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ZEITSCHRIFT DES | naturschutzbund | HEFT 2-2017
DIE GEHEIMNISVOLLE WELT DER PILZE
DIE „HERRSCHER“ DER WELT – WAS PILZE LEISTEN KÖNNEN UND WARUM SIE UNENTBEHRLICH SIND BAUM UND PILZ – EIN UNZERTRENNLICHES PAAR KEIN BIER OHNE PILZ PILZGIFTE
Ăœber den Autor
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obert Hofrichter, Jahrgang 1957, ist von der Ausbildung her Zoologe und Meeresbiologe. Doch nebenbei hat er sich seit der frĂźhen Kindheit intensiv mit Pilzen beschäftigt und im Jahr 2000 einen Pilz-BestimmungsfĂźhrer geschrieben, der in mehreren Sprachen erschienen ist. Im Mai 2017 ist nun sein Buch „Das geheimnisvolle Leben der Pilze – die faszinierenden Wunder einer verborgenen Welt“ erschienen, ein emotionales Bekenntnis zur Liebe zu den Pilze und Huldigung an die universelle Bedeutung dieser Organismengruppe fĂźr unsere Welt. Pilze mĂźssen mindestens genauso in den Mittelpunkt des Interesses des Naturschutzes rĂźcken wie Pflanzen, Tiere und ganze Lebensräume. Der Autor hat uns in seiner fĂźr ihn typischen, uneigennĂźtzigen Art seinen umfangreichen Text & viele seiner Fotos zur VerfĂźgung gestellt. Damit ist natur&land die erste Zeitschrift, die dieses wichtige Thema brandaktuell publizieren darf. DANKE
ROBERT HOFRICHTER
ÂťPilze sind die wahren Herrscher der Welt.ÂŤ –)PGSJDIUFS WFSTUFIU FT [V WFSCMĂ—Ë‹ FO VOE [V CFHFJTUFSO %JF 'Ă—MMF TFJOFT 8JTTFOT LPNCJOJFSU NJU EFN 8JU[ EFS %BSTUFMMVOH MBTTFO TUBVOFO 4P TQBOOFOE IBU OPDI OJFNBOE WPN .ÂżOOMFJO JN 8BMEF VOE TFJOFS XFJUMÂżVËŒ HFO 7FSXBOEUTDIBGU FS[ÂżIMU † Der Pilzesammler 240 Seiten / gebunden mit Schutzumschlag mit 16-seitigem vierfarbigen Bildteil â‚Ź 19,99 (D) / â‚Ź 20,60 (A) / CHF* 26,90 * empf. Verkaufspreis ISBN 978-3-579-08676-7
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Sommerausgabe | natur&land | 103. JG. – Heft 2 -2017
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Schwammerlsucher und Detektive haben einiges gemeinsam: Sie suchen etwas mehr oder weniger Verborgenes und das mit großer Leidenschaft. Sind sie erfolgreich, dürfen die Pilzesammler im Gegensatz zu Detektiven die köstlichen Früchte ihrer Arbeit verspeisen – nach erfolgtem Putzen versteht sich! Nicht jede Waldfreundin, nicht jeden Waldfreund packt jedoch diese Leidenschaft – und zu diesen zähle ich. Schon als kleines Kind „durfte“ ich mit meinem Großvater die Wälder rund um Bruck a. d. Glocknerstraße nach Schwammerln durchstreifen. Schnell wurde mir das Suchen langweilig, denn allzu viele fand ich nicht. Während der Opa einen Reizker nach dem anderen „brockte“, hockte ich mich gerne auf Moospolster und ließ die Stille des Waldes auf mich wirken. Sie beeindruckte mich schon damals mehr – genauso wie die belebte Natur. Vergessen waren die Schwammerl und ich hatte nur noch Augen und Ohren für die Geräusche des Waldes, seine Vögel, Ameisen, Käfer und Spinnen.
EDITORIAL
LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER,
Allerdings änderte sich das mit den Pilzen mit dem Älterwerden. Ich erinnere mich noch an einen Sommer, in dem ich mit Schulfreundinnen einige Wochen in einem Ferienhaus im Schlenkengebiet verbrachte: Der Sommer war feucht und heiß und wir fanden Parasole noch und nöcher. Es gab eine Woche lang jeden Tag Berge von Parasolschnitzeln, bis sie uns bei den Ohren hinausstanden. Nie wieder in meinem Leben sollte ich so etwas wieder erleben. Zu den Pilzbegeisterten und Genießern zählt auf jeden Fall der Verfasser des Pilztextes für unsere Ausgabe. Er, seine Frau Maria und meine „bessere“ Hälfte machen sich zuweilen gemeinsam auf die Suche – sowohl nach Pilzen zum Essen als auch zum Fotografieren. Die Ergebnisse können Sie im Heft bestaunen! Ich für meinen Teil begnüge mich mit dem Genießen. Man muss ja nicht alles können! Allerdings nur von den essbaren Fruchtkörpern der Pilze zu schreiben, würde dieser außerordentlichen Organismengruppe, die den Tieren näher steht als den Pflanzen, nicht gerecht werden. Das zeigt schon allein der Beitrag unseres Präsidenten, Roman Türk, über die Flechten als „Superorganismus“. Die heimlichen „Herrscher“ dieser Welt in ihren verschiedenen Erscheinungsformen können krank machen, aber auch heilen, können zerstören, aber auch helfen – kurzum: Ohne sie wäre die Welt wie wir sie kennen nicht denkbar. Ihre
Ingrid Hagenstein Chefredakteurin
www.naturschutzbund.at Sommerausgabe | natur&land | 103. JG. – Heft 2 -2017
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36 Die Ökologie der Pilze
04 Phänomen Pilz
Leuchtpilze
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20 Superorganismus Felchte
13 Ein unzertrennliches Paar
28 Giftpilze – Pilzgifte Titelbild: Dieser im Durchlicht mystisch anmutende und gar nicht seltene Pilz ist ein Gallertiger Zitterzahn (Pseudohydnum gelatinosum), auch Gallertstacheling oder„Eispilz“ genannt. Der saprotrophe Pilz wächst meist auf vermodertem Nadelholz. Man findet ihn vom Frühling bis zum Spätherbst. © Robert Hofrichter
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INHALT 44 Das Potenzial der Pilze
THEMA 02 Inhaltsverzeichnis 04 Phänomen Pilz Das Reich der Pilze 09 Biodiversität der Pilze 10 Kooperationen, Freundschaften und Symbiosen prägen unsere Welt 13 Ein unzertrennliches Paar: Pilz und Baum 19 Kein Bier ohne Pilz oder warum der Mensch sesshaft wurde 20 Flechten: eine verborgene Dreierbeziehung Superorganismus Flechte Univ.-Prof. i. R. Dr. Roman Türk 25 Pilz und Frost: Überlebensstrategien 26 Biolumineszenz: Das nächtliche Leuchten der Pilze 28 Pilzgifte Warum gibt es überhaupt Giftpilze? 30 Die Sache mit der Giftigkeit 32 Der Goldschimmelpilz, der falsche Freund
33 Schwermetall und Radioaktivität als Störenfriede 34 Was Sie schon immer über Schimmel wissen wollten
42 Pilz-Parasiten
36 Die Ökologie der Pilze: Von symbiontisch über saprobiontisch bis parasitisch 42 Gefürchtet: Parasiten unter den Pilzen 44 Das Potenzial der Pilze Stoffwechselprodukte von Pilzen zum Segen aller 46 Bioremediation: Biologische Bodensanierung vom Feinsten 48 Pilze im Gewässerschutz: Pilze verraten Sünden am Gewässer Mag. Dr. Hubert Blatterer
50 Klimawandel
50 Gefährdung und Schutz Klimawandel 52 Neobiota: Wärmeliebende Pilze werden häufiger 55 Überdüngung der Landschaft: Ein ernstes Wort an Landwirtschaft und politisch Verantwortliche Dr. Lothar Krieglsteiner 56 Recht und Schwammerl
DANKSAGUNG
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OTTOVA ENCYKLOPÉDIA
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Unser besonderer Dank gilt dem bekannten slowakischen Mykologen Dr. Ladislav Hagara PhD, der uns durch sein Fachwissen und zahlreiche Fotos unterstützt hat. Er ist der Autor der weltgrößten Pilzbestimmungsenzyklopädie (in tschechischer Sprache: Ottova encyklopedie hub). Großer Dank gebührt auch dem Mykologen Dr. Lothar Krieglsteiner für seinen kritischen Kommentar auf Seite 55 und der Eidg. Forschungsanstalt in der Schweiz für das ausgezeichnete Bildmaterial. Bei Fam. Wurth vom Waldviertler Pilzgarten bedanken wir uns für die Beratung und die spontan zur Verfügung gestellten schönen Fotos von Leuchtpilzen. Gleiches gilt unserem langjährigen Naturfotografen Wolfgang Schruf, der auch diese Ausgabe mit Rat und Tat in Form hochwertiger Bilder bereichert hat. Last but not least sind wir dem Lektor und Biologen der Univ. Salzburg, Dr. Roman Fuchs, sehr dankbar für seine kurzfristige Zusage die Ausgabe auch wiss. zu lektorieren.
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Ladislav Hagara
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PHÄNOMEN
PILZ
DAS REICH DER PILZE DEN TIEREN NÄHER ALS DEN PFLANZEN TEXT & FOTOS: ROBERT HOFRICHTER
Schön anzuschauen sind die beiden FadenHelmlinge, Speisepilze sind sie keine. Der beliebteste unter diesen, der Steinpilz (Boletus edulis), auch Herrenpilz genannt, gesellt sich, wie hier in einem Fichtenwald, manchmal zum bekanntesten Giftpilz überhaupt, dem Fliegenpilz (Amanita muscaria). Der Mykologe würde darauf aufmerksam machen, dass es sich nicht um die Pilze selbst handelt, sondern vielmehr um deren Fruchtkörper. Diese werden nur zu bestimmten Zeiten gebildet – Pilzfachleute sagen: „Der Pilz fruktifiziert“. Flechten, wie diese Gewöhnliche Scharlachflechte (Cladonia pleurota) sind ein 3-fach Organismus aus Pilz, Alge und Hefepilz. Die roten Fruchtkörper bildet der Pilz.
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PHÄNOMEN PILZ
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körper wie die des März-Schnecklings (Hygrophorus marzuolus) erscheinen bereits im März, doch um die kümmert sich kaum jemand. Pilze wachsen, oder wie es biologisch korrekt heißt „fruktifizieren“, eigentlich das ganze Jahr über mit nur geringen Pausen während der strengsten Fröste. Und wo bleiben all jene Pilze in Form von Schimmelpilzen, Mikroorganismen und Wesen, die systematisch schwer zuzuordnen sind? Sie erfüllen im Haushalt der Natur enorm wichtige Aufgaben – in unseren Böden, in den Gewässern, in der Luft (mit jedem Atemzug nehmen wir mindestens zehn Pilzsporen auf), in uns selbst, ja eigentlich überall. Doch wir nehmen sie kaum wahr. Mit Pilzen in ihrer Gesamtheit möchten wir in diesem Heft begeistern und deren ökologische und wirtschaftliche Bedeutung für unsere Welt aufzeigen, ist sie doch wesentlich größer als alles, was früher für möglich gehalten wurde.
FOTO: ROMAN TÜRK
ilze erfreuen sich großer Beliebtheit – ich bin daher überzeugt, dass viele Leserinnen und Leser vom Schwerpunktthema dieser Ausgabe begeistert sein werden. Die Popularität der Fungi können wir unter anderem auch daran erkennen, dass alljährlich neue Pilzführer erscheinen, obwohl die meisten Menschen oft mehrere davon besitzen, und diese in der passenden Jahreszeit die Auslagen der Buchhandlungen schmücken. Wenn die Pilzzeit naht, heißt das Zauberwort im Volksmund „in die Schwammerln gehen“. Die geschilderte Begeisterung beschränkt sich allerdings oft genug auf profane kulinarische Aspekte und weniger auf ein globales ökologisches Verständnis. Unter „Pilzen“ verstehen manche Menschen lediglich drei Spezies: Eierschwammerl, Herrenoder Steinpilze und Parasol. Einige erfahrene Sammler bringen es vielleicht auf zehn Arten. Doch zeigen sich in unseren Breiten die Fruchtkörper von vermutlich 10.000 Arten der Fungi, und da reden wir nur von den mit freiem Auge erkennbaren Großpilzen, den Makromyzeten. Manche weniger bekannte Pilzfrucht-
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PHÄNOMEN PILZ och was sind Pilze überhaupt? Heute wissen wir es mit Sicherheit, denn die Gene lügen nicht. Bis gegen Ende der 1970er Jahre hat die Verwirrung über die Pilze angedauert. Da Bücher aber langlebige Medien sind, geistern noch immer bereits überholte Definitionen durch die Gedankenwelt der Naturfreunde, wie z. B. dass Pilze Pflanzen seien. Das sind sie jedoch nicht – auch wenn ein namhaftes Internetlexikon das schreiben mag – denn sie betreiben keine Photosynthese und müssen „fressen“. Ihre „Zähne“ sind die Enzyme, welche die Nahrung verflüssigen. Diese Form der Ernährung stellt sie Tieren viel näher als Pflanzen. Für mehr Klarheit sorgte erst Robert Harding Whittaker im Jahr 1969, der mit einem neuen System der Klassifizierung sämtlicher Organismen in fünf Reiche einen Durchbruch erzielte. Whittaker unterschied Tiere (Animalia), Pflanzen (Plantae), Pilze (Fungi), Protista (Einzeller) und Mikroorganismen (Monera) wie Bakterien und Archaea (Urbakterien). Thomas Cavalier-Smith entwickelte diesen Ansatz kurz darauf weiter. Er schuf zwei Domänen: Organismen ohne (Prokaryota) und mit Zellkern (Eukaryota), und gliederte sie in sechs bis acht Reiche. 2015 pendelte sich die Zahl der Reiche dann vorläufig bei sieben ein. Wie auch immer sich die Ansichten weiter entwickeln werden: Die Pilze haben einen unbestrittenen Platz als eigenes Reich in der Organismenwelt erhalten – und dieser rückt sie den Tieren eindeutig näher als den Pflanzen. Wir müssen uns davon verabschieden sog. „Niedere Pflanzen“ sowie Moose und Flechten in einem Atemzug mit Pilzen zu nennen.
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Das Myzel auf den Stielen der Fruchtkörper vom Gelborangemilchenden Helmling (Mycena crocata) hat sozusagen das Substrat verlassen.
Die Pilzfäden (Hyphen) bzw. das aus ihnen gestrickte Pilzgeflecht (Myzel)…
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FOTOS V. O.: LADISLAV HAGARA (2); ROBERT HOFRICHTER; V. PRAVDA
Die drei Erscheinungsformen der Pilze (Fungi). Es ist verblüffend, wie lange es gedauert hat, bis man damit begann, die Zusammenhänge zwischen Myzel, Fruchtkörper und Sporen auch nur annähernd zu begreifen.
…bilden die nur gelegentlich entstehenden Fruchtkörper dieses Geflechts,…
…in denen die Sporen in einem bestimmten Abschnitt des Kreislaufes entstehen
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DAS REICH DER PILZE
Was verbindet Pflanzen, Pilze und Tiere und was trennt sie? Alle drei Reiche zählen zu den Lebewesen mit einem echten Zellkern und Mitochondrien (Eukaryoten). Pilze besitzen, anders als die Tiere, aber den Pflanzen gleich, Zellwände. Allerdings bestehen diese nicht aus Zellulose, wie bei den Pflanzen, sondern aus einer Substanz, die bei Pflanzen nicht vorkommt, wie wir sie jedoch von den Insekten kennen: Chitin. Pilze sind, wie bereits erwähnt, Geschöpfe, die anders als Pflanzen, aber gleich den Tieren fressen müssen. So wie die Tiere speichern sie Kohlenhydrate in Form des Polysaccharids Glykogen und nicht wie Pflanzen als Stärke. Soweit ist das leicht verständlich, aber komplizierter wird die Sache, wenn man sich moderne Stammbäume der Arten ansieht. Hierbei ist die Zuordnung mancher Gruppen keine stabile, langlebige und unangefochtene Angelegenheit. Immer wieder tauchen neue Auffassungen und damit neue Namen auf. Diese Zuordnungsprobleme spiegeln die verworrenen Wege der Evolution wieder. Relativ einig sind sich die Systematiker hingegen bei den Opisthokonta („Schubgeißler“), jenem Taxon (Gruppe), zu dem die vielzelligen Tiere und Pilze sowie einige Gruppen einzelliger Organismen zählen.
Ein „Schwänzchen“ als des Rätsels Lösung. Opisthokonta bedeutet griechisch „Hinterpolige“. So wurden sie wegen der Position der Geißel auf den beweglichen Reproduktionszellen getauft, weil dieses „Schwänzchen“, das zumindest in einem Entwicklungsstadium im Leben der vielzelligen Tiere und Pilze vorhanden ist oder zumindest in der Stammesgeschichte vorhanden war, sich morphologisch betrachtet hinten befindet. Der letzte gemeinsame Vorfahre der Pilze und Tiere lebte nach aktuellen Einschätzungen vor etwa einer Milliarde Jahren (die Angaben dazu variieren naturgemäß). Allzu einfach dürfen wir uns die Systematik aber nicht vorstellen: Viele Opisthokonta haben das Wasser verlassen und das Land besiedelt. Da eine Geißel (das „Schwänzchen, siehe Pfeil) zur Fortbewegung auf dem Trockenen wenig zielführend ist, wurde sie abgebaut, wie bei den meisten Pilzen. Bei uns Menschen ist sie noch an den Spermien erhalten. Wir wissen zwar nicht sicher, wie der „Ur-Hinterpolige“ genau aussah, aber gut begründet können wir annehmen, dass er einzellig war, im Wasser lebte, hinten eine oder vielleicht zwei Geißeln trug und sich durch diese in seinem aquatischen Lebensraum fortbewegen konnte. Derartige Lebewesen gibt es auch heute noch, beispielsweise in Form der Kragengeißeltierchen (Choanoflagellata), einzelliger „Tierchen“ (wenn wir sie so bezeichnen wollen), die im Meer und im Süßwasser leben. Bezogen auf den Stammbaum handelt es sich bei ihnen um eine Schwestergruppe der vielzelligen Tiere. Auch die Töpfchenpilze (Chytridiomycota), weltweit in Böden und im Süß-
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Die drei großen Linien der Evolution der Höheren Organismen mit Zellkern (Eukaryoten) auf einem Bild: Pflanze (hier ein Moos), Pilz und Tier. Anders als Tiere, aber gleich den Pflanzen, haben Pilze Zellwände, doch nicht aus Zellulose, sondern aus Chitin. Tieren gleich, aber anders als Pflanzen, müssen Pilze „fressen“. Pilze sind sozusagen weder Fisch noch Fleisch.
Ein Vertreter der Opisthokonta ist das Kragengeißeltierchen (Salpingoeca sp.) mit seiner Geißel (Pfeil). FOTO: WIKIPEDIA/SERGEY KARPOV
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PHÄNOMEN PILZ wasser verbreitete Organismen, zeigen Gemeinsamkeiten. Lange Zeit rätselten die Biologen, ob sie zu den Pilzen zu zählen seien, weil sie begeißelte Stadien haben. Heute nimmt man gerade deswegen als wahrscheinlich an, dass sie Pilze und damit zugleich Verwandte der Tiere sind.
WAS WIR UNS ÜBER PILZE AUF JEDEN FALL MERKEN SOLLTEN Pilze (Fungi, Mykés) sind keine „urtümlichen Pflanzen“ und zählen daher nicht zum Fachbereich der Botanik – obwohl man sie aus historischen Gründen vor wenigen Jahrzehnten noch dort fand. Ihre eigene Wissenschaft heißt Mykologie. In der modernen biologischen Systematik bilden Pilze seit etwa 40 Jahren ein eigenes Reich der Eukaryota (Organismen mit Zellkern): die Fungi. Den Tieren stehen Pilze näher als Pflanzen – sie sind heterotroph, können also keine Photosynthese betreiben und müssen „fressen“.
In keine Schublade passen hingegen die einzelligen Schleimpilze (Mycetozoa oder Eumycetozoa). Sie gelten heute trotz ihres Namens nicht mehr als Pilze und vereinen in ihrer Lebensweise Eigenschaften von Tieren und Pilzen, gehören aber zu keiner der beiden Gruppen. Eigentlich weiß man bis heute nicht genau, was sie sind. Nach aktueller Auffassung bilden ihre Untergruppen auch kein gemeinsames Taxon mehr. Die Kategorien „Einzeller“, „Pflanze“ und „Tier“ verwenden wir deswegen so gern, um die Lebewesen in einfache „Schubladen“ stecken zu können, wie es schon der Vater der biologischen Systematik, Carl von Linné, getan hat.
Die Nahrungsaufnahme der Pilze erfolgt in verflüssigter Form mit Hilfe ihrer mächtigen Enzyme. Pilze können so gut wie alles zersetzen. Ökologisch gesehen sind Pilze Destruenten (Zersetzer), und damit gemeinsam mit Bakterien entscheidend für die Stoffkreisläufe der Natur. Hinsichtlich ihrer Lebensweise unterscheiden wir symbiontische Pilze (Partnerpilze, Mykorrhiza, siehe weiter unten), saprobiontische oder saprotrophe (Moderpilze; zerlegen abgestorbene organische Materie) und parasitische (auf anderen lebenden Organismen). Die meisten beliebten „Schwammerln“ sind Partnerpilze von Bäumen oder Moderpilze. Was wir landläufig Pilz („Schwammerl“) nennen, ist bloß dessen Fruchtkörper, nicht der eigentliche Pilz selbst. Dieser ist in der Regel im Substrat (z. B. Erdreich, Holz, Pflanzen, Tiere, andere Pilze ...) verborgen und besteht aus Fäden (Hyphen), die in ihrer Gesamtheit Myzel oder Pilzgeflecht genannt werden. Ein Pilzindividuum kann riesige Dimensionen von mehreren Hektar erreichen. Abgesehen davon gibt es auch zahlreiche mikroskopisch kleine Formen – der Übergang zu Einzellern und anderen Organismengruppen ist fließend. Solche Pilze spielen auch im Meer eine wichtige Rolle. Ein Kubikmeter Waldboden kann mehrere Tausend Kilometer Pilzfäden enthalten, die ganze Landstriche vernetzen. In den letzten Jahren sprechen Wissenschaftler vom WWW (wood wide web). Der Austausch von Stoffen über Pilzfäden ist nachgewiesen.
Das Bild zeigt Tannenholz, das von einem Pilzgeflecht eines saprobiontischen holzzersetzenden Pilzes umhüllt ist.
FOTO: LADISLAV HAGARA
In Europa finden wir an die 10.000 Arten von Großpilzen (Makromyceten), das sind solche mit Fruchtkörpern, die groß genug sind um sichtbar zu sein. Diese Zahl steigt geringfügig durch den Klimawandel, doch in höherem Ausmaß dank der Tätigkeit der Mykologen, die mit ihren molekularbiologischen Methoden immer weitere Arten beschreiben und bestehende aufsplittern.
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Rund 80 % aller Landpflanzen (manche Quellen sprechen von bis zu 90 %) gehen Assoziationen mit Pilzen ein. Viele Pflanzen sind obligatorisch mit Pilzpartnern vergesellschaftet (z. B. Erikagewächse und Orchideen). Die Mehrzahl der Pflanzen, die wir bei einem Spaziergang im und am Wald, im Park oder Garten beobachten, sind fix mit Pilzen vergesellschaftet (i. d. Regel mit mehreren bis zahlreichen). Ohne Pilze wäre die Welt, wie wir sie kennen, undenkbar!
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BIODIVERSITÄT: 10.000 ARTEN VON GROSSPILZEN IN EUROPA UND WARUM ES IMMER MEHR WERDEN
Die Zahl der wissenschaftlich beschriebenen Fungi wird mit grob 100.000 Arten angegeben. Doch gehen Mykologen davon aus, dass wahrscheinlich weitere 1,4 Mio. Spezies auf der Erde leben. Wenn wir die Insekten von der Gesamtzahl aller lebenden Organismen abziehen – das ist mehr als die Hälfte der Artenvielfalt – wird die Bedeutung der Pilze für die Gesamtbiodiversität deutlich. Dann wären die Pilze wahrscheinlich die zweitartenreichste Gruppe, noch vor den Pflanzen (um die 300.000 Gefäßpflanzenarten), wahrscheinlich gefolgt von Fadenwürmern und Spinnentieren (vielleicht auch Algen). Die Zahl der Wirbeltierspezies fällt in der Gesamtbilanz mit etwa 50.000 Arten kaum ins Gewicht. Allerdings stimmen die meisten Wissenschaftler darin überein, dass sinnvolle Näherungswerte kaum anzugeben sind, da sich die Angaben selbst in seriösen Quellen viel zu sehr unterscheiden. Sicher ist nur, dass weitaus mehr Arten existieren, als gegenwärtig beschrieben sind. Ein bemerkenswertes Detail am Rand: Taxonomen, die Pilze untersuchen wollen, müssen heutzutage nicht immer in den Wald. Zunehmend wenden sie sich der mykologischen Fracht in der Atmosphäre zu: den Pilzsporen. Forscher verwenden sozusagen genetische Angelhaken, um in dieser Gensuppe der Luft konkrete Pilzarten herausfischen zu können. Da die Methoden immer ausgeklügelter und die Köder immer vielfältiger sind, erkennen sie auch die Vielfalt der Sporen in der Luft immer besser. Nicht bloß Champignons und Trüffel schwirren in Form ihrer Sporen durch die Lüfte, sondern auch potenzielle Krankheitserreger unter all den Schlauch- und Ständerpilzen. Wenn sie in unsere Lungen oder jene unserer Katzen und Hunde gelangen, können sie auskeimen und Krankheiten verursachen. Wer sich noch mehr beunruhigen möchte, sollte ein Lehrbuch der medizinischen Mykologie in die Hand nehmen. Es ist ein ganzer Pilzgarten, der in und auf uns gedeiht, Teil des so genannten Mikrobioms, mit dem sich Forscher intensiv beschäftigen. Sie haben herausgefunden, dass ein durchschnittlicher Mensch etwa aus 30 Billionen Zellen besteht – und aus genauso vielen Fremdzellen, mehrheitlich Bakterien, aber auch Pilzen.
Infobox
Spätestens im Herbst zeigt sich im Wald eine derartige Fülle unterschiedlichster Pilzfruchtkörper, dass nicht einmal der beste Experte sie alle bestimmen könnte. Wie das möglich ist? Verdanken können wir den enormen Zuwachs nicht so sehr dem Klimawandel und der Zuwanderung neuer Pilzarten (das würde nur einen geringeren Anteil dieser Zahl ausmachen), sondern vielmehr dem Eifer der Taxonomen mit ihren modernen molekulargenetischen Methoden. Eine aktuelle Studie aus dem Jahr 2015 liefert uns ein konkretes Beispiel anhand der Wulstlinge (Amanita). Das ist eine der bekanntesten, artenreichsten und bestuntersuchtesten Pilzgattungen überhaupt; zu ihnen zählt der unübersehbare Fliegenpilz, der seit der Antike begehrte Kaiserling wie auch die tödlich giftigen Knollenblätterpilze. Bereits ungefähr 500 Arten der Gattung sind derzeit weltweit wissenschaftlich beschrieben, doch die Fachleute schätzen, dass es mindestens noch einmal so viele bisher unerkannte Spezies gibt. Allein in den letzten 20 Jahren wurden weltweit an die 220 neue Vertreter beschrieben (im Vergleich: Pro Jahr gibt es weltweit etwa drei Neubeschreibungen von Vogelarten). Ihnen kommt man eben v. a. durch Genetik auf die Schliche, da sie morphologisch kaum unterscheidbar sind. Diese beeindruckende Zahl bestätigt, wie schwer es ist, die genaue Zahl der Großpilze bei uns in Mitteleuropa und weltweit anzugeben.
Die Gattung der Schleierlinge (Cortinarius) ist ein beeindruckendes Beispiel für die Vielfalt der Pilze:
Prachtbecherlinge (Sarcoscypha spec.) sind weit verbreitete Schlauchpilze im zeitigen Frühjahr im Auwald.
Ein Baumpilz (Porlingsart) mit Guttationstropfen. Diese entstehen durch Stoffwechselvorgänge. Darunter ein Schwächeparasit, das Judasohr (Auricularia auricula-judae).
Tipp: Datenbank der Pilze Österreichs http://austria.mykodata.net Mit direkter Abfragemöglichkeit! Sommerausgabe | natur&land | 103. JG. – Heft 2 -2017
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Der beliebte und oft gesellig wachsende Echte Pfifferling (Cantharellus cibarius), in Österreich und Bayern Eierschwammerl genannt, ist ein gutes Beispiel für die Bedeutung der Mykorrhiza. So stammen alle in Supermärkten angebotenen Pilze aus dem Wald, weil sie bis heute den hartnäckigsten Versuchen der Agrarwirtschaft nach einem kommerziellen Anbau widerstanden haben. Der Grund ist die Mykorrhiza, die Symbiose, welche diese Art mit diversen Nadel- und Laubbäumen eingeht – bei uns bevorzugt mit der Gemeinen Fichte, doch auch mit der Rotbuche, mit Eichen, Kiefern und Tannen. Die komplizierten Wechselwirkungen der Symbiose nachzustellen ist scheinbar nicht ohne weiteres möglich. Züchten kann man vorerst nur Moderpilze wie Champignons oder Austernseitlinge.
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KOOPERATIONEN, FREUNDSCHAFTEN UND SYMBIOSEN PRÄGEN UNSERE WELT evor wir auf die unglaublichen Symbiosen der Pilze mit ihrer überragenden Bedeutung eingehen, wollen wir uns das Werk der weltweit anerkannten und berühmten US-amerikanischen Biologin Lynn Margulis (1938 – 2011) in Erinnerung rufen. Sie sah in der Symbiose die treibende Kraft der Stammesgeschichte, denn gerade in Zusammenhang mit Pilzen müssen wir die Kooperation in der Natur besonders hervorheben. Eines ihrer bekanntesten Bücher trägt den Titel „Die andere Evolution“. Anders als beispielsweise Richard Dawkins mit seinem „Egoistischen Gen“ stellte sie die denkbar innigste Form von Koexistenz und Koevolution in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen, die Endosymbiose, bei der ein Organismus im Körper einer anderen Art lebt. Sie wies nach, dass die Chloroplasten (Zellorganellen in pflanzlichen Zellen und für die Photosynthese zuständig) ursprünglich freilebende Cyanobakterien gewesen waren. Chloroplasten sind also nichts anderes als „domestizierte“ Cyanobakterien. Lynn Margulis ging mit der „Gaia-Hypothese“ noch einen Schritt weiter. Sie war überzeugt, dass sämtliche Bewohner unseres Planeten einer symbiotischen „Union“, einer Art „Superorganismus“ angehören. Dieser Schlussfolgerung konnten die meisten Naturwissenschaftler zwar nicht
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PHÄNOMEN PILZ
REVOLUTIONÄRE ERKENNTNIS
Der US-amerikanischen Biologin Lynn Margulis (1938 – 2011) verdanken wir einige wichtige Einsichten in die Evolution. Die Pilze sind das beste Beispiel dafür, dass Symbiosen und Kooperationen ebenso zu den treibenden Kräften der Evolution zählen wie Konkurrenz und Verdrängung. FOTO: WIKIPEDIA/JPEDREIRA
folgen, doch die Bedeutung der Symbiose für die Evolution ist längst allgemein anerkanntes Wissensgut. Daher gibt etwa Ludwig Trepl, der den Auftrag bekam, die Gaia-Hypothese kritisch zu beleuchten, in Bezug auf die Lehrmeinung von Lynn Margulis zu: „Soweit ich die Sache überblicke, kann man heute getrost sagen, dass die Endosymbiose-Theorie nicht einfach eine unter mehreren und umstritten wie alle ist, sondern zutrifft.“ Diese Einführung über enge Kooperationen zwischen grundverschiedenen Lebewesen sollte uns helfen, die Bedeutung der Pilze besser zu begreifen: Nichts auf unserer Welt wäre ohne sie denkbar, nichts wäre so, wie wir es heute kennen. Pilze sind neben bakteriellen Mikroorganismen jener Zement, der alle Lebewesen und Ökosysteme mit der unbelebten Natur zu einem Gesamtökosystem verkittet und das Leben auf unserem Planeten prägt. Erst dank der Pilze schließen sich die Stoffkreisläufe der Natur. Selbstverständlich dürfen wir dabei nicht vergessen, dass es neben symbiontischen und saprobiontischen (in abgestorbener Substanz lebenden) Pilzen auch parasitische Arten mit einem unheimlichen Zerstörungspotenzial gibt.
Uralte Partnerschaft. Bereits im Erdzeitalter des Ordoviziums vor 485 – 443 Millionen Jahren lässt sich eine bestimmte Form der Symbiose bei den ersten moosähnlichen Pflanzen nachweisen, die als Pioniere das Festland besiedelten. Forscher gehen aber davon aus, dass diese Form der Symbiose auch schon seit 900 Mio. bis 1,2 Mrd. Jahren existiert. Damals gab es noch keine Pflanzen, und als Partner der Fungi kamen nur Cyanobakterien (Blaualgen) in Frage.
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Lynn Margulis‘ Erkenntnisse wurden vom Biologen Matthias Glaubrecht in einem Artikel aus dem Jahr 2000 mit folgenden Worten gewürdigt: „Erstmals sorgte Margulis mit ihrem 1970 publizierten Buch ,Origin of Eukaryotic Cells’ für Aufsehen. Darin stellte sie dar, dass nukleinsäurehältige Organellen (z. B. Mitochondrien) als Bestandteile jeder ,höheren’ tierischen und pflanzlichen Zelle stammesgeschichtlich auf eingewanderte, domestizierte Bakterien zurückgehen. Die ,Gäste’ haben dabei sogar im Laufe der gemeinsamen Evolution per Gen-Transfer Teile ihrer eigenen Erbanweisung ausgelagert und an den ,Wirt’ abgegeben. Diese ,Endosymbionten’-Theorie war ursprünglich bereits vor über einem Jahrhundert formuliert worden. Von Fachkundigen als ,eine der gewagtesten, provokativsten und revolutionärsten Hypothesen der Zellbiologie und Evolutionsbiologie’ eingeschätzt, war sie lange Zeit auf mitunter heftige Ablehnung gestoßen. Mit ihren Arbeiten hat Margulis wesentlich dazu beigetragen, dass die Vorstellung, Endosymbionten lebten als Zellen in einer mit ihr nicht verwandten Wirtszelle, nun zum Standardwissen der Biologie gehört.“
Bei Orchideen wie dem Frauenschuh ist die Mykorrhiza für die embryonale Entwicklung aus einem Samen notwendig, findet sich aber auch in deren Wurzeln. FOTO: WOLFGANG SCHRUF
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KOOPERATIONEN UND FREUNDSCHAFTEN
„ Es lohnt sich der Natur zu helfen – denn damit hel-
FOTOS V. O.: WIKIPEDIA/YAMAMAYA; WIKIPEDIA/GIBON
fen wir uns wieder selbst.
Uralte Partnerschaft: Cyanobakterien der Gattung Nostoc (rundes Bild) bilden kugelige oder hautartige Kolonien aus langen, unverzweigten Zellschnüren in einer gelatinösen Hülle (gr. Bild). Sie leben in den Hyphen des Pilzes und bilden dort sog. Heterocysten, die der Fixierung von Stickstoffmolekülen aus der Atmosphäre dienen. Diese stünden den Pflanzen sonst trotz der Menge dieses Elements in der Luft nicht zur Verfügung. Damit „domestiziert“ der Pilz gewissermaßen die Bakterie, da diese dem Partner fotosynthetisch gebildeten Zucker und wahrscheinlich weitere Stoffe liefert. Im Austausch bekommt Nostoc vom Pilz Wasser, Phosphat und CO2.
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Eine solche Symbiose hat bis heute überdauert, nämlich in Form der mikroskopisch kleinen Art des Mykorrhizapilzes Geosiphon pyriformis mit bestimmten Stämmen von Cyanobakterien der Gattung Nostoc. Diese Partnerschaft – die einzige bisher bekannte Symbiose, bei der Cyanobakterien innerhalb der Zellen eines Pilzes wachsen – ist derzeit nur an wenigen Fundstellen in Europa nachgewiesen worden. Während Nostoc auch ohne Pilzsymbionten leben kann, ist die Zusammenarbeit für den Pilz obligatorisch – er wurde ohne Nostoc bisher nie gefunden. Durch dieses Beispiel als heute noch existierendem Modell für die frühe Stammesgeschichte der Pflanzen bekommt die Endosymbiontentheorie Lynn Margulis beste Nahrung. Schon lange vor ihrem Landgang gingen Lebewesen ohne Zellkern (Urbakterien/Archaeen und Bakterien) und auch solche mit Zellkern (alle anderen Organismen) enge Kooperationen mit verschiedenen Partnern ein und schufen damit die Grundlage für die weitere Entwicklung des Lebens auf dem Planeten. Partnerschaften sind somit eine wesentliche Grundlage des stammesgeschichtlichen Fortschritts – anders als manche dies durch einen falsch verstandenen Darwinismus annehmen. Wenn wir genauer hinsehen, finden wir Kooperationen überall in der Natur rund um uns. Zusammenarbeit war wohl eines der wesentlichsten Erfolgsmodelle der Evolution. Wir alle tragen die Spuren der alten Freundschaften in uns – etwa in Form von Mitochondrien in jeder Zelle unseres Körpers und das verbindet uns mit sämtlichen Tieren, Pflanzen und Pilzen. Selbstverständlich können Pilze vielfach für Menschen, Tiere, Pflanzen und andere Organismen (auch andere Pilze) schädlich oder sogar tödlich sein. Es wäre mühsam zu beantworten, welcher Faktor in der Entwicklung prägender war: Konkurrenz ODER Freundschaft. Sehen wir es realistisch: In der Natur gibt es Konkurrenz UND Freundschaft – und beide sind durchaus Ergebnisse der natürlichen Selektion im Sinne der Evolution. Gerade die Pilze lehren uns aber: Nicht ausschließlich „egoistische“ Verhaltensweisen dominieren die natürlichen Grundlagen der Welt! Wir sind alle vernetzt. Daher lohnt es sich auch, der Natur zu helfen – denn damit helfen wir uns wieder selbst. Die Fortschritte der Wissenschaft weisen uns den Weg, wie man mit „feindlichen“ Pilzen umgehen und sie in Schach halten kann. Wir können nicht alles auf dieser Welt ausrotten, was uns oberflächlich betrachtet nutzlos oder gar schädlich erscheint. Claviceps purpurea, das Mutterkorn zum Beispiel, exisitierte schon lange vor dem ersten gezielten Getreideanbau unserer Vorfahren während der Jungsteinzeit. Mutterkornalkaloide sind nicht nur todbringende Gifte, sondern auch Ausgangsstoffe wertvoller Medikamente. Auch der gefürchtete Hausschwamm Serpula lacrymans ist nicht erst mit den ersten Häusern der Menschen entstanden. Im Ökosystem war er seit jeher ein wichtiger Holzzersetzer – lange bevor wir Menschen den Anspruch erhoben, die Krone der Schöpfung zu sein, der alles andere untergeordnet sei. Übrigens zeigen die Ergebnisse moderner Forschung, dass der Echte Hausschwamm eine mögliche Quelle für interessante Antibiotika werden könnte.
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PHÄNOMEN PILZ
SYMBIOSEN MIT PILZEN EIN UNZERTRENNLICHES PAAR: BAUM
UND PILZ
ilze können sowohl Freunde, Hausmeister und Untermieter als auch Feinde der Bäume sein – und der Pflanzen generell. Doch in diesem Kapitel interessiert uns ihr freundliches Gesicht. Wie eng die nachfolgend beschriebene Partnerschaft ist, zeigt die Tatsache, dass Mykorrhizapilze ihre Partnerpflanzen aktiv gegen den Befall durch andere, weniger freundliche Pilze schützen. Genau diesen Fachbegriff nehmen wir unter die Lupe: die Mykorrhiza. Das Wort stammt aus dem Griechischen: mýkēs bedeutet Pilz, rhiza heißt Wurzel. Es geht um die Symbiose von Pilzen und Pflanzen, bei der ein Pilz mit seinen Fäden (den Hyphen, deren Gesamtheit wird Myzel genannt) mit dem Feinwurzelsystem einer Pflanze in engem Kontakt steht und Austausch von Stoffen zum gegenseitigen Nutzen betreibt. Nach Schätzungen ist das wahrscheinlich bei 80 % oder mehr aller Landpflanzen der Fall, mangels der Unmöglichkeit genauer Zählungen unterscheiden sich die Angaben der Literatur hier geringfügig. Doch egal, ob 80 oder 90 %,
P
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Typische Pilz-Baum-Partner in unseren Wäldern: Gemeine Fichte (Picea abies) und Fliegenpilz (Amanita muscaria). Wenn diese fruktifizieren, sind in der Regel auch Steinpilze nicht weit. Weitere Partnerbäume der Fliegenpilze sind Birken. In vielen Fällen können Bäume und Pilze mit verschiedenen Partnern eine Mykorrhiza bilden, doch sind zahlreiche Arten auch auf einen oder wenige Partner spezialisiert. Es handelt sich – wie in unseren Breiten typisch – um eine Ektomykorrhiza (Näheres auf der nächsten Seite).
Ein Zitat beschreibt die Ektomykorrhiza treffend. Es stammt vom deutschen Biologen Albert Bernhard Frank (1839 – 1900), der das Wort Mykorrhiza als erster in das Fachvokabular der Biologie eingeführt hat: „[...] daß gewisse Baumarten [...] sich im Boden nicht selbständig ernähren, sondern überall in ihrem gesamten Wurzelsystem mit einem Pilzmycelium in Symbiose stehen, welches ihnen Ammendienste leistet und die ganze Ernährung des Baumes aus dem Boden übernimmt [...] Dieser Pilzmantel hüllt die Wurzel vollständig ein, auch den Vegetationspunkt derselben lückenlos überziehend, er wächst mit der Wurzel an der Spitze weiter und verhält sich in jeder Beziehung wie ein zur Wurzel gehörendes, mit dieser organisch verbundenes, peripheres Gewebe. Der ganze Körper ist also weder Baumwurzel noch Pilz allein, sondern ähnlich wie ein Thallus der Flechten eine Vereinigung zweier verschiedener Wesen zu einem einheitlichen morphologischen Organ, welches vielleicht passend als Pilzwurzel, Mykorrhiza bezeichnet werden kann [...]Dieser (der Mantel) liegt der Wurzelspitze nicht bloß innig auf, sondern von ihm aus dringen Pilzfädchen auch zwischen den Epidermiszellen in die Wurzel selbst ein [...].“
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SYMBIOSEN MIT PILZEN
Pilzfäden eines Mykorrhizapilzes durchdringen den Boden und vergrößern damit für die Pflanze die aktive Oberfläche zur Aufnahme von Wasser und Nährstoffen. Diese werden in den sog. Rhizomorphen (Fadenbündeln) direkt zu den Mykrorrhizen transportiert.
Gelegentlich sind auch Schimmelpilze wie diese Jochpilze Partner bei der Ektomykorrhiza.
PIXABAY
EIDG. FORSCHUNGSANSTALT WSL/SIMON EGLI
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die Pilz-Pflanze-Partnerschaft ist die Norm und nicht etwa die Ausnahme. Das Grundprinzip der Mykorrhiza bleibt bei allen ihren Formen gleich: Pilzhyphen durchziehen den Boden, um Nährstoffe und Wasser zu den Pflanzen zu transportieren. Man unterscheidet zwischen Ektomykorrhiza, Endomykorrhiza und Zwischenformen (z. B. die arbuskuläre Mykorrhiza, AM). Bei der Ektomykorrhiza formt der Pilz eine Hülle oder „Mantel“ um die Wurzelspitzen der Pflanzen. Zwar dringen dabei Pilzhyphen (Fäden) in das Rindengewebe der Wurzel ein, jedoch nur in die Zellzwischenräume und nicht in die Zellen selbst. Die Partnerpilze bei der Ektomykorrhiza sind vorwiegend Ständerpilze (Basidiomyceten), seltener Schlauchpilze (Ascomyceten), gelegentlich auch zu den Schimmelpilzen zählende Jochpilze (Zygomyceten).
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PHÄNOMEN PILZ
EIDG. FORSCHUNGSANSTALT WSL/IVANO BRUNNER (2)
Gewisse Mykorrhizapilze bilden unter erhöhtem Stickstoffeintrag keine Mykorrhizen mehr aus, wodurch das Substrat schlechter zusammengehalten wird (linkes Bild). Das rechte Bild zeigt eine gesunde Mykorrhiza. Bei hohen Stickstoffkonzentrationen wird der Austausch von Nährstoffen und Kohlenhydraten zwischen Pilz und Pflanze reduziert, was sich sowohl auf die Baumgesundheit als auch die Fruchtkörperbildung negativ auswirken kann. Das zeigen Feldbeobachtungen und Düngungsexperimente.
In den äußeren Schichten der Wurzeln des pflanzlichen Wirtes bildet sich das so genannte Hartigsche Netz (nach dem deutschen Forstbotaniker Robert Hartig, 1839 – 1901), ein dichtes Netzwerk bestehend aus Hyphen der symbiontischen Pilze. Sie dient einem effektiveren Stoffaustausch und der besseren Nährstoffaufnahme des Pilzes aus dem pflanzlichen Wirt.
Wurzelsymbiose Ektomykorrhiza. Für den Pilzfreund in unseren Breiten, der gern „in die Schwammerln geht“, ist sie von entscheidender Bedeutung, denn sie ist jene in mitteleuropäischen Wäldern am häufigsten vorkommende Wurzelsymbiose mit Bäumen. Die meisten geläufigen Ständerpilze, die wir sammeln, fotografieren oder bloß bewundern, verdanken wir gerade der Ektomykorrhiza: die beliebten Röhrlinge, Pfifferlinge, Täublinge und Milchlinge, die extrem artenreichen Schleierlinge (Cortinarius; diese sollten aber unerfahrene Pilzfreunde nicht sammeln). Aber auch Ritterlinge (viele giftige Arten), Schnecklinge und die Wulstlinge sowie Knollenblätterpilze, deren Zahl auf geschätzte 1.000 Arten weltweit anwachsen wird und die man wegen der tödlichen Giftigkeit einiger Vertreter sehr gut kennen muss, zählen dazu. Doch auch manche Schlauchpilze (Ascomyceten) wie die Trüffel verdanken wir der Ektomykorrhiza. Während die Pflanzenpartner an geeigneten Standorten manchmal auch ohne Pilze gedeihen können, tun es andere nicht und sind obligat auf Pilze als Partner angewiesen. Praktisch immer ist es so, dass mit Pilzen ausgestattete Pflanzenpartner konkurrenzfähiger sind und bessere Chancen haben als solche ohne Pilz. Die meisten Birken-,
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Die außerordentlich seltene Weiße Trüffel (Tuber magnatum), ein Schlauchpilz, verdanken wir der Ektomykorrhiza. FOTO: WOLFGANG SCHRUF
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