n-ost Reportagepreis 2018

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WIR DANKEN UNSEREN FÖRDERERN


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n-ost REPORTAGEPREIS 2 018 • VORWORT

VORWORT Gute Geschichten brauchen Zeit – der Jahrgang 2018 des n-ost-Reportagepreises zeigt das in besonderer Weise. Unsere Nominierten und Gewinner haben sich diese Zeit genommen: Sie haben sich gründlich auf ihre Recherchen vorbereitet, lange Anreisen auf sich genommen, umfassend vor Ort recherchiert, sie sind immer wieder hingefahren, haben in Ruhe nachbereitet und reflektiert. Ihre Reportagen bieten einen Gegenentwurf zum schnellen, tagesaktuellen Journalismus, der uns ständig umgibt. Sie eröffnen einen Langzeitblick auf aktuelle Themen und bringen langfristige Entwicklungen ans Licht, die sonst gar nicht in die Medien gelangen. Nehmen nun Sie sich die Zeit, um auf den folgenden Seiten die insgesamt neun nominierten Reportagen in den Kategorien Text, Radio und Foto kennenzulernen: Begleiten Sie die Autoren auf ihren Reisen – per Minibus, Boot und auf einem sechsstündigen Fußmarsch bis in ein albanisches Bergdorf, mit dem Klinikzug „Heiliger Lukas“ durch Krasnojarsk, zu den letzten Heiden Europas und in die Isolation einer sibirischen Strafkolonie für Frauen. Lesen Sie vom Schwebezustand, in dem die Menschen auf beiden Seiten der Frontlinie in der Ostukraine leben und von den Folgen des Krieges für Kinder und Jugendliche. Von den mühsamen Errungenschaften eines Rollstuhlfahrers in St. Petersburg, von den Konsequenzen einer rückwärtsgewandten Kultur- und Geschichtspolitik in Gdansk und von dem Selbstversuch, als Oligarch in Armenien zu reüssieren.

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Wir danken allen Autorinnen und Autoren sowie den Redaktionen für die Einsendung einer neuen Rekordzahl von insgesamt 162 Reportagen. Herzlichen Dank unseren Vorjurys und Jurys für ihr kompetentes Urteil, der Fazit-Stiftung und der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit für die Unterstützung und unseren Partnern Renovabis und Diakonisches Werk Württemberg für die gute Zusammenarbeit. Viel Vergnügen bei der Lektüre!

Salome Ast, Projektleitung


n-ost REPORTAGEPREIS 2 018 • INHALT

INHALT

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TEXTREPORTAGE

RADIOREPORTAGE

FOTOREPORTAGE

RECHERCHEPREIS OSTEUROPA

06 07 08 16 24

38 Vorjury 39 Jury 40 Preisträgerin 42 Nominierte 44 Nominierter

49 Jury 50 Preisträger 62 Nominierte 66 Nominierter

73 Preisträger 2018 74 Preisträger 2017

Vorjury Jury Preisträger Nominierter Nominierter

80 Shortlist 81 Über n-ost 82 Impressum

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Textreportage Benjamin Bidder Jens Mühling Michael Obert

Sascha führt ein bisschen Krieg | Kleines Volk. Großer Glaube | Auf der dunklen Seite der Ehre

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✍ TEXTREPORTAGE VORJURY

ULRIKE BUTMALOIU Dozentin und Journalistin

KATHRIN KLETTE Redakteurin, Neue Zürcher Zeitung

KNUT KROHN Redakteur, Stuttgarter Zeitung

STEFAN SCHOCHER Reporter und Redakteur, Kurier

SONJA VOLKMANN-SCHLUCK Journalistin und Referentin beim Deutschen Presserat

ANKE ZEITSCHEL Lektorin, Rotkel Textwerkstatt

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Fotos: privat (6)

TEXTREPORTAGE JURY

CHRISTIAN BÖHME

WERNER D’INKA

HENRIK KAUFHOLZ

Redakteur, Der Tagesspiegel

Herausgeber, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Redakteur, Politiken

UWE NEUMÄRKER

BARBARA OERTEL

CHARLOTTE WIEDEMANN

Direktor, Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas

Redakteurin für Osteuropa und Leiterin des Auslandsressorts, Taz

Freie Autorin und Kolumnistin

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TEXTREPORTAGE PREISTRÄGER

✍ SASCHA FÜHRT EIN BISSCHEN KRIEG VON BENJAMIN BIDDER Spiegel Online‚ 05.02.2017 Alexander Medwedew ist hartnäckig. Das muss der junge St. Petersburger, der seit seiner Geburt im Rollstuhl sitzt, auch sein in Russland – einem Land, das Menschen mit Beeinträchtigungen noch bis vor kurzem zur Unsichtbarkeit verdammte. Bei seinen Versuchen, mit den Widrigkeiten des Alltags fertig zu werden, wird Alexander von Benjamin Bidder begleitet. Er lässt den Leser teilhaben an den mühsam errungenen Erfolgen seines Protagonisten im Kampf für mehr Würde und ein selbstbestimmtes Leben. Es gibt sie also doch, die guten Nachrichten aus Russland. Dieser Text macht Lust auf mehr davon. Barbara Oertel, Redakteurin für Osteuropa und Leiterin des Auslandsressorts der Taz

Benjamin Bidders Reportage ist ein Auszug aus seinem Buch „Generation Putin. Das neue Russland verstehen“, erschienen in der Deutschen Verlags-Anstalt am 12. September 2016.

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Foto: Yevgeny Kondakov

BENJAMIN BIDDER Benjamin Bidder (*1981) ist bei Bonn aufgewachsen und im Jahre 2001 für alle Familienmitglieder überraschend, ihn selbst eingeschlossen, als Zivi nach Russland aufgebrochen – und nie wieder richtig weggekommen. In Bonn, Mannheim und Sankt Petersburg studierte er Volkswirtschaftslehre und absolvierte nebenbei eine journalistische Ausbildung. Danach war er sieben Jahre Korrespondent für die Spiegel-Gruppe in Moskau. Seit Herbst 2016 ist Benjamin Bidder zurück in Deutschland als Redakteur im Wirtschaftsressort von Spiegel Online. Für seine Reportage hat er den Rollstuhlfahrer Sascha wiedergetroffen, den er vor 15 Jahren während des Zivildienstes kennenlernte. Dessen Beispiel zeigt: Wandel braucht Geduld. 9


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SASCHA FÜHRT EIN BISSCHEN KRIEG

von Benjamin Bidder Als Sascha zur Welt kam, waren viele Russen dafür, Behinderte wie ihn liquidieren zu lassen. Doch Russlands Gesellschaft wandelt sich, und Sascha kämpft sich Schritt für Schritt voran – hin zu einem selbstständigen Leben.

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m Rand von Sankt Petersburg, an einer stillen Straße, die den seltsamen Namen Saitschij Projesd („Hasendurchfahrt“) trägt, steht ein einziges bewohntes Gebäude, ein vier Stockwerke hoher Riegel aus grauem Beton. Die Einrichtung trägt seit Sowjetzeiten einen sperrigen Namen: „Psychoneurologisches Internat Nr. 3“, kurz PNI 3. Vielen Anwohnern der umliegenden Plattenbauten ist ein anderer Begriff geläufiger, sie nennen es Psychuschka, „die Klapse“. In dem Betonblock wohnen so viele Menschen wie in einem mittleren Dorf. In SechsBett-Zimmern, die sich längs der langen Korridore aufreihen, leben 1.080 Menschen. Einer davon ist Alexander Medwedew, den alle mit seinem Kosenamen Sascha rufen. „Meine erste Kindheitserinnerung ist diese: Ich bin fünf oder sechs Jahre alt und lebe in dem

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Kinderheim. Ich habe geträumt, dass ich laufen kann. Ich wache auf, will aufstehen und falle hin. Ich frage, warum, und jemand sagt mir, dass ich nicht laufen kann. Ich frage, wieso, und jemand sagt mir: So bist du geboren.“ Bevor Sascha mit 18 in das PNI verlegt wurde, lebte er in einem Kinderheim. Seine Freunde dort erzählten sich Schauergeschichten über das Erwachsenenheim PNI. Die meisten davon waren wahr. Mehr als 500 solcher Internate gibt es in Russland. 148.000 Menschen leben darin, Erwachsene mit Behinderung, geistig Kranke, aber auch Alte, die sich aus Einsamkeit und Verzweiflung selbst eingewiesen haben. Die meisten der geschlossenen Einrichtungen wurden während der Sechzigerjahre gebaut, an den Rändern der Städte. Gut verborgen vor den Blicken der Öffentlichkeit.


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Sie öffnen sich nur langsam. Doch hinter den Mauern des PNI Nr. 3 zeigt sich auch, wie die russische Gesellschaft nach sieben Jahrzehnten Kollektivismus den einzelnen Menschen langsam ins Zentrum rückt: Oft stockend, manchmal widerstrebend, aber doch ist Fortschritt spürbar. Als im Jahr 2001 zum ersten Mal Mitarbeiter des deutsch-russischen Vereins Perspektivy die Arbeit im Trakt an der Hasendurchfahrt aufnahmen, teilten sich hundert Bewohner eine Toilette, bis zu 20 ein Zimmer. Heute sind es nur noch sechs.

nötigen Schritte unternehmen“, also beispielsweise prüfen, ob die Stadt den Seitenstreifen vor dem Heim nicht doch endlich durch einen für Rollstühle geeigneten Bürgersteig ersetzen kann. Die erste Antwort auf Saschas Eingabe war höflich gehalten, inhaltlich aber ernüchternd: Die Stadt beschied dem „sehr geehrten Alexander Andrejewitsch Medwedew“, bedauerlicherweise sei die Straßenbauplanung abgeschlossen, ein Ausbau der Hasendurchfahrt nicht vorgesehen, „bis zum Jahr 2022 einschließlich“. Sascha hat nachgehakt. Der letzte Bescheid fiel günstiger aus: Ab dem Jahr 2017 sei der Bau eines zusätzlichen Fußgängerwegs neben der Fahrbahn Sascha ist, den Umständen möglich. zum Trotz, ein Optimist Sascha ist ein zuversichtlicher Mensch, obwohl er unter widrigen Umständen groß geworden ist. Die Gesellschaft, in die er hineinDie Mahlzeiten aßen die Bewohner aus geboren wurde, wusste nicht viel anzufangen Blechnäpfen, viele verließen nicht einmal dafür mit Menschen wie ihm. Als die Sowjetunion ihre Betten. Starb einer von ihnen, wurde er zusammenbrach, waren 32 Prozent der Rusdurch die langen Korridore getragen, dann die sen der Meinung, Menschen wie ihn sollte Rampe am Hinterausgang hinunter zu einem man besser „liquidieren oder von der Gesellniedrigen Schuppen, der Leichenhalle. Die Be- schaft abschotten“. Als Sascha vor einem Vierwohner gaben ihr den Namen „Schokoladen- teljahrhundert auf die Welt kam, war sein haus“. Der Tod erschien vielen süß im Vergleich Gehirn minutenlang nicht ausreichend mit zum Alltag im Heim. Doch die Dinge sind in Sauerstoff versorgt. Das hatte eine „geistige Bewegung geraten. Rückständigkeit mittleren Grades“ zur Folge Auf Saschas Beinen, die ihn nicht tragen und eine „infantile Zerebralparese“, eine Bewewollen, liegt sein Laptop. Darauf tippt er die Be- gungsstörung. So haben es Ärzte in seine Akte schwerdebriefe, mit denen er gegenüber den Be- geschrieben. Seine Mutter verstieß ihn. Vor dem hörden Rechte geltend macht, seine eigenen und Fall des Eisernen Vorhangs war es üblich, dass die seiner Mitbewohner. Er beendet seine Schrei- sich russische Eltern von ihren behinderten Kinben mit der Bitte, der Behördenchef möge „alle dern gleich nach der Geburt lossagten. Es gibt 11


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im Russischen einen eigenen Begriff für diese Kinder: Otkasniki, die Abgelehnten. Grund für die Trennung war manchmal eine schwierige Familiensituation, das Fehlen von Aufzügen in den Mietskasernen oder das Drängen der Ärzte. Sascha ist Vorsitzender des Bewohnerrats, die anderen im PNI haben ihn gewählt. Seine Freunde haben ihm einen Spitznamen gegeben. Sie nennen ihn „den Diplomaten“. Er sagt, oft gehe es zwei Schritte vor und dann wieder einen zurück. Bedauerlicherweise sei es gelegentlich aber auch umgekehrt: ein Schritt vor, zwei zurück. Der Bewohnerrat hat nur beratende Funktion, keine Macht, dank Saschas diplomatischem Geschick aber etwas Einfluss. Eines der drängendsten Probleme der Heimbewohner war die Sache mit den Aufzügen. Die meisten Internate

mürrischen Liftführern bedient. Die Bewohner baten um Verlängerung, das Heim verwies auf knappe Kassen. Sascha hat einen Kompromiss ausgehandelt: Wer später heimkehrt, kann per Handy einen Liftführer nach Bedarf anfordern. Sascha wirbt dafür, das Modell der Bewohnerräte auf andere Internate auszuweiten. Einmal im Monat lädt ihn der Verein Perspektivy zum Gedankenaustausch ein. Sascha streift dann ein weißes Hemd mit Kragen über. Neben ihm sitzen Aktivisten, Anwälte und Angehörige von Heimbewohnern. Gegenüber nehmen PNI-Direktoren sowie Mitarbeiter aus der Stadtverwaltung Platz. Die Juristen des Vereins werben dafür, den Heimbewohnern freizustellen, wofür sie ihr Erspartes ausgeben wollen. Bislang könnten sie nicht einmal am Geburtstag „ein paar Flaschen Cola für ihre Freunde kaufen“. Die Heimleiter kontern mit dem Verweis, ihre Schützlinge „Auch ein Mensch mit seien gar nicht in der Lage, mit Behinderung sollte ein Recht Geld umzugehen. Sie würden auf Dummheit haben“ „gleich alles für Cola auf den Kopf hauen“. Eine Anwältin erwidert spitz, „auch ein Mensch sind noch heute geschlossene Anstalten. Bewoh- mit Behinderung sollte ein Recht auf Dummheit ner dürfen sie nur mit besonderen Passierschei- haben“. Ein PNI-Direktor stöhnt, er habe den nen der Verwaltung verlassen. Eindruck, „dass ihr als Nächstes mit unseren Im PNI Nr. 3 an der Straße, die Hasen- Leuten in den Kosmos fliegen wollt“. durchfahrt heißt, steht es dagegen allen SchützDie Direktoren und Beamten sind Belingen des Vereins Perspektivy prinzipiell frei, denkenträger, die Aktivisten manchmal zu stürdas Gelände zu verlassen und zurückzukehren, misch. Streit entzündet sich an großen Problewann es ihnen beliebt. Die Wohntrakte aber men genauso wie an kleinen, es geht ums Prinzip. liegen auf den oberen Geschossen, die rollstuhl- Die einen wollen so viel Freiheit wie möglich, gerechten Aufzüge werden nur bis 17 Uhr von die Heimleiter nicht mehr Risiko, nicht mehr

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Experimente als nötig. Sie haben Karriere gemacht in Apparaten, in denen derjenige als guter Manager gilt, der souveräner als andere so tut, als gebe es in seinem Bereich keine Probleme. Wer als Heimleiter über Missstände klagt, riskiert unangekündigte Überprüfungen. Wer Freiräume zulässt, setzt sich dem Vorwurf aus, die Kontrolle zu verlieren. Sascha hat im PNI Nr. 3 an der Hasendurchfahrt über Nacht die Batterien seines elektrischen Rollstuhls aufgeladen und sich am Morgen auf den Weg gemacht in das 30 Kilometer entfernte Stadtzentrum von Sankt Petersburg: 15 Minuten im Rollstuhl entlang der Hasendurchfahrt, 20 Minuten in einem der neuen Linienbusse mit Rollstuhlrampe, schließlich eine halbe Stunde Fahrt mit der Elektritschka, der ratternden russischen Vorortbahn. Wenn die Gesellschaft nicht zu ihm kommt, muss er eben zur Gesellschaft, so sieht Sascha das. Sascha ist fast immer allein unterwegs. Er will den Eindruck vermeiden, er könnte abhängig sein von einem Begleiter: „Ich habe beschlossen, mein Leben in die eigenen Hände zu nehmen.“ Wo seine eigenen Hände nicht ausreichen – bei Stufen zum Beispiel –, bittet er um die von Passanten. Er spürt dann zwar die überraschten Blicke. Aber er lässt sich nichts anmerken, schon gar nicht seine eigene Aufregung. „Du musst ruhig auf die Leute zugehen“, sagt Sascha. „Wenn du selbst Angst hast, spüren sie das und fürchten sich vor dir. Du darfst keine Angst haben.“ Den Unsicheren erklärt er, wie sie seinen Rollstuhl über den Bordstein wuchten oder eine Treppe hinab. U-Bahn-Fahren ist eine Herausforderung. Sankt Petersburg liegt im Mündungsdelta der

Newa, der Boden ist sumpfig, das Metronetz deshalb eines der tiefsten der Welt. Die Rolltreppen sind steil und bis zu 140 Meter lang. Die Stadt hat gelbe Plattformen angeschafft, die Rollstühle über die Rolltreppen befördern können. Die Plattformen müssen aber von Metro-Mitarbeitern bedient werden. Als Sascha das erste Mal vor der Rolltreppe auftauchte, bekam er zu hören, sein Ausflug in die Stadt sei ohnehin viel zu gefährlich. Sie würden ihm die Plattform natürlich bereitstellen, sofern er mit einem Begleiter wiederkäme. Sascha ist daraufhin jeden Morgen zur gleichen Metro-Station gefahren, ohne Begleiter, und hat um die gelbe Plattform gebeten. „Ein bisschen Krieg führen“ nennt er seine Zermürbungstaktik. Drei Wochen haben ihn die Metro-Leute auflaufen lassen, dann waren sie es leid. Inzwischen stehen sie schon bereit, wenn sie Sascha in seinem Rollstuhl von weitem sehen. Die Russen sind unbefangener geworden im Umgang mit Menschen, von deren Existenz ein großer Teil der Bevölkerung vor einem Vierteljahrhundert praktisch nichts wusste. Jeder zweite Russe hätte heute nichts dagegen, wenn in der Klasse seiner Sprösslinge gleichzeitig Kinder mit Behinderung unterrichtet werden, gerade einmal fünf Prozent wären dagegen. In Umfragen wird auch immer noch gefragt, wer der Meinung sei, dass Menschen mit Behinderung am besten „liquidiert“ werden sollten oder „von der Gesellschaft isoliert“. 2015 spielten beide Varianten mit zwei beziehungsweise vier Prozent fast keine Rolle mehr. Die Behörden von Sankt Petersburg haben es zu ihrem Ziel erklärt, die großen PNI-Heime 13


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Schritt für Schritt zu schließen. An ihre Stelle sollen kleinere Einheiten mit 50 bis 75 Bewohnern treten, Einrichtungen „familienähnlichen Typs“, so nennen die Beamten das. Die Stadt hat begonnen, neue Tageszentren zu eröffnen. Dort werden Kinder mit Behinderung betreut, während die Eltern weiter arbeiten gehen können. Sie sind – sofern sie sich ein Leben mit einem behinderten Kind grundsätzlich vorstellen können – nicht mehr wie früher gezwungen, ihr Kind allein schon deshalb in ein Heim abzuschieben, um den Rest der Familie ernähren zu können. Die Stadt hat die finanzielle Unterstützung hochgefahren, pro Monat zahlt Sankt Petersburg 12.000 Rubel, umgerechnet sind das rund 200 Euro. Das ist viel Geld, das Durchschnittseinkommen liegt bei 43.000 Rubel. Sascha hat sich bei der Sberbank ein Konto einrichten lassen, Russlands größter Bank, und eine Girokarte beantragt. Er geht im Supermarkt einkaufen, besucht Freunde in der Stadt, hat drei Monate einen Computerkurs belegt. Er wolle gern „neue Fähigkeiten entwickeln“, sagt er. Mit jeder Hürde, die er nimmt, weitet sich auch sein Horizont. Er träumt davon, eines Tages aus dem PNI auszuziehen und dem System den Rücken zu kehren, in das er geboren wurde. Über Jahre galt: Wer einmal in ein Heim gekommen ist, verlässt es erst nach dem Tod. Jekaterina, eine Juristin des Vereins Perspektivy, sucht gemeinsam mit Sascha nach einem Schlupfloch aus dem System. Es gibt Beispiele von PNI-Bewohnern, die das Heim verlassen haben, Sascha wäre gleichwohl der erste mit weitgehenden geistigen Einschränkungen und einem Rollstuhl. Die Behörden schrecken davor zurück: Die Stadt 14

hat seinen gemeinsam mit Jekaterina formulierten Antrag abgelehnt, weil die Heimleitung in einem Gutachten schrieb, Sascha sei noch nicht so weit. Er werde überfordert, habe noch immer zu wenig Erfahrung im Umgang mit Geld, drohe bei der erstbesten Gelegenheit von Betrügern übers Ohr gehauen zu werden. Sascha ärgert sich über den Bescheid: Im Heim habe das ja all die Jahre nie jemand mit ihm trainiert. Er hat zweimal gegen die Entscheidung geklagt und beide Male verloren. Sascha tippt weiter Briefe auf seinem Laptop. Er bemüht sich, jeden negativen Bescheid schnell abzuhaken, als Zwischenetappe auf dem Weg zu seinem Ziel: der eigenen Wohnung. In Peterhof, einige Kilometer entfernt vom Heim, hat eine „Trainingswohnung“ eröffnet. Je vier Heimbewohner üben hier, was ein selbstständiges Leben von ihnen abverlangen würde: Kochen, einkaufen, Geld beisammenhalten – ein Projekt von Perspektivy. Die Stadt hat geholfen, einen Sponsor zu finden, der die Wohnungsmiete übernimmt. Drei Monate dauert das Training. Wenn alles klappt, halten die Absolventen am Ende ein Zeugnis in den Händen, das ihnen die Fähigkeit zu einem Leben außerhalb des Heims attestiert. Sascha hat es auf die Warteliste geschafft. Er ist aufgeregt, fürchtet, seine verkümmerte linke Hand könnte ein Problem werden. Es fällt ihm schwer, mit ihr einen Kochtopf zu halten oder nach einer Tasse zu greifen. Er hat deshalb begonnen, sie zu trainieren. Spiegel Online, 05.02.2017


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TEXTREPORTAGE NOMINIERTER

✍ KLEINES VOLK. GROSSER GLAUBE VON JENS MÜHLING Geo, 11/2017 Die Mari? In der russischen Teilrepublik Mari El? Für uns, die Jury, war diese Reportage die erste Begegnung mit einem europäischen Völkchen, das an seiner traditionellen Religion festhält und deswegen als heidnisch geschmäht wird. Jens Mühling berichtet vom Glauben und von den Riten der Kleinbauern mit ebenso viel Genauigkeit wie Behutsamkeit. So meidet er zwei naheliegende Gefahren: Exotisierung und Überheblichkeit. Wer Wälder hat, braucht keine Kirchen – zu einer Zeit, da sich monotheistische Kulturen zu Konfrontationen rüsten, ist der Besuch im Dorf Schorunscha ein lehrreicher Ausflug. Charlotte Wiedemann, Freie Autorin und Kolumnistin

Fotos: Raffaele Petralla und Elena Chernyshova

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Foto: privat

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JENS MÜHLING Jens Mühling (*1976) ist in Siegen geboren und schreibt seit 15 Jahren Artikel und Bücher über Osteuropa. Nach zwei Jahren bei der Moskauer Deutschen Zeitung war er von 2005 bis 2017 Redakteur beim Tagesspiegel. Sein erstes Reportagebuch „Mein russisches Abenteuer“ erschien 2012 und war in der englischen Übersetzung „A Journey into Russia“ für den Dolman Travel Book Award nominiert. Nach der Veröffentlichung

Foto: Jakob Berr

„Schwarze Erde. Eine Reise durch die Ukraine“ arbeitet Jens Mühling derzeit an seinem dritten Buch, diesmal über das Schwarze Meer. Seit seinem Aufenthalt bei den Mari hat der Autor einen anderen Blick auf Bäume: Manchmal ertappt er sich dabei, wie er ihnen im Vorbeigehen freundlich zunickt. 17


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KLEINES VOLK. GROSSER GLAUBE von Jens Mühling Sie beten zu unzählbar vielen Göttern, verehren heilige Bäume, geben Verstorbenen zu essen. Ihre Lebensweise mussten sie einst bis in den Tod verteidigen, heute ringen sie um den Erhalt ihrer Traditionen. Ein Besuch beim Volk der Mari, den letzten Heiden Europas.

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ein Heimatdorf hat Michail Kasanzew nur ein Mal verlassen. Mitte der siebziger Jahre war das, da schickte man ihn zum Militärdienst ins Gebiet Murmansk, gelegen nördlich des Polarkreises. Auf einer Fliegerbasis nahe der finnischen Grenze wurde Kasanzew zum Wetterbeobachter ausgebildet. Er lernte Funkkürzel auswendig, mit denen er den Kampfpiloten durchgab, was sich rund um ihre Maschinen zusammenbraute. Tagsüber dröhnten die MiGs über seinen Kopf hinweg, abends im Casino klopften ihm die Piloten auf die Schulter, sie nannten Kasanzew ihren „Wettergott“. Der Spitzname brachte ihn zum Lächeln. Gerne hätte er den Piloten von seinem Dorf erzählt, wo die Menschen das eine oder andere über Götter wussten. Aber das erzählte man damals besser nicht. Vier Jahrzehnte später kreisen Krähen über dem Friedhof von Schorunscha, den dritten Tag in Folge ist ihr Geschrei bis ins Dorf zu hören. Durch die Wipfel der Friedhofsbirken stürzen

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sie hinab zu den Gräbern, die übersät sind mit Stücken von Äpfeln, Bananen, Tomaten, Gurken, Käse und Wurst, dazwischen stehen gefüllte Schnapsgläser. Die Krähen hacken nach dem Essen, sie hacken einander, ihr Krächzen ist ohrenbetäubend. Jedes Jahr im Frühling, wenn die Menschen in Schorunscha ihr Totenfest feiern, bricht auf dem Friedhof ein Krähenkrieg aus. Drei Tage ist es her, dass Michail Kasanzew, der Wettergott, an den Gräbern seiner Eltern stand, ihnen Essen hinstreute und „schusche“ flüsterte, „schusche, schusche“. Auf dem ganzen Friedhof zischten alle das Zauberwort, das in der Sprache der Mari bedeutet: Es komme zu euch. Das Essen? Zu den Toten? Können Tote denn essen? Kasanzew lächelt. „Nur die Götter wissen das.“ Schorunscha liegt auf halber Strecke zwischen Moskau und dem Ural, ein Dorf in der russischen Teilrepublik Mari El. Tausend Einwohner, 230 Häuser, drei lange Straßen, sieben kürzere, vier Läden, eine Schule, eine Kolchose.


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Und viele Götter. Götter, die hier seit Tausend das war zur Zarenzeit so und zur Sowjetzeit und und Abertausend Jahren heimisch sind, weil nie- ist heute kaum anders. mand sie vertreiben konnte, die Christen nicht Michail Kasanzew, der 60 Jahre alt ist, hat und die Kommunisten auch nicht. eingetrübte Reptilienaugen, die einmal grün geDie Mari gelten als die letzten Heiden Eu- wesen sein könnten, sie verschwinden halb unter ropas. Sie zählen etwa eine halbe Million Men- furchigen Lidern und den tief darüberhängenden schen und sind weitläufig verwandt mit den Stirnfalten. Die gleiche zerklüftete GesichtsarchiFinnen und Ungarn. Das hört man ihrer wun- tektur hatte sein verstorbener Vater, auf einem derlichen Sprache ebenso an wie die Nachbarschaft zu den muslimischen Wolga-Tataren, von denen die Mari vieKönnen Tote denn essen? le turksprachige Wörter übernommen haben. An der Seite der Tataren kämpfDas wissen nur die Götter ten sie lange gegen die Russen, bis Iwan der Schreckliche im 16. Jahrhundert beide Völker unterwarf. So kamen die Mari später als die meisten Untertanen des Zaren Foto im Wohnzimmerregal ist die Ähnlichkeit zu mit dem Gott in Berührung, den die Russen für erkennen. Die Furchen und die Gebete, beides den einzigen hielten: Christus. Sein Bildnis ziert hat der Vater dem Sohn mitgegeben. eine Ecke in Michail Kasanzews Wohnzimmer. Der Vater war das, was die Mari einen Ona„Es ist nur ein Bild“, sagt der Wettergott über die jeng nennen. Einen, der mit den Bäumen spricht. Kreuzigungsikone, „es bedeutet nichts.“ Viele Mehr noch: Wäre der Vater nicht gewesen, wüssMari haben christliche Heiligenbilder in ihren te heute in Schorunscha vielleicht niemand mehr, Häusern. Ein paar Götter mehr oder weniger, da- dass die Götter zuhören, wenn der Onajeng mit rauf kommt es hier nicht an. den Bäumen spricht. Kasanzews Haus, das wie die meisten in Am vierten Tag nach dem Totenfest, als über Schorunscha aus Baumstämmen gefügt ist, liegt den leergefressenen Gräbern das Krähengeschrei am Ostufer der Schora, jenes schmalen Flusses, abklingt, steigt Rauch aus einem Waldstück am der dem Dorf seinen Namen gibt. Über den Hof Dorfrand auf. Ein paar Dutzend Menschen hatrippeln Gänse und Hühner, ein Gemüseacker ben sich am Fuß einer hohen Linde versammelt, gehört zum Grundstück, im Stall stehen Kühe einer nach dem anderen nähern sie sich einem und Schafe. Kasanzew ist seit ein paar Jahren Mann mit einem hohen, weißen Filzhut. „Um Rentner, aber auch vorher, als die Kolchose ihm was bittest du, Sina?“ „Um die Kuh meiner noch ein mageres Maurer- und Hirtengehalt Schwester. Den dritten Tag hat sie nichts gefreszahlte, lebte er hauptsächlich von der eigenen sen. Liegt nur im Heu und glotzt. Ich bitte dich, Wirtschaft. Fast alle im Dorf sind Kleinbauern, Onajeng, bete, dass die Kuh gesund wird...“ 19


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In der Sprache der Mari wendet sich der stehen weitere Birken und Linden, vor denen Onajeng an die Linde, die schweigend zuhört, früher einzelne Familien beteten. Die wenigsten während der nächste Bittsteller an ihren Stamm hier tun das heute noch, aber fällen würde die herantritt und der nächste und übernächste, und alten Bäume niemand. Denn über Menschen, alle haben sie eine kranke Kuh, ein Feld, auf dem die für derlei Frevel teuer bezahlten, kursieren nichts wachsen will, einen siechen Vater, eine in Schorunscha die schrecklichsten Geschichten. Frau, die nicht schwanger wird, einen trinken- Die schrecklichste von allen ist die mit der Ente. den Mann, einen Sohn, der heil aus der Armee zurückkehren soll. Eine gute Stunde geht das so, dann knien alle auf Rauch steigt auf, schlängelt sich dem Waldboden nieder. „Komm mit gutem Willen zu uns, um den Stamm der Linde, trägt Agawajrem“, ruft der Onajeng, an die das Saatgebet zu den Göttern. Linde gerichtet, damit der Gott des Feldes es hört. „Wir bringen dir Gaben...“ Was die Menschen dem Feldgott mitgebracht haben, liegt aufgereiht vor der Linde: Es muss kurz vor oder kurz nach seiner GeBrotlaibe, Pfannkuchen, Käse- und Quarkfladen, burt geschehen sein, glaubt Michail Kasanzew, gefärbte Eier, schwarzer Brotsud in Krügen. Von der 1956 zur Welt kam. Genau weiß er es nicht, jeder Gabe lässt der Onajeng ein Stück und ei- sein Vater sprach selten über den Vorfall. nen Schluck ins Feuer wandern. Rauch steigt auf, Es war die Zeit, als die Menschen in Schorunschlängelt sich um den Stamm der Linde, trägt scha nur noch im Verborgenen zu den Bäumen das Saatgebet zu den Göttern. „Möge das Korn gingen, weil die Kommunisten es ihnen verboten hoch aufgehen über den Feldern, das Vieh ge- hatten. Eines Tages, so erzählte es Kasanzews Vater, deihen, das Gras wachsen, der Frost die Felder tauchten bei einem heimlichen Waldgebet drei meiden und der Hagel die Triebe, der Rost die ungeladene Gäste auf. Ihr Wortführer, ein SchulSensen verschonen und die Traktoren...“ lehrer namens Burnajew, trat ans Feuer, brüllte Zwei Arme reichen nicht, um den Stamm Propagandaparolen und trat den Kessel um, in der Linde zu umfassen. Niemand hier kann sagen, dem die Opfertiere kochten. Ein talgiger Sud wie alt sie ist, wie viele Wünsche ihr zugeflüstert aus Entenfett ergoss sich über den Waldboden. wurden in all den Jahren und Jahrhunderten. Sie Die Betenden flohen, die Kommunisten stürmist nicht der einzige heilige Baum in Schorun- ten ihnen hinterher. Als Stille im Wald eingescha. Es gibt andere Waldstücke, in denen sich kehrt war, blieb Kasanzews Vater allein mit dem die Menschen an anderen Feiertagen versammeln, damaligen Onajeng zurück, einem alten Mann vor anderen Bäumen, um anderen Göttern ande- namens Chrisan Jakimow. Der Onajeng griff re Opfer zu bringen. In den Höfen der Häuser sich eine lebende Ente, die noch nicht geopfert 20


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worden war. Er packte das Tier fest um den Hals und hielt es mit dem Unterleib ins Feuer. Während aus der strampelnden Ente langsam das Leben wich, bat Jakimow die Bäume um Gerechtigkeit. Wenige Tage später stürzte der Lehrer Burnajew mitten im Unterricht aus der Schule und rannte quer durchs Dorf zum Flussufer. Wo die Schora am tiefsten ist, ertränkte er sich. „Heute“, sagt Kasanzew, „weiß kein Onajeng mehr, welche Worte es für einen solchen Zauber braucht. Der alte Jakimow wusste es noch, mein Vater schon nicht mehr. Aber die Kraft dafür steckt noch immer in unseren Bäumen.“ Kasanzews Vater muss um die 30 Jahre alt gewesen sein, als sich die Geschichte mit der Ente zutrug. Dass der Vater überhaupt von der Kraft der Bäume wusste, war ein kleines Wunder, denn Kapiton Kasanzew war kein Mari, sondern ein orthodox getaufter Russe. „Er kam 1929 zur Welt, in einem anderen Dorf“, erzählt sein Sohn. „Kurz nach der Geburt starben seine Eltern, man gab ihn in die Obhut einer Familie aus Schorunscha. Er wuchs hier auf und heiratete eine Mari, meine Mutter.“ Etwa um die Zeit, als der Waisenjunge Kapiton Kasanzew nach Schorunscha kam, verjagten die Kommunisten den letzten orthodoxen Priester aus dem Dorf. Seine kleine Holzkirche wurde in einen atheistischen Debattierclub umgewandelt, wo den Mari fortan mehr oder weniger dasselbe gepredigt wurde, wie es vorher der Pope getan hatte: Eure Götter gibt es nicht! Trotz der Propaganda freundete sich Kapiton Kasanzew in seiner Jugend mit Chrisan Jakimow

an, dem alten Onajeng des Dorfs. „Jakimow brachte ihm fast alles bei, was er über den Glauben wusste“, erzählt der Sohn. „Und als es mit ihm zu Ende ging, machte er Vater zu seinem Nachfolger.“ So kam es, dass in Schorunscha ausgerechnet ein getaufter Russe den Heidenglauben der Mari durch die Sowjetzeit rettete. Nicht alle hier macht das glücklich. „Der Mensch soll nicht zur Natur beten“, sagt Vater Leontij, „sondern zum Schöpfer der Natur!“ Erzpriester Otschetow steht vor den Bücherregalen seiner Gemeindebibliothek. Durch ein Fenster ist die orthodoxe Kirche der Erscheinung des Herrn zu erkennen, deren Vorsteher Otsche-

Seine kleine Holzkirche wurde in einen atheistischen Debattierclub umgewandelt tow ist. Der weiß getünchte Kuppelbau steht im Zentrum von Morki, der Rajon-Hauptstadt, die von Schorunscha nur 40 Kilometer entfernt ist, aber die Straße ist so miserabel, dass die Busfahrt mehr als eine Stunde dauert. Leontij Otschetow, ein Mann um die fünfzig, hat wasserblaue Augen, die immer leicht gekränkt wirken, wenn er über die Heiden von Schorunscha spricht. „Es gibt kein anderes Dorf hier, wo die Menschen so stur an ihrem Aberglauben hängen.“ Orthodoxe Literatur in der Sprache der Mari füllt die Bibliothek. Der Priester zieht eine Bibel aus den Regalen und lässt sie krachend auf eine 21


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Tischplatte fallen. „Bei den Heiden wird alles nur mündlich weitergegeben, deshalb betet jeder, wie es ihm gefällt. Wer wirklich glaubt, braucht die Schrift!“ Es ist der Anfang einer langen Litanei. Wie oft, klagt Otschetow, hat er den Heiden erklären müssen, dass Vater, Sohn und Heiliger Geist nicht drei Götter sind, sondern einer? Und wie oft musste er es bei Beerdigungen erleben, dass Trauergäste Essen aufs Grab streuten? „Die Toten brauchen kein Essen, es hungert sie nur nach Gebeten!“, ruft der Priester. Otschetow ist selbst Mari, aber er stammt aus einer christlichen Familie. Schon lange, sagt er, wolle die Kirche die Heiden nicht mehr mit Gewalt bekehren, wie sie es jahrhundertelang erfolglos versucht hat, in jenen dunklen Zeiten, als heidnische Mari-Priester nach Sibirien verbannt und in zaristischen Gefängnissen zu Tode geprügelt wurden. „Wir verurteilen sie nicht mehr“, sagt Otschetow. „Urteilen soll Gott über sie. Aber es schmerzt mich, ihre Verirrung mit anzusehen.“ In Schorunscha gibt es kein orthodoxes Gotteshaus mehr. Die Dorfkirche, ein unscheinbarer Holzbau, dem bei der Umwandlung zum Debattierclub der Glockenturm amputiert wurde, beherbergt heute einen Kulturverein. Schulklassen proben hier Theaterstücke, Folkloregruppen studieren Volkstänze ein, jeden Freitag und Samstag ist Disko, ohne Alkohol, aber mit Anfassen. „Da kommen die jungen Leute und suchen nach Liebe“, sagt die Leiterin des Kulturvereins, eine ältere Dame, die bei diesem Satz ein bisschen rot wird. „Wir brauchen keine Kirchen“, sagt Michail Kasanzew. „Die Wälder sind unsere Kirchen.“ Als er klein war, sah er den Vater regelmäßig in den 22

Wäldern verschwinden, ohne genau zu wissen, was er da tat. Kapiton Kasanzew nahm seine Kinder nicht mit zu den heimlichen Gebeten, er wollte sie nicht in Gefahr bringen. Gegen Ende der Sowjetzeit waren es nur noch die älteren unter den Dorfbewohnern, die mit dem Vater vor den Bäumen knieten. Aber bis zum Ende rissen ihre Gebete nicht ab. Erst in der Perestroika-Ära, als die Sowjetmacht mürbe und das Gesicht des Vaters furchig geworden war, begann Kapiton Kasanzew, den Sohn mit in die Wälder zu nehmen. Er erklärte ihm, wo die heiligen Bäume stehen, wie man mit ihnen spricht, welcher Gott welche Bitten erfüllt. Und bevor der Vater starb, machte er den Sohn zu seinem Nachfolger. Michail Kasanzew ist heute einer von zwei heidnischen Priestern in Schorunscha. Der andere, jener etwas jüngere Onajeng, der ein paar Tage zuvor das Saatgebet gesprochen hat, gehört zu denen, die Priester wurden, als der Volksglaube der Mari in der nachsowjetischen Zeit eine unerwartete Wiedergeburt erfuhr, als sich Lokalpolitiker plötzlich beim Spenden von Opfertieren fotografieren ließen, als Akademiker in Joschkar-Ola, Hauptstadt der Teilrepublik Mari El, die alten Riten und Gebete aufzeichneten und eine neue Onajeng-Kaste entstand, die ihr Handwerk aus Büchern und in Seminarräumen erlernte. Michail Kasanzew ist nicht besonders gut darin, sein Handwerk zu erklären. Vom Vater weiß er, dass man eine Münze zurücklassen muss, wenn man an der Quelle Wasser holt, dass man beim Gebet die Zungen und Augen der Opfertiere verbrennt, dass man sich niemals umdrehen


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darf, wenn man die heiligen Wälder verlässt. Aber warum das so ist, darauf weiß Kasanzew nur eine Antwort: „Weil wir es immer so gemacht haben.“ Es ist der sechste Tag nach dem Totenfest, Kasanzew hat Besuch von seiner Tochter Irina. Beim Essen sprechen die beiden über Oleg, das jüngste von Kasanzews sechs Kindern. Oleg ist 29, er arbeitet als Kranführer in der sibirischen Ölförderstadt Surgut. „Als sie Oleg zur Armee riefen“, erzählt Kasanzew, „schärfte ich ihm ein, sich nicht taufen zu lassen. Gleich bei der Musterung tauchte der erste Pope auf, um die Rekruten zu segnen, aber Oleg ging ihm aus dem Weg. Er ist standhaft, der Junge.“ „Er will Onajeng werden“, sagt Irina, deren Augen plötzlich leuchten. „Er trinkt nicht, raucht nicht, er betet in den Wäldern. Immer fragt er Vater aus, er will alles über die Riten wissen. Bestimmt wird er einmal Onajeng.“ Kasanzews Antwort kommt zögernd. Sein Lächeln verrät einen Vaterstolz, den seine Worte verbergen, es scheint ihn froh zu machen, dass die Baumgebete nicht abreißen werden in Schorunscha. „Oleg ist jung. Wir werden sehen.“ Geo, 11/2017

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TEXTREPORTAGE NOMINIERTER

✍ AUF DER DUNKLEN SEITE DER EHRE VON MICHAEL OBERT Geo, 03/2017 „Das gibt’s doch nicht!“ Wer das ausruft, hat eine große Reportage gelesen. Michael Obert hat eine solche geschrieben, denn „Auf der dunklen Seite der Ehre“ macht uns fassungslos. Blutrache, in Europa, in unserer Zeit! Pal, ein junger Albaner, verlässt aus Angst um sein Leben kaum mehr das Haus – „nicht ins Kino gehen, nicht ins Café, auf der Bank am See kein Mädchen küssen“, wie Obert schreibt. Denn wenn er den Todfeinden seiner Familie in die Hände fällt, bringen sie ihn um. Und dann wäre es wiederum an seinen Verwandten, ihn zu rächen. Obert nimmt uns bei seiner außergewöhnlichen Recherche mit auf die dunkle Seite des Lebens. Werner D’Inka, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Fotos: Birte Kaufmann

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Foto: Matthias Ziegler

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MICHAEL OBERT Michael Obert (*1966) studierte Betriebswirtschaft und machte Karriere als Jungmanager, bis er kündigte und zu einer zweijährigen Reise durch Lateinamerika aufbrach. Anschließend begann er ein neues Leben als Buchautor und Journalist und berichtet vor allem aus Afrika und dem Nahen Osten. Seine vielfach preisgekrönten Reportagen erscheinen unter anderem in Süddeutsche Zeitung Magazin, Die Zeit und National Geographic. Sein Regiedebüt „Song from the Forest“ schaffte es 2016 in die Vorauswahl für die Oscars. In der archaischen Welt des albanischen Dorfes hatte Michael Obert das Gefühl, in einen alten Film geraten zu sein. Im Licht von ein paar Kerzen saß er im Rauch des offenen Feuers und trank mit den Männern Raki. 25


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AUF DER DUNKLEN SEITE DER EHRE

von Michael Obert Pal Ndrevataj ist 19 Jahre alt. Seit 14 Jahren hat er das Haus nur selten verlassen. Er geht nicht zur Schule, er küsst kein Mädchen, er wird nie arbeiten. Sollte er die Straße betreten, würde er ermordet werden – so wie er morden würde. Dies ist Pal Ndrevatajs Geschichte.

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m Halbdunkel des stickigen Zimmers erwacht der Junge mit den großen braunen Augen für einen Moment aus seinem Dämmerzustand und sagt: „Sie wollen mein Blut. Früher oder später werden sie mich kriegen.“ Seit seinem fünften Lebensjahr ist Pal Ndrevataj im Haus seiner Familie eingesperrt. Würde der 19-Jährige auf die Straße treten – er riskierte, auf der Stelle erschossen zu werden. Aus Angst um sein Leben kann Pal keine Schule besuchen, nicht studieren, nicht arbeiten. Nicht ins Kino gehen, nicht ins Café, kann auf der Bank am See kein Mädchen küssen. In einem Vorort von Shkodra, zwei Autostunden nördlich der albanischen Hauptstadt Tirana, träumt Pal davon, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Aber wie soll er je eine Frau finden? Welcher Vater würde einem wie ihm, einem Gejagten, einem Todgeweihten, seine Tochter geben? Pals Unglück: Im Februar 2000 erschoss ein Onkel im Streit einen Nachbarn. Im Norden

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Albaniens gilt der „Kanun“, ein Gewohnheitsrecht aus dem Mittelalter, aus dem sich bis heute zahlreiche Pflichten ergeben – darunter „Gjakmarrja“: Blutrache. „Blut für Blut“, lautet die tödliche Regel des Kanun. Nach diesem Sühneprinzip sollen Familien ihre Opfer rächen, indem sie den Mörder oder seine männlichen Verwandten töten. Das Räderwerk des Todes wütet über Generationen und kann ganze Sippen auslöschen. Seit 1991 wurden in dem südosteuropäischen Land durch Blutrache mehr als 10.000 Menschen getötet. Laut dem albanischen Komitee der Nationalen Aussöhnung sollen heute über 1.000 Großfamilien in Blutfehden verstrickt sein. Pal Ndrevataj gehört zu jenen schätzungsweise 1.500 Kindern und Jugendlichen, die aus Angst vor Rachemorden in ihren Häusern eingesperrt sind. Drei von Pals Onkeln wurden schon erschossen. Er selbst und seine fünf Brüder könnten die nächsten Opfer der Rächer sein. Nur im


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Haus, laut Kanun ein unantastbarer Schutzraum, Eine harmlose Situation; doch aus Spaß wird sind sie sicher. Sie führen ein Leben im Stillstand. Streit. Gjin zieht einen Revolver und hält ihn Nur einen einzigen, selten genutzten Aus- Pllumb an die Schläfe. „Trink!“, brüllt er. „Trink, weg sieht der Kanun vor, um das Töten zu be- du Schwächling!“ Der Kanun basiert auf einem enden: Versöhnung. In komplizierten Ritualen strengen Begriff von Ehre. Ihre Verletzung gilt muss sich die Familie des Mörders mit gesenkten als der gröbste aller Verstöße. Entehrt wird ein Häuptern und ausgestreckten Händen, manch- Mann, wenn ein anderer seine Frau, Schwester mal auf Knien, öffentlich bei der Familie des oder Tochter schändet, ihn selbst schlägt, beOpfers entschuldigen. Und dann hoffen, dass ihrem Flehen stattgegeben wird. Vor dem Haus der Ndrevatajs nimmt Blut gegen Blut, Tod gegen Tod, die Hoffnung an diesem Morgen die GeGeld gegen Schuld stalt eines schwergewichtigen Mannes an: Rosafarbenes Hemd, goldene Armbanduhr, Dokumentenmappe. Nikoll Shullani, 63, ist ein traditioneller Interpret des spuckt, bedroht. Oder ihn öffentlich einen LügKanun. Das Ehrenamt hat der Schweißer von ner, einen Schwächling schimpft. Die anderen seinem Großvater geerbt. Ein Dutzend Familien versuchen zu schlichten. Vergebens. Die verletzte konnte Nikoll Shullani versöhnen. Bei Tausen- Ehre lässt sich durch nichts wiederherstellen. Auden von Betroffenen keine sehr hohe Quote. Pal ßer, so der Kanun, „durch das Vergießen des BluNdrevatajs Mutter Shkurte, eine zierliche Frau tes“. Die Streithähne gehen nach draußen. Gjin mit sanftmütigen Augen, bittet den Vermittler zieht die Pistole. Pllumb reißt sein Gewehr hoch mit einer Verbeugung herein. Wenig später sit- und drückt ab. Gjin, 34, Vater von vier Kindern, zen wir bei türkischem Kaffee auf dem Sofa, die ist sofort tot. Kinder um uns geschart, während Shkurte und „Sie waren doch Freunde“, sagt Shkurte 15 Shullani noch einmal über den Abend des 3. Fe- Jahre später im Wohnzimmer in Shkodra. Über bruar 2000 sprechen, der das Leben der Ndreva- der Tür hängt Pllumbs Foto, es zeigt ein Bauerntajs bis heute überschattet. gesicht mit Oberlippenbart und buschigen AuIn Curraj I Epërm, ihrem Heimatdorf, hat genbrauen. „Er musste die Familienehre wahren“, Pllumb Ndrevataj, Pals Onkel, damals gemein- sagt Shkurte. „Er hatte keine andere Wahl.“ Seitsam mit seinen Nachbarn Heu in die Ställe ge- her wurden fünf weitere Menschen erschossen. schafft. Abends sitzen die Männer zusammen Ein Ende des Tötens ist nicht in Sicht. und trinken Raki. Pllumb ist müde und will Blutrache grassiert vor allem in den Bergen nach Hause. „Du trinkst mit uns!“, befiehlt ihm im Norden Albaniens – dort, wo meist KathoGjin, ein Nachbar und Freund seit Kindertagen. liken leben (die Mehrheit der albanischen Be„Du gehst, wenn wir es dir erlauben!“ völkerung ist muslimischen Glaubens.) Die 27


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katholische Kirche ist mit der archaischen Kul- demokratische Staat schwach. Das Machtvakutur des Todes eng verflochten. Priester gelten im um füllte der Kanun. Dann kam alles wieder: Kanun als unantastbar. Zu Versöhnungsritualen Die Morde, der Hass, die Angst. muss ein Geistlicher mit dem Kreuz erscheinen. Shkurte sieht abgekämpft aus. Ihr Sohn Lehnt ein Anwesender die Versöhnung ab, muss Pal aber hängt voller Hoffnung an den Lippen der Priester das Kreuz mit dem Korpus nach un- des Vermittlers Shullani. Die Männer der Sipten auf den Tisch legen. Damit gilt die Sippe der pe Ndrevataj, allesamt Bergbauern, hatten ihren Blutschuldner als verflucht. Und das Morden Stolz überwunden, die Sonntagsanzüge angelegt geht weiter. Anthropologen vermuten, dass die und im Haus der Rächerfamilie M. um VersöhBlutrache ursprünglich als Instrument gegen das nung gebeten. Nikoll Shullani schrieb stapelTöten geschaffen wurde. In einer Zeit, in der es weise Briefe und besuchte Familie M. mehrmals. weder Gesetze noch Richter gab, sollte die hohe Selbst die vom Kanun empfohlene EntschädiStrafe abschreckend wirken. Wie in einem Null- gung von einer Million Lek wurde angeboten, summenspiel wird ein Toter mit einem Toten gut 7.000 Euro. abgegolten. Für zwei Tote müssen zwei Menschen sterben – und so weiter. Dann soll wieder Frieden einkehren. Doch Die Dörfer liegen in der Wildnis: in Albanien nehmen die Bestraften oft von der Welt vergessen Rache für ihre Strafe: Die Nullsumme kommt nicht zustande. Stattdessen eskalieren Konflikte zu blutigen Fehden. Mit jedem weiteren Mord tauschen die Familien die Shullani räuspert sich: „Familie M. hat abRollen von Täter und Opfer. Und halten so den gelehnt“, sagt er in die angespannte Stille hinein. Kreislauf des Tötens in Gang. Pal starrt auf die Tischdecke; es tröstet ihn nicht, Dabei schien das Phänomen bereits ver- dass der Vermittler verspricht, nicht aufzugeben. schwunden zu sein. Mehr als vier Jahrzehnte lang Können wir Familie M. treffen? Shullani beherrschte der Diktator Enver Hoxha das Land. sagt zu, sie für uns anzurufen. Hoffnung macht In seinem stalinistischen Kasernenstaat erstickte er uns nicht: „Jenen Familien, die im Blut stehen, die Geheimpolizei jeden Protest. Schon eine Be- schreibt der Kanun strenge Regeln vor. Jedes unmerkung über die lausige Qualität des volkseige- nötige Wort ist ein Zeichen von Schwäche.“ nen Brotes konnte dazu führen, als „reaktionärer Der Kanun ist uns ein Rätsel. JahrhunderSchädling“ umgebracht zu werden. telang wurde er mündlich überliefert und erst Blutrache? Wer sie auch nur androhte, ris- 1933 niedergeschrieben. 1263 Paragrafen regeln kierte, öffentlich erhängt zu werden – traditio- Erb- und Landrechte, Jagd und Fischerei, Brautnell der äußerste Gesichtsverlust. Als der Kom- steuern, das strikte Einhalten des Ehrenwortes, munismus 1991 kollabierte, war der junge die legendäre albanische Gastfreundschaft. Und 28


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den Rachemord. Wer den Kanun verstehen wolle, sagen Shkurte und der Vermittler, müsse dort hingehen, wo er entstanden sei: in die Berge. Mit einem Minibus fahren wir Richtung Norden, anschließend mit einem Boot weiter über den Koman-Stausee, der sich durch die Schluchten des Drin-Flusses tief in die Berge gräbt. Senkrechte Felswände stürzen herab in smaragdgrünes Wasser. Fallwinde zerren an der albanischen Flagge am Bug. Immer wieder sieht es so aus, als ende der See jäh vor einer Granitwand, erst im letzten Moment öffnet sich ein Spalt, durch den das Boot schlüpfen kann, um uns immer weiter hineinzubringen in jenes zerklüftete Gebirgsmassiv, das seine Bewohner Prokletije nennen – „verwunschene Berge“. Es ist ein wildes Stück Europa. Die nur über den See oder in langen Fußmärschen erreichbaren Dörfer sind im Winter oft eingeschneit und monatelang von der Außenwelt abgeschnitten. Am Steilufer lässt der Bootsmann den Steg hinunter. Wir laden unser Gepäck auf den Rücken und steigen schließlich – geführt von einem Freund der Familie Ndrevataj – auf Maultierpfaden auf. Krüppeleichen, Rotbuchen, Farne und Wacholder; darüber erheben sich mächtige Gebirgsklötze. Außer einem Schafhirten begegnet uns kein Mensch. Nach sechs Stunden überqueren wir den letzten Grat – dann öffnet sich unter uns ein grünes Hochtal mit weit verstreuten Gehöften: Curraj I Epërm, das Dorf, in dem Pllumb Ndrevataj im Februar 2000 seinen Freund Gjin erschoss. Und damit die tödliche Kettenreaktion auslöste.

Drei Monate nach Gjins Tod, am 12. Mai 2000 gegen 17.30 Uhr, schlugen die Rächer der Familie M. zu. Pllumbs Brüder Tom und Besnik trieben gerade ihre Schafe auf eine Bergweide. „Tom ging ein gutes Stück hinter Besnik“, erzählt uns Nikë Ndrevataj, der vierte Bruder aus der Familie, Pals Vater. „Tom hatte sein Radio dabei, trödelte wie immer herum.“ Auch Nikë steht auf der Todesliste. Doch er muss hier oben Mais anpflanzen, sich um zwei Kühe und ein Dutzend Schafe kümmern, um seine zehnköpfige Familie durchzubringen.Warum haben die Rächer ihn nicht längst erledigt? „Ich bin ein alter Mann“, sagt er. „Sie wollen frisches Blut.“ Das Blut seiner Söhne. Vielleicht hat Nikë bisher aber auch einfach nur Glück gehabt. Er bleibt auf dem Pfad vor einer Bodenwelle stehen. „Dort lauerte der Heckenschütze“, sagt er, seine Stimme zittert. „Er knallte Tom von hinten ab.“ Mit dem Zeigefinger ahmt Nikë die Flugbahn der Kugel nach. „Sie drang in den Rücken meines Bruders und kam aus seiner Brust heraus.“ Er geht ein paar Meter ins Gestrüpp, will nicht, dass wir seine Tränen sehen. Mit geröteten Augen kommt er zurück und macht vor, wie Tom, keine 30 Jahre alt, ein paar Schritte taumelte. Das Radio lief noch, als sie ihn Stunden später fanden, am Ende einer Blutspur, das Gewehr über der Schulter, die rechte Hand voller Blätter eines Haselnussstrauchs, an dem er sich wohl noch festzuhalten versuchte, bevor er fiel und starb. Besnik, 27, war seinem Bruder vorausgegangen. Eine zweite Gruppe lauerte ihm auf einem Hügel auf. Nikë wirft sich jetzt ins Gras und 29


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drückt den Rücken an einen Felsen, um uns zu demonstrieren, wie Besnik damals Deckung suchte. Aufgelöst scheint Nikë den Angriff auf seinen Bruder zu durchleben. „Schüsse“, ruft er und legt ein imaginäres Gewehr an. „Bamm! Bamm!“ Dann zuckt sein Körper und sackt zusammen. „Eine Kugel durchschlug Besniks rechte Wange und prallte auf den Fels“, sagt Nikë und zeigt auf die Stelle im Granit: eine Kerbe, umkränzt von einem Fleck. „Besniks Blut.“ Jahrelang sei es rot gewesen, dann allmählich ausgeblichen und im Grau des Gesteins aufgegangen. Am Abend sitzen wir bei Kerzenlicht im Haus: ausgetretene Dielen, Bruchsteinwände, eine rauchende Feuerstelle. Unter der Holzdecke hängen Schweinswürste und Knoblauchzöpfe. Die Ndrevatajs haben selbst kaum genug zu essen. Doch Nikë serviert uns Rauchfleisch, Schafskäse, Bratkartoffeln, Honig. Immerzu ist Nikë um unser Wohlbefinden bemüht: Sollen wir das Bett für euch anwärmen? Esst mehr, ihr müsst mehr essen! Ein Lamm wird für uns geschlachtet, schon morgens gegen sechs Uhr bietet er uns Raki an und duldet keine Widerrede. Der Traubenschnaps kriecht wie eine glühende Schnecke die Speiseröhre hinunter. „Nach dem Mord an meinen Brüdern war mein Blut heiß“, sagt Nikë jetzt im Kerzenlicht, der Rest des Zimmers versinkt in Dunkelheit. Tom und Besnik auf der einen, Gjin auf der anderen Seite – dem nüchternen Bodycount des Kanun zufolge lagen die Ndrevatajs jetzt „ein Blut im Rückstand“. Damit wurden sie von Blutschuldnern zu Rächern. Und weil Pllumb für den Mord an Gjin schon im Gefängnis saß, 30

war es an Nikë, einen Sohn der Familie M. zu töten. Hatte er keine Skrupel? Nikës Stimme wird hart: „Der Kanun muss befolgt werden.“ Der Mann, der sich rührend um unser Wohlbefinden sorgt, lässt keinen Zweifel. „Blut für Blut!“ Allmählich ahnen wir: In den albanischen Bergen sind ein geschlachtetes Lamm zum Zeichen der Gastfreundschaft und ein Mord im Namen der Blutrache zwei Seiten einer Medaille. Beides ist verankert im Kanun. Und damit: „Ehrensache.“ Was genau meint Nikë, wenn er von Ehre spricht, diesem Herzstück des Kanun? Er antwortet: „Die Waffen deiner Großväter pflegen und das Schießpulver trocken halten.“ Die Entscheidung über Leben und Tod wird Nikë schließlich von seinem inhaftierten Bruder abgenommen. Als es im Gefängnis zu einem Aufstand kommt, kann Pllumb Ndrevataj fliehen. Am 4. Dezember 2001 fährt er nach Tirana, wo Familie M. inzwischen lebt. Buç, einer der Söhne, schaut vor seinem Haus gerade ein Fußballspiel im Fernsehen an. Pllumb wartet bis zur Halbzeit. Als Buç aufsteht, jagt Pllumb einen Feuerstoß aus seiner Kalaschnikow. Buç stirbt im Kugelhagel, ein Querschläger tötet seinen 14-jährigen Sohn Fatjon. Ein Versehen. Statt des Ausgleichs steht es jetzt drei zu zwei gegen Pllumb und seine Familie. Innerhalb weniger Sekunden sind die Ndrevatajs von Rächern wieder zu Blutschuldnern geworden. Familie M. muss jetzt erneut einen Ehrenmord begehen. So schwingt das Pendel des Todes immer weiter. Unser Treffen mit Familie M. gestaltet sich schwierig. Vermittler Shullani kann nichts für


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uns tun. Immerhin scheint es noch Hoffnung sie, wie ein Junge aus ihrer Gruppe die Hand auf auf Versöhnung zu geben. „Wir werden mit die Stirn seines aufgebahrten Onkels legen und unseren Leuten sprechen“, hat ihm Familie M. schwören musste, ihn zu rächen. „Ein ganz lieversichert. Ihre Adresse kann Shullani uns nicht ber Junge, zwölf Jahre alt, schmal, ein bisschen geben, das würde seine Mission gefährden. Als unterernährt, hat gern gemalt.“ Er erschoss den Vertrauensperson beider Seiten unterliegt er einer Mörder seines Onkels mit einer Kalaschnikow. Schweigepflicht. Schwester Christina kennt Großmütter, die Über Umwege finden wir einen Seelsorger, ihre Enkel von klein auf zur Rache erziehen. der Familie M. betreut und uns zu ihr führen Ein Zehnjähriger verriet ihr: „Ich habe jetzt ein will. Doch dann ist der plötzlich unerreichbar. Gewehr.“ Der Großvater eines anderen Jungen Wir stöbern einen Sozio– „ein herzensguter alter logen auf, der Familie M. Mann“ – rächte seinen kennt. Aber auch er will Vater nach 56 Jahren, Die Sippe macht Druck: den Kontakt nicht herstelindem er den Sohn des Räche dich! len. „Wenn Sie bei einem Mörders erschoss. Als Treffen die Ehre der Sippe Schwester Christina Und wieder ein Mord verletzen, steht die dann den Greis im Gefängvor meiner Tür.“ nis besuchte, sagte er: „Wer sich einmischt, riskiert, selbst in die „Ich konnte die Schande doch nicht meinen SöhTodesmühle zu geraten“, sagt die deutsche Or- nen vererben.“ densschwester Christina Färber, die sich im NorGerät ein Rächer in Verzug, reichen ihm die den Albaniens seit Jahren für die Versöhnung Leute seinen Kaffee unterhalb der Knie, ein Zeiverfeindeter Familien einsetzt. „Der Druck der chen sozialer Ächtung. Derweil hängt das Hemd, Verwandten, Freunde und Nachbarn auf die Rä- das ein Opfer bei seiner Ermordung getragen hat, cher ist gewaltig. Kaum einer übt freiwillig Ver- so lange an einem prominenten Ort des Hauses, geltung, aber meist bleibt ihnen einfach keine bis gerächt ist. Wenn die Blutflecken verblassen, andere Wahl.“ heißt es, der Tote werde zornig, weil noch immer 1999 kam die energische Frau im langen wei- keine Vergeltung geübt sei. Erst danach erlaubt ßen Ordensgewand nach Shkodra, um am Stadt- der Kanun, das „Bluthemd“ abzuhängen und zu rand ein Kloster aufzubauen. In ihrer Ambulanz waschen. traf die Krankenschwester immer wieder auf OpAuch die Nachbarn verfolgen das Geschefer von Blutrache, sie verarztete „Schusswunden, hen. Wenn ein Blutschuldner die Isolation seines Messerschnitte und Knochenbrüche“. Hauses verlässt, gilt dies als respektlos gegenüber Seither führt Ordensschwester Christina dem Kanun. Irgendjemand wird umgehend die eine Therapiegruppe für betroffene Kinder und feindliche Familie informieren. „Ein Junge verJugendliche. Bei einem Begräbnis beobachtete ließ nach acht Jahren zum ersten Mal das Haus“, 31


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erzählt Schwester Christina, „keine 300 Meter Reinheit der Frauen, die Treue in der Ehe, den entfernt wurde er erschossen.“ Gehorsam der Kinder. Statt dem mörderischen Keine guten Aussichten für Pal Ndrevataj. Gewohnheitsrecht abzusagen, macht sich die Im Haus starrt er zusammen mit seinem jünge- Kirche zur Verbündeten eines „kanunisierten ren Bruder Paulin auf den Bildschirm eines Lap- Katholizismus“. Die Albaner, die wir treffen, lastops. Ein Computerspiel: In einem Gefängnis sen keine Sonntagsmesse aus, gehen zur Beichschießt ein Mann reihenweise Polizisten nieder. te, verrichten Tag für Tag ihre Gebete. In ihren Blut spritzt an die Wände, bildet Pfützen, wäh- Häusern hängen Kruzifixe. Wie passt ihr tiefer rend der Kerl sich hinaus auf die Straße kämpft. Glaube zu Kanun und Blutrache? Unsere Frage So verbringen sie ihre Tage, ihre Jahre. In der ver- verursacht Kopfschütteln, Schulterzucken. brauchten Luft eines Zim„Wenn wir meinen mers mit drei Eisenbetten Bruder nicht rächen, dann und zerschlissenen Matrattreffen wir ihn nicht im An die Angst kann zen. Manchmal schleicht er Himmel wieder“, verrät man sich niemals sich davon, ein paar Hununs eine Frau. „Dann schigewöhnen dert Meter nur. Die stillcken wir ihn in die Hölle.“ gelegten Gleise entlang zu Etwas, das sich der VerFreunden oder zum Bolzen. nunft entzieht, scheint in Pal kennt die Namen aller Spieler von Bayern diesem Bekenntnis auf. Eine Art Götzendienst, München, aber im Fußballstadion von Shkodra ein Erbfluch. war er noch nie. In Albanien bildet der Kanun nicht nur ein Hat er sich nach so vielen Jahren an die Parallelsystem zur Kirche, sondern auch zum Angst gewöhnt? Pal schüttelt den Kopf: „Meine Staat. Anlass zur Hoffnung gab es aber auch im Angst ist immer da.“ Bei seinen Ausflügen lässt Hinblick auf das Justizsystem: 2001 wurde das ihn ein lauter Auspuff, eine zugeschlagene Tür Strafgesetz um den Tatbestand „Blutrache“ erzusammenzucken – und er rennt mit rasendem weitert. Inzwischen werden dafür Haftstrafen Puls nach Hause. Und das alles wegen eines Re- zwischen 30 Jahren und lebenslänglich verhängt. gelwerks aus dem Mittelalter, im Europa des 21. Wer Blutrache androht oder dazu anstiftet, muss Jahrhunderts. Ist der Blutrache in Albanien nicht mit drei Jahren Gefängnis rechnen. beizukommen? Doch Verhaftungen sind selten. AussagekräfEin Hoffnungsschimmer ist ein Dekret der tige Statistiken gibt es nicht, denn viele Angriffe katholischen Bischöfe aus dem Jahr 2012. Wer werden nicht gemeldet. Während wir in Shkodra einen Mord begehe, heißt es dort in Bezug auf sind, ersticht Ismail Alidini, 24, im Dorf Orgjost, Blutrache, werde exkommuniziert. Zugleich Kreis Kukës, bei einer Hochzeit die Schwester der betont die albanische Kirche jedoch immer wie- Braut. Motiv: Blutrache – die inzwischen sogar der die „Moral“ des Kanun: In Bezug auf die Frauen bedroht. 32


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Wenige Wochen später, im August 2016, wird im Gefängnis von Shkodra ein Häftling beim Freigang erschossen. Beamte sollen dem Bluträcher für ein paar Euro über die Mauer geholfen haben. Albanien zählt zu den korruptesten Ländern Europas, natürlich erschwert die Korruption auch die Verfolgung von Blutrache-Delikten. Festgenommene bestechen Richter, um ihr Strafmaß zu reduzieren. „6.000 Euro für jedes Jahr weniger Haft“, verrät uns ein Mitarbeiter des Justizministeriums in Tirana. Der Norden des Landes, die Heimat des Kanun, ist keine zwei Autostunden von den Hochhäusern, Restaurants und Boutiquen der Hauptstadt entfernt. Und doch Welten. Im Norden liegt die Arbeitslosigkeit mancherorts bei 60 Prozent. Es mangelt an qualifizierten Lehrern, die Ausstattung staatlicher Kliniken ist miserabel. 25 Jahre nach der Wende fühlen sich viele Menschen abgehängt, das Misstrauen gegenüber dem Staat sitzt tief. Armut, Marginalisierung und Korruption – unter diesen Bedingungen ist Blutrache nicht nur ein Relikt aus einer archaischen Vergangenheit, sondern auch ein Symptom einer verunglückten Moderne, in der viele Menschen lieber dem althergebrachten Kodex folgen und die Dinge selbst in die Hand nehmen. „Bei der Blutrache geht es oft gar nicht um den Kanun, sondern um Frustration“, sagt Arben Shkëmbi, ein vom Parlament gewählter Ombudsmann, der die Interessen der Bürger gegenüber staatlichen Institutionen vertritt. Nach der Wende flohen Hunderttausende aus den Bergregionen in die Städte, die dörflich-familiären Strukturen erodierten. „Heute macht sich jeder

seinen Kanun selbst“, so Shkëmbi. „Er ist oft nur ein Deckmantel für brutale Verbrechen.“ Selbst nach Autounfällen rächten sich inzwischen die Beteiligten. Wer sich die Hände nicht schmutzig machen wolle und Geld habe, bezahle einen Auftragskiller. Der Volksanwalt nennt Blutrache eine „nationale Plage, die immer unberechenbarer wird.“ Doch die albanische Regierung spielt das Ausmaß herunter. 2014 erhielt das Land den Status eines EU-Beitrittskandidaten. Archaische Blutfehden stören das Bild. Gentian Berberi, Chef des Dezernats für Schwerverbrechen in Shkodra, versucht zu beschwichtigen: „In der Stadt gibt es nicht mehr als drei, vier Dutzend betroffene Familien, wir haben sie im Auge. Alles halb so wild.“ Die wenigen Familien, die sich für Versöhnung entscheiden, halten sich bedeckt. Die Ordensschwester Christina Färber stellt den Kontakt zu Vad Pal Guri her, einem Altmetallsammler, der uns in seinem Haus nördlich von Shkodra im Krankenbett empfängt. Ein Nachbar hat ihn lebensgefährlich mit einer Kalaschnikow verwundet. Der Angriff geschah am Silvesterabend 2014: Vads Nichte Esmeralda, 15, ist verlobt mit Migele, der sie zu einem Fest abholen möchte. Doch die Familie lässt sie nicht gehen. Im Streit fährt Migele mit dem Motorrad weg, kommt mit einem Schnellfeuergewehr zurück und schießt Vad in beide Oberschenkel und ins rechte Knie. Auch Vads Frau und ihre zwölfjährige Nichte werden getroffen. Vad schiebt die Trainingshose hoch, um uns die Narben von sechs Operationen zu zeigen. Er wird nie mehr richtig gehen können. Seine Brüder drängten ihn zur Blutrache. Doch Schwester 33


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Christina beschwor den gläubigen Katholiken, „im Namen Gottes“ über Versöhnung nachzudenken.„Alle waren dagegen, alle“, sämtliche Männer der Sippe. Nach monatelangem „Krieg in der Familie“ entschied sich Vad für die Versöhnung. Am Ostersonntag 2015 empfing er die Männer der verfeindeten Sippe. Mit gesenkten Köpfen baten sie um Vergebung, der Priester reichte ein Kreuz herum, beide Familien küssten es, brachen das Brot und aßen gemeinsam; dann gaben sie einander die Hände und gelobten Versöhnung. „Ich habe es für meine Kinder getan“, sagt Vad. „Sie sollen nicht jahrelang eingesperrt sein.“ Doch wir spüren, wie der Vorwurf der Feigheit an ihm nagt. Seine Stimme ist brüchig, in ihr schwingt etwas von dem gewaltigen inneren Konflikt mit, den er ausgefochten hat und der noch immer in ihm ist. Die meisten Rächer sind keine kaltblütigen Killer. Oft ringen sie jahrelang mit sich, bevor sie sich dem Druck ihrer Sippe beugen und zu Mördern werden, manchmal an Freunden. Oder bevor sie, in seltenen Fällen wie dem des Altmetallsammlers Vad Pal Guri, zur Versöhnung bereit sind. Davon scheint Familie M. weit entfernt. Ein Informant findet einige ihrer Vornamen für uns heraus. Bei Facebook stoßen wir auf zwei passende Profile. Fotos zeigen Curraj I Epërm, das Bergdorf, die Heimat von Pals Familie. Kein Zweifel, es sind zwei Söhne der Rächerfamilie. Sie tragen Röhrenjeans und modische Sneakers, sie posten auf Englisch und Französisch, zuletzt aus einem Sommercamp in Norwegen. Aufgeschlossen wirkende junge Männer. Schwer vorstellbar, dass sie 34

eine Kalaschnikow auf den etwa gleichaltrigen Pal Ndrevataj richten und abdrücken könnten. Wir schicken den beiden eine Nachricht. Doch sie antworten nicht. Früher Morgen im Bergdorf. Es ist kühl, der Atem bildet Wölkchen. Nikë Ndrevataj zündet sich eine Zigarette an, nie haben wir ihn ohne seine Selbstgedrehten gesehen. Er erzählt: Nach dem Doppelmord in Tirana habe sich sein Bruder Pllumb jahrelang hier oben versteckt – bis zur Nacht des 16. April 2006. Er ahnt nicht, dass sich im Schutz der Dunkelheit Männer mit schusssicheren Westen, Schilden und Helmen anschleichen und ihre Gewehre in Stellung bringen. Die Spezialeinheit der Polizei ist gekommen, um Pllumb Ndrevataj zu holen, den Ausbrecher und dreifachen Mörder. Der Einsatzleiter fordert Pllumb durch ein Megafon auf, mit erhobenen Händen aus dem Haus zu kommen. Doch der stößt ein Fenster auf und feuert mit seiner Kalaschnikow. Gut eine Stunde dauert das Gefecht, bis Scharfschützen Pllumb an der Hand und am rechten Ohr treffen. „Statt aufzugeben, rannte er schießend hinaus“, erzählt Nikë und führt uns zu der Stelle, wo Pllumb Ndrevataj im Sperrfeuer starb, zwischen Brennnesseln und Apfelbäumchen, gerade 30 Jahre alt. Und dann stehen wir vor den Gräbern. Reglos, die Schultern hochgezogen, mit wässrigen Augen steht Nikë vor dem verwitterten Holzkreuz mit der Inschrift: Pllumb Ndrevataj 1976– 2006. Daneben liegen seine Brüder Besnik und Tom. Drei Tote auf jeder Seite. Nullsumme – rein rechnerisch. Doch weil Pllumb von der Polizei erschossen wurde, akzeptiert Familie M.


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sein Blut nicht. Sie besteht auf Rache durch eigene Hand. Und fordert noch ein Opfer. Was empfindet Nikë, wenn er an Familie M. denkt? Angst? Wut? Hass? Lange schweigt er; dann überrascht er uns: „Aus ihrer Sicht wollen sie nur Gerechtigkeit.“ Es klingt, als hätten sie nicht nur das Recht, sondern die heilige Pflicht, sich sein Blut zu holen. Oder das seiner Söhne. Durch den Kanun sind Täter und Opfer auf tragische Weise aneinandergekettet. „Es wird niemals aufhören“, sagt Nikë Ndrevataj. Unsere Bemühungen, Familie M. zu treffen, sind vergebens, obwohl Nikoll Shullani, der Vermittler, sie noch einmal kontaktiert. Jahrelang hat er mit der Familie verhandelt. Zuletzt durfte er ihr Haus nicht mehr betreten. „Es gibt nichts zu reden“, lassen die Rächer ausrichten. „Wir wollen Blut.“ Geo, 03/2017

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ď • Radioreportage Christiane Seiler David Zane Mairowitz und Malgorzata Zerwe Michael Stauffer

Honig und Eisen | Kaczynskiland | Der Oligarchenlehrling 37


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 RADIOREPORTAGE VORJURY DIRK AUER Freier Hörfunkkorrespondent, Preisträger n-ost-Reportagepreis 2012

MELANIE LONGERICH Redakteurin, Deutschlandfunk

MARTA OROSZ Journalistin, Correctiv

HENDRIK SITTIG Referent der Programmdirektion, Rundfunk Berlin-Brandenburg

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Fotos: privat

RADIOREPORTAGE JURY

GESINE DORNBLÜTH

OXANA EVDOKIMOVA

MARC LEHMANN

Hörfunkjournalistin, bis 2017 Korrespondentin für Deutschlandradio in Moskau

Autorin und Reporterin der Deutschen Welle

Moderator und Produzent, Schweizer Radio & Fernsehen SRF

STEPHAN OZSVATH

JAKOB PREUSS

Ehemaliger ARD-Korrespondent (Südosteuropa) und Buchautor

Dokumentarfilmer

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RADIOREPORTAGE PREISTRÄGERIN

 HONIG UND EISEN Reisen in das Kriegsgebiet der Ostukraine VON CHRISTIANE SEILER Deutschlandfunk Kultur, 10.06.2017 | 54:00 Ein Feature, das wachrüttelt mit seiner präzisen und gleichzeitig atmosphärischen Erzählweise: Christiane Seiler nimmt uns mit auf eine akustische Reise nach Kramatorsk, Gorlowka und weitere Orte, zu denen Journalisten aufgrund des schwelenden Krieges im Osten der Ukraine nur mit Mühe Zugang erhalten. Über einen längeren Zeitraum hinweg spricht sie mehrfach mit denselben Menschen auf beiden Seiten der Konfliktlinie um zu verstehen, wie sie leben – im Schwebezustand, ohne Perspektive, mit einem großen Bedürfnis nach Normalität. Die Autorin ist eine behutsame und aufmerksame Zuhörerin und schafft dadurch eine Nähe zu ihren Gesprächspartnern, die uns gebannt deren Geschichten lauschen lässt und lange nachhallt. Oxana Evdokimova, Autorin und Reporterin der Deutschen Welle

Das Feature können Sie sich anhören unter www.n-ost.org/74-Reportagepreis 40


Foto: Maxim Melnyk

CHRISTIANE SEILER Christiane Seiler (*1961) ist Mutter zweier Töchter und lebt in Berlin. Sie machte eine Ausbildung als Tontechnikerin, studierte Religionswissenschaft und Literaturwissenschaft in Berlin und Paris und arbeitet heute als Rundfunkautorin und Übersetzerin. Nach dem Fall der Mauer lernte sie Russisch und bereiste Osteuropa, bis sie 2010 die Ukraine entdeckte. Seitdem hat sie mehrere Radiofeatures über dieses immer noch viel zu wenig bekannte Land realisiert. Für „Honig und Eisen“ war sie zum ersten Mal in der Ostukraine. In Kramatorsk saß sie mit neuen Bekannten auf dem Sofa, blätterte in Fotoalben und ließ sich vom Leben in der postsowjetischen Zeit erzählen. 41


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RADIOREPORTAGE NOMINIERTE

 KACZYNSKILAND Wie polnische Geschichte und Kultur umgedeutet werden VON DAVID ZANE MAIROWITZ UND MALGORZATA ZERWE Deutschlandfunk/Radio Bremen, 24.03.2017 | 53:30 Sie wollen Polen bereisen? Dann achten Sie auf Radfahrer oder Vegetarier. Sie sind, so Ex-Außenminister Witold Waszczykowski, krank und schaden dem Land. Viele Entwicklungen in Polen klingen so aberwitzig, dass man nicht mehr weiß, ob man lachen oder weinen soll. Malgorzata Zerwe und David Zane Mairowitz sind nach Gdansk gereist. Noch ist die Stadt eine liberale Hochburg im „Kaczynskiland“. Doch die rückwärtsgewandte Kultur- und Geschichtspolitik macht sich auch hier bemerkbar. Das Feature bewegt sich auf dem Grat zwischen ungläubigem Erstaunen – „Wie kann das alles sein?“ – und Belustigung. Es erklärt, ohne belehrend zu sein. Ein tiefer Einblick in den polnischen Nationalismus, gründlich recherchiert und perfekt radiophon umgesetzt. Gesine Dornblüth, Hörfunkjournalistin, 2012 – 2017 Korrespondentin für Deutschlandradio in Moskau

Das Feature können Sie sich anhören unter www.n-ost.org/74-Reportagepreis 42


Foto: Stefan Günther

DAVID ZANE MAIROWITZ

MALGORZATA ZERWE

David Zane Mairowitz (*1943) ist in den USA auf-

Malgorzata Zerwe (*1954) ist in Lublin, Polen, gebo-

gewachsen und lebt seit 1966 in Europa, heute in

ren und arbeitet seit über 20 Jahren als Kulturredak-

Avignon und Berlin. Er schreibt Bücher, Theater-

teurin für Radio Gdansk. Sie macht Radiofeatures und

stücke, Hörspiele und Features auf Deutsch, Fran-

hat zahlreiche Preise in Polen gewonnen. Auch für in-

zösisch und Englisch. In den letzten 35 Jahren hat

ternationale Auszeichnungen war sie mehrfach nomi-

er u.a. für sämtliche ARD-Sender, BBC, ABC und in

niert, darunter für Premios Ondas, Prix Italia und den

mehr als 20 europäischen Ländern gearbeitet. Zu

Deutsch-Polnischen Journalistenpreis. Ihr Feature

seinen zahlreichen Preisen zählen der Prix Italia,

„Kafka Unchained“ (mit D. Z. Mairowitz) hat den Prix

Prix Europa, Prix Futura und Prix Ostankino. Für

Marulic in Kroatien gewonnen. Malgorzata Zerwe lebt

Sein Lebenswerk wurde er 2006 in Frankreich mit

hauptsächlich in dem Irrenhaus genannt Kaczynski-

dem Prix SACD ausgezeichnet.

land, ihr Ehemann David Zane Mairowitz kommt nur ab und zu staunend zu Besuch.

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RADIOREPORTAGE NOMINIERTER

 DER OLIGARCHENLEHRLING Ein Gedankenspiel VON MICHAEL STAUFFER SRF 2 Kultur, 03.02.2017 (Produktion: SWR2 2016) | 53:30 Er solle alles vergessen, was er an humanistischer Bildung mitbekommen habe – sonst werde das nichts mit seinem Vorhaben, Oligarch zu werden. Es ist ein erfahrener Schauspieler in Jerewan, der unserem Autor diesen Satz beim „Oligarchentraining“ eintrichtert. Michael Stauffer hat Armenien als idealen Ort für seine Oligarchenlehre auserkoren und lernt dort, welch skrupellose Methoden ihn in der hochkorrupten Gesellschaft idealerweise ans Ziel brächten. Er kommt erstaunlich weit mit dem Selbstversuch. Und zeichnet ganz nebenbei ein wunderbares Sittenbild der Kaukasusrepublik, die sich im Würgegriff einer Handvoll Oligarchen befindet, welche alle ins Exil vertreiben, die sich diesem System nicht unterordnen wollen. Ein originelles, lohnendes Radio-Experiment. Marc Lehmann, Moderator und Produzent beim Schweizer Radio & Fernsehen SRF, Ex-Osteuropa-Korrespondent

Das Feature können Sie sich anhören unter www.n-ost.org/74-Reportagepreis 44


Foto: Tobias Bohm

MICHAEL STAUFFER Michael Stauffer (*1972) wurde in Winterthur, Schweiz, geboren. In Bern und Lausanne studierte er Deutsch, Französisch und Bildnerisches Gestalten und schloss diese Studien mit dem Lehramt ab. Danach unterrichtete er an einer Berufsschule Coiffeusen, Polymechaniker und Konditoren in Allgemeinbildung. Seit 1999 ist er künstlerisch tätig: Er singt und improvisiert, macht Prosa, Hörspiele, Performances, Theaterstücke und Lyrik. Michael Stauffer lebt und arbeitet in Biel und lehrt am Schweizerischen Literaturinstitut der Hochschule der Künste Bern. Er ist Vater und Bewunderer eines Sohnes.

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Fotoreportage Emile Ducke Elena Anosova Florian Bachmeier

Diagnosis | Trakt | Jugend in TrĂźmmern 47


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FOTOREPORTAGE JURY

MICHAEL HAURI

Fotos: privat (5), Caroline Scharff (1), Zeit Online (1), Miriam Klingl (linke Seite)

Multimedia-Produzent, 2470.media

ANASTASIA KHOROSHILOVA

NADJA MASRI

Fotografin und Dozentin, Rodchenko Art School

Freie Bildredakteurin und Dozentin, Ostkreuzschule für Fotografie

MICHAEL PFISTER

GUIDO SCHMIDTKE

MILA TESHAIEVA

Leiter Bildredaktion, Zeit Online

Bildredakteur, Stern

Fotografin, Ostkreuz Agentur

MIRIAM ZLOBINSKI Kuratorin und Bildredakteurin, Studio Stauss

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FOTOREPORTAGE PREISTRÄGER

DIAGNOSIS VON EMILE DUCKE Neue Zürcher Zeitung‚ 06.-10.03.2017 Der junge Fotograf Emile Ducke nimmt sich Zeit für sein Thema, für die Recherche und visuelle Umsetzung. Neun Tage lang ist er unterwegs und fängt mit seiner analogen Kamera poetisch den Alltag ein. Seine Arbeit handelt von einem Krankenhauszug, der die medizinische Versorgung in abgelegenen Orten Sibiriens sicherstellt. Manchmal sinken die Temperaturen auf minus 38 Grad Celsius und tiefer und doch gelingt es Emile Ducke auch unter solchen extremen Bedingungen, den Menschen nahe zu kommen. Michael Pfister, Leiter Bildredaktion bei Zeit Online

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Foto: Alina Pintschuk

EMILE DUCKE Emile Ducke (*1994) stammt aus München und studiert Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover. Seine Arbeiten wurden u. a. in Newsweek, L’Obs, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung und NZZ veröffentlicht. Während eines Auslandssemesters im sibirischen Tomsk entstand sein Interesse an abgelegenen Gemeinschaften und den aus ihrer Lage resultierenden Herausforderungen. Im Frühjahr 2016 begann Emile Ducke mit den Recherchen zu „Diagnosis“, im November desselben Jahres begleitete er dann neun Tage lang den Krankenhauszug „Heiliger Lukas“ in einem Abteil im Röntgenwaggon. Zurzeit lebt Emile Ducke in Moskau und arbeitet von da aus an neuen Fotoreportagen. 51


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Nach dem Ende der Sowjetunion brach die medizinische Infrastruktur Russlands in Teilen zusammen. Fünf Krankenhauszüge der staatlichen Bahngesellschaft stellen in abgelegenen Orten Sibiriens eine medizinische Grundversorgung sicher. Einen davon hat der Fotograf Emile Ducke bei seiner Fahrt in der Region Krasnojarsk auf einer Nebenstrecke der Transsibirischen Eisenbahn begleitet.

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n-ost REPORTAGEPREIS 2018 • FOTO

Ljudmila Michailowna Danilowa und ihre Assistentin behandeln in ihrem zur Mini-Praxis ausgebauten Eisenbahnabteil etwa 35 bis 40 Personen pro Tag. Der Zug kommt auf einer festgelegten Route nur einmal pro Jahr vorbei – wenn er weg ist beschränkt sich die medizinische Versorgung vielerorts wieder auf die Dienste überlasteter, schlecht ausgerüsteter Hilfsärzte.

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n-ost REPORTAGEPREIS 2 018 • FOTO

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Der Krankenhauszug macht je nach Ort einen bis drei Tage Halt. Bei Temperaturen von minus 38 Grad Celsius und kälter warten die meisten Patienten lieber in den schmalen Gängen des Zuges auf ihren Termin oder ihre Untersuchungsresultate.

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n-ost REPORTAGEPREIS 2 018 • FOTO

Die 17 Fachärzte und ihre Assistenten erstellen Diagnosen und verschreiben Medikamente für rund 15.000 Patienten im Jahr. Der Zug ist ausgestattet mit einem Labor für Bluttests, Sonographie, EEG und EKG, Röntgenapparaten und einer Zahnarztpraxis. Die Behandlungen sind für die Patienten kostenlos.

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Am Ende des letzten Waggons, der zu einer fahrenden Mini-Kathedrale ausgebaut ist, greift Pater Igor in den Glockenzug. Denn seelischer Beistand gehört zu den Dienstleistungen des Krankenhauszuges „Heiliger Lukas“ mit dazu. Namenspatron ist der 1961 verstorbene Arzt und russisch-orthodoxe Erzbischof Walentin Felixowitsch Woino-Jassenezki. Er wurde wegen seines Glaubens in der frühen Sowjetunion verfolgt, später wegen seiner medizinischen Verdienste rehabilitiert und im postsozialistischen Russland als „Lukas der Bekenner“ zum Heiligen ernannt.

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FOTOREPORTAGE NOMINIERTE

TRAKT – WEGGESPERRTE FRAUEN VON ELENA ANOSOVA Dekoder‚ 28.09.2017 Frauen im Knast kennt man aus Fernsehserien wie „Orange is the New Black“. Doch bei der Serie „Trakt“ der russischen Fotografin Elena Anosova geht es nicht um Fiktion, sondern um die bittere Realität von Frauen in Gefängnissen in Sibirien. Die Portraits bestechen durch ihre Intimität und Intensität. Man spürt das Vertrauen, das diese Frauen, ihrer Privatsphäre beraubt, der Fotografin entgegengebracht haben: die jungen Hübschen wie die gezeichneten Älteren. Die Bilder, die intensiven Blicke, die intimen Posen, sie lassen den Betrachter nicht kalt. Die Außenansicht verbindet die Serie farblich-formal sowie inhaltlich auf subtile Weise und steht symbolisch für die Gegensätze Freiheit vs. Gefangenschaft, Traumwelt vs. Realität, Weiblichkeit vs. Brutalität. Nadja Masri, Freie Bildredakteurin und Dozentin an der Ostkreuzschule für Fotografie

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Foto: Elena Anosova

ELENA ANOSOVA Die russische Fotografin und Künstlerin Elena Anosova (*1983) lebt in Moskau und Irkutsk. Ihr Werk umfasst Fotografien, Videos, Installationen, Archiv- und Buchprojekte. Anosovas Serie zu den Frauen in sibirischen Gefängnissen wurde unter dem Titel „Section“ in Buchform veröffentlicht und stand auf der Shortlist des MACK First Book Award. Außerdem ist sie Preisträgerin des World Press Photo Award 2017. Die künstlerische Auseinandersetzung mit sozialer Stigmatisierung und dem Leben in Isolation entspringt Elena Anosovas eigener Biographie – als Jugendliche verbrachte sie schwer erkrankt mehrere Jahre in einem geschlossenen Reha-Internat.

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Die Fotografin bat ihre Modelle, einen ihnen wichtigen Gegenstand zu finden: Eine nahm eine Blume, eine andere eine Bibel. Bei manchen fand sich im Lager gar kein solcher Gegenstand.

Das Leben im Frauengefängnis ist ein Leben in Isolation und unter ständiger Beobachtung. Die Fotografin Elena Anosova sagt dazu: „Wenn man im Lager ist, ist es unmöglich, ganz bei sich zu bleiben. Der Verlust eines intimen Raumes deformiert den Menschen, das Gefühl von Sicherheit verschwindet.“


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Elena Anosova hat 2014 mehrere Monate in Strafkolonien für Frauen in Sibirien fotografiert und will mit ihren Porträts zeigen, wie der Alltag in Haft die Gefangenen verändert: „Ich beginne mit den Bildern junger und schöner Mädchen, die so fotografiert sind, dass nicht gleich klar wird, dass sie an Orten des Freiheitsentzugs entstanden sind. Dann zeige ich erwachsene Frauen – wir sehen die Spuren des Lebens auf Gesichtern und Körpern.“

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n-ost REPORTAGEPREIS 2 018 • FOTO

FOTOREPORTAGE NOMINIERTER

JUGEND IN TRÜMMERN VON FLORIAN BACHMEIER 12 Pictures‚ 10/2017 Kaum dem Teenageralter entwachsene Soldaten, ein junges Paar, Kinder beim Fahneneid: Die Blicke von Florian Bachmeiers Protagonisten richten sich ins Leere, andere blicken kurz ins Objektiv. Seit mehr als vier Jahren dauert der Konflikt in der Ostukraine an. Im Herbst 2016 hat der Fotograf Kinder und Jugendliche auf beiden Seiten der Frontlinie portraitiert – die erste Generation im Europa des 21. Jahrhunderts, die im Krieg aufwächst. Seine Bildsprache überzeugt durch Empathie und Einfühlungsvermögen. Diese Fotografien lassen kein schnelles Schauen zu, sie bleiben im Gedächtnis. „Jugend in Trümmern“ ist ein starkes, durchdringendes Symbol der europäischen Gegenwartsgeschichte. Anastasia Khoroshilova, Fotografin und Dozentin an der Rodchenko Art School in Moskau

Die Fotoserie erschien bereits im Dezember 2016 unter dem Titel „Jugend in Trümmern“ im österreichischen Magazin Datum. Die Reportage von Florian Bachmeier gemeinsam mit der Journalistin Simone Brunner wurde ermöglicht durch den Recherchepreis Osteuropa.

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Foto: Ester Neri Hernández Sanchez

FLORIAN BACHMEIER Aufgewachsen im oberbayerischen Schliersee, zog Florian Bachmeier (*1974) direkt nach der Verleihung des Abiturzeugnisses in sein Sehnsuchtsland, nach Spanien. Er studierte Fotografie in Pamplona und unternahm erste lange Reisen. 2004 kam er zurück nach Süddeutschland und studierte in München Geschichte. Seitdem arbeitet er als freier Fotograf, hauptsächlich in Ländern Osteuropas. Seine Fotostrecken erschienen u. a. im Geo, auf SZ.de und im Terra Mater Magazin. Ende 2013 reiste Bachmeier zum ersten Mal nach Kiew, um die Demonstrationen auf dem Maidan zu dokumentieren. Viele weitere Reportagen aus allen Teilen des Landes folgten. Im Herbst 2016 porträtierte er im Kriegsgebiet der Ostukraine zusammen mit der Journalistin Simone Brunner Kinder und junge Erwachsene auf beiden Seiten der Frontlinie. 67


n-ost REPORTAGEPREIS 2 018 • FOTO

Dieses Foto entstand bereits im Frühjahr 2015 in der südöstlichen Hafenstadt Mariupol. Das Mädchen ist mit seiner Familie aus den von Separatisten besetzten Gebieten geflohen und gehört damit zu den fast zwei Millionen Binnenflüchtlingen in der Ukraine.

Sascha und Lisa in ihrem Haus in Marjinka. Saschas Mutter ist zu Beginn des Krieges gestorben. Das Haus war mehrmals unter Beschuss, im Vorgarten lagen immer mal wieder Granathülsen.

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n-ost REPORTAGEPREIS 2018 • FOTO

Maksim zog im Frühling 2015 mit dem ersten Kiewer Freiwilligenbataillon an die Front. Eineinhalb Jahre später fotografiert Florian Bachmeier ihn und seinen Kameraden Alexander auf einem Stützpunkt der ukrainischen Armee in Awdijiwka – die beiden 22-Jährigen kämpfen immer noch.

Diese Kinder aus der ostukrainischen Industriestadt Tores auf dem Gebiet der selbsterklärten Volksrepublik Donezk vertreiben sich die Zeit mit Schwert und Fahne: Sie warten auf die feierliche Vereidigung eines Kosaken-Bataillons.

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Recherchepreis Osteuropa

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n-ost REPORTAGEPREIS 2018 • RECHERCHEPREIS OSTEUROPA

RECHERCHEPREIS OSTEUROPA Der Recherchepreis Osteuropa ermöglicht herausragenden Journalistinnen und Journalisten die Recherche und Produktion zeit- und reiseaufwändiger Reportagen. Der mit 7.000 Euro dotierte Preis geht 2018 an Martin Theis und Fabian Weiss. Sie wollen in Sibirien recherchieren, wie eine Truppe unausgebildeter Freiwilliger gegen Waldbrände ankämpft, die offiziell nicht existieren (rechte Seite). Im Vorjahr wurden gleich zwei Recherchen gefördert, die Autoren und Auszüge aus den daraus entstandenen Reportagen lernen Sie ab Seite 74 kennen. Der Recherchepreis Osteuropa wird 2018 bereits zum fünften Mal vergeben. Diesmal ist neben Renovabis, dem katholischen Osteuropa-Hilfswerk, zum ersten Mal das Diakonische Werk Württemberg mit der Initiative Hoffnung für Osteuropa als ausschreibende Organisation mit dabei. n-ost ist Kooperationspartner des Preises. Weitere Informationen zum Preis unter www.n-ost.org/31-RPO

DIE JURY 2018 Petra Bornhöft, Kuratoriumsmitglied Taz Panter Stiftung • Dr. Birgit Susanne Dinzinger, Abteilungsleiterin Diakonisches Werk Württemberg • Hanno Gundert, Geschäftsführer n-ost • Burkhard Haneke, Geschäftsführer Renovabis • Kerstin Holm, Feuilleton-Redakteurin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, • Jens Wiegmann, Redakteur im Ressort Außenpolitik bei WeltN24

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Foto: Fabian Weiss

n-ost REPORTAGEPREIS 2 018 • RECHERCHEPREIS OSTEUROPA

RECHERCHEPREIS OSTEUROPA 2018

ALLEIN MIT DEM FEUER Martin Theis und Fabian Weiss

Russland ist mit 809 Millionen Hektar das waldreichste Land der Erde. Jedes Jahr kommt es in den Nadelwäldern zu verheerenden, meist von Menschen verursachten Bränden. Die großflächigen Infernos vernichten die Vegetation und gefährden die Landbevölkerung, Dutzende kommen ums Leben. Das Ausmaß wird von der Regierung in der Regel verschwiegen oder heruntergespielt. Zur Bekämpfung mangelt es überall an Personal, Einsatzfahrzeugen und Benzin – weshalb Freiwillige aus der Zivilbevölkerung einspringen. Der freie Journalist Martin Theis und der Fotograf Fabian Weiss werden im Sommer 2018 eine Truppe freiwilliger Feuerbekämpfer in der besonders betroffenen sibirischen Region Irkutsk begleiten. Die Freiwilligen organisieren sich über die sozialen Medien und fahren an den Wochenenden mit primitiver Ausrüstung hinaus in die Wälder, um die lebensgefährliche Feuerbekämpfung an vorderster Front zu improvisieren. Die beiden Preisträger wollen von zivilgesellschaftlich engagierten Menschen erzählen, die dort kämpfen, wo sie der Staat allein lässt. Dieses ungewöhnliche Recherchethema mit Symbolcharakter hat die Jury überzeugt: Die Versuche der Zivilgesellschaft, die Unfähigkeit oder Gleichgültigkeit des Staates zu kompensieren, stehen repräsentativ für die Situation im heutigen Russland.

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n-ost REPORTAGEPREIS 2018 • RECHERCHEPREIS OSTEUROPA

Gewinner Recherchepreis Osteuropa 2017

OLIVER BILGER

EKATERINA ANOKHINA

Oliver Bilger (*1980) hat Politik und Publizistik studiert

Die russische Fotografin Ekaterina Anokhina (*1983) lebt

und bei der Süddeutschen Zeitung volontiert. Fünf Jahre

und arbeitet in Moskau. Sie studierte zunächst Sozialpsycho-

berichtete er als Korrespondent für verschiedene Medien

logie und machte 2013 einen zweiten Abschluss in künstle-

aus Moskau. Inzwischen lebt er in Berlin, arbeitet dort un-

rischer Fotografie an der Rodchenko Art School in Moskau.

ter anderem für den Tagesspiegel und blickt weiterhin nach

Diese beiden Interessen – Fotografie und Psychologie – wider-

Osten. Die Idee für die Reportage rund um das Majak-Werk

spiegeln sich in ihrer fotografischen Suche nach dem Persönli-

entstand allerdings im Westen: bei einem Interview mit der

chen, Emotionalen, Imaginären. Ekaterina Anokhina hat mit

russischen Aktivistin Nadeschda Kutepowa, die aus dem

„25 Weeks of Winter“ und „Inner Mongolia“ zwei Fotobücher

Ural nach Paris geflohen ist. Ihre Unterstützung für jene

veröffentlicht. Ihre Arbeiten werden in Russland wie auch in-

Menschen, die unter der Atomfabrik leiden, war von staat-

ternational ausgestellt und publiziert, unter anderem in Cice-

licher Seite nicht gern gesehen.

ro, Die Zeit, Süddeutsche Zeitung und Takie Dela.

Foto: Beatrice Grundheber

Foto: Margo Ovcharenko

Die Reportage von Oliver Bilger und Ekaterina Anokhina wurde im Dezember 2017 im Cicero veröffentlicht.

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DIE VERGESSENE KATASTROPHE Oliver Bilger Ekaterina Anokhina

Im russischen Südural ereignete sich vor 50 Jahren ein schwerer Atomunfall. Es war nicht der erste und auch nicht der letzte in der Gegend. Aber die verheerenden Ereignisse wurden verschwiegen und verdrängt. Bis heute sterben Menschen an den Folgen, noch heute leiden die Bewohner unter der Radioaktivität – und kämpfen vergeblich.

Gilani Dambajew vor seinem Haus. In der Nachbarschaft gibt es nur Ruinen – und auch Dambajew möchte wegen der Belastung durch Radioaktivität gerne wegziehen.

W

enn Gilani Dambajew durch die Holztür Die Dorfbewohner leben heute ein paar Kiseines niedrigen Backsteinhauses nach lometer weiter, in Nowo-Musljumowo. Damdraußen tritt, dann ist da nicht viel mehr bajew, ein kleiner, schmaler Mann mit dunklem als Unkraut, Schotter und Staub. Sein Heim hat Schnauzbart und akkurat zurückgekämmtem Haar, keine asphaltierte Straße, aber eine Adresse: Zen- der kürzlich den 62. Geburtstag feierte, wäre froh, tralnaja Usadba, Zentrales Gehöft, Nummer eins. wenn er ebenfalls umziehen könnte. Er will dafür Es ist das einzige Haus hier, in Musljumowo im „beweisen, dass es hier gefährlich ist“. Nur wenige russischen Südural – weit und breit. In der Nach- Schritte, dann hat Dambajew das Gestrüpp unbarschaft gibt es bloß Ruinen: Rechts zerfällt eine weit seines Hauses durchquert und ist den kleinen alte Klebstofffabrik. Linksherum sind nur ein paar Hang hinunter zum Flussufer gelaufen. Vor seinen mannshohe Mauerreste geblieben, wo einst ein gan- Füßen schiebt sich unter blauem Himmel die Tetzes Dorf stand. […] scha gemächlich an Birken vorbei. An einer seichten 75


n-ost REPORTAGEPREIS 2018 • RECHERCHEPREIS OSTEUROPA

In den 50er Jahren gelangte in großen Mengen radioaktiver Müll in das Flüsschen Tetscha. Die Dorfbewohner schwammen dennoch darin.

Stelle haben früher Kinder das Flüsschen auf ihrem Anlage war eines der behütetsten Geheimnisse der Schulweg durchquert. Libellen schwirren über das Sowjetunion, strenges Sperrgebiet, versteckt zwiGewässer. Seerosen schwimmen auf der Oberfläche. schen endlosen Birken- und Fichtenwäldern. Weder Der Wind streift raschelnd durch das Schilf am Ufer. das Werk noch die Stadt für Wissenschaftler und Der Südural spielt Postkartenmotiv. Nur Krankheit Arbeiter waren auf einer Landkarte zu finden. […] und Tod stören die Idylle. Das Werk nutzte die Tetscha zur Kühlung – Die Gefahr ist nicht zu sehen. Sie ist nicht zu und zur Entsorgung nuklearer Abfälle. Von 1949 hören oder zu riechen. Doch sie lässt sich messen: bis 1956 floss radioaktiver Müll in das Gewässer. Radioaktive Strahlung liegt an dieser Stelle um ein Die Folgen waren Krebs- und Leukämiefälle entVielfaches über dem Normalwert. […] Deswegen lang des Flusslaufs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, will Dambajew weg, weit weg vom Fluss, der sein Strahlenkrankheit, Unfruchtbarkeit und FehlgeLeben und das von Zehntausenden in der Region burten. Es war der erste schwere atomare Unfall, vergiftet hat. Er und andere leben mit einem Erbe lange vor Tschernobyl oder Fukushima. der Sowjetunion, dessen Folgen vielschichtig sind Der zweite geschah am 29. September 1957, wie eine Matrjoschka-Puppe. Von den Behörden einem Sonntagnachmittag, als das Kühlsystem an fühlen sich die Betroffenen im Stich gelassen. Und einem unterirdischen Tank ausfiel, in dem 80 Tonwer selbst etwas unternimmt, wird, dazu später, nen hochradioaktiver Abfall, zum größten Teil Caezum Staatsfeind erklärt. sium-137 und Strontium-90, lagerten. Zunächst Mitte der vierziger Jahre machte Stalin die verdampfte Flüssigkeit, dann führte ein kleiner Region unweit der Großstadt Tscheljabinsk zur Funke eines defekten Kontrollgeräts zu einer gewalSchmiede der ersten sowjetischen Atombombe. Im tigen chemischen Explosion. Radioaktive Partikel Chemiekombinat 817, heute als kerntechnische flogen bis zu 1.000 Meter hoch in die Luft und ginAnlage Majak bekannt, 80 Kilometer westlich von gen auf einer Fläche von bis zu 40-mal 300 KiloMusljumowo, ließ er Plutonium anreichern. Die meter nordöstlich der Anlage nieder. Augenzeugen, 76


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Farida Sulejmanowa wuchs mit sieben Geschwistern auf. Nur die Hälfte ist noch am Leben: Hautkrebs, Nierenkrebs, Bluthochdruck, Diabetes.

luden sie auf einen Traktor, der sie vernichtete. „Wir arbeiteten in Schichten, trugen keine Handschuhe und Polizisten kontrollierten uns“, erinnert sich Sulejmanowa, die im rot gemusterten Kleid mit buntem Kopftuch im kleinen Wohnzimmer ihres Holzhauses sitzt. Die schwarzen Haare und die wachen Augen lassen sie jünger erscheinen als 70 Jahre. Weil auch in Karabolka niemand erklärte, was geschehen war, aßen einige Kinder heimlich die Kartoffeln. Vier Wochen lang dauerte die seltsame Ernte der Kinder-Liquidatoren. „Alles, was danach selbst Kilometer entfernt, erinnern sich, wie sich mit uns geschehen ist“, konstatiert Sulejmanowa, der Himmel rot und lila färbte. Einige glaubten, die als Mathelehrerin in der Dorfschule unterrichsie sähen Polarlichter, niemand wusste, was wirk- tet, „ist die Folge dieser Arbeit. lich geschehen war. Mehr als 1.000 Menschen in der nächsten Umgebung wurden innerhalb weniger Tage evakuiert. Weitere Tausende folgten in den nächsten Jahren. Ihre Dörfer machte man dem Erdboden gleich. […] Farida Sulejmanowa kann sich noch gut an die Die vollständige Reportage lesen Sie auf Explosion im Herbst 1957 erinnern. Die radioaktiwww.ostpol.de/beitrag/5171-Majak ve Wolke zog direkt über die Holzhäuser mit dem barock-verspielten Fensterdekor ihres Heimatdorfs Karabolka hinweg. Wenige Tage zuvor war Sulejmanowa in die vierte Schulklasse gekommen, doch statt Mathematik oder Russisch zu pauken, musste sie plötzlich mit anderen Kindern zur Feldarbeit antreten. Die Schüler gruben Kartoffeln aus und 77


n-ost REPORTAGEPREIS 2018 • RECHERCHEPREIS OSTEUROPA

Gewinnerin Recherchepreis Osteuropa 2017

OLIVIA KORTAS Olivia Kortas (*1994) wuchs als Tochter polnischer Eltern im tiefsten Niederbayern auf. Sie schreibt u. a. für Al Jazeera English, Die Zeit, Die Welt und De Groene Amsterdammer. Ihre Geschichten aus dem Osten Europas erzählen, wie sich Politik auf das Leben der Menschen auswirkt. In Ungarn ging sie der Frage nach, was mit einer Gesellschaft passiert, wenn die liberale Demokratie eines Landes langsam schwindet. Foto: Johannes De Bruycker

Die Reportage von Olivia Kortas wurde am 13. September 2017 in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht.

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n-ost REPORTAGEPREIS 2 018 • RECHERCHEPREIS OSTEUROPA

POPULIST ORBÁN SPALTET UNGARN Olivia Kortas

Der Lauteste, Mittfünfziger, Blaumann, weiße Kappe, zieht höhnisch die Oberlippe hoch, nickt in Richtung seiner Freunde. „Wer weiß, vielleicht sitzt hier einer, der Fidesz wählt. Er verrät es uns bloß nicht!“ Die vier Männer, die auf Holzklappstühlen vor einer Gaststätte sitzen, erstarren und schauen sich an. Sekundenlang kribbelt die Stille. Dann spült einer die Verlegenheit mit großen Schlucken Bier hinunter, ein anderer flüchtet ins Innere der Dorfkneipe von Nézsa. Das Thema ist beendet. In den letzten Monaten hat sich im Norden Ungarns der Anteil der Menschen verdoppelt, die für die Regierungspartei Fidesz stimmen wollen. Doch in Nézsa mit seinen 1.000 Einwohnern weiß niemand, wo die Unterstützer sind. Vielleicht im Nachbarhaus. Vielleicht am selben Tisch. Szenen wie diese spielen sich im ganzen Land ab, kaum jemand spricht über Politik. Denn politisch sein heißt Feinde haben. […] „Es ist dumm, gegen den Wind zu pissen“, sagt Gabor Styevo mit weicher Stimme. Im Herbst 2010 gewann er die Bürgermeisterwahl in Nézsa zum ersten Mal. Zur gleichen Zeit rückte 60 Kilometer südlich Viktor Orbán an die Regierungsspitze in Budapest. Orbáns Fidesz unterstützt Styevo bei den Wahlen. Seit sieben Jahren sind beide Männer im Amt. Er folge seinen politischen Führern, er glaube an sie, er bleibe loyal, sagt Styevo. […] Menschen wie ihn nennen die Ungarn „Fidesz-Gläubige“. Die Menschen in Nézsa schätzen ihren Bürgermeister. Der Teer zwischen ihren Häuschen glitzert tiefschwarz, ihre Kinder wippen auf Holzschaukeln, die Styevo eigenhändig baute. Doch sie selbst sind misstrauischer und ängstlicher als früher. […]

„Politische Gegner und Journalisten werden nicht erschossen, ihre Nachricht erhält nur keine Plattform“, sagt Paul Lendvai. Der aus Ungarn stammende Publizist hat zahlreiche Bücher über Ungarn geschrieben, zuletzt eine große Orbán-Biografie. Laut Lendvai ist die ungarische Politik ein Schlafmittel. Sie mache die Menschen apathisch. Zwar kann in Ungarn jeder frei reisen und schimpfen. Doch politisch relevant ist das längst nicht mehr. […] „Ich bin ausgebrannt“, erzählt ein Aktivist, der die größten Proteste in Ungarn zwischen 2012 und 2015 mitorganisierte. So wie ihm ginge es vielen seiner Freunde. „Wenn in anderen Demokratien eine Million Menschen auf die Straße gehen, versuchen die Parteien, sie für sich zu gewinnen“, sagt er, „Aber unsere Regierung ignoriert die Million. Orbán braucht sie nicht für den Sieg.“

Die vollständige Reportage lesen Sie auf https://oliviakortas.com/portfolio/ungarn

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n-ost REPORTAGEPREIS 2018 • SHORTLIST

n-ost-SHORTLISTS 2018 Shortlist aus 95 eingereichten TEXTREPORTAGEN:

ANDREA REHMSMEIER: Kahlschlag in der Bukowina, DLF, 11.07.2017

BENJAMIN BIDDER: Sascha führt ein bisschen Krieg, Spiegel Online, 05.02.2017 (PREISTRÄGER)

CHRISTIANE SEILER: Honig und Eisen, DLF Kultur, 10.06.2017 (PREISTRÄGERIN)

JULIAN HANS: Das Rätsel Russland, Süddeutsche Zeitung Magazin, 03.11.2017

MICHAEL STAUFFER: Der Oligarchenlehrling, SRF 2 Kultur, 03.02.2017 / Produktion: SWR2 2016 (NOMINIERT)

CHRISTINE KENSCHE: Eine Reise ohne Worte, Welt am Sonntag, 12.11.2017

ANASTASIA VINOKUROVA: Russische Garagenwirtschaft, MDR Kultur, 25.11.2017

MARTINA KIX: Beli, der Gewinner, Zeit Campus, 12.06.2017

JUSTUS WILHELM: Pulverfass Baltikum, Radio Bremen (ARD Radiofeature), 30.04.2017

DAVID KLAUBERT: Sieg der Sterne, Frankfurter Allgemeine Magazin, 09.09.2017 URS MANNHART: Von Männern und Wölfen, Reportagen, 11/2017 JENS MÜHLING: Kleines Volk. Großer Glaube, Geo, 11/2017 (NOMINIERT) MICHAEL OBERT: Auf der dunklen Seite der Ehre, Geo, 03/2017 (NOMINIERT)

Shortlist aus 33 eingereichten FOTOREPORTAGEN: NIELS ACKERMANN: Looking for Lenin, veröffentlicht als: Lenin nach dem Fall, Neue Zürcher Zeitung, 16.10.2017 ELENA ANOSOVA: Section, veröffentlicht als: Trakt – weggesperrte Frauen, Dekoder, 28.09.2017 (NOMINIERT)

FRIEDRICH SCHMIDT: Ungesühnt, doch nicht vergessen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.08.2017

FLORIAN BACHMEIER: Jugend in Trümmern, 12 Pictures, 10/2017 (NOMINIERT)

EMILIA SMECHOWSKI: Sie lernten sich erst am Ende ihres Lebens kennen, Die Zeit, 02.11.2017

ARTHUR BONDAR: In Russia, the Game Plays You, veröffentlicht als: Sowjet-Nostalgie am Spielautomaten, Beyond '91 (Cafébabel), 03/2017

NANCY WALDMANN: Showdown im Dorfladen, Reportagen, 05/2017 Shortlist aus 34 eingereichten RADIOREPORTAGEN: RENATA BOROWCZAK-NASSERI und JOHANNA RUBINROTH: Väter. Helden, rbb Kulturradio, 30.04.2017 CHRISTINE HAMEL: Mapping Lenin. BR, 15.02.2017 TANJA KRÜGER und JOHANNA RUBINROTH: Magda und der Maulkorb, rbb Kulturradio/DLF, 20.12.2017 ANTJE LEETZ und CHARLOTTE MISSELWITZ: Amazonen der Roten Armee, DLF Kultur, 01.07.2017 DAVID ZANE MAIROWITZ und MALGORZATA ZERWE: Kaczynskiland, DLF/Radio Bremen, 24.03.2017 (NOMINIERT) 80

EMILE DUCKE: Diagnosis, veröffentlicht als: Und einmal jährlich kommt der Arzt, Neue Zürcher Zeitung, 06.-10.03.2017 (NOMINIERT) EVGENY FELDMAN: Running for President in Russia, veröffentlicht als: Opposition unerwünscht, Tages-Anzeiger, 26.12.2017 KIRILL GOLOVCHENKO: Out of the Blue, veröffentlicht als: Hätten Sie Sonnencreme für mich?, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.08.2017 MORITZ KÜSTNER: Wir haben es immer geschafft, Cicero, 02/2017 ANDREY LOMAKIN: Amulet, veröffentlicht als: Gut aufgerüstet, Spiegel Online, 09.02.2017


n-ost REPORTAGEPREIS 2 018

n-ost beschreitet neue Wege im Auslandsjournalismus. In Zeiten auseinanderdriftender Gesellschaften und Medienwelten vereint unser Netzwerk Journalistinnen und Medienaktivisten aus ganz Europa. Die Lust, gemeinsam nach neuen Perspektiven zu suchen, und die Leidenschaft für guten Journalismus verbindet sie. Zweiter Blick, europäischer Blick Als europaweites Korrespondentennetzwerk ermöglicht n-ost den Blick über den Tellerrand der eigenen Sprachund Medienwelt. Unsere Agentur liefert vor Ort recherchierte Geschichten und bietet deutschsprachigen Medien so eine Alternative zu den Newstickern. In unserem Online-Magazin ostpol.de und mit Printpublikationen wie der Reihe Second Thoughts machen wir Osteuropa in seiner Heterogenität sichtbar und bieten Raum für Reflexion über Journalismus. Und die europäische Presseschau euro|topics macht täglich die wichtigsten Kommentare aus 32 Ländern zugänglich – in den fünf Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch und Türkisch (www.eurotopics.net). Border Crossing Journalism Als Medien-NGO geben wir Impulse und bringen Journalistinnen und Medienschaffende in einen Dialog über sich und die Welt: etwa auf der jährlichen n-ostMedienkonferenz oder mit dem Medienkompetenzprojekt Media Navigator. Wir machen grenzüberschreitende Recherchen möglich mit dem Investigativnetzwerk n-vestigate und dem cross-border-Programm Reporters in the Field. Mit medienpolitischen Veranstaltungen, Publikationen und Stellungnahmen setzen wir uns ein gegen wirtschaftliche, gesellschaftliche oder politische Einschränkungen journalistischer Arbeit. www.n-ost.org

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n-ost REPORTAGEPREIS 2 018 • IMPRESSUM

IMPRESSUM Herausgeber: n-ost Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung Alexandrinenstraße 2-3, Aufgang C 10969 Berlin Tel + 49-30-259 3283 0 Fax + 49-30-259 3283 24 www.n-ost.org Projektleitung und Redaktion: Salome Ast Redaktionelle Mitarbeit: Antonia Skiba Bildredaktion: Stefan Günther Miriam Klingl

Artdirektion und Design: Armen Vanetsyan www.cargocollective.com/avd Druck: print24 © n-ost Juni 2018

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Europas Presse kommentiert

Was bringt der Brexit?

D AGENS NY H ET ER, S C H W ED EN

"Die wohl stärksten Fürsprecher des freien Markts verlassen diesen."

DAIL Y M AIL , GROS S BRIT ANNIEN

D IENA, L ET T L AND

"Andere Länder stehen Schlange, um mit uns Handelsabkommen zu schließen."

"Britische Gewinne werden bald die Verluste durch den Brexit kompensieren."

POL IT IKEN, D ÄNEM ARK

"Dass der Brexit die Wirtschaft anschiebt, war Wunschdenken."

D E VOL KS KRANT , NIED ERL AND E

T H E IRIS H IND EPEND ENT , IRL AND

"Am härtesten werden die Pro-Brexit-Regionen getroffen."

"Wie so oft hat politisches Kalkül über gute Wirtschaftspolitik triumphiert."

EC H O2 4 , T S C H EC H IEN

"Im Interesse der EU muss der Handel mit London so frei wie möglich bleiben."

S ÜD D EUT S C H E ZEIT UNG, D EUT S C H L AND

"Vernunft hieße: Kompromisse eingehen, die Geld kosten."

J UT ARNJ I L IS T , KROAT IEN

"Banken verlassen die Londoner City Richtung Frankfurt, Paris, Amsterdam."

PÚBL IC O, PORT UGAL

"Das Vereinigte Königreich geht ohne Strategie und Vision."

MIL L IY ET , T ÜRKEI

"Offenbar wird Deutschland übernehmen müssen, was Großbritannien nicht mehr beisteuert."

Der tägliche Blick in Europas Presse auf Deutsch, Englisch, Französisch, Türkisch und Russisch eurotopics.net



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