trüben Enge treiben, und ruft: „Freiheit für alle!“ Vor knapp zehn Jahren haben Pjotr und Oksana sich in einer Bar in St. Petersburg kennengelernt, er war 22, sie 27. Sie kommt aus einer Kleinstadt in der Ostukraine, die sie als kalt und trostlos empfand. Mit 16 Jahren entfloh sie dieser Enge. Seine Mutter war Krankenschwester in einer psychiatrischen Anstalt, sein Vater ein Geologe, der sich für das Büroleben entschied statt für Forschungsreisen an ferne Orte. Ein Mann, der die Sicherheit des Käfigs liebte, so beschreibt ihn Pawlenski. „Ich bin meinem Vater sehr dankbar dafür, dass er mir gezeigt hat, wie man nicht leben soll.“ Die Angst wird später Kern von Pawlenskis Aktionen. Mit nichts lassen sich die Menschen besser kontrollieren als mit Angst. Sie macht die Menschen beherrschbar, nirgendwo hat Pawlenski das stärker erlebt als in seiner vom Sowjetsystem geprägten Familie. Die Mutter wohnt noch heute in St. Petersburg. Pawlenski sagt, sie begreife nicht, was mit ihrem Sohn los ist. Als die Zeit sie anruft,
legt sie sofort den Hörer auf. Der Vater lebt nicht mehr, er starb vor zwölf Jahren. Als Pawlenski heranwächst, droht er sich zu verlieren. LSD, psychedelische Pilze, Kokain, Heroin, er probiert alles aus. Später stellt er den Drogenkonsum ein, er glaubt, als Folge seiner Experimente an Albträumen, Schlafstörungen und Gereiztheit zu leiden. Psychiater, an die er sich damals wendet, diagnostizieren eine emotional instabile Persönlichkeit. Ist Pjotr Pawlenski also vielleicht doch nur verrückt? Irgendwann packt ihn das Gefühl, sein Leben zu verschwenden. Er besteht die Aufnahmeprüfung der renommierten Hochschule für angewandte Kunst und Design in St. Petersburg. Alles könnte gut sein, Pawlenski könnte jetzt Künstler werden – nach den Maßstäben dessen, was in Russland als Kunst gilt. Er könnte Bilder malen, Drucktechniken studieren, Plastiken anfertigen. Pawlenski jedoch geht einen anderen Weg: Er stellt die Institution Kunsthochschule infrage, so wie er später das System Staat infrage stellt. Noten sind für ihn „ein Zertifikat der Angepasstheit“. Er lerne hier, Auftragsarbeiten für Geld anzufertigen. Das sei keine Kunst, das sei Prostitution. Seinem Dozenten für Malerei wirft er vor, in einer Lüge zu arbeiten. Den endgültigen Bruch zwischen ihm und dem Dozenten besiegelt eine gigantische Vagina, die Pawlenski malt, zwei Meter groß, anatomisch akkurat. Die Kunsthochschule im Herzen von St. Petersburg: hohe Decken, hallende Treppenhäuser, ein Atrium, das sich über mehrere Stockwerke zieht. Andrej Gorbunow, Dozent für monumentale Malerei, führt in die Ateliers, in denen vor ein paar Jahren sein Schüler Pawlenski arbeitete. Das Kunstverständnis an der Universität ist konservativ: Kunst bedeutet, ein Handwerk virtuos zu beherrschen. In so einem Umfeld ist das Bild einer gigantischen Vagina eine Provokation. 15
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unerträglichen Krawall, so wie damals die Vagina. Nach ein paar Tagen jedoch befand er, dass Pawlenski eine Idee mit einer Form verbunden habe, und das, sagt Gorbunow, sei für ihn die Definition von Kunst. Etwas im Denken des Dozenten muss in Bewegung geraten sein. „Man kann ihn nur beneiden, dass er zu solchen Sachen fähig ist“, das ist am Ende Gorbunows Urteil. Vermutlich müssen Pawlenskis Aktionen in einem Staat wie Putins Russland stattfinden, um zu wirken. Einerseits ist dieses Land für einen wie ihn, der sich dem Anarchismus Je enger es im Land wird, nahe fühlt, kaum zu ertragen. Andererseits: Je enger es im Land wird, desto puldesto pulsierender wird sierender wird Pawlenskis Kunst. Je rigiPawlenskis Kunst. der die Politik des Wladimir Putin, desto radikaler der Künstler Pjotr Pawlenski. Der russische Künstler Oleg Kulik hat es treffend Pawlenski: „Die Akademie akzeptiert nicht, dass es politische Kunst gibt. Ich halte die Kunst, mit seiner Skulptur Idol ausgedrückt. Sie zeigt einen die Gorbunow und seine Kollegen machen, für Kopf mit zwei Gesichtern. Auf der einen Seite ist das Gesicht Putins zu sehen, auf der anderen das PawDekoration.“ Gorbunow: „Wir wollen den Leuten einen lenskis. Die Gesichter sind voneinander abgewandt, Beruf beibringen. Er aber verstand den Beruf als aber es ist ein Kopf, den sie sich teilen. Der Künstler Provokation.“ Pawlenski ist selbst zum Kunstobjekt geworden. Pawlenski: „Diese Leute sind bereit, sich unter Aktionskunst, die sich am Staat und an desjeden zu legen, der zahlt. Diese Kunst kann schön sen Macht abarbeitet, hat in Russland Tradition. sein. Die Prostituierte kann auch schön sein.“ Nach Stalins Tod 1953 formierten sich die NonGorbunow: „Wenn du vor einem eingezäunten konformisten als Gegenbewegung zum staatlich See stehst, und ein Schild warnt davor, in diesem verordneten sozialistischen Realismus, in den See zu schwimmen, weil du sonst ertrinkst, dann siebziger Jahren folgten die Moskauer Konzeptuadarfst du dich nicht wundern, wenn du tatsächlich listen. Dann, in den neunziger Jahren, nach dem ertrinkst.“ Zusammenbruch des Sozialismus, radikalisierte Pawlenski: „Wir leben alle in einem Gefäng- sich die Aktionskunst. Der Körper, eine historische nis. Meine Aktionen sind ein Versuch, die tierische Sekunde lang befreit vom sowjetischen ArbeiterideAngst zu überwinden, die jeder von uns spürt.“ al und noch nicht okkupiert von den Putinschen Als Gorbunow die Bilder mit der brennenden Machtfantasien und den Bildern des globalen KaTür der Lubjanka sah, hielt er das zunächst für pitalismus, der menschliche Körper also wurde zum Ein aufrichtiger Mensch sei Pawlenski gewesen, sagt Gorbunow. Begabt. Habe viel zugehört und manches gelernt, aber dann: „Je kategorischer, desto wahrhaftiger für Pjotr.“ Nach der Vagina zerstritten sich Gorbunow und Pawlenski. Wenn heute der eine in seinem Atelier über Kunst doziert und der andere in den Briefen, die er aus seiner Zelle schickt, über Kunst schreibt und in den Minuten vor Beginn der Gerichtsverhandlungen darüber spricht – dann scheinen ihre beiden Welten weit auseinanderzuliegen.
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Werkzeug einer neuen Generation von Künstlern. Pawlenksi sich ausdenkt, ganz gleich, wie sie darZum bekanntesten Kollektiv gehören Anatoli Os- über berichten. Dieses Zeit-Dossier ist ein Teil der Aktion „Bedrohung“, so würde Pawlenski es sehen. molowski, Alexander Brener und Oleg Kulik. Grenzen? Kennt er keine, außer diese: „Ich 1991 ordnete Osmolowski Menschen auf dem Roten Platz so an, dass sie von oben betrachtet das möchte weder andere noch mich selbst töten. Und ich möchte die Authentizität meiner Aussagen nicht Wort „Schwanz“ bildeten. Als Russland in Tschetschenien in den Krieg töten, indem ich Schauspieler beschäftige.“ Zur Tradition der russischen Aktionskunst gezog, stellte sich Brener in Boxershorts, mit nacktem Oberkörper, auf den Roten Platz und forderte den hört auch der Versuch, sie zu pathologisieren. PräPräsidenten Boris Jelzin zum Kampf auf. gend der Satz des Staats- und Parteichefs Nikita Der nackte Kulik sprang wie ein tollwütiger Chruschtschow aus den sechziger Jahren, nur ein Hund Menschen vor Galerien an. In seiner Werk- Verrückter könne sich gegen die sowjetische Macht statt formierte sich die Künstlergruppe Wojna, der stellen. Schon vor Jahrzehnten ließ der KGB Künstauch ein späteres Mitglied von Pussy Riot angehör- ler verhaften und in Anstalten einweisen.Wenn also der Psychiater Wladimir Mendelewitsch heute darte. Die nächste Generation. „Wenn die Kirche nicht versucht hätte, mit Pus- über nachdenkt, was Kunst ist und was krank, dann sy Riot abzurechnen, hätte es wahrscheinlich die steht er vor einem sehr russischen Rätsel. Es treibt Aktion ‚Naht‘ nicht gegeben. Wenn es keine ‚Naht‘ ihn um, seit er vor zwei Jahren Pjotr Pawlenski kengegeben hätte, ist ungewiss, ob es weitere Aktionen nengelernt hat. gegeben hätte“, schreibt Pawlenski aus dem Gefängnis . Grenzen? Kennt er keine, Die Aktionen. „Am Anfang steht die Idee“, sagt Schalygina. „Am außer diese: „Ich möchte weder schwierigsten sind die Vorbereitunandere noch mich selbst töten.“ gen“, schreibt Pawlenski. „Du lebst den Gedanken von früh bis spät“, sagt Schalygina. „Die meiste Aufmerksamkeit widMendelewitschs Visitenkarte ist ein mit Titeln me ich dem Ort: Wie arbeiten die Sicherheitsleute, dicht bedrucktes Stück Papier: Direktor und Prowo sind die Kameras?“, schreibt Pawlenski. „Alles fessor der psychologischen Abteilung an der Meist durchdacht, bis auf die Sekunde geplant“, sagt dizinischen Hochschule von Kasan. Direktor des Schalygina. „Die letzten Stunden warte ich nur Instituts für die Untersuchung der Probleme mennoch ab“, schreibt Pawlenski. „Ich durchlebe mit taler Gesundheit. Experte der Weltgesundheitsorihm die Angst“, sagt Schalygina. ganisation. Chefredakteur der Fachzeitschriften Am Ende, sobald ihn die Polizisten abführen, Neurologisches Bulletin und Psychopathologie taucht im Internet der Name der Aktion auf, ne- und Suchtmedizin. 2014 rief ihn Pawlenskis Anben Bildern und einem erklärenden Text. Nicht walt an. Pawlenski musste sich damals wegen der nur Staatsanwälte, Richter und Polizisten, auch die Aktion „Freiheit“ verantworten, dem Mini-Maidan Medien haben ihre Rolle in dem Geschehen, das auf einer historischen Brücke im Zentrum von St. 17
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Petersburg. Unzählige medizinische Untersuchungen hatte Pawlenski schon über sich ergehen lassen, nun fürchtete der Anwalt, die Justiz könne seinen Mandanten in die geschlossene Psychiatrie bringen. Wladimir Mendelewitsch übernahm die Untersuchung Pawlenskis. In seinem Gutachten, das im Wesentlichen auf einem einzigen langen Gespräch beruhte, erklärte er Pawlenski zwar für zurechnungsfähig, diagnostizierte aber eine Persönlichkeitsstörung. Damit hätte der Fall für Mendelewitsch erledigt sein können, und doch fing er damals erst an. Das Gespräch wirkte nach. Mendelewitsch begann, über Aktionskunst zu lesen, die ihn bis dahin nicht interessiert hatte. Er studierte Pawlenskis Aktionen. Anderthalb Jahre dauerte Mendelewitschs Auseinandersetzung mit der Aktionskunst, dann veröffentlichte er einen Fachaufsatz, der in der russischen Psychiatrie für Furore sorgt. Titel: Der Fall des Künstlers Pjotr Pawlenski. Psychopathologie oder zeitgenössische Kunst? Mendelewitsch legt dar, warum er sich bei seiner Diagnose geirrt habe. Warum Pawlenski weder verrückt noch gestört sei, sondern einfach ein Künstler. „Ich habe seine Motive einfach nicht verstanden“, sagt Mendelewitsch heute und dass er mit dem negativen Bild aus den russischen Medien in das Gespräch gegangen sei. Pawlenski sei jemand, der niemanden brauche, sagt Mendelewitsch, auch nicht seine Familie. Er genüge sich selbst, weshalb es für den Staat schwierig sei, ihn zu bestrafen. „Er ist ein Fanatiker seiner Kunst“, das schon. Aber eine Gefahr sehe er, Mendelewitsch, nicht: Es fehle Pawlenski an jeder Aggressivität. Pawlenski schreitet die Grenzen der Kunst ab, Mendelewitsch will nun die Grenzen der Psychiatrie ausdehnen.In der Sowjetzeit attestierten Ärzte politischen Gefangenen häufig, an „schleichender 18
Schizophrenie“ zu leiden und eine Gefahr für die Gesellschaft zu sein. Genau dies diagnostizieren manche Psychiater heute bei Pawlenski, ohne ihn je gesehen zu haben. Mendelewitsch sagt, noch immer werde alles für behandlungsbedürftig erklärt, was von der Norm abweiche. Das wolle er ändern. Es gibt noch einen Menschen, den die Begegnung mit dem Mann, der sich „politischer Künstler“ nennt, in eine neue Richtung getrieben hat. Vielleicht ist dieser Mensch die unwahrscheinlichste Figur in der Geschichte um Pjotr Pawlenski. Man würde Pawel Jasmann eher in einem Roman erwarten oder in einem Theaterstück, aber nun sitzt er in einem Café in St. Petersburg, ein kleiner Mann, etwas rundlich, immer einen bittersüßen Witz auf den Lippen. Die Sache mit Pawlenski verfolgt ihn. Der polizeiliche Ermittler Jasmann war gerade nach St. Petersburg gekommen, als er die Order erhielt, sich mit Pawlenskis Mini-Maidan zu beschäftigen. Jasmann wird damals schnell klar, dass es hier nicht um brennende Reifen und ein bisschen Ruhestörung geht, sondern um Politik. Die Proteste in der Ukraine machen die russischen Machthaber nervös. Ein Mann, der diese Proteste in Russland zitiert, ist eine Provokation. Die Verhöre, die Jasmann in den nächsten Wochen führt, nimmt Pawlenski heimlich mit dem Handy auf und veröffentlicht sie später. „Scheißkerl“, sagt Jasmann heute über Pawlenski. Und lacht. Die Protokolle dieser Gespräche haben tatsächlich ihren Weg auf eine Theaterbühne gefunden. So hat alle Welt erfahren, wie sich der Ermittler Jasmann bei dem Versuch, die Grenzen der Kunst mit den Mitteln der Kriminalistik auszutarieren, hoffnungslos verloren hat. Ermittler: „Ich verstehe, dass das Kunst ist. Ich habe nichts gegen Kunst. Unser Staat hat auch nichts gegen Kunst. Aber Sie müssen unterscheiden
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Ermittler: „Zeigen Sie uns doch ein paar Ihrer zwischen Kunst und der Begehung einer rechtswidGemälde.“ rigen Handlung.“ Pawlenski: „Moment. Ich habe eine recht enge Pawlenski: „Da gibt es keinen Unterschied. ‚Rechtswidrige Handlungen‘ – das ist Rhetorik, in Spezialisierung als Künstler.“ Ermittler: „Welche?“ die man die Kunst einzuwickeln versucht.“ Pawlenski: „Aktionismus!“ Ermittler: „Und was, wenn Sie irgendwann jeErmittler: „Dann bin ich auch Künstler.“ manden umbringen?“ Pawlenski: „Sie müssen nur eine Aktion umsetzen.“ Er müsste nur einen Antrag Ermittler: „Ich habe heute schon einige Aktioeinreichen, dann wäre der nen umgesetzt.“ Pawlenski: „Dann müssen Sie auch eine RefleProzess vorüber, ohne Strafe xion anstellen.“ für Pawlenski. Ermittler: „Habe ich.“ Pawlenski: „Dann können Sie sich als Künstler Pawlenski: „Ich gehe sehr sorgsam mit frem- bezeichnen. Und ...“ Ermittler: „Ich bin Künstler! “ dem Leben um. Ich esse noch nicht einmal Fleisch.“ Pawlenski: „Toll!“ Ermittler: „Witzig. Wissen Sie noch, es gab Ermittler: „Künstler-Ermittler von der Ermittmal diesen Typen mit Schnurrbart und Seitenscheitel, seine Taten könnte man auch Kunst nennen.“ lungsabteilung des Zentralbezirks!“ Pawlenski: „Bleiben wir bei den Tatsachen. Bei Pawlenski: „Auch Sie können ein Künstler sein. meinen Aktionen gab es kein einziges Opfer.“ Sie müssten nur in Gattungen denken und Ihre HandErmittler: „Verstehen Sie denn, dass Reifen lungen zur Kunstgeschichte in Beziehung setzen.“ auf einem Baudenkmal anzuzünden eine Straftat Diese Begegnung hat mein Leben verändert: ist? (...) Es geht hier nicht um den Schaden, es geht So ein Satz ist schnell gesagt und meistens falsch. In um die Entweihung an sich. Das ist, als würde sich diesem Fall aber stimmt er. Nach den Gesprächen einer hinsetzen und auf das Mausoleum scheißen.“ mit Pawlenski hat Jasmann bei der Polizei gekünPawlenski: „Was meint man denn mit ‚Entwei- digt. Heute arbeitet er als Anwalt. Fragt man Jasmann, was er von seinem Land hung‘? Eine Entweihung ist eine Störung von etwas. Die Ordnung der Beziehung zwischen zwei Gesell- hält, dann zeigt er ein Foto: eine Kreuzung mit schaften, der russischen und der ukrainischen, ist lauter Verkehrszeichen. Eines gewährt Vorfahrt, eigestört.“ nes verbietet sie. Eines erlaubt das Abbiegen nach In drei Verhören versucht der Ermittler Jas- rechts, eines verbietet es. „Das ist Russland“, sagt mann, den Delinquenten Pawlenski in die Sphäre Jasmann und lacht dröhnend. Das Verfahren gegen zu ziehen, in der er zu Hause ist, die Sphäre der Pawlenski nennt er eine Farce. Es ist ein Tag Ende April 2016, mehr als zwei scharf umrissenen Gesetze und klar definierten Handlungen, die Sphäre des Automatismus von Jahre nach der Maidan-Aktion, als Pawlenski desVerbrechen und Strafe. Vergeblich. wegen erneut dem Gericht vorgeführt wird. Das 19
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Verfahren wegen des Feuers am Eingang zur Lubjanka hat da noch gar nicht begonnen. Eigentlich ist Pawlenskis Vergehen bereits verjährt. Er müsste nur einen Antrag einreichen, dann wäre der Prozess vorüber, ohne Strafe für Pawlenski. Aber wie käme er dazu, eine Inszenierung vorzeitig zu beenden? Viele Journalisten sitzen im Gerichtssaal, auch einige Künstlerkollegen. Dmitri Dinse, Pawlenskis Verteidiger, lädt drei Damen in den Zeugenstand. Eine kommt mit knapp bedecktem Hintern, eine andere trägt Spitze, die dritte High Heels. Als Beruf geben sie an: Tätigkeit im käuflichen Gewerbe. Ihre Aussagen: Sie halten Pawlenskis Aktionen für Schund. Künstler seien Menschen, die „Blümchen malen“. Pawlenski hat den Auftritt der drei geplant. Das Ziel: der Welt vorzuführen, wie subjektiv und eigenwillig jeder Mensch für sich selbst bestimmt, was Kunst eigentlich ist. Am Ende wird Pawlenski schuldig gesprochen. Das Strafmaß von einem Jahr und vier Monaten wird ausgesetzt. Kurz darauf beginnt der nächste Prozess gegen ihn, diesmal geht es um die brennende Geheimdiensttür. Jetzt steht viel auf dem Spiel. Pjotr Pawlenski drohen drei Jahre Haft. Dmitri Dinse, Pawlenskis Anwalt, hat schon früher Aktionskünstler verteidigt, auch zwei Frauen von Pussy Riot. Dass ein Künstler dazu aufruft, ihn für lange Zeit einzusperren, erlebt Dinse zum ersten Mal. Er sagt, am liebsten verteidige er Drogensüchtige und Hochstapler. „Sie sind zu allem bereit, um freizukommen.“ Pawlenski aber schreckt das Gefängnis nicht. Muss er, der Anwalt, also seine Arbeit schlecht erledigen, damit der Mandant seinen Willen bekommt? Was als Widerspruch erscheint, ist für Dinse keiner. Wenn dies alles eine Inszenierung sein soll, dann sieht das Skript für einen Anwalt vor, um die 20
Rechte seines Mandanten zu kämpfen. Pjotr Pawlenski fordert 20 Jahre. Dmitri Dinse ignoriert es. Und so scheint es, dass jeder, der die Sphäre des Pjotr Pawlenski betritt, am Ende seine Rolle zugewiesen bekommt von einem Regisseur, der zwar in einem Käfig sitzt – aber doch alles andere als ohnmächtig ist. Der Staatsanwalt. Die Richterin. Die Reporterin der Zeit. Der Anwalt. Oksana Schalygina, die die Botschaft ihres Partners verbreitet. Wann endet die Inszenierung, wann beginnt das nackte Leben? Mitte Mai wird Pawlenski in ein anderes Gefängnis verlegt. Er sagt, er werde geschlagen, aber er beklagt sich nicht. Behauptet, er erhole sich vom Gefängnis des Alltags. Man fragt sich, wann Pjotr Pawlenski die Grenzen des Erträglichen erreicht, wann der Mensch Pjotr den Künstler Pawlenski niederringt. Aber Pjotr Pawlenski sitzt all die Monate in sanfter Ruhe da und schweigt, während vor Gericht sein Schicksal verhandelt wird. Während draußen Dinge geschehen, die so wirken, als habe Pawlenski sie sich ausgedacht, um seinen Aktionen Rechtfertigung zu verleihen. Die Inszenierung einer alten Kindererzählung, die Lilja und Alisa begeistert im bekannten Meyerhold-Theater gesehen haben, wird abgesetzt. Die Hauptfigur, ein schmaler Diktator mit großem Schnauzer, soll zu sehr an Putin erinnert haben. Die Organisation Agora, der Pawlenskis Anwalt angehört, wird vom Obersten Gericht in Kasan formell aufgelöst – sie hat den Opfern von Menschenrechtsverletzungen geholfen. Der russische Geheimdienst wird ermächtigt, bei Terrorgefahr auf Frauen, Kinder und Behinderte zu schießen. Wladimir Putin gründet eine Nationalgarde, die vor allem die Ordnung im Innern sichern soll. Es ist der letzte Prozesstag vor der Urteilsverkündung, als sich im Gerichtsgebäude der Kreis
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schließt, den der Künstler Pawlenski am 9. November 2015 zu ziehen begann. Pawlenski sitzt wieder in seinem Käfig und ruft der Richterin zu: „Ändern Sie die Anklage in Terrorismus. Heute ist Ihre letzte Chance!“ Als sich wenig später träge der Staatsanwalt erhebt, um sein Schlussplädoyer herunterzuleiern, scheint nach all den Monaten der letzte Akt dieses Schauspiels angebrochen zu sein. Wird der Staatsanwalt tatsächlich eine jahrelange Haftstrafe fordern? Wird er Pawlenski für Jahre ins Gefängnis zwingen? Oder wird er lediglich eine Geldstrafe verlangen? Dann würde Pawlenski nach 211 Tagen im Gefängnis mit der Freiheit davonkommen, aber der Staat hätte ihm die Rolle des Regisseurs in dieser Aufführung entwunden. Und wäre das für Pjotr Pawlenski nicht die größere Strafe? Das Gericht, das sein Urteil erst verkünden wird, wenn dieser Artikel bereits gedruckt ist, muss sich weitgehend an die Forderung des Staatsanwalts halten. Die Entscheidung, sie fällt also jetzt, in dem Moment, in dem der Staatsanwalt zu reden beginnt, in dem er noch einmal Pawlenskis Tat, sein Vergehen beschreibt, die brennende Tür erwähnt, den kulturellen Wert der Lubjanka, jenes Gebäudes, in dem so viele bedeutende Persönlichkeiten der russischen Geschichte gefoltert und getötet wurden. Die Entscheidung fällt in dem Moment, in dem der Staatsanwalt schließlich das eine Wort ausspricht, das alles sagt. Geldstrafe. Pawlenski wird sie nicht bezahlen. Die Zeit‚ 09.06.2016 Mitarbeit: Lena Sambuk
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textreportage nominierter
✍ Stolz und Vorurteil von Roman Deininger Süddeutsche Zeitung, 11.06.2016 Roman Deiningers Reportage ist Sportberichterstattung für Menschen, die sich nicht für Sportberichterstattung interessieren. Mit Verve und Hartnäckigkeit heftet sich Deininger an die Fersen der albanischen Nationalmannschaft und erschafft so das grandiose Portrait eines Landes im Fußballfieber. Sein Text ist gespickt mit den tollsten Szenen und Dialogen, die man sich vorstellen kann. Hervorgehoben seien zum Beispiel das klandestine Treffen des Reporters mit dem Chef des Albanischen Fußballverbands und die Präsentation eines den Albanern als heilig geltenden Schwertes in Wien. Nach dem Lesen von „Stolz und Vorurteil“ ist es wirklich schwer, kein Fan dieses Landes und seiner Nationalmannschaft zu sein. Fabian Dietrich, Chefredakteur des Dummy Magazins
Fotos: Jakob Berr
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Roman Deininger Roman Deininger (*1978) ist in Ingolstadt geboren und aufgewachsen, wo er als freier Mitarbeiter beim Donaukurier erste journalistische Erfahrungen sammelte. Auf das Politik- und Theaterstudium in München, Wien und New Orleans folgten verschiedene Etappen als Volontär, Korrespondent und Reporter bei der Süddeutschen Zeitung. Heute schreibt Foto: Jakob Berr
Roman Deininger für das Reportage-Ressort der SZ. Während seiner Recherche im Fußball-Land Albanien konnte er noch so oft betonen, dass er als Journalist neutral sein müsse – freundliche Albaner deckten ihn trotzdem mit Fanartikeln ein. Bei den albanischen EM-Spielen hat er dann die Shirts, Schals und Mützen zuhause vor dem Fernseher auch brav getragen. 23
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Stolz und Vorurteil von Roman Deininger Mit Fußball die Welt erklären? Verwegen. Mit Fußball dieses kleine, geplagte, unbeugsame Albanien ein wenig besser verstehen? Das ist den Versuch wert. Reise durch ein Land, das schon lange darauf wartet, entdeckt zu werden.
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rian Leka ist ein Mann der Worte, Schriftsteller, aber er nimmt beim Erzählen auch gern mal die Hände zur Hilfe, beide. Er steuert seinen alten Japaner mit den Knien bei dichtem Gegenverkehr die Serpentinen von Durres hinunter, dem Mittelmeer entgegen. „So war das immer in Albanien“, sagt Leka. „Alles Gute kam von dort.“ Seine rechte Hand, die am Lenkrad nicht schlecht aufgehoben wäre, zeigt aufs Wasser, und die linke vorsorglich auch. Leka, langes, ergrauendes Haar, das ihm beim Autofahren manchmal vor die Augen fällt, Augenbrauen, die Theo Waigel sofort stutzen würde, war ein Kind im Kommunismus, hier in der Hafenstadt Durres. Die Sozialistische Volksrepublik Albanien war das Nordkorea Europas, der Diktator Enver Hoxha fand erst die Sowjets zu lasch und dann auch die Chinesen. Im Hafen von Durres wurden die Schiffe nur nachts gelöscht, im Schutz der Finsternis, die Isolation war vollkommen. „Aber ich hatte ein Fenster zur Welt“, sagt Leka und wirft die Autotüre zu. „Ein Riesenfenster.“ Am Strand von Durres hat der junge Arian immer Treibgut aufgelesen, eine Cola-Dose, eine Heineken-Flasche, eine Marlboro-Box aus Metall. Es waren Trophäen, die Nahrung seiner Sehnsucht. 24
Das Meer war eine Mauer des albanischen Gefängnisses, klar, aber mehr noch ein Versprechen. Irgendwo dort am Horizont lag die verbotene Welt, in der es Jeans gab, Mädchen in Jeans, und Mädchen in Jeans in Sportwagen. Und vor allem: Irgendwo dort am Horizont spielte Bari gegen Neapel. Bayern gegen Gladbach. Barça gegen Real. „Fußball“, sagt Arian Leka, „war immer ein wichtiger Teil unserer Fantasie. Fußball, das war für uns ein Stück Freiheit.“ Mit Fußball die Welt erklären? Verwegen. Mit Fußball dieses kleine, stolze, geplagte Albanien ein wenig besser verstehen? Das ist den Versuch wert. Ein Fußballturnier ist ein Fußballturnier, aber es ist auch eine Bühne, und was wir wissen über die Länder der Welt, wissen wir nicht zuletzt von den Dramen, die dort aufgeführt werden. Albanien hat noch nie an einer EM oder WM teilgenommen. Beim Turnier in Frankreich hat es nun seinen ersten großen Auftritt. Flutlicht fällt auf einen vergessenen Winkel Europas, dessen Menschen vom Leben seit jeher weniger bekommen, als sie sich erhoffen. Arian Leka fragt: „An was denken die Deutschen, wenn sie an Albanien denken?“ Oh je. Na gut: Asylbewerber, für die wir brandneue Schnellabschiebezentren eingerichtet haben. Korruption.
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Menschenhandel. Verbrechen allgemein. Armut. Blutrache. Karl May natürlich, Land der Skipetaren, ein fürchterlicher Flecken Erde. Was Nettes? Hm. Altin Rraklli, der Kleine von Unterhaching! Igli Tare, der Große von Kaiserslautern! „Siehst du“, sagt Arian Leka milde. „Fußball.“ Seine Augen ruhen auf den Wellen. „Wir haben darauf gewartet, entdeckt zu werden. Aber niemand ist gekommen. Wir warten immer noch.“
Das Erste, was auffällt an den Albanern, ist ihre Liebe zu den Deutschen. Anflug auf Tirana. Oder ist das Nizza? Die Berge da unten wären ein fabelhaftes Sprungbrett für ein Bad im Meer. „My friend“, sagt der Mann am Schalter für verlorenes Gepäck am Mutter-TeresaFlughafen, es wird einem ganz warm ums Herz. „Mein Freund, am Sonntag hast du deinen Koffer.“ Es ist erst Donnerstag, vier Tage Warten, aber man will dem neuen Kumpel seine Begeisterung auch nicht nehmen. Der tatterige Flughafenbus fährt weniger vor, als dass er von Detonationen im Motorraum herangeworfen wird. „My friend“, sagt der Fahrer. Er bleibt dann – mitten im Verkehr – stehen, um dem deutschen Gast einen guten Blick auf das „Hotel Jurgen“ zu ermöglichen. Später bremst er auch noch für ein Plakat der Farbenfirma „Deutschcolor“ und den „Deutsch Market“, der mit belgischen Fahnen wirbt. Das Erste, was auffällt an den Albanern, ist ihre Liebe zu den Deutschen. „Volkswagen!“, rufen sie extra für den Gast im Bus, wenn sie draußen einen VW sehen, also dauernd. Sie sind überzeugt,
dass Angela Merkel in ihren baumlangen Premierminister Edi Rama verknallt ist – als Beleg dient ein Bild, auf dem Merkel Rama in der Tat angrient wie sonst nur den halb nackten Bastian Schweinsteiger. Als jener in Rio Weltmeister wurde, feierte man das in Tirana ausgelassener als in Berlin. Die Albaner berauschen sich umständehalber auch mal an fremden Erfolgen. Das albanische Volk wurde in seiner Geschichte von vielen großen Reichen gestreift, na ja, angerempelt, von Römern, Griechen, Byzantinern, Osmanen, Sowjets. Erst 1912 bekam es einen eigenen Staat, 2,8 Millionen Menschen hat er heute, doch selbst dieser Staat hinterlässt viele unerfüllt: Was ist mit den Brüdern in Kosovo, Mazedonien, Serbien? Und mit den Millionen, die Hunger und Krieg in alle Welt verstreut haben? Albaniens Vergangenheit und Gegenwart sind reich an Not. Mehr als die Hälfte der Menschen, die 1991 dort lebten, sind fortgezogen, nur versinkende Südseeinseln haben eine höhere Abwanderungsquote. Die Rückständigkeit, die Hoxha dem Land einbrockte, hat es nie aufgeholt. Gegen diesen Hoxha war Erich Honecker ein stürmischer Reformer. Der Fortschritt in Albanien ist auch heute ein tappender, tastender Knabe. In Tirana hatten sie kein Geld, um marode Häuser zu sanieren. Da haben sie halt einfach die Fassaden schön bunt angemalt. Manchmal fragen sich die Albaner, wo sie nur hinsollen mit ihrem Stolz. Und oft bleibt ihnen nicht mehr als der Fußball. Aber auch da haben sie meist einen originellen Weg gefunden, ihr Glück zu verspielen. 1997 etwa, WM-Qualifikation in Hannover, 3:3 gegen Deutschland, neunzig Minuten rum, ein Land bereit zur Eruption. Das albanische Fernsehen verliert 25
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das Signal, eine Minute, zwei. Es muss aus sein in Hysaj in der Abwehr, SSC Neapel. Ihre TeamkolleHannover! Dann ist das Bild wieder da, es zeigt den gen spielen eher so beim FC Vaduz oder bei Qaradeutschen Jubel nach dem 4:3. bag Agdam, das ist in Aserbaidschan. Wenn AlbaniIn der Qualifikation für die EM 2016 began- en aufläuft, dann fast immer als Außenseiter. Fußball schafft keine Jobs, Fußball überführt nen die Albaner stark, gewannen in Portugal. Am Ende blieben drei Spiele, ein Sieg würde reichen keine gekauften Richter, Fußball legt keine Wasserfür das Ticket nach Frankreich und in die Anna- rohre. Doch ein Land, das den Sport liebt, kann len. Sie verloren daheim gegen Portugal, Gegentor sich an ihm aufrichten. in der Nachspielzeit. Sie unterlagen daheim gegen Serbien, NachspielFußball lässt die Menschen lachen zeit. Das Finale stieg in Armenien. „Größeren Druck werden wir nie vor Freude und weinen vor Schmerz, wieder spüren“, sagt Gianni De Biüberall. Aber er dürfte in diesem asi, Albaniens italienischer Trainer. Fußballsommer niemanden so „Ein Spiel, und entweder bist du ein Leben lang ein Held oder ein Idiot.“ bewegen wie die Albaner. Im Flugzeug nach Eriwan sprach niemand ein Wort. Die Albaner gingen mit 2:0 in Führung, aber In Tirana liefern sich kommunistischer und in den Gesichtern der Fans las man, dass sie immer kapitalistischer Architektur-Wahnsinn ein bizarres noch grübelten, mit welcher grausamen Wendung Duell, Betonbunker gegen Wolkenkratzer. Midas Schicksal sie wohl diesmal demütigen würde. narette und Kirchtürme dagegen schmiegen sich Dann kam der Ball zu Sadiku, dem jungen Sadi- aneinander, als wollten sie gleich knutschen. Vom ku, 3:0, Armenien war geschlagen. Nicht mal das glitzernden Hipster- ins lehmige Elendsviertel, von Schicksal würde einen Drei-Tore-Rückstand gegen der Ersten in die Dritte Welt, sind es nur 15 AutoAlbanien noch aufholen. minuten. In beiden Welten trägt man albanisches Im entlegensten Bergdorf taumelten die Men- Nationaltrikot. Es gibt eine Art Lichtzeichen für Tirana, ein schen vor Glück. Als die Mannschaft in Tirana landete, begrüßte Merkel-Schwarm Edi Rama sie auf beständiges grünes Funkeln in der Dunkelheit. Auf dem Rollfeld. Staatspräsident Bujar Nishani verlieh allen Fernsehern läuft immer Fußball. Wenn man sogar dem Busfahrer den Nationalorden. Der Präsi- in einer Bar Bundesliga schauen will, Bremen gegen dent sagte: „Ihr habt uns stolz gemacht und geeint Stuttgart, dann hat man in Tirana mehr Auswahl als, sagen wir, in Bremen oder Stuttgart. Die Albawie nie zuvor.“ Fußball lässt die Menschen lachen vor Freude ner machen einen Autokorso, wenn Leicester City und weinen vor Schmerz, überall. Aber er dürfte in englischer Meister wird; für Tottenham würden sie diesem Fußballsommer niemanden so bewegen wie den Korso aber genauso machen. Die Albaner sind die Albaner. einfach grundsätzlich sehr begeisterungsfähig. Sie starten gegen die Schweiz an diesem SamsDer FC Bayern München hat gleich drei Fantag, mit Etrit Berisha im Tor, Lazio Rom. Mit Elseid clubs im Land, fast tausend Mitglieder, und der 26
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gleich disponierte Gast hat schnell weitere Freunde. Elvis, Genci, Armando. Ein grünes Funkeln in der Nacht, Bayern gegen Atletico. Genci ruft: „Muller! Mein Freund Muller!“ Alle zeigen Fotos von Verwandten, die sie in Bayern-Trikots gesteckt haben. Elvis singt nun fast: „Miasamia, miasamia!“ Ein albanisches Volkslied? Elvis sagt: „Mia san mia.“ Wenn man erst mal ein paar Tage in Albanien ist, dann stellen sich neue Freunde gern auch telefonisch vor. Die Nummer haben sie oft von einem Cousin; der Cousin ist dem Albaner ein Bruder. „No English“, sagt eine Stimme, man solle das Handy einem Passanten geben. Der Passant sagt: „Warte unter dem Skanderbeg-Denkmal.“ Wenig später hält dort – mitten im Verkehr – mit quietschenden Reifen ein alter Passat. „My friend“, brüllt jemand. „Volkswagen!“ Man springt also ins Auto zu drei kräftigen Typen mit erläuterungsbedürftigen Tattoos. Der Passat prescht aus der Stadt heraus, und der Fußballreisende fragt sich, ob das nun vielleicht eine Entscheidung war, die er in den verbleibenden Minuten seines Lebens bereuen wird. Das Grillfleisch beim Stammtisch der Ultra-Fans von Partizani Tirana ist dann gut und reichlich. Die Ultras sprechen nicht alle Englisch, aber akzentfrei die Sprache des Herzens. Partizani spielt in Albaniens erster Liga, von der man im Rest Europas nur hört, wenn es mal wieder den Verdacht von Wettmanipulationen gibt. „Unser Fußball ist genauso krank und korrupt wie das Land“, sagt Alban, ein gescheiter und geradezu zärtlicher Krieger. „Sollte der Fußball nicht denen gehören, die ihre Vereine wirklich lieben?“ Vor ein paar Jahren habe Partizani einen Präsidenten gehabt, dem sei es nur ums Geld gegangen. „Wir haben ihm klargemacht, dass er zurücktreten muss“, sagt Alban, Glatze, Grinsen. Alban und seine Freunde waren selbst auswärts stets dabei, als das große Partizani, ehedem Klub der Armee, in die dritte Liga abgerutscht war. Sie zahlten
den Spielern nach Abpfiff das Abendessen, und wenn einer neue Fußballschuhe brauchte, sammelten sie für ihn. Alban, Barbetreiber, hat eine Narbe an der Lippe, „Pflasterstein“, sagt er, geworfen von einem KF-Tirana-Fan. Man habe die Sache dann bei einer „Boxerei“ in der Kirche beglichen. Am Abend trifft man Alban dann in derselben Kirche, privat, beim orthodoxen Osterfest. „Bis Mittwoch“, sagt Alban. „Nichts, nichts geht über ein Balkan-Derby.“ Derby-Tag. Es sind zwei Partien, die heute ausgetragen werden, eine auf dem Feld des SelmanStërmasi-Stadions, KF Tirana gegen Partizani, die andere auf den Rängen. Am Einlass läuft man durch einen langen Polizeikorridor, wird von hier nach dort geschubst, von Dutzenden Beamtenhänden sanft gestreichelt (Achseln) oder grob abgeklopft (Schritt). Alban ruft einem Herrn mit Laptop etwas zu, der Mann ringt sich ein panisches Lachen ab. Alban sagt: „Das ist ein Reporter, ich habe ihm gesagt, ich werde nachlesen, was er schreibt.“ 7.000 Zuschauer, besser: 7.000 Teilnehmer, Tirana-Kurve gegen Partizani-Kurve, die Polizei dazwischen. Im Partizani-Block brennen die ersten Bengalos, wie sind die eigentlich durch den Kuschelkorridor gekommen? Ein gebeugtes Großmütterlein schleppt einen Flechtkorb mit Äpfeln heran. Romantischer Balkan! Die Bengalos sind unter dem Obst. Die Ultras werfen die Fackeln aufs Feld, und was machen die Sicherheitsleute? Werfen sie zurück. Die Ultras treten wutschnaubend die Plastik-Sitzschalen vom Beton und hageln damit die Ordnungskräfte voll. Das erste Spiel gerät angesichts des zweiten ein wenig aus dem Blick. 2:2 am Ende, wenigstens ist niemand ernsthaft verletzt worden. „Und was ist dann das?“, fragt Alban. Im Kabinengang hat der Partizani-Manager gewaltig eine übergebraten bekommen, Platzwunde, mit seinem Blut düngt er den Rasen. 27
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In der Partizani-Kurve hängt ein Banner: „Im Leben gibt es Gewinner und Verlierer.“ Das, was es in der albanischen Liga zu gewinnen gibt, ist genug für Alban, für die Treuen und Harten. Für andere ist es zu wenig, zu lokal. Sie sind Fans des FC Bayern oder, je nach Saisonverlauf, von Leicester City oder Tottenham. Aber alle können sie den Sommer ihres Lebens kaum erwarten. Die Psychologin Jetona Myteveli hat in einer Studie die Gefühlswelt von Albanern und Deutschen verglichen. Sie hat festgestellt: „Wir Albaner erleben Emotionen tiefer als ihr. Der gleiche Schmerz tut uns mehr weh. Und die gleiche Freude ist für uns noch schöner.“ Freddy Gjinali und Niko Xhacka gehören zu einer Generation des albanischen Fußballs, die ihren Landsleuten die größte Freude in der recht konsequent freudlosen Hoxha-Ära bereitet hat. Als Treffpunkt haben die beiden älteren Herren ein Café ausgesucht, das an der Hauptallee Tiranas liegt, an der Achse ihres Fußballerlebens, genau zwischen dem Qemal-Stafa-Stadion, in dem die Albaner 1967 den Deutschen ein Unentschieden abtrotzten, und dem Hotel Dajti mit seinem legendären Ballsaal, in dem Hoxha an solchen Abenden ganz ausnahmsweise Vergnügen befahl. Die Rollen der beiden alten Fußballer an diesem Nachmittag sind schnell verteilt, im Grunde hat das ihr Nationaltrainer schon 1967 erledigt. Beide spielten in jenem Jahr gegen Deutschland in der EM-Qualifikation: Niko stellte der Trainer im April in Dortmund auf, 0:6, vier Mal Gerd Müller. „Normal“, sagt Niko. Freddy durfte im Dezember in Tirana ran: „Nach sechzig Minuten haben wir daran geglaubt, dass wir das 0:0 über die Zeit bringen.“ Ein paar verwaschene Filmminuten aus dem Spiel existieren noch, sie zeigen hilflose Männchen in weißen Leibchen, Höttges, Overath, Netzer. Freddy sagt: „Wir haben ihnen ins Gesicht geschaut und 28
gewusst, heute schlagt ihr uns nicht.“ Es fiel kein Tor mehr, Deutschland verpasste die EM. „So lange her“, sagt Freddy, „und doch vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht darauf angesprochen werde.“ Niko hat verdaut, dass er damals draußen saß, „als Fußballer hatten wir ein privilegiertes Leben“. Sicher, sie konnten nicht ins Ausland wechseln, aber sie haben was von der Welt gesehen, Amsterdam und Kilmarnock, wenngleich immer nur aus Bus- oder Hotelfenstern. Und sie konnten ihren Landsleuten etwas Gutes tun. „Der Fußball war wie ein Blumenstrauß, der dem Volk geschenkt wurde“, sagt Niko, albanische Fußballer haben Talent und Neigung zur Poesie. 47 Jahre dauerte der Kommunismus. 25 Jahre dauert nun schon, was man „Übergang“ nennt. Es ist trostlos. Aber nun regnet es Blumen in Tirana. Man wird mit den Helden von heute reden können, später, im EM-Vorbereitungslager in Österreich. Aber erst mal eine Landpartie. Autobahn, zwei Spuren, also zwei Spuren markiert. Tatsächlich: drei bis fünf. Wer die albanische Sehnsucht nach Idolen begreifen will, erfassen, in welche Traditionslinie da nun ein paar Fußballer mit Gel im Haar treten, muss nach Kruja fahren, eine Stunde hinaus aus Tirana. Durch das Land der Skipetaren: herrliche Berge und Täler, die noch herrlicher wären, wenn sie nicht als Müllkippen genutzt würden. Strände mit feinem Sand und türkisem Wasser, die man mancherorts blöderweise erst mal hinter Hotelklötzen und Betongerippen suchen muss. In einer Vorstadt von Kruja steht ein Denkmal für George W. Bush, seine Heldentat war, den Albanern Aufmerksamkeit zu schenken. In Fußweite lockt ergänzend zum Denkmal die Xorxh-BushiBäckerei, die ausgezeichnetes Xorxh-Bushi-Brot herstellt. Bushi war am 10. Oktober 2007 hier in Fushe-Kruja, Tausende Albaner hatten ihm so viel Liebe zu geben. Sie haben dem Präsidenten
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der Vereinigten Staaten nicht einfach, wie es das bisschen verstörend, weil dieser Skanderbeg naProtokoll vorsah, die Hand geschüttelt. Sie haben türlich auch für den nationalistischen Traum von ihn gleich mal so richtig durchgeknuddelt und in einem Großalbanien steht, das Kosovo, Teile Mazeden Haaren gewuschelt, angeblich kam Bush da- doniens, Serbiens, ja Griechenlands einschließt. Vom Wehrturm aus sieht man die Berge und bei seine Armbanduhr abhanden. Selbst der Secret Service musste kapitulieren vor der Begeisterung das Meer und ein Flimmern, das könnte Tirana sein. Ein Tourguide sagt: der Albaner. „Skanderbeg hat nicht nur Im Basar von Kruja fahnden die Händler nach Die Albaner, das spürt man diese Burg vor den Türken verteidigt, sondern ganz EuAbnehmern für deutschin Kruja, sind ein Volk am albanische Freundschaftsropa, euch Deutsche, uns teppiche und leicht verkläalle.“ Die Albaner, das spürt Rande Europas, das man in Kruja, sind ein Volk rende Bushi-Porträts. Eine gerne in der Mitte wäre. am Rande Europas, das gerFrau ruft: „Mats Hummel sehr schön!“ Sie hat dann ne in der Mitte wäre. aber nur Tassen mit drei In ihrer Sehnsucht nach Motiven: Mutter Teresa, Enver Hoxha und Skan– Fortschritt und Zugehörigkeit holten die Albaner 2002 einen Trainer aus Deutschland für ihre Natioderbeg. Skanderbeg war ein mittelalterlicher Bergfürst, nalmannschaft, auf dass er wenigstens ihren Fußball ein Rebell, der im 15. Jahrhundert den Osmanen vom Rand in die Mitte rücke. tüchtig zusetzte. Der Mann war zweifellos eine Mit Hans-Peter Briegel haben die Albaner das große Figur seiner Zeit, aber als widerspruchsfreien Gewinnen gelernt. Nicht oft genug, um die große Nationalhelden, als Wiedergänger Alexanders des Bühne eines Turniers zu betreten, aber immerhin, Großen, haben ihn sich die Albaner Jahrhunderte sie haben die Erzrivalen Griechenland und Russspäter etwas zurechtgebogen. Als vor ein paar Jah- land geschlagen. In Albanien wurden Kinder nach ren ein Wiener Historiker darauf hinwies, Skander- Briegel benannt, „Briegel, leg’ die Schere weg!“. Es beg könnte serbisch-orthodoxer Herkunft gewesen gibt auch einige Rummenigges in Albanien, aber sein, bebte das ganze Land vor Zorn. Skanderbegs mehr Briegels. „Das ist zumindest mein KenntnisBurg hat drei Belagerungen durch die Türken stand“, sagt Briegel. standgehalten, jetzt wird sie von gerührten AlbaMan trifft ihn in einem italienischen Lokal zu nern überrannt. Auf rotem Samt ruht der Helm Hause in der Pfalz, er hat die Socken runtergekremihres Abgotts, obenauf ein Ziegenkopf aus Bronze. pelt wie einst als Spieler die Stutzen. Er bestellt nur Daneben sein Schwert, 121 Zentimeter lang, drei einen kleinen Salat, er ist noch so rank wie im WMKilogramm schwer. Helm und Schwert sind Nach- Finale 1986, als er in der Glut von Mexiko-City bildungen, die Originale liegen in Wien. Aber die dem Argentinier Burruchaga Meter um Meter abAlbaner posieren vor ihnen mit feuchten Augen, im nahm und doch zu spät kam, 2:3. Briegel war 1980 Sonntagsanzug an einem Montag. Europameister, „ich habe viel erlebt im Fußball, Das ist erst mal bewegend, weil da ein unbeug- aber solche Szenen wie 2004 noch nicht“. 2004 sames Volk nach Inspiration sucht. Und es ist ein führte der Trainer Briegel die Albaner zu einem 2:1 29
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gegen den Europameister Griechenland. Die Straßen von Tirana färbten sich rot-schwarz, statt zehn Minuten brauchte der Teambus zwei Stunden vom Stadion ins Hotel. Es gab auch andere Dinge, die der Entwicklungshelfer Briegel noch nicht erlebt hatte. Dass der Premierminister am Abend vor Spielen Blut-, Schweiß- und Tränenreden an die Mannschaft hält. Dass ein Fußballverband kein Kopfballpendel besitzt, dass man die Rasenplätze im Land an zwei Händen abzählen kann und die Flutlichtanlagen an einer. Und die Straßen zum Stadion damals, „hoppel-hoppel“. Vor einem Auswärtsspiel hat Briegel mal das Training absagen müssen, weil die Schuhe des ganzen Teams noch in Tirana lagen. Zehn Jahre später gibt es mehr als hundert Rasenplätze in Albanien, 24 mit Kunstrasen, die Trainerausbildung wurde professionalisiert, all das hat Briegel mit angeschoben. Er hat den albanischen Fußball vielleicht nicht ganz in die Mitte gebracht. Aber doch ein Stück weg vom Rand. Briegel bittet, seinem alten Boss, dem Verbandspräsidenten Armand Duka, schöne Grüße zu bestellen. Er könne ruhig mal wieder ein bisschen abnehmen. Armand Duka zu treffen ist nicht leicht. Es ist schon schwer genug, einen Mitarbeiter des albanischen Fußballverbands zu finden, der Nachrichten beantwortet. Noch schwerer: einen, der Nachrichten auf Englisch beantwortet. Nahezu unmöglich: einen, der sich zwei Tage später an seine Antwort erinnert. Irgendwann sagt dann Elvis vom BayernFanclub, er habe da einen Cousin und der habe einen Freund beim Verband: „Tritan macht das für dich.“ Albanien ist ein Land, in dem erst mal gar nichts geht und am Ende immer alles. Spätabends, englische SMS von unbekannt. Tritan, der Engel? „Auto schwarz kommt dein hotel zehn. Fährt sicherer ort wo präsident ist. nicht jeder kann.“ 30
Ein Uefa-Wimpel baumelt vom Rückspiegel des schwarzen Autos, neben einem Wald aus Duftbäumen „Vanille“. Tritan ist Pressesprecher des Fußballverbands, schon lange dabei. Wer ihn als Freund hat, ist auf Cousins nicht mehr angewiesen. Wie es albanische Art ist, braust der Wagen mit nicht allen Passagieren bekanntem Ziel aus der Stadt hinaus. Man sieht einen Bolzplatz an einem steilen Hang, Kinder lupfen den Ball über Felsen. Dann rollt der Wagen in ein Fabrikgelände, am Tor salutiert ein bewaffneter Sicherheitsmann. In einer Garage, die zu einem abgewrackten Lada passen würde, steht ein blitzend neuer Bentley. Womit verdient der Präsident sein Geld? „Er hat mehr als vierzig Unternehmen.“ Was für welche? „Tierfutter. Und andere Sachen.“ Warten auf Duka. Ein Herr mit unklarer Funktion erzählt Frauengeschichten, der Übersetzer übersetzt sie und sagt am Ende, er glaube nicht, dass das alles stimmt. Ein unscheinbarer Flachbau, ein unscheinbares Treppenhaus, dann ein Büro, das einen beim Eintreten blendet. Mischung aus Oval Office und Petersdom, dunkles Holz, weißer Marmor. Ob Duka Briegels Diät-Anregung zumindest ein bisschen witzig findet, wird nicht völlig klar. Lieber sagt er: „Der Fußball gibt unserem Volk Würde.“ Armand Duka, hemdsärmliger Rolex-Träger, kann darauf verweisen, dass sich der Aufschwung des albanischen Spiels ziemlich genau mit seiner Zeit als Verbandspräsident deckt, 2002 kam er ins Amt. „Mit dem Fußball ist es wie mit dem Land selbst, wir müssen erst mal die Strukturen schaffen“, sagt er. „Im Fußball sind wir gut vorangekommen.“ Er berichtet von Schulprogrammen, Talentsichtung, dem neuen Nationalstadion in Tirana, das 2018 eröffnen soll. Und von den Frauen, die jetzt auch kicken in Albanien – Rraklli, der Kleine von Unterhaching, trainiert die Nationalmannschaft.
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Auf den großen Bühnen des Fußballs muss man echte Underdogs ja inzwischen suchen. In Albanien hat man einen gefunden. Pressekonferenz im Stüberl des Thermenstadions, an der Wand die „Allergen-InformationsVerordnung der Republik Österreich“ und die Ankündigung eines Gummi-Enten-Rennens. Bei der Pressekonferenz kommen zwei Spieler auf einen Journalisten – nicht im Schnitt, in absoluten Zahlen. Für den Steiermark-Trip fehlt den albanischen Medien das Geld, aber in Frankreich sind sie dann alle dabei, 60 Akkreditierte. Jetzt ist nur ein Reporter von Supersport da, dem albanischen Sky, Hausund Hofsender des Nationalteams. In Tirana hatte der Fußballreisende die Studios besucht, ihren größten Schatz bewahren die Fernsehleute dort im Kühlschrank auf: ein Rechteck Rasen aus Eriwan. „My friend“, sagt Pressesprecher Tritan, wie immer ein Engel, und zieht den Kapitän heran: „Cana for you.“ Beim Training der Albaner gibt es einen „Die Möglichkeiten sind in Magneten, nach dem sich alles richtet, das ist Lorik Cana. einem armen Land fast immer Die meisten Fußballer stocken kleiner als die Erwartungen.“ in der Unterhaltung, wenn sie das sichere Terrain des Ballsports verlassen, Cana nimmt dann erst richFestung, Absperrband, Gitter, Sicherheitstypen. Ins tig Tempo auf. Er werde mal Staatspräsident, sagen Hotel der Albaner kann man einfach reinlaufen seine Teamkollegen, die Leute liebten ihn wie Mutund sich zu Berisha von Lazio aufs Sofa lümmeln. ter Teresa. Nur, dass Mutter Teresa kein Trikot hat, Von dort sieht man, wie die Spieler geduldig einer Nachteil für sie. Cana, 33 Jahre, Rückennummer Golftouristin Auskunft geben, die sich erkundigt fünf, nach Dafürhalten steirischer Expertinnen „a hatte, ob das hier irgendwas mit Olympia zu tun hoaß Schatzerl“, sagt: „Wir schicken mit dieser EM hat. Es ist genau ein Autogrammjäger im Foyer, je- eine Botschaft an die Welt, dass wir da sind, dass es der Spieler muss unterschreiben und seinen Namen uns Albaner gibt und dass wir etwas leisten können. sagen, so tief ist der Mann nicht drin in der Materie. Wir wollen Teil dieser Welt sein.“ Hinter ihm albern seine Mitspieler, auf SchwyDann fährt das Team zum Training, und wer den Bus verpasst, fragt nett, ob ihn nicht der Reporter zerdütsch. „Hörst du das?“, sagt Cana, geboren im schmutzstarrenden Škoda Fabia mitnimmt. in Kosovo, geflohen nach Frankreich, beschäftigt Neben Dukas Sessel zerrupft ein ausgestopfter Adler einen süßen Singvogel, der Adler ist Albaniens Wappentier und schon auch der Symbolvogel großalbanischer Träume. Als ausgewiesener Freund des albanischen Volkes will man keine allzu lästigen Fragen stellen, aber: Was soll das mit dem armen Piepmatz? Duka hat bisher Albanisch gesprochen, jetzt spricht er Englisch: „Im Fußball wie im Leben: Niemand weiß, wer am Ende wen frisst.“ Bad Waltersdorf, Steiermark, hier arbeitet die albanische Nationalmannschaft im Trainingslager daran, in Frankreich nicht schon in der Vorrunde vertilgt zu werden. Die Albaner im Ort, ist das nicht aufregend? Vor der Kirche sagt ein alter Österreicher, man brauche „keine Sorgen“ haben, das seien „ganz anständige Leute“. Die deutsche Nationalmannschaft trainiert zur gleichen Zeit in der Schweiz, ihr Camp ist eine
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beim FC Nantes. „Wir haben Albaner von überall. Wir sind zum ersten Mal ein echtes Nationalteam.“ Die albanische Diaspora: 1,7 Millionen Albaner in Kosovo, 700 .000 in Griechenland, 500. 000 in Italien, Hunderttausende in der Schweiz, Deutschland, dem übrigen Europa. Viele auch in den USA, unlängst haben sie auf einem Hügel in Michigan ein Skanderbeg-Denkmal errichtet. Der designierte Staatspräsident Cana sagt: „Die Geschichte hat uns nie die Chance gegeben, eins zu sein. Der Fußball gibt sie uns jetzt.“
„Ciao, ich bin Gianni, Trainer von Albanien, deinem Land.“ Wie immer, wenn sich Politik und Sport zu Hochgefühl vermengen, ist der Abgrund nicht weit. Oktober 2014, EM-Qualifikation in Belgrad, Serbien gegen Albanien. Eine Spielzeugdrohne trägt eine großalbanische Flagge ins Stadion. Ein serbischer Spieler packt sich das Fähnchen, ein paar albanische Spieler packen sich den Serben, ein paar mehr serbische Hooligans packen sich die Albaner, und dann beginnt die Lage, unübersichtlich zu werden. Albanien erhielt hinterher drei Punkte am grünen Tisch, ohne die wären sie bei der EM wohl nicht dabei. Oder ohne die Aufblähung des Turniers auf 24 Mannschaften. Cana zuckt – so präsidentiell das eben geht – mit den Schultern. Den Albanern kann es egal sein, wie sie gewinnen, das ist das Privileg des Underdogs. Jetona Mytevili, die Psychologin, die sich Albaner und Deutsche vorgeknöpft hat, beschreibt das Gewinnen in Albanien als ein mathematisches Problem. „Die Möglichkeiten sind in einem armen 32
Land fast immer kleiner als die Erwartungen.“ Die Erwartung an einen Vater, seine Familie zu Wohlstand zu bringen? Viel größer als die Möglichkeit. Jetona sagt: „Das Scheitern gehört zum Schicksal der Albaner.“ Und wie soll nun ihr Nationalteam das Schicksal in Frankreich überlisten? Am Rand einer schmalen Straße in der Steiermark joggt einsam der Mann, der beim albanischen Fußballmärchen mit norditalienischer Strenge die Feder führt. Wenn der Italiener Gianni De Biasi, 59, Deutscher wäre, hieße er womöglich Friedhelm Funkel. Eine gediegene Trainerkarriere, italienische Variante: ein paar Teams in Liga eins vor dem Abstieg gerettet, ein paar in Liga zwei zum Aufstieg geleitet. Albanien ist ein Auswanderungsland, doch der Einwanderer De Biasi hat dort sein Glück gefunden. Er ist jetzt sogar albanischer Staatsbürger ehrenhalber, es ist eine Auszeichnung, klar. Aber es ist schon auch eine Vereinnahmung. Trainer, was wussten sie vorher über Albanien? De Biasi rückt vor an die Klippe eines Sofas im Foyer, für die Geschichte seiner ersten Nacht in Tirana. Er logierte in einem Fünf-Sterne-Hotel, Stadtmitte. Bevor er schlafen ging, verbarrikadierte er von innen seine Zimmertür, er rückte ein Schränkchen davor. Er hatte Angst vor Einbrechern. Der EhrenAlbaner De Biasi sagt: „Unnötig! Heute weiß ich es besser.“ Eine ältere Dame trampelt dem albanischen Nationaltrainer jetzt ungeniert auf den Füßen herum, sie begutachtet den Schmuck in der HotelshopVitrine hinter dem Sofa. „Schöne Kette?“, sagt De Biasi. „Sehr schön“, sagt die Frau. De Biasi hat eine überraschende Motivation für sein albanisches Abenteuer: Im italienischen Fußball, wo manche Vereine sieben Mal in der Saison den Trainer wechseln, habe ihm die „Stabilität“ gefehlt. „In Albanien konnte ich etwas aufbauen.“
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Begonnen hat er sein Werk 2011 mit einer Internetrecherche, er hat die Kaderlisten von Vereinen weltweit nach Spielern albanischer Herkunft durchforstet. Dann hat er angerufen und gesagt: „Ciao, ich bin Gianni, Trainer von Albanien, deinem Land.“ Die Spieler, die im Ausland aufwuchsen, seien freier, sagt De Biasi, sie haben es ihm erlaubt, alte Seilschaften zu kappen, es spielt niemand mehr, weil er einen Cousin im Verband hat. Der Fußball spiegelt auch hier das Land: Die größte Hoffnung Albaniens sind die Auswanderer, die eines Tages gut ausgebildet und ja, freier, zurückkehren. Aber werden sie das? Wie lange kann so ein Übergang dauern? Auf dem Platz hat De Biasi mit Hilfe hünenhafter Verteidiger eine Mauer errichtet, die dem Abschottungs-Freund Enver Hoxha gewiss gefallen hätte. Die Albaner sind sehr gut im Toreverhindern, leider auch im Verhindern eigener Tore. Acht Qualifikationsspiele, 10:5 Treffer. Aber wie sie gewinnen, das ist ja egal. In Frankreich kann schon ein einziger Sieg reichen, um als Gruppendritter weiterzukommen. Achtelfinale, das wäre so was von Mitte. „Die Albaner leben von der Euphorie“, sagt De Biasi, aber er sieht da eine Gefahr. „Euphorie bringt dich voran, aber sie bringt dich nie ganz zum Ziel.“ Zwei Jahre brauchte er, um die Mentalität seines Teams umzukrempeln. „Die Jungs mussten lernen, die Konzentration hochzuhalten.“ Schon in der Dusche nach Abpfiff hat er ihnen gesagt: „Nicht an das Spiel eben denken. Denkt an das nächste!“ Er drischt jetzt auf der Sofalehne ein: „Das nächste!“ Die Jungs kloppen sich derweil in einem anderen Eck der Lobby mit Golfschlägern, erzählen Schweizer-Witze. De Biasi sieht solche Ausgelassenheit gern. Er sagt: „Zu viel Ernst ist auch nicht gut.“ Das Trikot mit dem Adler kann einen Spieler wachsen lassen; es kann ihn aber auch niederdrücken.
Co-Trainer Tramezzani, Spitzname „bello Paolo“, unterbricht das Gespräch, in dem er sich aus vollem Lauf auf seinen Chef wirft und ihn ins Polster drückt. De Biasi lugt aus Tramezzanis Klammergriff, einen Satz will er noch anbringen: „Es entscheidet sich alles im Kopf.“ Im Kopf werden die aus Kosovo stammenden Spieler nach der EM eine sehr zentrale Entscheidung treffen müssen, wahrscheinlich hat auch das Herz etwas mitzureden. Kosovo ist gerade in den Weltfußballverband Fifa aufgenommen worden, die Albaner finden das eigentlich erfreulich, weil es die Unabhängigkeit Kosovos von Serbien dokumentiert. Aber die Frage ist schon: Die beste Mannschaft, die Albanien je hatte – zerfällt sie schon wieder? Und dann ist da noch das Los für die WM-Qualifikation, Italien und Spanien in der Gruppe. Das Schicksal müsste schon ein ganz neues Konzept für seinen Umgang mit Albanien erarbeiten, wenn das gut gehen soll. Nach dem Turnier in Frankreich wird also wenig so sein, wie es vorher war. Lorik Cana, der Neue in die Ahnenreihe albanischer Fußballdichter, sagt: „Wir sind auf der Reise unseres Lebens, und jeder Tag, den diese Reise länger dauert, ist kostbar.“ Momente von Einheit und Glück waren stets fragil in der albanischen Geschichte. Der Herbst nach dem Sommer? Cana sagt: „Dann ist dann, und jetzt ist jetzt.“ An einem wolkigen Tag Ende Mai geht die albanische Nationalmannschaft auf Pilgerfahrt. Der Original-Helm und das Original-Schwert Skanderbegs sind in der Rüstkammer der Wiener Hofburg in einer enormen Vitrine ausgestellt; man könnte aber auch sagen, sie liegen im Treppenhaus. Vor der Hofburg warten der albanische Botschafter und ein Rudel Fans. Der Teambus hat sich verfahren. Präsident Duka meldet sich aus dem Bus: „Wir stehen vor einem großen Garten. Da sind Bänke und Eisenketten. Wo sind wir?“ Die Pilger 33
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müssen den letzten Kilometer anlassgerecht laufen, über den Heldenplatz zur Hofburg, Duka und De Biasi voraus, alle im feschen grauen Dreiteiler mit Adler auf der Brust. Vor der Vitrine soll De Biasi sprechen. Er hat nur ungern das Training ausfallen lassen für diesen Klassenausflug, und Blut, Schweiß und Tränen, das ist ja eigentlich nicht seine Zuständigkeit. Jetzt sagt er, was von ihm gewünscht wird: dass dieses Schwert und dieser Helm Symbole seien für die Stärke eines kleinen Landes, das Großes leisten kann. „Die Stärke liegt immer in der Einheit“, forza, forza, unità, unità. De Biasi ballt die Faust für die Kameras. Die Albaner schmachten, die Fernsehleute bitten den Trainer, noch mit einem imaginären Schwert die Luft zu zerteilen. De Biasi winkt entschlossen ab: „Basta!“ Er nimmt sich lieber ein Blätterteig-Häppchen, ihm ist nicht gänzlich geheuer, dass die Geschichte mit ihrem langen Arm so ausgreift in seine EMVorbereitung. „Der Helm sieht sehr schwer aus“, sagt er. Manchmal produzieren die Albaner mehr Gefühle, als sie tragen können. Doktor Matthias Pfaffenbichler hat das wohl verstanden. Er ist der Hausherr hier im Museum, und er bemüht sich nun rührend, Kapitän Cana schonend beizubringen, was wissenschaftlich als „Original“ durchgeht. „Ein Teil des Helms ist sehr wahrscheinlich mit Skanderbeg verbunden, der Ziegenkopf könnte für ihn gefertigt worden sein.“ Aber: „Aufg’hobt hat er den Hölm so sicher net.“ Und das Schwert, fragt Cana, etwas besorgt. Pfaffenbichler schüttelt den Kopf. Cana beschließt, die neuen Erkenntnisse gefasst hinzunehmen und lieber für sich zu behalten. Doktor Pfaffenbichler sagt: „Mögen Sie in Ihrem Fußballspiel so viel Erfolg haben wie Skanderbeg in seinem Leben.“ Was ist Erfolg? Am Strand von Durres hat der Schriftsteller Arian Leka gesagt, dass es gar nicht so 34
wichtig ist, wie es gegen die Schweiz ausgeht, gegen Frankreich, gegen Rumänien. Aber dass ja vielleicht das ZDF oder die BBC oder das isländische Fernsehen zwischendrin mal einen Einspieler zeigt, ein paar Bilder aus Albanien, einem Land, in dem die Berge ein Sprungbrett für das Meer sein könnten, in dem sich Minarette und Kirchtürme küssen, ein paar Bilder von einem Land, das es endlich verdient, entdeckt zu werden. In Wien strömen die Spieler hinaus auf den Heldenplatz, sie federn mehr, als dass sie gehen, sie kicken einen Stein umher, der Fußball macht Männer in Anzügen zu Kindern. Pressesprecher Tritan dribbelt zum Abschied heran, der gute Tritan, fließend in der Sprache des Herzens. Er sagt: „Wirst du für uns sein in Frankreich?“ Aber sicher, mein Freund. Süddeutsche Zeitung, 11.06.2016
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textreportage nominierter
✍ 71 Leben von Felix Hutt Stern, 04.08.2016 Was vermag Journalismus, was vermag Sprache angesichts eines Zivilisationsbruchs? Ein Kühllaster mit 71 Flüchtlingen, erstickt und halbverwest, wird im schönen Burgenland gefunden. 71 Männer, Frauen, Kinder, die uns, wie Felix Hutt schreibt, nicht den Gefallen taten, weit entfernt im Mittelmeer zu sterben. Indem der Reporter die Namen der Namenlosen, ihre Individualität und ihre Motive rekonstruiert, verwandelt er beim Leser Grauen und emotionale Abwehr in Erschütterung und Erkenntnis. Dass den Opfern derart Würde zurückerstattet würde, wäre eine Phrase. Hutt meidet die Phrasen, lässt Fakten sprechen. Charlotte Wiedemann, Freie Autorin und Kolumnistin
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Foto: Philipp Horak
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Felix Hutt Felix Hutt (*1979) hat Spanisch und Journalismus in den USA studiert. Heute lebt und arbeitet er in München, seit 2009 als Redakteur beim Stern. Sein erstes Buch „7 Morde - 50 Jahre Haft - 1 Leben danach“ über den Mittagsmörder Klaus G. erscheint am 24. Juli 2017. Felix Hutt war mehrfach für den Deutschen Reporterpreis nominiert und erhielt 2017 den European Press Prize für „71 Leben“. Er war bereits wenige Stunden nach Auffinden des Kühllasters bei Parndorf vor Ort. Statt die Leben der Täter zu durchleuchten, wollte er mit seiner Reportage die Opfer würdigen und ihre Geschichten erzählen. 37
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71 Leben von Felix Hutt Am 27. August 2015 steht ein verlassener Lkw in einer Parkbucht an der Autobahn vor Wien. In seinem Laderaum: die Leichen von 71 Flüchtlingen. Ihr Tod wird zum Symbol der gescheiterten Flüchtlingspolitik und der skrupellosen Schleuser-Kriminalität. Die Toten aber sind bald vergessen. Wer waren diese Menschen?
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ls sich die beiden Polizisten der Autobahn- nicht weit, und im Outlet-Center nebenan startet inspektion Potzneusiedl im Burgenland am das beliebte Late-Night-Shopping, die Furla-Da27. August 2015 gegen 11 Uhr dem Last- mentasche für 70 statt 353 Euro. Doch dieser Lastwagen lässt sich nicht länger wagen nähern, blickt sie von der rechten Hintertür ein Huhn auf einem Werbefoto an. „Ich schmecke ignorieren. Ein Mitarbeiter der Autobahnmeisterei, so gut, weil ich so gut gefüttert bin“, steht über des- der in der Nähe Rasen mäht, hat wegen des Gesen Kopf. Durch die Ritzen des Laderaums tropft stanks die Polizei gerufen. eine rötliche Flüssigkeit auf den Asphalt. Vom Lkw Die Beamten öffnen den Laderaum. Treten kommt ihnen Gestank entgegen. Bittet man Be- zurück. Sie sehen verwesende Körper, ineinander teiligte, die später bei der Bergung helfen, diesen versunken, aneinander gelehnt, als stünden sie in Geruch zu beschreiben, schütteln sie den Kopf und einer überfüllten U-Bahn und wären eingeschlafen. winken ab. Unmöglich, sagen sie, so etwas haben Ihre Füße stecken bis zu den Knöcheln in einem Gemisch aus Kot, Urin und Leichenflüssigkeit. Die sie noch nie gerochen. Der Kühllaster, Typ Volvo FL 180, mit dem Polizisten rufen in den Laderaum. Niemand antungarischen Kennzeichen Z-12198, fuhr jahrelang wortet. Sie benachrichtigen den Notarzt und die Masthühner durch die Slowakei, bevor ihn die Dienststelle. Sie machen ein Foto, das den Kollegen Firma Hyza ausrangierte und nach Ungarn ver- die Lage beschreiben soll und am nächsten Tag in kaufte. Er steht bereits seit über einem Tag in der der „Kronen-Zeitung“ erscheint. Sie schließen die Parkbucht an der A4 Richtung Wien, kurz vor der Tür. Es ist zu viel. Um 11:25 Uhr schicken sie über Ausfahrt Parndorf. Auf der Balkan-Route, wie die das Polizeisystem „SMS Pro“ eine Nachricht: „LKW Autobahn genannt wird, weil sie von Wien nach mit ca. 20 Toten auf A4 Parndorf aufgefunden.“ Es sind 71 Tote. 21 Afghanen, 29 Iraker, 15 SyUngarn und in die Slowakei führt, kommt es häufiger vor, dass alte Fahrzeuge abgestellt werden. Aber rer, fünf Iraner und ein Mann, der nicht identifiziert es gibt Wichtigeres zu tun. Es hat über 30 Grad, werden kann. 59 Männer, acht Frauen, vier Kinder. Rekordsommer, Ferienzeit. Der Neusiedler See ist Die Jüngste, Lida aus Kunduz, Afghanistan, ist elf 38
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Monate alt. Verfolgte, Verzweifelte, Sunniten, Schi- getroffen. Sie schreiben WhatsApp-Nachrichten, iten, Christen, Lehrer, Rechtsanwälte, Händler, Po- telefonieren. Seit dem 27. August 2015 teilen sie lizisten, Teenager, drei Familien, FC-Barcelona-Fans, ihr Schicksal, aber nicht ihre Trauer. Die lässt sich Facebook-Poser, ein Kaleidoskop der Menschheit. 71 nicht teilen. „Sie haben meine Familie wie Hühner behanTote, die uns nicht den Gefallen getan haben, weit weg im Meer zu ertrinken. 71 Leben, die sich in ei- delt“, sagt Alshaikh. „Meine Seele ist kaputt“, sagt Askr. Askr lebt mit ihrem Sohn Zaid, zehn Jahre, nem viel zu engen Laderaum von Schleppern durch Ungarn und Österreich fahren lassen wollten, weil und ihrer Tochter Tala, fünf Jahre, in einem kleinen am Ende ihrer Odyssee Deutschland leuchtete, das Zimmer in einem Flüchtlingsheim in der Wiener Neustadt. Sie hat drei gelobte Land. 71 LeiMatratzen so nebeneichen, die uns der Illusion beraubt haben, mit nander gelegt, dass sie Es haben so viele verloren den Kriegen und Probleein großes Bett bilden. in dieser Geschichte. Nahed Sie schlafen zusammen men der anderen nichts ein, wachen zusammen zu tun haben zu können. Askr, 30, hat ihren Mann auf. Askr schaut gern Wenige Tage später beverloren. Farah Alshaikh, Musikvideos von Beyginnen Flüchtlinge an 31, ihre Familie. der österreichisch-ungaonce, postet viel bei Farischen Grenze Nickelscebook, trägt Leggings, Lippenstift und Mascara. dorf, 25 Kilometer von der Parkbucht bei Parndorf, über die Autobahn von Sie kocht mit den anderen Syrern. Sie weiß, welUngarn nach Österreich zu laufen. „Wir schaffen che Medikamente ihre Kinder brauchen, wenn sie das“, sagt Angela Merkel und öffnet die Tore. krank sind, weil sie in Syrien in einer Apotheke geEs haben so viele verloren in dieser Geschich- arbeitet hat. In Österreich darf sie nicht arbeiten. te. Nahed Askr, 30, hat ihren Mann verloren. Farah Sie spricht kein Deutsch, hat einen Antrag auf Asyl Alshaikh, 31, ihre Familie. Zwei Geschichten von gestellt, für die Familie, die ihr geblieben ist. „Als vielen, die sich im Kühllaster auf der A 4 verbinden. wir uns das letzte Mal sahen, sagte mir mein Mann: Askr ist nach der Tragödie ihrem toten Mann mit Egal was mit mir passiert, pass immer auf die Kinden Kindern aus Syrien hinterhergereist, sie warten der auf. Diesen Wunsch werde ich ihm erfüllen“, nun in einem Flüchtlingsheim in Österreich auf Asyl. sagt Askr. Alshaikh lebt seit langem in Deutschland. Sie hatte Alshaikh wohnt mit ihrem Mann Fateh Alhaihre Familie in Syrien ermutigt, zu fliehen, ebenfalls mad, 41, und ihrem Sohn Omar, ein Jahr alt, in einach Deutschland zu kommen. Nun sind alle tot. ner geräumigen Wohnung in Norddeutschland. Sie Die Frauen kannten sich vor der Katastrophe sprechen fast akzentfrei Deutsch, haben die deutnicht, obwohl beide aus Deir ez-Zour im Osten Sy- sche Staatsangehörigkeit. Sie ist Gynäkologin und riens kommen. Durch die Stadt fließt der Euphrat, gerade im Mutterschutz. Er arbeitet als Internist im dort blüht Jasmin, sprudelt Erdöl, wachsen Gra- Krankenhaus. Während des Ramadan essen und natäpfel und Baumwolle. Seit fünf Jahren herrscht trinken sie erst nach Einbruch der Dunkelheit. AlsKrieg. Askr und Alshaikh haben sich bis heute nicht haikh trägt Kopftuch, nicht weil sie muss, sondern 39
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weil sie es will. Omar hat braune Haare und Augen, lernt gerade zu laufen und landet dabei meist auf dem Hintern. Dann lächelt seine Mutter manchmal. Sie spaziert mit ihm oft zu einem kleinen Spielplatz am Ende der Straße, kauft Lebensmittel ein, ansonsten bleibt sie zu Hause. Die Nachbarn wissen nichts von ihrer Geschichte. Zweimal ging sie im November 2014 zur Ausländerbehörde in Saarbrücken. Sie wohnten damals im Saarland, arbeiteten im Krankenhaus, besaßen ein Auto und ein Haus in einem Vorort von Saarbrücken. Es hatte einen Garten und mehr Zimmer, als sie benötigten. Sie fragte die Frau von der Ausländerbehörde nach dem Antrag auf Familiennachzug, den sie vor einem halben Jahr gestellt hatte. Sie wollte ihre Mutter Fadila, 53, ihren Vater Abdel, 57, ihren Bruder Almuthanna, 23, und ihre Schwester Hend, 17, nach Deutschland holen, weil in Deir ez-Zor kein Alltag mehr möglich gewesen ist. IS gegen Regierungstruppen, die Lage war unübersichtlich. Ihr Bruder Almuthanna studierte Jura und wurde vom IS verhaftet, weil er geraucht hatte. Ihre Schwester Hend durfte nicht mehr in die Schule, kurz vor dem Abitur. Die Geschäfte ihres Vaters Abdel, der mit Autoteilen handelte, wurden geplündert, die Häuser der Familie zerstört. Farah Alshaikh telefonierte täglich mit ihrer Mutter Fadila. Sie spürte, dass die Mutter Angst hatte, auch wenn sie das nicht aussprach. Zu der Zeit war Alshaikh im achten Monat schwanger. Sie wollte ihre Familie auf eigene Kosten nachholen. Aber die Frau von der Ausländerbehörde sagte: „Im Mutterschutz bekommen Sie nur 60 Prozent Ihres Gehalts. Das reicht nicht, um Ihr Kind und Ihre Familie zu versorgen.“ – „Das bekommen wir hin. In unserem Haus ist genug Platz. Wir wollen kein Geld, wirklich nicht“, sagte Alshaikh. Die Beamte fragte ihren Chef. Der 40
Antrag wurde abgelehnt. Eine Woche später ging sie noch einmal zur Behörde. Sie bat, wenigstens ihre Schwester zu sich holen zu dürfen. Sie hatte Asthma. Abgelehnt. „Mein Vater wollte nicht fliehen. Er hatte Angst um die Familie, Furcht vor den Schleppern. Er wollte Syrien nur verlassen, wenn sie irgendwo legal einreisen konnten“, sagt Alshaikh. Sie bot ihm die Zimmer in ihrem Haus an. Falls es nicht mehr auszuhalten sei, sollen sie kommen, egal wie. „Ich habe Druck gemacht. Vielleicht habe ich ihnen zu viel Druck gemacht.“ „Wir können nicht mehr“, sagt ihr Vater, als er Anfang Juli 2015 anruft. Er macht sich mit 20.000 Dollar und der Familie auf den Weg. Sie fahren in ihrem Toyota von Raqua an die syrisch-türkische Grenze. Stellen das Auto ab, bezahlen einen Schleuser, der sie durch einen Wald führt. Sie kommen nach Urfa in der Türkei. Dort wohnt eine weitere Schwester Alshaikhs. Sie bleiben ein paar Tage. Abdel Alshaikh, der Vater, hört sich bei Bekannten um. Er sucht einen Schleuser. Ihm wird ein Mann namens Abules empfohlen. Ein Syrer, der von Urfa aus Schleusungen organisiert. Er kassiert Provisionen von den Schleppern und den Flüchtlingen. Abules erklärt Abdel Alshaikh Route und Preise. Am 17. August 2015 wartet die Familie in einem Hotel in Izmir. Von der türkischen Westküste aus wollen sie über Samos, Athen und Mazedonien nach Belgrad. Dort sollen sie einen Mann namens Afghani treffen, der die Fahrt durch Ungarn und Österreich nach Deutschland organisiert. Die Alshaikhs sind nicht allein, ihre Gruppe besteht aus zwölf Personen. Zu ihr gehören Alshaikhs Onkel Yossef, 39, ein Bruder ihres Vaters – und Hasan AlDamen, 36, der Mann von Nahed Askr. Er hat Askr und die Kinder in Damaskus zurückgelassen. Man wollte ihn zum Militär einziehen. Er sollte für Assad kämpfen, den er verachtet.
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Als Lehrer kann er kein Geld mehr verdienen. Er Am nächsten Tag nehmen sie die Fähre nach Athen. will nach Deutschland und seine Familie später Von dort aus rufen sie Farah Alshaikh in Deutschland an. Ihr Vater Abdel klingt müde, aber er sagt: „Wir nachholen. „Gebt uns euer Gepäck. Das passt nicht auf sind okay. Wir machen weiter.“ Ihre Schwester Hend das Schlauchboot“, sagen die Schlepper in Izmir. weint. „Ich bin fertig, ich kann nicht mehr.“ Ihre Alshaikhs Schwester Hend ist entsetzt. Ihr bleiben Mutter Fadila würde am liebsten zurück nach Syrien. In Athen ruhen sie sich aus, gehen arabisch esnur ihr Handy, die Hose und das T-Shirt, die sie trägt. Auf einem Foto, sen. Einige aus der Grupdas sie ihrer Schwester in pe würden gern etwas Deutschland per Whatslänger bleiben. Aber HaSie hat Angst vor dem App schickt, weht der san Al-Damen, der Mann Meer. Sie trägt einen silber- von Nahed Askr, drängt Wind in ihre schwarzen lockigen Haare. Sie steht darauf, weiterzureisen. Er nen Heiratsring ihrer Mutam Wasser und versucht glaubt, dass die Grenzen ter an der rechten Hand. fröhlich auszusehen. Es bald geschlossen werden. Er soll sie beschützen. gelingt ihr nicht. Die Nach einem Tag in Athen 17-Jährige ist ein Mädfahren sie mit dem Bus an die mazedonische Grenze. chen aus der Stadt, das romantische arabische Popmusik auf dem Smart- Dort teilen sie sich auf, versuchen an verschiedenen phone hört und Medizin studieren will. Sie hat Stellen über den Zaun zu kommen. Die GrenzbeAngst vor dem Meer. Sie trägt einen silbernen Hei- amten schlagen mit Stöcken nach den Flüchtlingen ratsring ihrer Mutter an der rechten Hand. Er soll und sprühen ihnen Tränengas ins Gesicht. Sie erwisie beschützen. schen Alshaikhs Bruder Almuthanna. Er kann entDie Schlepper kassieren 1.200 Euro pro Person kommen, erleidet nur Prellungen. Mütter werden für die Überfahrt nach Samos. Zwei Anläufe schei- von Kindern getrennt, viele schreien, weinen. Die Gruppe findet nach einer Stunde auf mazetern. Beim ersten Mal erwischt sie die türkische Küstenpolizei, die sie am Strand wieder aussteigen donischer Seite wieder zusammen. Es regnet, es ist lässt und das Boot versenkt. Beim zweiten Mal fährt kalt, sie frieren, ihre Kleider sind durchnässt. Mit die Polizei Patrouille, als sie ablegen wollen. dem Bus fahren sie vier Stunden durch MazedoniErst beim dritten Mal setzen sie gegen Mitter- en Richtung Serbien. Sie schauen aus dem Fenster. nacht ab. Am frühen Morgen des 19. August wird Europa haben sie sich anders vorgestellt. In Belgrad treffen sie den Schlepper Afghani. das Boot einen Kilometer vor Samos von der griechischen Küstenpolizei aufgebracht. Mutter Fadila Ein Afghane, der schon länger in Europa lebt. Er ist froh. Sie musste sich die ganze Nacht übergeben. ist dünn, hat schwarze Haare, trägt T-Shirt, JogAls sie die EU betreten, geht die Sonne auf. ginghose und eine Umhängetasche. „Vertraut mir! Im Hafen von Samos erhalten sie provisorische Ich kümmere mich darum, dass ihr direkt nach Reisedokumente, mit denen sie sich Tickets für die Deutschland gefahren werdet, ohne dass ihr in UnFähre nach Athen kaufen können. In Samos schlafen garn oder Österreich registriert werdet, eure Fingersie eine Nacht auf dem Boden, haben wenig zu essen. abdrücke hinterlassen müsst“, sagt er zu Al-Damen 41
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und Abdel Alshaikh, die die Verhandlungen führen. ist alt. Schlepper benutzen alte Handys und PreEr verlangt 1.600 Euro pro Person für den Trans- paid-Karten, um nicht geortet werden zu können. port. Ein üblicher Preis für die Route in diesem Flüchtlinge benutzen Smartphones, weil sie InterSommer. Die Männer willigen ein. Sie hatten bei net so dringend brauchen wie Wasser. Das Telefon Abules in Urfa einen Teil ihres Geldes hinterlegt. Er ist ihr einziger Kontakt zu denen, die sie verlassen soll die Gebühr erst dann an die Schlepper über- mussten. „Wartet im Park, bis es dunkel wird. Es gibt viel weisen, wenn sie gut in Deutschland angekommen sind. Sie hoffen, sich so absichern zu können, nicht Polizei, wir müssen vorsichtig sein“, sagt Afghani. Die meisten versuchen zu schlafen. Um Mitterbetrogen zu werden. Es ist Montag, der 24. August 2015, als die nacht weckt sie Afghani. Sie folgen ihm durch die Alshaikhs am Nachmittag aus einem Hotel bei Bel- Nacht, an den Schienen der Straßenbahn entlang, grad bei Farah Alshaikh anrufen. Die Laune ist gut. über eine Brücke, die den Fluss Save überquert, zu Ihr Bruder Almuthanna hat aus Syrien per E-Mail einem Parkplatz. Vom Ufer dröhnen die Bässe der Bescheid bekommen, dass er die Anwaltsprüfung Diskotheken. Die Belgrader Jugend feiert. Afghani fordert sie auf, bestanden hat. „Sei vorsich in drei Gruppen aufzusichtig, was du in Zukunft zu mir sagst, ich teilen. Jeweils vier Personen „Fahrt nicht weiter“, sagt bin jetzt Rechtsanwalt“, würden in einem Auto mitsagt er seiner Schwester. genommen. Im ersten fährt Yossef Alshaikh, „irgend„Wir haben uns ein weein Schlepper Mutter Fadietwas stimmt nicht.“ nig ausgeruht und neue la, Bruder Almuthanna und Er kommt nicht nach. Kleidung gekauft“, erAl-Damen weg. Im zweiten sitzt Yossef Alshaikh, als letzzählt ihre Mutter Fadila. Das rettet ihm das Leben. „Ich habe ein gutes Getes verlassen Vater Abdel und Schwester Hend im dritten fühl mit dem SchlepWagen den Parkplatz. „Du per, er scheint das nicht zum ersten Mal zu machen“, sagt ihr Vater Abdel. fährst mit deiner Mutter, passt auf sie auf“, sagt Ihrer Schwester verspricht Alshaikh, dass sie nach Abdel Alshaikh zu seinem Sohn Almuthanna, der ihrer Ankunft bald in den Zoo gehen werden, in bei seinem Onkel Yossef einsteigen wollte. Die Entdie Wilhelma in Stuttgart, weil sich Hend das scheidung kostet Almuthanna das Leben. schon lange wünscht. Drei Stunden dauert die Fahrt Richtung NorEs ist das letzte Gespräch mit ihrer Familie. den, über die Autobahn E-75 durch flaches Land an Am Abend findet sich die Gruppe um 18 die serbisch-ungarische Grenze. Draußen fliegt die Uhr im Park neben dem Busbahnhof im Zent- Dunkelheit vorbei, alles ist schwarz. Verschwunden rum Belgrads ein. Es wimmelt von Flüchtlingen das Gefühl für Zeit und Orientierung. Die Schlepper setzen ihre Passagiere in einem und Schleppern. Belgrad ist in diesen Wochen Knotenpunkt der Flüchtlingsroute über den Bal- Wald bei Domaszek auf der ungarischen Seite der kan. Afghani spricht die ganze Zeit am Handy, in Grenze ab. Nach dem ersten kommt etwas später einer Sprache, die sie nicht verstehen. Sein Handy der dritte Wagen an. „Wartet hier, wir kommen 42
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bald zurück“, sagen die Schlepper. Die Alshaikhs stehen im Wald. Nur Yossef Alshaikh fehlt, der Onkel. Das zweite Auto, in dem er saß, stoppte plötzlich, nach zwei Stunden Fahrt. Der Schlepper hatte einen Anruf erhalten, auf Serbisch in sein Telefon geschrien. Er schmiss die Flüchtlinge auf der Autobahn raus. „Waiting, waiting“, rief er und fuhr weg. Yossef Alshaikh hatte keine SIM-Karte in Serbien gekauft, konnte niemand anrufen. Sie kommen im Morgengrauen zu einem Dorf, fahren mit dem Taxi zurück nach Belgrad. Er kauft eine SIM-Karte und ruft seinen Bruder an. Abdel Alshaikh erzählt, dass sie mit anderen Flüchtlingen zusammengeführt wurden und in einem Wald warten. „Wir haben Hunger und Durst, bring etwas zu essen und zu trinken mit“, sagt er. „Fahrt nicht weiter“, sagt Yossef Alshaikh, „irgendetwas stimmt nicht.“ Er kommt nicht nach. Das rettet ihm das Leben. Die Gruppe zerfällt. Am 25. August 2015 schreibt ihr Vater Farah Alshaikh eine Nachricht: „Sitzen im Wald und warten, dass es weitergeht.“ Sie will antworten, aber auf einmal ist er weg. Sie sieht bei WhatsApp, dass er um 12 Uhr das letzte Mal online ist. Auch den Rest der Familie erreicht sie nicht mehr. Um 22 Uhr bekommt Nahed Askr in Damaskus die letzte Nachricht von ihrem Mann Hasan Al-Damen. „Ich bin im Wald. Die Schlepper sagen, dass wir wegen der Polizeikontrollen warten müssen. Ich habe Hunger und esse Äpfel von den Bäumen. Bitte küsse die Kinder von mir. Bald ist alles vorbei.“ Eine Woche zuvor kauft ein Mann bei einem Gebrauchtwagenhändler in Kecskemet den Kühllaster. Er lässt den Lkw auf seinen Namen zu, gibt sich keine Mühe, seine Identität zu verschleiern. Die Geschäfte mit den Flüchtlingen laufen gut, täglich fahren Hunderte Schlepperfahrzeuge unkontrolliert Richtung Österreich. Der Mann gehört zu
einer Schleusergruppe, die über 20 Schleppungen organisiert und durchgeführt hat. Sie besteht aus vier Bulgaren und dem Afghanen. Die fünf Männer sind alle am 27. August 2015 an der Tat beteiligt. Die Fuhre ist wertvoll, 71 mal 1.600 Euro. Da kümmern sich die Bosse selber drum. Am Mittwoch, dem 26. August 2015, fahren die Schlepper den Kühllaster gegen vier Uhr morgens aus Kecskemet zum Wald an der Grenze. Kecskemet, eine alte, ungarische Universitätsstadt, liegt eine Stunde nördlich bei Domaszek. Der Himmel ist klar, es wird wieder ein schöner, heißer Tag in Süd-Ungarn, wo Tomaten, Paprika, Erdbeeren und Aprikosen wachsen. Im Wald verstecken sich seit mehr als einem Tag die 71 Flüchtlinge und warten auf die Weiterfahrt. Die Familie Alshaikh aus Deir ez-Zor, Syrien. Die Familie Rahm aus Kunduz, Afghanistan. Vater Khuda, seine Frau, drei Kinder, darunter die kleine Lida, und ein Cousin. Rahm arbeitete in Afghanistan als Polizist. Die Taliban bedrohten ihn und seine Familie. Muhannad Ali und seine Frau Lifana aus Tall Abyad, Syrien, die vor drei Monaten geheiratet haben und in Deutschland eine Familie gründen wollen. Der Iraker Mahmoud Abidi, der gerade zum Offizier mit vier Sternen befördert wurde und mit seiner Frau Zina Kilani aus Bagdad floh. Sie will zu ihrem Bruder nach Deutschland, weil der als Ingenieur dort ein gutes Leben führt. Sie überredete nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre Geschwister Ali und Zaineb Kilani mitzukommen. Der Kurde Said Othman aus Sulaimaniyya im Nord-Irak. Er hofft, dass ihm ein Arzt in Deutschland helfen kann, weil er nur noch eine Niere hat, die ihm Schmerzen bereitet. Mohammed Baba aus Karkur, Irak, der keine Arbeit findet und sich eine Karriere als Fußball-Profi zutraut. Nichts deutet daraufhin, dass die Flüchtlinge gezwungen werden mussten einzusteigen. 43
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Um fünf Uhr fährt der Lastwagen bei Domaszek auf die Autobahn M55 Richtung Norden, wird von den Kameras des ungarischen Mautsystems erfasst. Ein Auto eskortiert den Lkw, fährt zehn Minuten vorneweg. Das Begleitfahrzeug soll die Schlepper im Laster warnen, falls es auf der Strecke Polizeikontrollen gibt, und die Fahrer einsammeln, wenn etwas schiefläuft. Der Lkw passiert um 6:03 Uhr Kecskemet, zwei Stunden später Budapest und erreicht um 9:15 Uhr Nickelsdorf, die Grenze zu Österreich. Etwa 20 Minuten später stellen ihn die Schlepper in der Parkbucht bei Parndorf ab. Warum? Die Schleuser schweigen. Eine Polizeisperre gab es an diesem Tag auf der Strecke nicht. Die Gruppe muss irgendwie realisiert haben, dass ihre Fracht verloren ist. Der Laderaum des 7,5-Tonners lässt sich nicht von innen öffnen. Das Kühlaggregat funktioniert nicht. Es hätte die Luft ohnehin nur umgeschichtet, aber keinen Sauerstoff zugeführt. Den Flüchtlingen blieb nur der Sauerstoff, der zu Fahrtbeginn im
Namenlos liegen die Toten da. Anders als bei einem Flugzeugabsturz gibt es keine Passagierliste, die abgearbeitet werden kann. Laderaum war. Um festzustellen, wo sie gestorben sind, ob die ungarische oder die österreichische Justiz zuständig ist, wird nach dem Auffinden des Lkw ein Gutachten in Auftrag gegeben. Es berechnet das Volumen des Laderaums und teilt es durch die Anzahl der Personen. Etwa fünf Flüchtlinge standen 44
auf einem Quadratmeter Ladefläche. Sie müssen noch vor acht Uhr in Ungarn erstickt sein. Man findet im Laderaum und an den Leichen keine Spuren eines Todeskampfs. Es ist davon auszugehen, dass sie vom Sauerstoffmangel in Ohnmacht gefallen und bewusstlos gestorben sind. Die Stellung der Leichen zeigt, dass Kinder in die Höhe gehalten wurden. Die Leichen eines Paares sehen aus, als umarmten sie sich. Die Schleuser werden kurz nach dem Auffinden des Lkw in Kecskemet verhaftet. Sie sind dabei, ihre Flucht vorzubereiten, aber das Kennzeichen und die Aufzeichnungen der Autobahnkameras führen die Ermittler schnell zu ihnen. Sie sitzen in Kecskemet in U-Haft und äußern sich nicht. Im September soll Anklage erhoben werden, Anfang nächsten Jahres der Prozess beginnen. Der Lkw wird von der Parkbucht in eine Halle nach Nickelsdorf gebracht, die sich kühlen lässt. Gerichtsmediziner tragen die Leichen aus dem Laderaum, fotografieren sie, ordnen ihnen Gegenstände zu, zum Beispiel Pässe, die in Brusttaschen stecken, Geld, das in Ärmel oder Gürtel eingenäht ist. Bei Hasan Al-Damen, dem Mann von Nahed Askr, findet man sein Lehrer-Diplom. Er hatte es auf Deutsch übersetzen lassen, um später Arbeit finden zu können. Da die Polizisten vormittags den Laderaum geöffnet hatten, gelangte Luft hinein, die Verwesung der Leichen wurde beschleunigt. Bei ihrer Bergung sehen die Opfer aus wie dunkelhäutige Menschen. Auf Rucksäcken und Jacken kleben Leichenfetzen. Die meisten Handys sind in einem Zustand, als habe man sie in ein Säurebad geworfen. Sie sind nicht einmal mehr für Forensiker zu gebrauchen. Über die letzten Momente im Lastwagen ist auf diesem Weg nichts zu erfahren. Die Gerichtsmediziner versehen die weißen Leichensäcke mit Nummern. Namenlos liegen die
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Toten da. Anders als bei einem Flugzeugabsturz gibt es keine Passagierliste, die abgearbeitet werden kann. Die Ermittler schalten eine Hotline für Angehörige. Sie brauchen die DNA von Verwandten, um die Toten identifizieren zu können. Bei einem Mann meldet sich niemand. Es dauert bis zum 10. Dezember 2015, bis die Identifizierung der anderen abgeschlossen ist. Nahed Askr sieht am Nachmittag des 27. August 2015 im Fernsehen einen Bericht über den Lkw. Sie wohnt mit den Kindern bei ihrer Mutter in Damaskus. Askr sagt, dass sie sofort gespürt habe, dass ihr Mann tot ist. Als sie der Übersetzer der Landespolizeidirektion Burgenland, die die Identifizierung durchführt, ein paar Wochen später anruft, schreit sie nicht. Die Leiche ihres Mannes kann nicht nach Syrien überstellt werden. Er wird auf dem muslimischen Friedhof Inzersdorf in Wien bestattet. Askr will sich von ihrem Mann verabschieden. Sie macht sich mit den Kindern auf den Weg nach Wien. Die Flüchtlingsroute ist nun offen. Farah Alshaikh hält Omar auf dem Arm, steht am Fenster ihres Hauses in Saarbrücken und schaut in den Garten, als der Anruf kommt. Man habe die Pässe gefunden. Sie lässt Omar fallen. Seit Anfang des Jahres leben sie in Norddeutschland. Sie konnte die Fragen der Freunde in Saarbrücken nicht mehr hören, war des Beileids überdrüssig. Vor kurzem hat sie ein Bild ihrer Familie in den Schrank über den Fernseher im Wohnzimmer gestellt. Die Alshaikhs sind auch auf dem Friedhof Inzersdorf begraben. Bei der Beerdigung am 8. Oktober 2015 besteht Farah Alshaikh darauf, das Gesicht ihrer Mutter zu sehen. Sie lässt den Sarg öffnen. Seitdem war sie nicht mehr auf dem Friedhof. Sie schafft es nicht. Am Wochenende nach der Katastrophe von Parndorf kamen Tausende Flüchtlinge an deutschen Bahnhöfen an. Ihnen wurde applaudiert,
Wasser und Kleidung gereicht. Die Kinder bekamen Teddys und Süßigkeiten. Viele verlassen in diesen Wochen die Turnhallen und Notunterkünfte. Sie fangen ein neues Leben an. Stern, 04.08.2016
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Radioreportage Heike Tauch Elisabeth Putz Rainer Schildberger
Bürger zweiter Klasse | Die Alltäglichkeit des Unsichtbaren | Ingredients of democracy 47
n-ost Reportagepreis 2017 • RADIO
Radioreportage VOrjury Dirk Auer Freier Hörfunkkorrespondent, Preisträger n-ost-Reportagepreis 2012
Olga Kapustina Freie Multimediajournalistin
Melanie Longerich Redakteurin, Deutschlandfunk
Annett Müller Freie Radio- und Onlinejournalistin
Thilo Schmidt Freier Journalist, Lehrbeauftragter für Kulturjournalismus, UdK Berlin
Hendrik Sittig Referent der Programmdirektion, Rundfunk Berlin-Brandenburg
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n-ost Reportagepreis 2 017 • RADIO
Fotos: privat (5), Stefan Günther (1)
Radioreportage jury
Silke Engel
Marc Lehmann
Jochen MeiSSner
Sprecherin, Universität Potsdam
Moderator und Produzent, Schweizer Radio & Fernsehen SRF
Feature-Autor, Hörspielkritiker und Journalist
Stephan Ozsvath
Jakob Preuss
Rainer Schwochow
Radio-Korrespondent, ARD-Studio Südosteuropa/Wien
Dokumentarfilmer
Freier Autor und Hörfunkproduzent
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n-ost Reportagepreis 2017 • RADIO
radioreportage PREISTRÄGERin
Bürger zweiter Klasse Eine neu-deutsche Familie von Heike Tauch DLF, 15.11.2016 | 43:49 Wie zerstörerisch Angst und Gewalt wirken, zeigt eindrucksvoll das Feature von Heike Tauch. Murat kam als Zweijähriger mit seinen Eltern nach Deutschland. Der Vater trank und verprügelte fast täglich seine Mutter. Erst nach 18 Jahren Duldung erhielt sie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis – da war Murat erwachsen und selbst straffällig geworden: Drogen, Raub und schwere Körperverletzung. Bis er 2015 aus einem Gefängnis bei Berlin auf Lebenszeit in den Kosovo, das Herkunftsland seiner Eltern, abgeschobenen wird in einen Staat, der bei seiner Geburt noch nicht existierte und den er außer als Kleinkind nie besucht hat. Dichte Einblicke in eine schockierende Familiengeschichte und eine AbschiebePraxis, die eines Rechtsstaates unwürdig ist. Silke Engel, Sprecherin der Universität Potsdam
Das Feature können Sie sich anhören unter www.n-ost.org/74-Reportagepreis 50
Foto: MDR/Marco Prosch
HEIKE TAUCH Heike Tauch (*1965) ist in Ost-Berlin an der Mauer zu Neukölln aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte sie zunächst in Greifswald Musik und Germanistik. Direkt nach der Wende folgte ein zweijähriger Aufenthalt an der University of Utah, USA. Seit 1992 lebt Heike Tauch wieder in Berlin und arbeitet als freie Autorin und Regisseurin fürs Radio mit Schwerpunkt Hörspiel und Feature. Von 1996 bis 2012 leitete sie außerdem das Hörtheater für Deutschlandradio. In ihren Features, so auch in „Bürger zweiter Klasse“, geht es um das Verhältnis einzelner Menschen zur Gesellschaft. Individuum und Kollektiv, Macht und Ohnmacht, Freiheit und Unterdrückung – diese Themen umkreist sie von allen Seiten. 51
n-ost Reportagepreis 2017 • RADIO
radioreportage nominierte
Die Alltäglichkeit des Unsichtbaren von Elisabeth Putz DLR Kultur/ORF/RBB, 28.05.2016 | 54:30 Lunik IX in der Slowakei ist Europas größtes Roma-Ghetto, Dritte Welt – mitten in der EU. Reportagen aus solchen Orten sind oft reine Lumpen-Safaris, die uns wohlig schaudern lassen, weil es uns besser geht. „Wir spiegeln uns in den Roma“, meint Experte Norbert Mappes-Niedek im Verlauf der 54 Minuten, sie seien das „Andere“, das uns unsere Vollständigkeit erleben lasse. Nicht so in der O-Ton-Collage von Elisabeth Putz. Ihr Feature nimmt uns mit in den Mikrokosmos Lunik IX. Aber sie wertet nicht, beschreibt nicht, sie ist nur Medium für die Protagonisten. Junge Roma erzählen selbst von Gewalt, frühen Schwangerschaften, Arbeitslosigkeit, aber auch von ersten Küssen, Miss-Wahlen, es entsteht ein Wimmelbild, ein kollektives „Wir“. Respektvoll, lebensprall, mit überraschenden Erkenntnissen – der Spiegel schaut zurück. So geht exzellentes Radio. Stephan Ozsvath, Radio-Korrespondent beim ARD-Studio Südosteuropa/Wien
Das Feature können Sie sich anhören unter www.n-ost.org/74-Reportagepreis 52
Foto: Anja Schäfer
Elisabeth Putz Elisabeth Putz (*1982) wurde in Niederösterreich geboren, als eines von sechs Mädchen. Bereits während ihres Studiums in Wien schrieb und inszenierte sie Hörspiele und Features u.a. für den DLF, RBB, SRF und ORF. Eine Theaterarbeit führte die Hörfunkautorin 2013 erstmals in die Ostslowakei. Freundschaften entstanden, und Elisabeth Putz kehrte über Jahre immer wieder nach Košice und Umgebung zurück. Aus diesen Aufenthalten entstand nicht nur das nominierte Feature „Die Alltäglichkeit des Unsichtbaren“ sondern auch – in Zusammenarbeit mit der Fotografin Anja Schäfer – die audiovisuelle Ausstellung „Millionaires of time…“, die in Berlin, Košice, Bratislava und Wien gezeigt wurde. 53
n-ost Reportagepreis 2017 • RADIO
radioreportage nominierter
Ingredients of democracy Der Traum von einem neuen Griechenland Von Rainer Schildberger RBB-Hörfunk, 08.06.2016 | 54:30 Sie hätten es sich einfacher machen können: Stefania und Pavlos hatten gute Jobs in Aussicht, sie als Kulturmanagerin in England, er als Agrarbiologe in Deutschland. Doch die beiden jungen Griechen wählen den dornenvollen Weg und kehren in ihre desolate Heimat zurück. Nicht nur über die Krise reden, sondern anpacken und mithelfen, das Land auf eine neue Basis zu stellen! „Tomorrow“ steht denn auch auf Pavlos‘ T-Shirt. Und so beginnen die jungen Leute für ein besseres Griechenland zu arbeiten – bei einem Kontostand von minus 13 Euro. Rainer Schildberger begleitet die beiden mit viel Einfühlungsvermögen durch den griechischen Krisenalltag. Seine rasante, clever aufgebaute Reportage führt uns in die Welt der hippen Kreativen, die sich nicht vom korrupten System vereinnahmen lassen wollen. So klingt modernes Radio. Marc Lehmann, Moderator und Produzent beim Schweizer Radio & Fernsehen SRF
Das Feature können Sie sich anhören unter www.n-ost.org/74-Reportagepreis 54
Foto: privat
RAINER SCHILDBERGER Rainer Schildberger (*1958) wurde in Berlin geboren. Er studierte Geschichte und Sport in Darmstadt und Berlin sowie Musik in Los Angeles. Seit 1995 erkundet er als Feature- und Hörbuchautor die Lebensentwürfe anderer Menschen – seien es Mönche, Fußballer oder Visionäre. Auch die eigene Familien- und Lebensgeschichte mit katholischer Kindheit, jüdischen Großeltern und sehr persönlichen Pilgerreisen hat er aus vielen Perspektiven immer wieder dokumentarisch eingefangen. In Griechenland ist der Autor seit 1980 regelmäßig unterwegs. Er hat noch das arme Griechenland erlebt, den Umbruch durch den EU-Beitritt und jetzt den dramatischen Niedergang und erzwungenen Neuanfang. 55
Fotoreportage Hannes Jung Anastasia Rudenko Jakob Schnetz
How is life? | Paradise | Kalter Frieden 57
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Fotos: privat
FOtoreportage jury
Lars Bauernschmitt
Ellen Dietrich
Anna Gripp
Professor für Fotojournalismus und Dokumentarfotografie, Hochschule Hannover
Freie Redakteurin und Dozentin für Fotojournalismus
Chefredakteurin, Photonews
Michael Hauri
Barbara Stauss
Mila Teshaieva
Geschäftsführer, 2470.media
Bildchefin, Mare
Fotografin
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n-ost Reportagepreis 2 017 • FOTO
Fotoreportage PREISTRÄGER
How is life von Hannes Jung Emerge, 22.12.2016 Litauen gilt als das Land mit der höchsten Selbstmordrate in Europa. Hannes Jung geht diesem traurigen Phänomen auf den Grund. Seine Bilder sind rau, dunkel, manchmal unscharf und immer grobkörnig. Doch für die Oberfläche interessiert sich Jung nicht, vielmehr versucht er, das Unfotografierbare zum Vorschein zu bringen. So werden seine Bilder zum Ausgangspunkt einer persönlichen Geschichte, die er seine Protagonisten in den Bildlegenden fragmentarisch erzählen lässt. Ein unscheinbarer Ziehbrunnen hinter einem verlotterten Haus bekommt plötzlich eine Bedeutung wenn man weiß, dass sich dort ein Bauer umbringen wollte – und am Ende von seiner Frau gerettet wurde. Wer etwas derart unaufdringlich und voller Empathie festzuhalten vermag, ist nicht nur ein begnadeter Fotograf, sondern auch ein sehr guter Zuhörer. Michael Hauri, Geschäftsführer von 2470.media
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Foto: Jannis Keil
Hannes Jung Hannes Jung (*1986) wurde in Bremen geboren und studierte in München, Valencia und Hannover Fotografie. 2011 hospitierte er für ein halbes Jahr als Redaktionsfotograf bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seine Arbeiten wurden europaweit auf Festivals und Ausstellungen gezeigt und mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Förderpreis des Deutschen Jugendfotopreises, dem Canon Profifoto Förderpreis und dem College Photographer Of The Year Award. Hannes Jung wird durch die Agentur Laif vertreten. Trotz der vielen bedrückenden Lebensgeschichten, die er während seiner Recherche in Litauen hörte, blieb ihm vor allem die Stärke in Erinnerung, die viele Menschen im Umgang mit ihrem Schicksal zeigten. 61
n-ost Reportagepreis 2 017 • FOTO
Mücken in der Luft an einem See in der Nähe von Kupiškis, einer Kleinstadt im Nordosten Litauens. Vilma, die an diesem See wohnt, verlor ihren Mann vor fünf Jahren durch Suizid. „Nach fünf Jahren der Trauer habe ich wieder Interesse am Leben gefunden. Ich habe ein neues Gefühl in mir entdeckt, ich spüre erneut Interesse. Ich bin interessiert daran, ins Theater oder in die Oper zu gehen, Kanu zu fahren und an Aktivitäten des Rotary Clubs teilzunehmen. Sogar den Sonnenuntergang schaue ich mir wieder gerne an. Das ist meine Geschichte.“ Vilma, Kupiškis, 10. Mai 2016
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Edita sitzt mit ihrem Mann Darius im gemeinsamen Wohnzimmer. Editas Vater hat sich im Januar 2016 umgebracht. „Ich sitze genau an dem Platz, an dem ich saß, als ich deine Nachricht bekam und erfuhr, dass du dich umgebracht hast. Das ist der Ort, an dem ich zitterte und gebetet habe, dass es nicht wahr ist. Es tut mir leid, dass ich nicht die perfekte Tochter bin. Ich WILL, dass du weißt, dass ich dich liebe. Ich vermisse dich schrecklich. Manchmal rufe ich noch deine Nummer an oder warte auf deinen Anruf am Sonntag. Manchmal rolle ich mich in meinem Bett zusammen und weine, weil ich dich so sehr vermisse. Warum hast du gesagt, du wärest immer an meiner Seite? Zu wem soll ich jetzt gehen, wo du weg bist? Ich denke an dich, wenn ich Fahrrad fahre – du gabst mir die Freiheit, es zu fahren =) DANKE. Ich bin glücklich, aber ich vermisse dich so sehr. Ich habe keinen Vater mehr, und ich bin wütend auf dich. Du hast mich verlassen. Ich liebe dich und träume oft von dir. Du bist mein Papa, lebe wohl. Ich liebe dich.“ Edita, Kaunas, 21. Mai 2016
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Ein Regal voller alkoholischer Getränke in einem kleinen Einkaufsladen in Varena. Litauen ist eines der Länder mit dem weltweit höchsten Pro-KopfVerbrauch von Alkohol – und hat eine der höchsten Suizidraten der Welt. Proportional betrachtet begehen mehr als dreimal so viele Menschen wie in Deutschland Selbstmord. Betroffen sind vor allem Männer zwischen 40 und 50 Jahren. Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit – und natürlich viele Fälle, auf die davon wenig zutrifft. Denn jeder Suizid ist individuell.
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Ehrenamtliche Mitarbeiter der „Youth Line“, die psychologische Unterstützung in Krisenmomenten anbietet. „Während ich für die ‚Youth Line‘ (Sorgentelefon) arbeite, denke ich oft über das Phänomen des freien menschlichen Willens nach. Inwieweit ist Suizid eine impulsive, mechanische Reaktion auf Leiden und inwieweit ist es die Entscheidung einer Person, aufzugeben? Würden sich alle Menschen angesichts von enormem Leid umbringen? Ich weiß es nicht… Aber mehr und mehr habe ich das Bedürfnis, jede menschliche Entscheidung zu respektieren – wie auch immer sie ausfallen mag. Ihnen beizustehen und sie zu respektieren.“ Antanas, 10. Februar und 24. Mai 2016
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Pfarrer Justinas verteilt am Ende seiner Predigt Hostien. Sein Vorgänger beging vor sechs Jahren Suizid. „Anfang 2010 hat sich der Pfarrer von Varėna entschieden, sich das Leben zu nehmen. Da ich den Geistlichen persönlich kannte, konnte ich es kaum glauben. Ich nahm an seiner Beerdigung teil und kehrte danach zur Arbeit in meiner eigenen Gemeinde zurück. Völlig überraschend wurde ich angewiesen, seine Gemeinde zu übernehmen. Nachdem ich mich dort eingelebt hatte, bemerkte ich, dass die Gemeindemitglieder große Schwierigkeiten im Umgang mit seinem Ableben hatten. Ich begann, Nachforschungen anzustellen und fand heraus, dass der Priester offensichtlich krank gewesen war. Leider war es zu spät gewesen, um ihm zu helfen. Dieser Vorfall ermutigte mich sehr, nicht nur mehr für die Toten zu beten, sondern auch wachsamer und aufmerksamer mit den Lebenden zu kommunizieren.“ Pfarrer Justina, Varėna, 17. Februar und 14. Mai 2016
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Ein Brunnen im Garten von D. Ihr Mann versuchte sich in diesem Brunnen umzubringen. „Als ich meinen Mann in den Brunnen steigen sah, habe ich große Angst bekommen, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was ich gedacht habe. Als ich ihm sagte, dass er wieder herauskommen solle, sagte er mir, dass er es nicht länger ertragen könne. Mit Hilfe meiner Mutter und Tochter zogen wir ihn heraus.“ D., Katiliškiai, 20. Mai 2016
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Teresa, tanzend in ihrer Küche. Ihr Mann brachte sich vor 19 Jahren um. „Wenn ich traurig bin, singe ich, spiele und höre Musik. Ich entspanne mit guter Laune, ich tanze, ich liebe Witze. Ich versuche, immer zu lächeln.“ Teresa, Varėna, 21. Februar und 14. Mai 2016
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Fotoreportage nominierte
Paradise von Anastasia Rudenko Fluter.de, 19.02.2016 Es ist kein Geheimnis, dass Menschen, die in Russland nicht der Norm entsprechen, oft aus den Städten verbannt und weggesperrt, und Kinder von ihren Herkunftsfamilien getrennt und in Heime gesteckt werden. Als ob jene, die in der Gesellschaft nicht sichtbar sind, gar nicht existierten. So überrascht es, dass die Fotografin Anastasia Rudenko ihre Serie über das Leben behinderter Menschen in einem abgelegenen russischen Dorf „Paradies“ nennt. Aber sie zeigt auf ihren Bildern keine Abgeschobenen, sondern Kinder und Ältere in einer wilden, romantischen Landschaft, die als Teil einer Dorfgemeinschaft ihren täglichen Dingen nachgehen, oft sehr vergnügt und voller Fantasie. Es scheint, dass sie in diesem „Paradies“ tatsächlich besser leben können, als in einer Gesellschaft, die sie nicht akzeptiert. Barbara Stauss, Bildchefin bei Mare
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Foto: privat
Anastasia Rudenko Anastasia Rudenko (*1982) wurde in Südkasachstan geboren. Im Alter von zwölf Jahren zog sie mit ihren Eltern nach Moskau. Sie hat zwei Abschlüsse, einen in Angewandter Mathematik und einen in Dokumentarfotografie von der Alexander Rodtschenko Schule für Photographie und Multimedia in Moskau. Heute lebt Rudenko in der Region Wologda im Norden von Russland und arbeitet als freiberufliche Fotografin für russische und internationale Medien. Sie bezeichnet ihr Werk als „das visuelle Wörterbuch Russlands“ und will darin einer bildlichen Definition bestimmter Wörter und Muster nachgehen, die als charakteristisch für die russische Gesellschaft gelten.
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Das kleine Dorf Elatma, 300 Kilometer Ăśstlich von Moskau, beherbergt sechs Heime fĂźr geistig behinderte Menschen. Viele Eltern geben ihre Kinder nach der Geburt auf, wenn sie mit einer Behinderung auf die Welt gekommen sind. Sie verbringen meist ihr Leben in einer institutionalisierten Umgebung, werden in Heimen versteckt oder in fernab gelegenen DĂśrfern wie Elatma.
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FOTOREPORTAGE nominierter
Kalter Frieden von Jakob Schnetz Das Magazin, 11.06.2016 1991 wurde Jakob Schnetz in Freiburg geboren, genau in dem Jahr, als die Republik Bergkarabach, der „gebirgige schwarze Garten“, sich unabhängig erklärte von Aserbaidschan. Wie die Menschen dort leben, zermürbt vom Dauerkonflikt, trotzdem hoffend auf ein anderes Morgen, zeigen seine Bilder. Der Fotojournalist beobachtet sehr scharf, und sein Stil polarisiert. Herausragend ist seine Kunst, mit der Kamera den Geist hinter den Dingen sichtbar zu machen. Beim n-ost-Reportagepreis kann es leider nur einen Gewinner geben. Mit der Arbeit „Kalter Frieden” hat Jakob Schnetz diesmal nicht den Sieg errungen, aber mein Herz gewonnen. Ellen Dietrich, Freie Redakteurin und Dozentin für Fotojournalismus
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Foto: Alena Kardash
Jakob Schnetz Jakob Schnetz (*1991) stammt aus Freiburg und studiert seit 2012 Fotojournalismus in Hannover. Er verbrachte ein Austauschsemester an der Staatlichen Universit채t Tomsk, wo er dank russischer Schapka durch den sibirischen Winter kam. Seine Bilder wurden auf Festivals und Ausstellungen weltweit gezeigt und u.a. in der S체ddeutschen Zeitung, bei Spiegel Wissen und auf Zeit Online publiziert. Jakob Schnetz wurde u.a. mit dem Deutschen Jugendfotopreis und dem College Photographer of the Year Award (Bronze- und Silbermedaille) ausgezeichnet. W채hrend seiner Recherchen in Bergkarabach faszinierte ihn der Schwebezustand zwischen ruhigem Alltag und allgegenw채rtigem Konflikt, zwischen herzlicher Gastfreundschaft und klaren Feindbildern. 79
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Zu Sowjetzeiten lebten Armenier und Aserbaidschaner in Bergkarabach im Südkaukasus nebeneinander. Ethnische und territoriale Konflikte eskalierten 1988, Zehntausende starben und Hunderttausende wurden vertrieben. Schließlich gewannen armenische Truppen die Kontrolle über das Gebiet, Bergkarabach sagte sich von Aserbaidschan los.
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Seit 1994 herrscht ein Waffenstillstand, der seinen Namen kaum verdient. Aserbaidschan hält an seinem Anspruch auf Bergkarabach fest. Immer wieder droht der Konflikt erneut zu eskalieren und die ganze Kaukasusregion zu destabilisieren. Fast täglich fallen Schüsse an der Frontlinie, einem 240 Kilometer langen Schützengraben. Währenddessen geht das Leben seinen Gang in seltsamer Routine.
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Recherchepreis Osteuropa
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Recherchepreis Osteuropa Bereits zum vierten Mal vergeben die beiden Hilfswerke Brot für die Welt und Renovabis den mit bis zu 7.000 Euro dotierten Recherchepreis Osteuropa. Das Stipendium ermöglicht 2017 die Recherche und Produktion zweier Reportagen aus Ungarn und Russland (siehe rechts). Die Reportage der Preisträger vom Vorjahr lesen Sie ab Seite 87. n-ost ist Kooperationspartner des Recherchepreises Osteuropa.
DIE Jury 2017 Petra Bornhöft, Kuratoriumsmitglied der taz Panter Stiftung • Hanno Gundert, Geschäftsführer n-ost • Burkhard Haneke, Geschäftsführer Renovabis • Kerstin Holm, Feuilleton-Redakteurin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ehemalige Kulturkorrespondentin in Moskau • Dieter Pool, Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit und Kooperation Brot für die Welt • Jens Wiegmann, Redakteur im Ressort Außenpolitik, WeltN24
www.n-ost.org/31-RPO
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Foto: Fabian Weiss
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Recherchepreis Osteuropa 2017
Ungarn – Wenn Rechtspopulisten regieren Olivia Kortas Was passiert mit einer Gesellschaft, wenn die Demokratie in ihrem Land langsam schwindet? Dieser Frage will die freie Autorin Olivia Kortas in Ungarn nachgehen. Dafür wird sie mit Menschen sprechen, deren Leben sich seit dem Wahlsieg der rechtskonservativen Fidesz verändert haben – zum Guten oder zum Schlechten. Sie will Befürworter und Gegner von Fidesz treffen, mit Studenten, Journalisten, Ministeriumsmitarbeitern, Künstlern und Tabakverkäufern reden. Ihre Geschichten stehen stellvertretend für die gesellschaftliche Entwicklung Ungarns seit 2010 und sollen die Debatte um Rechtspopulismus und Demokratie menschlich und greifbar machen.
Die Überlebenden von Majak Oliver Bilger und Ekaterina Anokhina Am 29. September 1957 setzte eine chemische Explosion in der Plutoniumfabrik Majak große Mengen radioaktiver Substanzen frei. Die Katastrophe im russischen Ural gilt nach Tschernobyl und Fukushima als drittschwerster Atomunfall der Geschichte und belastet Menschen und Umwelt noch nach Jahrzehnten. Hilfe vom Staat bekommen die Betroffenen kaum. Wer ihnen helfen will, wird als Staatsfeind gebrandmarkt, denn die Behörden fürchten eine aktive Zivilgesellschaft und sorgen sich vorrangig um das laufende Geschäft. 60 Jahre danach wollen der freie Journalist Oliver Bilger und die russische Fotografin Ekaterina Anokhina im Ural die Folgen der Nuklearkatastrophe recherchieren – und dabei auch zeigen, wie der russische Staat heute mit seinen Bürgern umgeht.
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Gewinner Recherchepreis Osteuropa 2016
Foto: Ester Neri Hernández
n-ost Reportagepreis 2017 • RECHERCHEPREIS OSTEUROPA
Simone Brunner
Florian Bachmeier
Simone Brunner (*1984) ist in Kärnten aufgewachsen.
Aufgewachsen im oberbayerischen Schliersee, zog Florian
Sie studierte Slawistik und Germanistik in Wien und
Bachmeier (*1974) direkt nach der Verleihung des Abitur-
St. Petersburg und arbeitete danach für die Moskauer
zeugnisses in sein Sehnsuchtsland, nach Spanien. Er stu-
Zeitung und die Osteuropa-Redaktion des Wirtschafts-
dierte Fotografie an der Escuela de Artes y Oficios in Pamp-
blatts, mit einem Zwischenstopp beim Dokumen-
lona und unternahm erste lange Reisen. 2004 zog er zurück
tarfilm. Als sie im Frühjahr 2014 mit einem Journalis-
nach Deutschland und studierte Geschichte an der Ludwig-
tenstipendium nach Kiew kam, brach der Krieg in der
Maximilians-Universität in München. Seitdem arbeitet er als
Ostukraine aus. Das Thema hat sie seitdem nicht mehr
freier Fotograf, seit 2010 hauptsächlich in Ländern Ost-
losgelassen. Im Herbst 2016 reiste sie mit dem Fotogra-
europas. 2013 reiste er zum ersten Mal in die Ukraine, um die
fen Florian Bachmeier wieder ins Kriegsgebiet, um junge
Demonstrationen auf dem Maidan in Kiew zu dokumentie-
Menschen auf beiden Seiten der Frontlinie zu porträtieren.
ren. Darauf folgten viele weitere Reportagen aus allen Teilen des Landes.
2016 mitgefördert wurde außerdem eine Recherchereise von Merle Hilbk (Text) und Andrey Sosnin (Foto) entlang der belarussischen Sperrzone, 31 Jahre nach Tschernobyl.
Die daraus entstandene Reportage „Je weniger man weiß, desto besser schläft man“ lesen Sie auf 86
www.ostpol.de/beitrag/4911-Sperrzone
n-ost Reportagepreis 2 017 • RECHERCHEPREIS OSTEUROPA
Jugend in Trümmern Von Simone Brunner und Florian Bachmeier
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In Europa wächst eine neue Kriegsgeneration heran: Für die jungen Menschen im umkämpften Osten der Ukraine gehören existenzielle Probleme wie Glaube, Trost und Tod wieder zum Alltag. Wie wird man mit einem Krieg erwachsen, der einem alles genommen hat?
I Zum Schutz vor Schüssen stapeln die Schüler Sandsäcke auf. Die Schule von Marinka liegt nur 1,5 km von der Frontlinie entfernt und wurde bereits mehrfach beschossen.
n Kiew, 700 Kilometer von der Front entfernt, wird um Nachschub für den Krieg in der Ostukraine gebuhlt. Werbebanner mit verkitschten Kriegsbildern säumen die Straßen und die Rolltreppen hinunter zur U-Bahn. Auf dem Flughafen Kiew-Boryspil werden Meisterwerke der Kunstgeschichte patriotisch überhöht. Delacroix’ „Die Freiheit führt das Volk“ über die Julirevolution 1830 ist hier mit ukrainischer statt französischer Fahne versehen, „Das letzte Abendmahl“ findet unter ukrainischen Soldaten statt. Aber die jungen Menschen, die auf der Suche nach einem Abenteuer an die Front ziehen, werden in einem zermürbenden Stellungskrieg verschlissen, ohne Aussicht auf ein Ende. Auf der anderen Seite der Front, in Donezk, reihen sich auf der Intensivstation des Stadtkrankenhauses Betten von jungen Männern aneinander, mit blutigen Stümpfen statt Beinen und Armen. Die Uno schätzt, dass der Krieg bisher 10.000 Menschen das Leben gekostet hat, 2.000 davon waren unbeteiligte Zivilisten. 87
n-ost Reportagepreis 2017 • RECHERCHEPREIS OSTEUROPA
Maksim und Alexander sind seit 2015 an der Front. Die beiden 22-Jährigen kämpfen für die ukrainische Armee.
Der junge Mann vor den Ruinen des Flughafen Donezk heißt ebenfalls Alexander. Er kämpft für die Separatisten.
Der Krieg in der Ostukraine geht in seinen dritten Winter, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die den Friedensplan von Minsk überwachen soll, registriert täglich hunderte Verstöße gegen die Waffenruhe. Für die vielen jungen Menschen, die an der 500 Kilometer langen Frontlinie leben, ist der Krieg zum ständigen Begleiter geworden. Sie haben gelernt, Minenfelder zu meiden, wissen, wie Granateneinschläge klingen, wie man Nächte in Schutzkellern übersteht und wann ein Artilleriebeschuss gefährlich nahe kommt. Sie sind als Jugendliche mit Tod, Gewalt und Trauer aufgewachsen. In Europa wächst eine neue Kriegsgeneration heran.
Anna Wassiljewna schließt die Augen, als würde sie eintauchen in Maschas Singsang aus Wünschen, Klagen und Bitten. Mascha hat dunkles Haar und einen festen, schweren Blick, der ungewöhnlich ist für einen Menschen Anfang zwanzig. Sie streichelt der alten Frau den Rücken, wenn die in den Plastiksäcken nach Fotos verstorbener Verwandter oder Sowjetorden kramt. Legt die Stirn in Falten, wenn sie die Nacht des 29. Juli 2014 noch einmal schildert, als eine Mine ein Loch in die Vorderseite des Hauses in Awdijiwka nahe der Front riss. Dass Anna WasAwdijiwka, ukrainisch kontrolliertes Gebiet, zwei Kilometer von der Front entfernt siljewna damals im Vorzimmer schlief, rettete ihr das Leben. Heute ist die Fassade verputzt, doch im Bevor Mascha sich verabschiedet, betet sie. Sie Wohnzimmer hängen die Tapeten immer noch wie hält die Hände der alten Anna Wassiljewna um- Seegras von der Decke. Sogar der im Kasten aufklammert. Die 87-Jährige wippt ihren Körper vor bewahrte Mantel, ein Erinnerungsstück an den vor und zurück wie in einem Wiegelied. Mascha hebt dem Krieg verstorbenen Mann, ist am Revers verdie Stimme: „Hilf deiner geliebten Tochter zu spü- kohlt. Auf dem Fenstersims blitzen Ikonen. „Gott ren, dass du für sie da bist. Tröste sie für den Verlust und gute Menschen werden dich beschützen, daihres Mannes, ihres Hauses, lieber Gott. Dass ihr ran glaube fest!“, steht mit Kreide an die schwarze Haus endlich repariert werden möge, lieber Gott.“ Wand geschrieben.
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Als der Krieg begann, tauschte Mascha ihren Beruf als Buchhalterin gegen eine Missionarstätigkeit ein.
Die humanitäre Krise der ersten Kriegstage, als die Versorgung mit Lebensmitteln, Strom und Wasser in den Frontgebieten zusammenbrach, ist mittlerweile abgewendet. Die Geschäfte in der ehemaligen 34.000-Einwohner-Stadt haben wieder offen, auch Strom und Wasser gibt es. Doch mannsgroße Einschusslöcher gähnen in den Wohnblöcken, am Straßenrand parken von Schrapnellen durchlöcherte Autos. Mit Sonnenuntergang, wenn die OSZEBeobachter in ihre Basen zurückkehren, hallen Sturmgewehre und Explosionen durch die Luft. Und der Hunger nach Seelenheil ist groß, direkt an der Front. In Kursen spricht Mascha mit Kindern über die Zukunft, über Familie, über den Schmerz und über Gott, betet für den Frieden und spendet Trost bei Hausbesuchen. Eigentlich hatte die 23-Jährige ganz andere Pläne. Seit sie zum ersten Mal Fernsehbilder von hungernden Kindern in Afrika gesehen hatte, träumte sie davon, Entwicklungshelferin zu werden. Ein Wunsch, den ihr die Eltern verwehrten. Dann brach vor der Haustür selbst das Elend aus, im
Frühsommer 2014, als der Krieg in der Ostukraine begann. Als Mascha in einer von den Ukrainern kontrollierten Frontstadt mithalf, Brot an Bedürftige zu verteilen, wusste sie mit einem Schlag, dass sie hierher gehörte. Und ließ sich zur Missionarin der evangelikalen Kirche Dobra Westi (Frohe Botschaft) ausbilden. Die Ruhe von Ternopil in der Westukraine, wo sie zuletzt als Buchhalterin gearbeitet hatte, tauschte sie in diesem Sommer gegen die Front ein. Es gibt kaum etwas, das weiter voneinander entfernt ist als Maschas frühere Aufgabe und der Krieg. Manchmal erschrickt sie heute, wenn sie Sätze sagt wie: „Mit dem Krieg habe ich endlich meine Berufung gefunden.“ Oder: „Ich glaube, dass Gott das alles für mich so vorgesehen hat.“ Der Krieg stellt alte Fragen neu. Existenzielle Probleme wie Glaube, Trost und Tod sind wieder zum Alltag geworden. Und die Rolle der Religion nimmt zu – zumindest auf der ukrainisch kontrollierten Seite der Front: Mehr als 200 junge Menschen haben sich in Slawjansk, dem Zentrum der evangelikalen Kirchen in der Ostukraine, bereits für 89
n-ost Reportagepreis 2017 • RECHERCHEPREIS OSTEUROPA
Diese junge Frau lebt mit ihrer Mutter, der älteren Schwester und deren beiden Kindern in einem kleinen Haus in Marinka. Wo sich ihre Männer momentan aufhalten, wissen die Schwestern nicht – sie sind irgendwo in der Ukraine auf Arbeitssuche.
die Missionarstätigkeit an der Front ausbilden lassen. In gut dreißig ukrainisch kontrollierten Städten entlang der Front wurden neue Kirchenzentren aufgebaut. Sogar eine Rockband namens Frohe Botschaft tourt entlang der Front, um inmitten von Zerstörung und Gewalt die christliche Kunde zu verbreiten: „Wir gehen dorthin, wo der Schmerz ist / um seine Liebe zu offenbaren / wo zerbrochene Herzen sind / und seine Hand uns führt!“, lautet einer ihrer Refrains. Übergang vom ukrainisch kontrollierten Gebiet ins Separatistengebiet, Nulllinie Es ist früher Morgen, am ukrainischen Checkpoint zum Separatistengebiet warten hunderte Menschen unter provisorisch aufgestellten Holzdächern. Der nächtliche Nebel kriecht noch über den Boden, es nieselt. Auf einem Feld nebenan sind Strommasten unter Beschuss zusammengesackt. Die Regierungssoldaten haben ein hölzernes Kreuz aufgestellt und leere Granatenhülsen auf die Querbalken geklebt. 90
Wenige Autominuten später folgt der Kontrollposten der Separatisten: eine Panzersperre, eine Puppe mit Gasmaske hebt die Hand wie zum Gruß. Ein Separatist in einem langen militärgrünen Cape und mit Kalaschnikow steckt den Kopf zum Autofenster herein. Pässe, Journalistenausweise, ein flüchtiger Blick in den Kofferraum, ein flotter Spruch. „Na, im Auftrag von Petro Poroschenko unterwegs?“ Er lacht und winkt uns durch. Der Weg führt vorbei an zerschossenen Straßenschildern und ausgebombten Häusern. Die Straßen sind gut, sie wurden für die Fußball-Europameisterschaft 2012 erneuert. Schließlich reihen sich immer dichter Kohleschächte und Häuser aneinander, bald tauchen die ersten Wolkenkratzer auf: Donezk. „Mein Blut, my blood / ist wie eine Knolle auf dein Maul“, rappt Roman auf Russisch in die Kamera. „Wir heben den Schutzschild / schützend zum Herzen, schützend zum Herzen.“ – Ein scheppernder Beat, während Roman und Ilja alias „Sargtischler“ und „Papyrus“ in Trainingsjacke, Turnschuhen und Sturmhaube über die aufgegrabene
n-ost Reportagepreis 2 017 • RECHERCHEPREIS OSTEUROPA
Disco in Kurahove, 50 km westlich von Donezk
Junger Mann in Marinka
Kindern ohne Beine, Samples mit Kalaschnikows im Dauerfeuer. Eine Mischung aus Gewalt, Machotum, viel Unsinn und „Mat“, dem endlosen Schimpfwortrepertoire der russischen Vulgärsprache. Der Krieg ist nicht das Thema, aber so etwas wie die Kulisse, das Hintergrundrauschen oder die Erde und durch verlassene zerschossene Wohnblö- dunkle Sonne, um die sich dieses Hip-Hop-Univercke tänzeln. „Hardcore-Rap“ nennen sie und ihr sum dreht. Fast so, als wäre der Krieg immer schon Manager und Texter Sascha diesen düsteren Hip- da gewesen. Eine Selbstverständlichkeit wie die Luft Hop. Ihre ersten Studiotracks haben sie unter dem zum Atmen, das Wetter oder der Luftdruck. Namen Gush auf Vkontakte, dem russischen Facebook-Pendant, hochgeladen. Mehr als 50.000-mal Lesen Sie die vollständige Reportage in Datum, wurde das Video schon auf Youtube angeklickt, das 12/2016. sie im Frühjahr aufgenommen haben, vor der Kulisse der vernarbten Vorstädte von Donezk. Tristesse aus dem Kriegsgebiet statt Ghettofeeling aus der Bronx. Begonnen haben die heute 19-Jährigen vor zwei, vielleicht auch zweieinhalb Jahren, wer weiß das schon so genau, „es war jedenfalls Krieg“, sagt Roman. Der Krieg selbst aber habe keinen Platz in ihrer Kunst, „zu banal“. Es gehe mehr um Wortspiel, Flow und Attitüde, sagt Sascha. Doch wer sich durch die Tracks hört, sich durch die Videoaufnahmen klickt und die Texte gräbt, merkt: Der Krieg ist überall. Blut, Explosionen, Schreie. Geschichten von herausgeschnittenen Körperteilen, Minen und 91
n-ost Reportagepreis 2017 • SHORTLIST
Shortlists 2017 Shortlist aus 85 eingereichten TEXTREPORTAGEN:
Inga Lizengevic: Drei Länder. Meine dreifach gespaltene Persönlichkeit, SWR, 18.12.2016
Patrick Bauer: Geboren auf der Flucht, SZ-Magazin, 23.12.2016
Elisabeth Putz: Die Alltäglichkeit des Unsichtbaren, DLR Kultur / ORF / RBB, 28.05.2016 (NOMINIERT)
Alice Bota: Dieser Mann will ins Gefängnis, Die Zeit, 09.06.2016 (PREISTRÄGERIN)
Andrea Rehmsmeier: Unter dem Brennglas, DLF, 08.11.2016
Roman Deininger: Stolz und Vorurteil, Süddeutsche Zeitung, 11.06.2016 (NOMINIERT)
Rainer Schildberger: Ingredients of democracy. Der Traum von einem neuen Griechenland, RBB-Hörfunk, 08.06.2016 (NOMINIERT)
Daniela Gassmann und Cathrin Schmiegel: Notquartier, Süddeutsche Zeitung, 10.09.2016
Heike Tauch: Bürger zweiter Klasse. Eine neu-deutsche Familie, DLF, 15.11.2016 (PREISTRÄGERIN)
Felix Hutt: 71 Leben, Stern, 04.08.2016 (NOMINIERT)
Shortlist aus 26 eingereichten FOTOREPORTAGEN:
Kilian KirchgeSSner: Königin der Früchte, Reportagen, 7/2016
Jonas Fischer: Das Staatsschauspiel, Taz, 09.01.2016
Stefan Klein: Endstation, SZ-Magazin, 06.05.2016
Hannes Jung: How is life?, Emerge, 22.12.2016 (PREISTRÄGER)
Marina Kormbaki: „Ich verstehe nicht, was Gott von mir will“, Sonntag, 02.04.2016
Dmitrij Leltschuk: Der große Kampf eines kleinen Volkes, Geo, 05/2016
Max Rauner: Wo ist Erling M. Haaland?, Zeit Wissen, 16.08.2016
Evgeny Makarov: Datscha. Sehnsuchtsort der Russen, Neue Zürcher Zeitung, 22.08.2016
Claas Relotius: Königskinder, Der Spiegel, 09.07.2016
Pierpaolo Mittica und Kim Lucia Ruoff: Leben im Sperrgebiet, SZ-Magazin, 25.12.2016
Franziska Tschinderle: Die gute Frau von Moldau, Datum Magazin, 11/2016
Lena Mucha: Teens mit Panzerfaust, Der Spiegel, 10.12.2016
Shortlist aus 32 eingereichten RADIOREPORTAGEN:
Anastasia Rudenko: Paradise, Fluter.de, 19.02.2016 (NOMINIERT)
Johanna Bentz: Freiwillige Abschiebung, SWR2 / ARD Radiofeature, 23.11.2016
Jakob Schnetz: Kalter Frieden, Hant, 11.06.2016 (NOMINIERT)
Anna Frenyo: Der Zaun. Ungarn macht die Grenzen dicht, SWR2, 13.01.2016 Katja Garmasch: Kämpferinnen in der Ostukraine, WDR 5, 09.09.2016 Andreas Kebelmann und Robert Schmidt: Grenzen. Ungarn 1956, 1989, 2016, SWR2 / ORF, 23.10.2016 92
Miriam Stanke: Till the Last Day, Vice, 01.08.2016
Agata Szymanska-Medina: Die letzten Köhler, Der Spiegel, 18.06.2016 Nikita Teryoshin: Nothing Personal, Vice, 28.09.2016
n-ost Reportagepreis 2 017
n-ost bringt Journalisten, Osteuropa-Experten und Medieninitiativen aus über 40 Ländern zusammen. Seine Mitglieder verbindet ein europäischer Blick und das Interesse, die Berichterstattung aus und über Osteuropa zu stärken.
Qualität im Journalismus möglich machen: Den Qualitätsjournalismus und rechercheaufwändige Formate wie Reportagen stärkt n-ost durch die Organisation von Journalistenreisen, die Vergabe von Stipendien und die jährliche Verleihung des n-ost-Reportagepreises.
Gemeinsam stärker: Die Mitglieder des Netzwerks setzen sich ein gegen Journalisten vernetzen und weiterbilden: wirtschaftliche, gesellschaftliche oder politische Journalisten in Ost und West bietet n-ost Trainings, Einschränkungen journalistischer Arbeit. Gemein- Vernetzung und Recherchemöglichkeiten – etwa sam haben sie die Möglichkeit, auf eine faire Ver- auf der n-ost-Medienkonferenz, die jährlich in gütung hinzuwirken, zusätzliche Ressourcen für wechselnden osteuropäischen Städten stattfindet. aufwändige Recherchen zu erschließen und sich Das Informationsfreiheitsprojekt Legal Leaks zeigt Journalisten, wie sie ihre gesetzlich verankerten Ausgegenseitig zu qualifizieren. kunftsrechte gegenüber Behörden für ihre RecherNeue Bilder, Texte und Töne aus Osteuropa: che einsetzen können. (>>> www.legalleaks.info) Der Artikel- und Radiodienst von n-ost beliefert Zeitungen und Hörfunkanstalten, Stiftungen und Für unabhängigen Auslandsjournalismus: Unternehmen. Zusätzliche Akzente in der Bericht- Mit medienpolitischen Veranstaltungen, Publikatierstattung über Osteuropa setzt n-ost mit seinem onen und Stellungnahmen engagiert sich n-ost für Online-Magazin ostpol.de. Es bietet Lesern und einen aufgeklärten Auslandsjournalismus. Abonnenten hintergründige Reportagen, aktuelle Berichte, Foto-Strecken und spannende Multime- www.n-ost.org dia-Formate. (>>> www.ostpol.de) Für eine europäische Öffentlichkeit: Täglich verfolgt n-ost die großen Debatten in den Medien Europas und übersetzt die wichtigsten Kommentare in vier Sprachen – mit der Presseschau euro|topics, die n-ost im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung produziert. (>>>www.eurotopics.net)
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n-ost Reportagepreis 2 017 • IMPRESSUM
Impressum Herausgeber: n-ost Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung Alexandrinenstraße 2-3, Aufgang C 10969 Berlin Tel + 49-30-259 3283 0 Fax + 49-30-259 3283 24 www.n-ost.org Projektleitung: Salome Ast Bildredaktion: Stefan Günther Anna Digovec
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WIR DANKEN UNSEREN FÖRDERERN
n-ost reportagepreis 2017
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