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56 KUNSTMARKT

WOCHENENDE 8./9./10. JANUAR 2016, NR. 5

KUNSTMARKT 57

WOCHENENDE 8./9./10. JANUAR 2016, NR. 5

Ausblick auf das Ausstellungsjahr 2016

SEPTEMBER: LONDON

Ein Jahr der Superlative

D

as Londoner Kunstjahr wird überstrahlt von der Eröffnung des neuen Anbaus der Tate Modern am 17. Juni. Dann nämlich öffnen sich die Tore des von den Schweizer Architekten Herzog & de Meuron konzipierten, spektakulären Neubaus, der von der Kunstwelt ungeduldig erwartet wird. Mit Baukosten von 260 Millionen Pfund haben sich Staat und Sponsoren die 60-prozentige Erweiterung der prominenten Ausstellungsfläche tatsächlich einiges kosten lassen. Das Museum nimmt dies zum Anlass, die ständige Sammlung einmal mehr umzuhängen. Mit welchen Exponaten die neuen Räume im sogenannten „Switch House“ dann allerdings eröffnet werden sollen, bleibt einstweilen noch offen. Aus den anstehenden Museums-Ausstellungen ragt die monumentale Schau mit Werken des Abstrakten Expressionismus in der Royal Academy heraus, die sicher einen Höhepunkt des Kunstherbstes darstellen wird. Zum ersten Mal in über 50 Jahren stellt eine Überblicksausstellung die vielfältigen Facetten dieser oft recht einseitig verstandenen Kunstrichtung vor. Neben Star-Künstlern wie Jackson Pollock, Mark Rothko und Willem de Kooning, deren Arbeiten mit Leihgaben aus der ganzen Welt vertreten sind, werden nicht nur Medien wie Fotografie und Skulptur eingehend beleuchtet, sondern auch wegweisende Künstlerinnen der Epoche: Helen Frankenthaler, Lee Krasner, Joan Mitchell und Louise Nevelson. Man könnte fast nostalgisch werden: Die Energie, das Selbstbewusstsein und die ungebrochene Zukunftsfreudigkeit der 40er- und 50er-Jahre in den USA erscheinen uns heute in unserer krisenhaften Zeit fast etwas fremd. Umso bedeutender ist daher diese Ausstellung zu bewerten. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die abstrakten Expressionisten eine der Lücken in der Sammeltätigkeit der Tate darstellen, an der wohl auch eine Neuhängung nichts zu ändern vermag. Stephanie Dieckvoss

Der Kunstwelt bietet das Museumsjahr einige außergewöhnliche Retrospektiven von Künstlern wie Hieronymus Bosch oder Édouard Manet – die in dieser Vollständigkeit noch nie zu sehen waren. Neugierig machen auch klug konzipierte Themenausstellungen.

MÄRZ: NEW YORK

Eine intensive Beziehung zum Betrachter: Édouard Manets Ölbild „Nana“ von 1877 gehört zum Sammlungsbestand der wieder eröffneten Hamburger Kunsthalle.

bpk/Hamburger Kunsthalle , Foto: Elke Walford

MAI: HAMBURG

S

ehen und gesehen werden wollten die Pariser, die im späten 19. Jahrhundert das jährliche Schaulaufen der Künstler in den sogenannten SalonAusstellungen frequentierten. Allerdings kam nicht alles, was diese dort vorführten, beim Publikum gut an. So lösten etwa die Bilder Édouard Manets (1832–1883) wahre Proteststürme aus. Ungewohnt intensiv inszenierte der Wegbereiter der modernen Malerei das Verhältnis zwischen den dargestellten Personen im Bild und dem Betrachter. Diese Direktheit und die Wucht, mit der das Menschliche seiner Protagonisten durch die Maske der Konvention drang, irritierte die Zeitgenossen. Die Hamburger Kunsthalle zeigt zu ihrer Neueröffnung nach der Renovierung Bildpaare, die Manet eigens für die Hängung im Salon ausgewählt hatte. So findet sich die „Nana“ (1877) aus der hauseigenen Sammlung Seite an Seite mit Jean-Baptiste Faure in der Rolle des

Hamlet (1877) aus dem Museum Folkwang in Essen. Das Meisterwerk „Le Balcon“ (1868/69) aus dem Pariser Musée d’Orsay hängt neben dem psychologisch spannend inszenierten „Le Déjeuner“ (1868) aus der Neuen Pinakothek in München, und das Bildnis der spanischen Tänzerin „Lola de Valence“ (1862) aus dem Musée d’Orsay trifft auf den „Philosophen“ (1865/67) aus dem Art Institute of Chicago, eine Kombination, die der Künstler bereits in seinem Pavillon anlässlich der Weltausstellung 1867 so zeigte. Den ganzen Manet, und zwar mit Spitzenwerken, können Besucher in Hamburg besichtigen. So eine Chance hatten sie in Deutschland seit Jahrzehnten nicht. Christiane Fricke

„Manet – Sehen. Der Blick der Moderne“, 27. Mai bis 4. September 2016, Kunsthalle Hamburg www.hamburger-kunsthalle.de

2015 The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / ARS New York

Der Provokateur

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selten, dass eine, einen so großen Zeitraum abdeckende Ausstellung ein so eng mit dem kreativen Prozess verbundenes Thema beleuchtet. Der weite Bogen durch die Kunstgeschichte zeigt, wie sich Künstler immer mit der ,Fertigkeit’ ihrer Arbeiten auseinandersetzten – im 20. Jahrhundert adoptierten sie das Konzept endlich als radikales Werkzeug, das unser Verständnis von Moderne veränderte“, so Met-Kuratorin Sheena Wagstaff. Sie zitiert dazu Cézanne, Jackson Pollock und Robert Rauschenberg. Die Ausstellung ist in einer weiteren Hinsicht bemerkenswert: Mit ihr gibt das Museum den Startschuss für seinen erweiterten Fokus auf das 20. und 21. Jahrhundert. Der wird sich in den nächsten acht Jahren in der neuen Außenstelle an der Madison Avenue, dem ehemaligen Sitz des Whitney Museum of American Art, abspielen, das im Herbst in den Meatpacking District gezogen ist. Nach dem Architekten Marcel Breuer wurde der Satellit „Met Breuer“ getauft. Barbara Kutscher „Unfinished: Thoughts Left Visible“: 18.3. bis 4.9., The Met Breuer, Madison Avenue und 75th Street, New York

Zitiert das Malen-nachZahlen-Motiv: Andy Warhols „Do It Yourself“.

New Tate Modern, ab 17. Juni. „Abstract Expressionism“, Main Galleries Royal Academy, 24. September 2016 bis 2. Januar 2017.

„Male and Female“ von Jackson Pollock: Das Ölbild von 1943/44 reist von Philadelphia nach London.

FEBRUAR: DEN BOSCH

Der Gesellschaftskritiker

E

s gibt wohl kaum einen Alten Meister, auf dessen Bildern mehr Monster und teuflisches Personal ihr albtraumhaftes Unwesen treiben wie auf den Werken des holländischen Malers Hieronymus Bosch (um 1450–1516). Es geht um eine Welt voller Illusionen und Halluzinationen, um Verführung, Sünde und Rechenschaft. Nun widmet ihm das Noordbrabants Museum 500 Jahre nach seinem Tod die umfangreichste Retrospektive, die es jemals gegeben hat. Nur 20 Tafelbilder und Triptychen sowie 19 Zeichnungen haben sich von dem malenden Gesellschaftskritiker aus der Zeit um 1500 erhalten. Darüber hinaus werden sieben Tafeln aus seiner Werkstatt und von bedeutenden Nachfolgern sowie 70 Werke von zeitgenössischen Künstlern des 15. und 16. Jahrhunderts gezeigt. Möglich gemacht hat es das „Bosch Research and Conservation Project“, das mit der Unterstützung der „Stiftung Jheronimus Bosch 500“ und der Radboud Universität Nijmegen die Früchte seiner sechsjährigen Forschungen vorstellen wird. Dabei wurde nahezu das gesamt Œuvre mit Hilfe neuester Techniken intensiv und systematisch untersucht und dokumentiert. Prominentestes Exponat ist das in Madrid aufbewahrte Trip-

tychon „The Haywain“, das nach 450 Jahren erstmals auf Reisen geschickt wird. Weitere Leihgaben kommen aus dem Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam, dem Palazzo Grimani, Venedig, und dem Metropolitan Museum in New York. Einschlägig bekannte Werke versammelt die holländische Schau, darunter „Die Versuchung des Hl. Antonius“ aus dem Prado, „Das Schiff der Narren“ aus dem Louvre, „The Death and the Master“ aus der National Gallery of Art in Washington und „The Hermit Saints“ aus der venezianischen Gallerie dell’Accademia. Darüber hinaus wurden in Vorbereitung auf die Ausstellung zahlreiche Werke restauriert. „Bosch ist der wichtigste und mittelalterlichste Künstler, den unser Land je hervorgebracht hat“, sagt Charles de Mooij, Direktor des Noordbrabants Museums. Es sei fantastisch, dass im Jahr 2016 der überwiegende Teil seines Œuvres in seiner Heimatstadt Den Bosch versammelt werden könnte. So habe eine junge Generation die Chance, sich mit seinem einzigartigen Werk vertraut zu machen. Christiane Fricke „Jheronymos Bosch – Visions of genius“, Noordbrabants Museum, Den Bosch, 13. Februar bis 8. Mai 2016

Rik Klein Gotink and Robert G. Erdmann for the Bosch Research and Conservation Project

M

it einer unerwarteten Reflexion über künstlerische Praxis überrascht im Sommer das Metropolitan Museum of Art. In „Unfinished“ kreisen über 190 Exponate unterschiedlicher Medien um die Frage „Wann ist ein Kunstwerk vollendet?“ Schon seit der Renaissance setzte sich die Kunstgeschichte mit dem Konzept des „Nonfinito“ auseinander, das vor allem einen prominenten Platz in der Bildhauerei einnahm. „Nonfinito“ wird vor allem mit Michelangelo assoziiert, der an einer ganzen Reihe von Marmorwerken absichtlich Partien unbearbeitet ließ. Renaissance-Theoretiker wie Vasari und Leonardo da Vinci sahen im Unvollendeten durchaus das Positive: Es fordere den qualifizierten, kenntnisreichen Betrachter zur (mentalen) Komplettierung heraus. Die Met-Show schließt dazu andere mögliche Gründe ein, warum Künstler ihre Werke nicht vollenden. Beispiele bis in Moderne und Gegenwart sind versammelt, darunter Andy Warhol mit dem Malen-nach-Zahlen Motiv „Do It Yourself (Violin)“ von 1962 oder Robert Gober mit seiner 15-minütigen Diashow „Slides of a Changing Painting“ (1982/83). „Es ist

VG Bild-Kunst/Courtesy of The Pollock-Krasner Foundation ARS, NY and DACS, London 2015

Die Unfertigen

„Johannes der Täufer“ von Hieronymus Bosch: Das Werk entstand zwischen 1490 und 1495.


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