ZEICHENWERKSTATT Thomas Gronegger gemeinsam mit Martin Ritt, Laurenz Kyral, Agnes Tatzber und Heidemarie Lehmann
Geymüller | Verlag für Architektur
© 2020 Geymüller I Verlag für Architektur; Aachen – Berlin ISBN 978-3-943164-51-0 Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar unter http://dnb.ddb.de. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Freigrenzen des Urheberrechtes ist ohne die Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Andrea Kraus Layout: factumdesign.com Druck: ARTIX PLUS SRL, Bucharest Printed in Romania Gefördert durch: New Design University, St. Pölten, Landesregierung Niederösterreich
INHALT [01] VORWORT Neil Harkess
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[02] STUDIERENDE UND TEAM IN LEHRE UND FORSCHUNG
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[03] ZEICHENWERKSTATT UND WAHRNEHMUNGSMETHODEN EINE ERGÄNZENDE EINHEIT
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[04] ÜBERBLICK ZUM UNTERRICHT IN DER ZEICHENWERKSTATT
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[05] INNENRAUM UND EINRICHTUNG
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[06] PERSPEKTIVISCHE KONSTRUKTION VON HOCHHÄUSERN
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Thomas Gronegger
Martin Ritt
Laurenz Kyral
Laurenz Kyral
[07] VERGLEICHSSEQUENZEN ZU STANDPUNKT UND BILDEBENE
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[08] ANWENDUNG DER PROJEKTIONSSCHABLONE
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[09] HIMMEL UND ERDE
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[10] ANMERKUNGEN ZU AUSGEWÄHLTEN HOCHHAUSZEICHNUNGEN
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Thomas Gronegger
Agnes Tatzber
Heidemarie Lehmann
Thomas Gronegger
ANHANG
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VORWORT Neil Harkess
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[01]
Being asked to write a foreword to this book, I immediately began to look back at what has been achieved in the 15, 20 years of the development of this project. Memories come flooding back; the first group of students to go to Rome, the initial trips by night train to Romania, the semester publications and exhibitions, long conversations with Thomas about future ideas. All of these events have been captured in this body of work. The Perception and Design Methodologies course and the Drawing Workshops that accompany and support the course module of Artistic Design Principles have developed, reorganized and restructured during these 20 years, but the essence of these courses has remained the same, to observe and to draw. When students come to the New Design University, they come to discover if they have what it takes to become designers, and the team of tutors on these courses, led and guided by Thomas Gronegger, is there to draw out these qualities in every student. And there one has it drawing it out! Drawing out the ideas of the students is also an art that should never be understated. Guiding the students to observe and experience the world that surrounds them is probably one of the most important aspect of the early stages of a designer’s life. Observing and finding the tools to do this takes time.
Maybe it is correct that the students begin to experience this during the drawing workshops in Rome, in Italy, in the birthplace of the Renaissance. It was during this period that the term designer started to come into use, from the Latin word ‘Disegno’, meaning to draw. To draw a line on a surface, which is also to draw out an idea, an intellectual thought from the mind, which develops into an artistic expression. To teach the students that they have the necessary tools within them to design is the art of an excellent tutor. Seeing Thomas and his team working with the students often reminds me of a wonderful quote I once heard during a lecture by Juhani Pallasmaa, speaking about one of the finest architectural professors he ever experienced, John Hejduk. When Pallasmaa asked Hejduk how he taught, he replied that he taught by osmosis, patiently drawing out the ideas from inside the students’ minds. This book reveals this art to the reader.
Neil Harkess (oben), Studiengangsleiter Innenarchitektur und Dekan der Fakultät Gestaltung NDU und Thomas Gronegger (unten) auf Reisen zur Vorbereitung des Unterrichts.
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ZEICHENWERKSTATT UND WAHRNEHMUNGSMETHODEN EINE ERGÄNZENDE EINHEIT Thomas Gronegger
Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird.*
EINFÜHRUNG Die vorgelegte Dokumentation und Übersicht zur didaktisch-forscherisch angelegten Lehre der Zeichenwerkstatt gibt Einsicht in die Entwicklung und den aktuellen Stand des Unterrichtskonzeptes. Sie stellt didaktische Vorgehensweisen, Arbeitsprozesse und ausgewählte Ergebnisse dar. Ebenso werden Anliegen und Impulse hinsichtlich des Zusammenbringens von Idee und Wirklichkeit ‒ Dichtung und Wahrheit1 thematisiert. ÜBERSICHT In diesem vorangestellten Kapitel werden zunächst die Zusammenhänge der Fächer Zeichenwerkstatt und Wahrnehmungsmethoden erläutert. Nur vor diesem Hintergrund kann das zeichnerische Projekt verstanden werden. Den Kern der vorgelegten Schrift bildet dann in den folgenden Kapiteln Martin Ritts Überblick zum Unterricht in der Zeichenwerkstatt, der durch Laurenz Kyrals Betrachtungen zu Innenraum und Einrichtung und eine Zeichensequenz zur perspektivischen Konstruktion von Bauklotzhochhäusern begleitet wird. Gronegger ergänzt dies mit Erläuterungen zu den Zusammenhängen von Standpunkt und Bildebene in der Perspektive. Agnes Tatzber rollt in zeichnerischen Sequenzen 1 Goethe, Johann Wolfgang: Dichtung und Wahrheit. Autobiografie zu Goethes frühem Leben bis 1775, die zugleich eine Bildungsgeschichte seiner Zeit ist und zeigt, wie vielfältig und wahrnehmungsbezogen seine frühe Bildung angelegt war. Seine Beobachtungsgabe sowie genauen Beschreibungen und Methoden, die er in den Naturwissenschaftlichen Schriften niederschrieb, sind eine fundamentale Inspirationsquelle für die Zeichenwerkstatt und das Fach Wahrnehmungsmethoden.
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ein „Manual“ zur arbeitserleichternden Projektionsschablone zur Perspektivkonstruktion aus und Heidemarie Lehmann widmet sich anhand ausgewählter Landschaftsgemälde des 19. Jahrhunderts künstlerischen Themen wie Himmel, Farbe, Malweise. Ein Resümee rückblickend verknüpfender Gedanken, Ausblicke auf kommende Schriften und ein genauer Blick auf ausgewählte kommentierte Hochhauszeichnungen bilden den Abschluss dieser Schrift. Seit 2014 wurde der Unterricht in der Zeichenwerkstatt von Martin Ritt und Thomas Gronegger gemeinsam und in enger Zusammenarbeit sowie in Abstimmung mit der Lehre im Fach Wahrnehmungsmethoden weiterentwickelt. Seit 2017 ist auch Laurenz Kyral aktiv in die Lehrentwicklung miteinbezogen. Tatsächlich bilden seit 2014 beide Fächer eine eng verzahnte, sich ergänzende Einheit mit verschiedenen Schwerpunkten. Dadurch wird dem Zeichnen nicht nur die entwerfende und darstellende Komponente abgewonnen, sondern dieser entschieden die wahrnehmend-analysierend zeichnende Auseinandersetzung mit örtlichen Gegebenheiten und von Vorbildern als Grundimpuls vorgespannt bzw. begleitend kultiviert. Ebenso wird entlang des Themenfadens eine Gestaltungslehre eingebracht, die anhand von Proportion, Rhythmus, Symmetrie und Struktur Wahrnehmungen methodisch differenziert und bewusst macht. ÜBUNG DER IMAGINATIONSFÄHIGKEIT Uns zeigt sich die Notwendigkeit, Prozessen distanzierten Produzierens von Ideen und Plänen, die meist in digital generierte Bilder fließen, den eigentlichen Ort, dessen Wahrnehmung sowie innere Kenntnis seiner Besonderheiten und spezifischen Raumgegebenheiten stärker gegenüberzustellen – diesen aushandelnden Dialog zwischen Idee und Wirklichkeit zu fördern. Wie lässt sich nun die Wechselwirkung von Entwurf und Raumvorstellung mit realen Gegebenheiten und realen Wirkungen imaginierend gesteuert in Einklang bringen? Wie lässt sich eine, die Imaginationsfähigkeit voraussetzende Vorstellungskraft und Raumerfahrung üben und erweitern? Welche Rolle spielt dabei die Verinnerlichung von spezifischen Raumerlebnissen? All das sind in Zeiten zunehmend technologieunterstützter Prozesse brisante Fragen: Die Imaginationsfähigkeit wird durch die einfache Verfügbarkeit von Planmaterial und relativ einfach generierbaren Bildern verführerisch leicht ihres teils mühsamen, meist lustvollen Weges des neugierigen Kundigmachens und Messens vor Ort, dann ihrer langsam tastend denkenden Hand, deren schrittweisen, auf unterschiedlichen Ebenen, zeichnend und modelbauenden Dialogs zwischen wachsenden Ideenansätzen und der erfahrbaren Wirklichkeit, beraubt. Das Erproben und Erwägen aufkeimender Ideenansätze im Abstimmen mit der inneren Kenntnis des Ortes oder Raumes und dabei das Hereinlassen des mitspielenden Zufalls braucht Zeit ‒ Zeit, die bestens investiert ist. Wenig ist nachhaltend belastender als ein misslungener Ort, Bau oder Raum, der einer Unausgewogenheit, mangelnden Einfühlung und bar vorausschauender Imagination entspringt. EFFIZIENTE HAND IN DER ALLTAGSPRAXIS Wir können hier nicht im Einzelnen differenzieren, was das manuelle vom digital unterstützten Arbeiten qualitativ unterscheidet, und es geht
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selbstverständlich nicht darum, das Arbeiten mit digitalen Medien in Frage zu stellen. Wir können aber in der Folge reflektieren und zeigen, inwieweit in der Lehre und im gestalterischen Alltag das manuelle Arbeiten und das aus dem zeichnenden Hand-Wahrnehmungsbezug generierte Denken wesentlich bereichernde und effiziente Studien- und Alltagspraxis sein kann (vgl. Kapitel 4, Blick in die Praxis, S. 55). Die besten Gestalterinnen und Gestalter sind oft in beiden Feldern unterwegs. Vielleicht ist das noch eine Generationsfrage. In Bezug auf Studierende, die gerade in die Welt der Architektur, des Raumes, der Orte, des Wahrnehmens und Entwerfens eintreten, scheint uns die Verlangsamung und Verdichtung der Prozesse geistiger und körperlich-tätig wahrnehmender Berührung eine entscheidende Rolle zu spielen. Eine Rolle, die sich aktuell wohl in den wenigsten universitären Curricula angemessen abbildet. DIE MITTEL ZUR EIGENEN SUCHE Die Vielfalt, die sich aus menschlichen Biografien und ihren differenzierten Hintergründen des Wissens der Erfahrungen und Fähigkeiten im Dialog mit ihrem Gegenüber speist, dazu die Brüche und Zufälle, die in die einzelne und gemeinschaftlich gerichtete Suche fließen und daraus Essenzen filtern, sind kostbar. Dieser Art von Vielfalt geben wir in unserem didaktischen Unterrichtsmodell den Vorzug.
Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.** Wir versuchen der individuellen Suche Studierender grundlegende Mittel wahrnehmenden Erkenntnisgewinns an die Hand zu geben, die sie selbst erweitern und ausbauen können, mit denen sie überall und jederzeit auf einfachste Weise in Dialog mit dem aufgesuchten örtlichen und baulichen (oder objekthaften) Gegenüber treten können, ohne dabei dessen innere Belebung und Qualitäten außer Acht lassen zu können! Das Ding, der Raum, der Bau, der Ort wird zur Lehrenden, die wir durch die Zeiten und über die Kulturen hinweg mit unseren Mitteln zum Sprechen bringen.
BRUCHLOSER ZUSAMMENHANG – VERGEGENWÄRTIGENDES VERWANDELN Das didaktische Programm, das in der Folge dargestellt und erläutert wird, bildet die weit gespannte Brücke ab, die sich vom individuellen Erkunden und Wahrnehmen vor Ort, Verinnerlichen, erprobenden Variieren erkannter Gestaltungsparameter und transformierenden Übertragen in neue Strukturen bis hin zu einem individuellen Entwurf auf der Basis gemeinsam entwickelter Regeln in weitem Bogen spannt. Die in individuell erfahrbar durchlebten Entwurfs- und Gestaltungsprozessen aufgehende Erkenntnis, dass zwischen dem aktiven Dialog mit geschichtlichen oder kulturellen Zeugnissen und eigenständig vergegenwärtigend entwickelter neuer Gestalt ein bruchloser fruchtbarer Zusammenhang bestehen kann, ist unser Anliegen. Erst dies lässt aufsuchend reisendes Betrachten von Orten, Bauten und Landschaften wieder als lustvolles und sinnvolles Studienobjekt erlangen. Jede Zeit und in ihr jedes Individuum sollte unabhängig fähig sein, sich der Qualitäten zeitlich oder
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* ** Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Naturwissenschaftliche Schriften. Erster Teil. C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung. Neunte Auflage 1982. Band 13. S. 38.
kulturell näher oder weiter Entferntem zu vergewissern2, um es wieder, geprägt durch die eigenen Erfahrungen, verwandelnd erneuern zu können. Die hier formulierten Ansprüche und Gedanken werden sich in der vorliegenden ersten Schrift nur in Teilen widerspiegeln können. Wir setzen den Fokus auf die Zeichenwerkstatt ‒ das gegenüberstehende Fach Wahrnehmungsmethoden, das, wie angedeutet, auch den Charakter einer Gestaltungslehre hat, wird hier nur knappest umrissen. Für Letzteres ist eine weitere eigene Schrift vorgesehen. Ebenso bedarf das Arbeiten, Messen und Schauen vor Ort einer eigenen Aufarbeitung. Erst durch die Zusammenschau schließt sich der Kreis. Bevor wir in das Betrachten des Unterrichtes und der Arbeitsprozesse einsteigen, wird in einem Rückblick vermittelt, vor welchem Hintergrund sich die Lehrveranstaltungen über die Jahre entwickelt haben. Darauf folgen eine Übersicht zum Programm der jährlichen Romreise und eine Darstellung der wesentlichen Inhalte des Faches Wahrnehmungsmethoden, das den gestalterischen und strukturellen Hintergrund zum Jahresprojekt bildet. Das Fach Wahrnehmungsmethoden mündet in ein von den Studierenden für die eigene Arbeit anzufertigendes Jahrbuch, das die gesamten Unterrichtszeichnungen, Aufgaben und Hausaufgaben dokumentiert und reflektierend kommentiert. Die Zeichenwerkstatt mündet in die großen Innenraum- und Hochhauszeichnungen, die im letzten Kapitel vorgestellt werden.
ENTWICKLUNG DER ZEICHENWERKSTATT SEIT DEN ANFÄNGEN
01 Cover des Zeichenkonvolutes 2002 der ersten Romreise mit Studierenden.
*** Damaliger Leiter des New Design Centres, das als Lizenznehmerin der Kingston University einen BachelorStudiengang in Produktdesign durchführte ‒ angedockt an das WIFI Sankt Pölten und getragen von der Wirtschaftskammer Niederösterreich.
Die Entwicklung des Unterrichtskonzeptes und daraus resultierender verschiedener Forschungsstränge beruht im Kern auf Methoden und Erfahrungen der Habilitationsschrift von Thomas Gronegger „ROMA DECORUM Gestaltungsprozesse im Baukörper“ (Verlag Anton Pustet, Salzburg 2000) und seiner zweijährigen Zeichenarbeit in Rom 1997‒1999. Ebenso wurde das Curriculum der Zeichenwerkstatt von Thomas Gronegger entwickelt. Martin Ritt hat seit 2012 auf Basis seiner Erfahrungen aus gemeinsamen Romreisen und als Designer und Innenarchitekt den Schwerpunkt der Perspektive, der narrativen Komposition und der künstlerischen Darstellungsmethoden mit starken Impulsen aus seiner Alltagspraxis bereichert und wesentlich mitentwickelt. DIE ANFÄNGE IM NEW DESIGN CENTRE Barry Hewson*** hat 2001 mit Studierenden die Ausstellung „Groneggers Werkstatt“ im Architekturzentrum besucht und um eine Führung gebeten. Es folgte eine handfest sympathische Einladung an Gronegger, in die Lehre am New Design Centre St. Pölten einzutreten. Dessen Forderung, mit den Studierenden im Rahmen seines Faches sieben Tage nach Rom zu fahren, wurde von Hewson gerne zugestanden. 2 Tomáš Valena schreibt in der Einführung zu Beziehungen – Über den Ortsbezug in der Architektur über den als „Du“ persönlich angesprochenen Ort – die Architektur der Beziehung, derer sich jede Generation vergewissern müsse (Geymüller/Verlag für Architektur 2014. S. 7). Mit „vergewissern“ ist bei Valena wohl das Nachsehen und Prüfen gemeint, welchen Wert etwas gegenwärtig wiedererlangen kann.
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STUDIERENDE UND TEAM DER LEHRENDEN SEIT 2002 Seit 2002, also inzwischen seit 18 Jahren, findet jährlich eine einwöchige Studienreise nach Rom statt, an der alle Studierenden des Studienganges Innenarchitektur teilnehmen – und sieben Tage ohne Unterbrechung vor Ort analytische Zeichnungen anfertigen (Abb. 01). Anfangs noch mit 23–25 Studierenden, 2005, nach der Akkreditierung der New Design University als eigenständige Privatuniversität, mit 28‒32 Studierenden und seit den letzten drei Jahren mit 40–43 Studierenden. Insgesamt kann also davon ausgegangen werden, dass von 2002 bis 2019 rund 550 Studierende mit uns in Rom waren und an unterschiedlichen Phasen der in der Folge dargestellten Lehre teilgenommen haben. Die Steigerung der Studierendenzahl erforderte, nach und nach ein Team aufzubauen, das die notwendige „Einzelbetreuung“ leisten kann, vor Ort, den komplexen Bauten gegenüberstehend auf dem Blatt und im individuellen Dialog mit den Studierenden, die Zeichnungen durchzusprechen. Da unseres Wissens keine Hochschule in Österreich eine ähnlich intensive handzeichnerische analytisch-morphologische Auseinandersetzung mit geschichtlichen Bauten vermittelt, war es notwendig, frühzeitig Talente zur Mitwirkung in der Lehre und vor allem als Begleitung nach Rom einzuladen. Als erste Begleiter sind Doris Zichtl, Martin Helge Hrasko und Michael Walder zu nennen. Über einen Zeitraum von fast drei Jahren arbeiteten sie mit Gronegger am Film „monument in motion“, rekonstruierten dabei digital Michelangelos Palazzo dei Conservatori und den Petersdom (in seiner heutigen Form insbesondere auf Michelangelo, Giacomo della Porta und Carlo Maderno zurückgehend) und setzten diese Bauten nach Groneggers gezeichnetem Storyboard in virtuelle Bewegung. So erarbeiteten sie sich eine besondere Vertiefung ihrer Kenntnisse der römischen Bauwerke. An dieser Arbeit waren auch Marianne Kudlich und Tobias Zucali maßgeblich beteiligt. Der didaktische Architekturfilm mit einer Laufzeit von 180 Minuten erschien in Form einer DVD mit Booklet beim Verlag Anton Pustet (Herausgeber: Österreichisches Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kunst, New Design University und Kingston University). Martin Ritt – damals Studierender im Fach Innenarchitektur, der ausgerechnet 2009 bei der jährlichen Romreise mit den Studierenden wegen einer Verletzung nicht teilnehmen konnte, aber so eine beeindruckende unabhängig erstellte Ersatzarbeit nachlieferte und freiwillig im folgenden Jahr mitkam – entwickelte sich als leidenschaftlicher Zeichner und Entwerfer, der 2011 erstmals die Romreise als Assistent begleitete und in späterer Folge als Lehrveranstaltungsleiter einen Teil der Gruppe eigenverantwortlich übernahm. Weitere Mitwirkende waren: Michael Ellensohn, der uns mehrmals nach Rom begleitete und auch eine Lehrveranstaltung im Sommersemester leitete; Sara Rois, ebenso eine starke Zeichnerin, die als Studienassistentin mitarbeitete; Rebecca Pepl, die als Studienassistentin unsere Arbeiten in Garbatella unterstützte und gegenwärtig ein Masterstudium an der Rhode Island School absolviert. Laurenz Kyral ist ein Quereinsteiger, der an der NDU Design und Handwerk studierte. Seine zeichnerischen Objektskizzen dort waren so überzeugend, dass wir ihn 2015 einluden, mit uns nach Rom zu kommen, um sich auch mit Bauwerken analytisch auseinanderzusetzen. Er hat sich so neugierig und zuverlässig in die Materie eingearbeitet, dass wir ihn in der Folge
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als Assistenz mitnahmen und er nun als Lehrveranstaltungsleiter in Rom mit der Unterstützung von Agnes Tatzber (s.u.) eine Zeichengruppe leitet. Heidemarie Lehmann kam als Studienassistentin neu ins Team. Mit ihrem abgeschlossenen BA der Kunstgeschichte übernahm sie kleine Einführungsstrecken zu Themen wie „Himmel und Wolken“ oder „Staffage“ in der Malerei der Romantik und dokumentierte im Studienjahr 2018/19 den Unterricht. REDUZIERUNG DES ZEICHENUNTERRICHTES Im Studienjahr 2013/14 erfolgte mit dem Reakkreditierungsprozess und der Notwendigkeit der Erhöhung der Wahlfächer eine einschneidende Umstellung. Das Zeichenprogramm, das bisher über fünf Semester verpflichtend angelegt war, wurde zugunsten von Wahlfächern auf zwei Semester reduziert. Nur teilweise konnte das Zeichnen in Wahlfächer sinnvoll ausgelagert werden. Einher mit dieser gravierenden Veränderung ging das Positionieren des Romprojektes nun im ersten Studienjahr. Durch diesen Wechsel vom 2. ins 1. Studienjahr wäre ein Jahrgang ohne Reise nach Rom geblieben. Martin Ritt hat sich nach Abschluss seines Masterstudiums der Innenarchitektur sofort bereiterklärt, die Reise alleine mit diesem Jahrgang im Februar nachzuholen. Er kehrte mit dieser Gruppe, die sich als besonders talentiert herausstellte, mit wunderbaren Zeichnungen zurück. Aus dieser Gruppe ging auch die Assistentin und Mitautorin, Agnes Tatzber hervor, die uns bis dato bereits mehrmals begleitete. ENGE VERKNÜPFUNG VON ZEICHNEN UND WAHRNEHMUNGSMETHODEN Die oben erwähnte Umstellung des Curriculums erforderte ein komplettes Überarbeiten und Verdichten des Lehrstoffes. Thomas Gronegger und Martin Ritt haben ein neues Zeichenprogramm konzipiert, das durch Ritt ausgebaut und vertieft wurde. Es verschränkt sich eng mit dem Fach Wahrnehmungsmethoden und kann zwar den empfindlichen Verlust von Lehrkontingent nicht aufheben, schafft aber nun einen dichten didaktischen Bogen aus analytischem Zeichnen, Methoden der Wahrnehmung von Orten, Vermittlung gestalterischer Grundlagen und Darstellungsmethoden, der zu Ergebnissen führt, die Studierende regelmäßig über sich selbst staunen lassen (vgl. Kap. 10, Anmerkungen zu ausgewählten Hochhauszeichnungen, S. 128‒149). Martin Ritt und Laurenz Kyral haben sich inzwischen auch in den Lehrstoff des Faches Wahrnehmungsmethoden eingearbeitet und diesen gemeinsam mit Gronegger unterrichtet. So wird durch sie die Verklammerung des inneren Zusammenhangs zwischen Wahrnehmungsmethoden und Zeichnen gewährleistet.
ROMREISE Rom ist ein schöner, turbulenter und zugleich äußerst anstrengender Kessel aus Verkehrslärm, versteckten oder belagerten Schönheiten und den täglichen Unvorhersehbarkeiten (Streik der öffentlichen Verkehrsmittel, Demonstrationen, Sperrung wegen Restaurierung etc.). Manchmal geht man aber nur um die Ecke und findet sich alleine und in vollkommener Ruhe Bauwerken gegenüber, deren verwaschene sienaoder ockerfarbige Fassaden ins Blau des Himmels ragen.
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Die Romfahrt steht nicht im Mittelpunkt dieser Ausgabe der Schriftenreihe. Zu vielfältig sind die Herangehensweisen, Methoden, Orte und Überlegungen, die damit verbunden sind. Gleichwohl muss sie aber in den Grundzügen erläutert werden. Die Romfahrt und Zeichenwoche vor Ort ist einer der wesentlichen Grundpfeiler für den didaktischen Bogen, der sich über das erste und zweite Semester spannt. PROGRAMM MIT FESTEN UND OFFENEN ORTEN Rom ist der Ort, wo Studierende meist erstmals mit der klassischen Architektur (und ihren Brechungen) bewusst in Berührung kommen. Dabei werden sie aber nicht in anstrengenden Touren von einer Perle zur anderen geführt und über Geschichte, Stilelemente und Besonderheiten belehrt. Vielmehr sind es angesichts der Möglichkeiten, die ein siebentägiger Aufenthalt bietet, erstaunlich wenige, sehr ausgesuchte und teils unbekannte Orte und Bauten, an und vor denen wir arbeiten. Die Auswahl der Orte wird wegen der dynamischen Umstände der Stadt und des Wetters (wir fahren immer um Allerheiligen) und auch neu entstehender Interessensgebiete nicht starr festgelegt. Es schälten sich in den vergangenen Jahren aber Orte heraus, die regelmäßiger Bestandteil wurden, und andere Orte, die in ein oder zwei aufeinanderfolgenden Studienreisen zeichnerisch durchgearbeitet wurden, bevor wir wieder Neues aufsuchten. Inzwischen wurde die Gartenstadt Garbatella zu einem bewährten, fast unerschöpflichen Freiluftforschungslabor: Hier werden von Jahr zu Jahr neue Höfe entdeckt und zeichnerisch erkundet und vermessen. Damit wurde die Auflistung beinahe mit dem eher Unbekannten begonnen – Garbatella. Dazu aber später. Als Auftakt hat sich die Piazza del Campidoglio als sehr geeignet erwiesen (Abb.02/03). Hier auf dem einen der sieben Hügel bildet sie auch eines der Herzen Roms. Der Palazzo dei Conservatori und sein jüngerer Zwilling, der Palazzo Nuovo im Trapez gegenüberstehend, wurden
02/03 Skizzen Studierender STUD: Piazza del Campidoglio. Hier die Zeichnungen, die auf die ersten Miniskizzen mit den Hauptmaßen folgen. Erst mit der genauen Gliederung der Säulenanordnung der Kolonnaden lässt sich durch Anvisieren entlang der Platzstufen das Oval einmessen.
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04/05 Übungen zum Meterschritt auf den Stufen neben dem Palazzo dei Conservatori; die Steinplatten neuerer Zeit messen exakt einen Meter.
beide von Michelangelo entworfen – ersterer von ihm noch in seinem letzten Lebensjahr im Bau begleitet, letzterer erst etwa 100 Jahre später genauso erbaut wie auf dem Kupferstich Duperacs (der Michelangelos gestalterisches Erbe in ein bildliches Testament brachte) zur Piazza del Campidoglio festgehalten. Mit seiner gewaltigen zweiflügeligen Treppe (auch von Michelangelo entworfen) bildet der stirnseitige Senatorenpalast (von Giacomo della Porta und Girolamo Rainaldi über dem antiken Tabellarium und unter teilweiser Einbeziehung mittelalterlicher Vorgängerbauten errichtet) den südöstlichen Abschluss des Platzes. Der Rücken des Senatorenpalastes, an dem noch die antike Herkunft ablesbar ist, blickt hinunter auf das erhabene Ruinenfeld des Forum Romanum, mit seinen Triumphbögen, im Fragment stehenden Säulenbauten und im Hintergrund das Kolosseum. Wieder zurück auf der Piazza Campidoglio, in nord-westlicher Richtung, vorne an der Rampe „la Cordonata“ blickt man auf die Stadt hinüber. Gerade etwas über Traufhöhe der gegenüberstehenden Bauten sieht man auf die Dachlandschaft und Kuppeln der Stadt. Hier sammeln sich die Studierenden am ersten Tag, hier machen wir die ersten Übungen zum „Meterschritt“ (Abb. 04/05) und vermessen dann zu Fuß die ausgeklügelte Platzgestaltung. Das gewaltige Ensemble, das jeden zunächst überfordert, wird anfangs in briefmarkengroße Miniskizzen gebannt, dabei deutlich die drei sichtbaren Gebäude unterschieden und die nordwestliche Grenze mit den Balustraden und der Rampe festgehalten (Abb. 02). Dann werden die wichtigsten Strecken abgeschritten und das Schrittmaß in der Skizze notiert. Die größten Ausdehnungen des Platzes werden auf das Blatt aufgetragen und aus diesem Maß alle anderen Strecken abgeleitet. So entsteht nach und nach eine exakt proportionierte Zeichnung des Platzes (Abb. 02/03). Das Visieren entlang oder gegenüberstehend von Fassadenfluchten ist eine weitere Methode, die hilft, große urbane Gefüge ohne jedes weitere Hilfsmittel exakt zu vermessen. Allen Studierenden werden zunächst die Grundzüge der Methoden erklärt, dann sind sie mit Blatt und Stift auf sich gestellt und erkunden zwischen den vielen Menschen den Platz, sind darauf angewiesen genau zu schauen, sich auf ihrem Blatt, das zu einer Art Karte wird, zu orientieren, einen Dialog mit den Gebäuden aufzunehmen und erfinderisch mit Problemstellungen umzugehen, die sich immer wieder einstellen. Im regelmäßigen vergleichenden Auslegen der Skizzen auf den Treppen stechen klare findige und ausdrucksvolle oder feinsinnige
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06/07 Besprechen und Betrachten der ausgelegten Zeichnungen. So lassen sich rasch anhand gelungener Beispiele und Misslungenem Methoden und Fehler exemplarisch besprechen.
Ansätze schnell hervor. Im Besprechen der verschiedenen Qualitäten finden sich Anregungen und neue Ansätze weiterzumachen (Abb.06/07). Die Fragen werden vertieft. Der Blick wendet sich auch der raffinierten Gebäudestruktur zu. Wir machen mit Kleingruppen Führungen und weihen die Studierenden in die inneren Geheimnisse des strukturellen und plastischen Denkens von Michelangelo ein, die dann teils Niederschlag in den Zeichnungen finden. Michelangelos Palazzo dei Conservatori und die Piazza del Campidoglio ist eine der vielen „Essenzen des Besten“, die sich in Rom finden lassen und wo sich weit Zurückliegendes mit weit Vorausschauendem so kraftvoll und weise (und auch verblüffend) überlagert3. Eine wesentliche Erkenntnis, die direkt aus der genauen Vermessung der Säulen-Wandpfeilerelemente hervorgeht, ist, dass der Durchmesser der Säulenbasis (= Breite der Plinthe) offensichtlich ein modulares Maß ist: Das gesamte „Paket“ aus Wandpfeiler (vor dem sich der Sockel der kolossalen Pilaster blendet) und seiner beiden flankierenden Säulen zeigt eine exakte Breite von vier Modulen an (4 x Breite der Plinthe). Auch wenn es nicht möglich ist, sich in den ein bis zwei Tagen, an denen wir hier am Campidoglio arbeiten, einen umfassenden Begriff zu machen, welche geistige, plastische und räumliche Kraft hier waltet, so entsteht – bei denen, die offen und neugierig sind – doch eine Ahnung, was tiefe Qualitäten sein können. Und es entsteht eine Zuversicht, dass man eigenhändig über Hand und Geist, mit Muse und Zeit diese Qualitäten und Geheimnisse freilegen kann und über die Dinge, die man vor sich hat, über alle Zeiten hinweg in ein direktes mitdenkendes „Gespräch“ mit den 3 Gronegger, Thomas: Monument in Motion, S. Pietro in Vaticano, Palazzo dei Conservatori. Ein Film aus Groneggers Werkstatt. Verlag Anton Pustet Salzburg (2005). Bildprinzip S. 38–41.
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08 Agnes Tatzber und Laurenz Kyral: Mitautoren bei der Vermessung der tatsächlichen Kirchenschiffbreite. 09 Offenes Haupttor in S. M. della Consolazione. 10 Perspektivisches „Hochziehen“ der Bogenstellungen über dem Grundriss von S. M. della Consolazione.
Künstlerinnen und Künstlern treten kann, die sie geschaffen haben. Hier sind wir im eigentlichen Zentrum von allem: Das Einzige, was wir wirklich nachhaltig leisten können, ist, die Studierenden so weit anzuregen und zu begleiten, dass sie mit den Dingen schauend, zeichnend, messend, fotografierend eigenständig in den Dialog treten und sie zu ihren Lehrenden machen. Das ist die Kraft, Dinge anderer oder gegenwärtiger Zeiten und Kulturen anzuschauen, sie geistig zu durchdringen und zu verinnerlichen und auf das Kommende hin zu verwandeln oder zu adaptieren und es damit zu bereichern. Diese geistige Unabhängigkeit zu erreichen und Möglichkeiten daraus einmal umfassend exemplarisch in großer Breite durchzuspielen, ist das Anliegen unserer Lehrveranstaltungen. Hinten, durch die enge Gasse an der Westflanke des Palazzo dei Senatori, vorbei an der Aussichtsplattform mit Blick auf das Forum Romanum und die Via di Monte Tarpeo entlang, abzweigend über die getreppte Abkürzung hinunter zur Piazza della Consolazione – dort ragt über der breiten Travertintreppe die feingegliederte Fassade von S. M. della Consolazione auf (Abb. 08‒10). Der einfache dreischiffige
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Raum mit den Pfeilerarkaden war schon oft beruhigendes Asyl, wenn wir vor den Launen des Wetters ins Trockene flüchten mussten. Die freundlichen Kapuzinermönche öffneten schon zwei Mal die Tore während der langen Mittagszeit. Nach dem „Ausgesetztsein“ am Kapitolsplatz empfindet man den geschlossenen überschaubaren Raum als Wohltat. Nur vereinzelt treten Leute ein und mit dem offenen Haupttor wird der sonst so düstere Raum mit Licht „geflutet“. Hier fangen wir die ersten Anstrengungen ab, schreiten das Kirchenschiff aus, fertigen Grundrisse an und widmen uns in den aufrechten Kirchenbänken dem Zeichnen der Bogenstellungen – als Vorbereitung für die Triumphbögen und S. Giovanni in Laterano. Weitere Orte sind meist S. Clemente oder S. Sabina und vor allem S. M. in Cosmedin, mit ihren Kosmatenböden (Abb. 11‒14). In S. M. in Cosmedin bildet der Boden tatsächlich eine Art hierarchischen Kosmos, der liturgische Orte und Wege mit seinen fein gelegten Steinmosaiken in geometrischen Feldern oder konzentrischen oder ineinandergreifenden Kreisen würdig unterlegt. In den genannten Basiliken kommt aber noch
11/12 Skizzen Studierender STUD: S. M. in Cosmedin – Bodenebenen und Bereiche. 13 STUD: S. M. in Cosmedin – „Raum im Raum“ der Schola Cantorum, die vor dem Lettner angeordnet ist und sich eng zwischen die Säulenund Wandarkaden des Mittelschiffes spannt.
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14 Studien zur Gliederung des Kosmatenmosaiks in S. M. in Cosmedin. Hier lassen sich liturgische Wege und Bereiche ablesen (aus Gronegger, Thomas: Roma Decorum. Gestaltungsprozesse im Baukörper).
ein weiteres Thema zum Tragen – die Ebenen und Abgrenzungen. Durch die „Schola Cantorum“ entsteht im Mittelschiff, vor dem Chor, ein ummauerter, um eine Stufe erhöhter „Raum im Raum“, der dann an den nochmals weiter erhobenen Chor über verschiedene Stufenkonfigurationen anschließt. Bewusst wird einem das erst, wenn die Abgrenzungen durch Mauern und Lettner zeichnerisch „weggelassen“ werden und der hierarchische Bodenaufbau wie in Schichten zum Vorschein kommt (Abb. 11‒13). Auf solche Studien folgt meist ein Besuch in S. M. in Trastevere, eine der – von Gläubigen aus dem „Quartiere“ (dem Viertel Trastevere) – belebtesten und beliebtesten Kirchen (Abb. 15‒18). Hier bewegen sich die Eintretenden besonders zurückhaltend und respektvoll. Regelmäßig finden Gottesdienste statt und viele kommen zu einem kurzen Gebet in das wunderbare Gotteshaus. Wir konzentrieren uns meist in zwei Gruppen abwechselnd auf die Erkundung und Rekonstruktion des komplexen Deckenornamentes aus dem 16. Jahrhundert (Abb. 17/18) und auf das plastische Nachvollziehen der so unglaublich raffinierten Chorbühne mit ihren Stufen, die den Altar „umbranden“ (Abb.15/16). Beide Aufgaben brauchen alle Energie und doch koppelt man sich nicht von der besonderen Atmosphäre ab – im Gegenteil, fast scheint es so, als würde man diese Stimmung indirekt – nicht über die Gesichtssinne, sondern über den Körper – aufnehmen. Auch schweift der Blick immer wieder auf das großartige Apsismosaik von Pietro Cavallino. Das Thema der Stufen und Ebenen wird in einer Aufgabenstellung verpackt, in der die Studierenden nach der Romreise, ausgehend von der Chorbühne von S. M. in Trastevere, Variationen, Modifikationen und Multiplikationen der Treppenstruktur entwickeln und somit selbst analysierte Vorbilder aktiv entwerfend nach relativ eng gesetzten Parametern verwandeln. Wieder abseits von den frühchristlich-mittelalterlichen Gotteshäusern tauchen wir in die Ruinen des Forum Romanum ein.
15/16 STUD: Chorbühne in S. M. in Trastevere: Hier werden die Stufen bewusst ohne die „Treppennasen“ dargestellt. Damit zeigen sich die faszinierenden Flächenschlüsse, in die die Stufen eingeschnitten sind.
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INNENRAUM UND EINRICHTUNG Laurenz Kyral
EINLEITUNG In den ersten beiden Unterrichtseinheiten werden Grundlagen der perspektivischen Konstruktion und künstlerischer Darstellungstechniken vermittelt. Diese werden am Beispiel kleiner Hochhauszeichnungen von den Studierenden geübt und vertieft. Zugleich ist natürlich für Studierende der Innenarchitektur der Innenraum von größtem Interesse. Schon ab der zweiten Einheit wird die perspektivische Untersuchung des urbanen Außenraums und der (Bauklotz-)Hochhäuser mit dem Innenraum parallel durchgeführt. Hier ergeben sich auch zwei maßstäbliche Qualitäten: Wo sich die Hochhauszeichnungen nur bis zu einem bestimmten Grad mit plastischen Details beschäftigen können, kann die Innenraumperspektive diese Fragen voll auskosten, weil sie viel näher an die Einzelheiten des Baukörpers herantritt. Nach der gemeinsamen Konstruktion eines einfachen Innenraums werden die individuellen Raumstrukturen mit (Schicht-)Pfeilern, Gebälk, Boden, Wandelementen und Fenstern gezeichnet, die in den parallel laufenden Unterrichtseinheiten des Faches „Wahrnehmungsmethoden“ entwickelt werden (Abb. 1‒18). Anschließend wird der Raum mit geometrisch einfachen Körpern möbliert. Durch das Arbeiten mit mehreren „Layern“ auf Transparentpapier kann man verschiedene Raumszenen ausprobieren, ohne direkt in die Originalperspektive einzugreifen (Abb. 19‒39). Großes Potenzial steckt dabei im bewussten Platzieren der Möbel. Durch den Vergleich verschiedener Reihungen – zum Beispiel dem Verschieben einzelner Objekte entlang einer Raumkante, dem Platzieren in der Mitte etc. – kann die Raumwirkung besonders gut erprobt und untersucht werden.
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PERSPEKTIVISCHE KONSTRUKTION DES INNENRAUMS KONSTRUIEREN – MIT LINEAL UND FREIHÄNDIG Wenn wir von „konstruierter Perspektive“ reden, klingt dies nach „Zeichnen mit Lineal und Geodreieck“. Trotz des konstruktiven Aspektes geht es uns im Unterricht sehr stark um das Freihandzeichnen. Prinzipiell werden die Studierenden angeregt, nur diejenigen Konstruktionslinien, die große Präzision erfordern, mit dem Lineal zu ziehen, aber wieder freihändig zu zeichnen, sobald es die Zeichnung zulässt. Nur durch Üben bekommt man ein Gefühl dafür, wie man sichere Striche ziehen kann. Und das ist wiederum kein schöner Selbstzweck, sondern dient dem, von technischen Mitteln unabhängigen genauen Erfassen durch Auge und Hand. Für das Konstruieren der großformatigen Perspektiven werden gerade abgerichtete Holz- oder Metalllatten verwendet, um die teils sehr langen Projektionslinien und Fluchtlinien der Grundkonstruktion zu ziehen. Hier geht es um äußerste Genauigkeit. Sobald die wichtigsten Hauptlinien gezogen sind, kann wieder frei Hand weitergearbeitet werden. Dadurch ist man nicht nur schneller, sondern die Zeichnung wirkt auch viel lebendiger. Ebenso wird so der Kontrast zu Objekten, wie Bäumen, Menschen und Autos, die nicht mit dem Lineal gezeichnet werden können ‒ geringer. So vereinheitlicht sich der Zeichenduktus geometrischer Baudarstellung und atmosphärischer Darstellung urbanen Lebens weit besser. Manchen Studierenden gelingt es, sowohl die detaillierte Konstruktion mit dem Lineal darzustellen als auch ihren gekonnten Freihandstrich einzusetzen. Schaffen sie den Spagat, alles Wichtige zu konkretisieren und Anderes teils im Fragment abzubilden, entsteht meist eine sehr spannende Darstellung. Oft ist die Abwechslung zwischen dem konstruktiven Charakter (mit sichtbaren Konstruktionslinien) und den kolorierten, mit Licht und Schatten fast malerisch durchgearbeiteten Zeichnungen und ihrer Atmosphäre sehr interessant.
01 STUD: Sichtbare Konstruktion und atmosphärische Stimmung in einer Zeichnung dargestellt.
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UNTERSCHIEDE DER KONSTRUKTION VON INNENRAUM UND AUSSENPERSPEKTIVE Im Unterricht wird mit dem Konstruieren eines einfachen Innenraums begonnen, der keine Pfeiler- und Gebälkstruktur aufweist. Dies kann anhand des Beitrages von Ritt Sequenz für Sequenz nachvollzogen werden (vgl. Kap. 4, Anleitung zum Konstruieren einer Zweipunktperspektive, S. 73 ff.).
Erst in den weiteren Aufgabenstellungen nehmen die Studierenden ihr selbst entwickeltes Raumsegment mit den charakteristischen Schichtpfeilern und Gebälken, das im Fach „Wahrnehmungsmethoden“ entwickelt wird, zur Grundlage. Der für den eigenen Entwurf gewählte Pfeilerrhythmus wird nun vom Grundriss in die Perspektive übertragen. Allerdings werden die Pfeiler, die sich in der Mitte eines Raumes befinden, weggelassen und nur diejenigen Pfeiler gezeichnet, die sich entlang der Segmentkante (Wand) um den Grundriss reihen. Somit entsteht ein großer ungeteilter Raum (vgl. Kap. 3, Anpassung der Segmente an die Bauklotzgröße S. 44‒46).
Im Prinzip gehen wir bei einer Innenraumperspektive genauso vor wie bei einer „Außenperspektive“. Während des erläuternden „Vor-Zeichnens“ auf der Tafel erklären die Lehrenden, wo die wesentlichen Unterschiede liegen und auf welche „Knackpunkte“ zu achten ist. Als Ergänzung zu Ritts erläuternden Zeichensequenzen am Beispiel eines einfachen Raumes (vgl. Kap. 4, Anleitung zum Konstruieren einer Zweipunktperspektive, S. 73 ff.) werden nun die Besonderheiten des klassisch mit Pfeilern gegliederten Raumes beschrieben. Nachdem der Grundriss im richtigen Maßstab gezeichnet ist, wird die Bildebene definiert. Der nächste Schritt, die Wahl des Standpunktes, ist bei einem Innenraum oft schwieriger als im Außenraum. Oft muss man virtuell außerhalb des Raumes stehen. Erst so wird der Ausschnitt groß genug, um genügend vom Raum zu zeigen und die Perspektive so darzustellen, dass sie nicht so stark verzogen erscheint. Bei der Wahl eines Standpunktes, der sich außerhalb des Raumes befindet, können aber Probleme entstehen, die Kunstgriffe erfordern. So ist klar, dass eine sichtverdeckende Wand und Pfeiler, die sich zwischen Raum und Standpunkt (außerhalb des Raumes) schieben, weggelassen werden müssen. Andererseits kann es auch erforderlich werden, die Perspektive im Boden- oder Deckenbereich etwas zu verlängern, um nicht den Eindruck eines „aufgeschnittenen“ Raumes entstehen zu lassen (falls man das nicht bewusst so darstellen will). Jedes Jahr gibt es jedoch Studierende, die mit dieser Herausforderung besonders geschickt umgehen und wundervolle Schnittperspektiven entwickeln ‒ und somit den vordergründigen Nachteil zum reizvollen Thema machen (Abb. 02‒04). Ist der Standpunkt gewählt, werden die „Sehstrahlen“ parallel zu den Grundrisskanten auf dem Blatt gezogen, der Horizont ebenso parallel zur Bildebene positioniert und die „wahre Höhe“ in die Perspektive eingemessen. Die Prozedur verläuft nun genau so, wie Martin Ritt anhand des einfachen Raumes Schritt für Schritt erläutert (vgl. Kap. 4, Anleitung zum Konstruieren einer Zweipunktperspektive, S. 73 ff.). Allerdings ist hier auch
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02 STUD: Perspektive, die Gebälk und Bodenplatte durchschneidet. 03 STUD: Schnittperspektive mit Standpunkt außerhalb des Raumes.
auf die Projektion der Schichtpfeiler und des Gebälks zu achten. Hat man nun die wichtigsten Raumkanten konstruiert, kann man mit dem Einzeichnen von Pfeiler, Gebälk und Boden beginnen.
04 STUD: Schnittperspektive ‒ Raum zwischen zwei Stockwerken.
PFEILER, GEBÄLK UND BODEN Durch die Zeichnung des Gebälks, das unmittelbar mit dem Pfeilerrhythmus zusammenhängt, bekommt der Raum einen konstruktiven oberen Abschluss. Nicht nur die Struktur wird dadurch sichtbar, sondern auch die Perspektivwirkung wird verstärkt. Um dieser Wirkung ein Gegenüber zu schaffen, kann es nützlich sein, auch den Boden zu gliedern. Ist er nur als weiße Fläche dargestellt, scheint alles zu fliegen. Eine Möglichkeit, ihn sichtbar zu machen, ist, die Gebälkstruktur als ornamentale Bodenbänderung zu spiegeln (Abb. 05, 06, 09). Ebenso könnte man eine Fließen- oder Parkettstruktur andeuten. Über das Ziehen paralleler oder sich überkreuzender Linien zu den Fluchtpunkten ist dies recht einfach durchzuführen. Weit mehr Gefühl ist gefragt, wenn man auch mit Licht, Schatten und Farbe versucht, die Bodenfläche gestalterisch zu bearbeiten (Abb.01, 07, 09, 18).
05 STUD: Deutliche Gliederung des Bodens, die die Struktur des Gebälks widerspiegelt. 06 STUD: Bodengliederung negativ in den grau schraffierten Flächen freigehalten. 07 STUD: Gestaltung des Bodens durch Licht- und Schattenakzente.
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FENSTER Ein wichtiges Anliegen des Unterrichtes ist es, den Zeichnungen plastische und atmosphärische Qualitäten zu verleihen. Um das ansehnlich zu erreichen, achten wir beim Zeichnen der Fenster besonders auf Details. Der Rahmen sollte durch feine Linien oder stärkeres Modulieren mit unterschiedlichen Strichstärken durchgearbeitet werden. So kommen auch Schattenseiten oder dünne Materialstärken stärker zum Ausdruck (Abb. 10‒12) .
08 STUD: Schattenspiele am Boden. 09 STUD: Hier wird der Boden sowohl durch Bänderung als auch durch Lichtakzente gegliedert. Die klassische Raumwirkung wird durch die Schichtpfeiler und die elegante Fenstergliederung unterstützt.
10 STUD: Hier ist der feine dunklere Rahmen sichtbar und dahinter im Außenbereich durch die Scheibe hindurch das Fenstergewände. 11 STUD: Plastizität und Räumlichkeit auch durch die Verdoppelung der Scheibe und der Sprossen.
Für die atmosphärische Wirkung ist es wünschenswert, dass zwischen Innenraum und Außenraum ein Dialog entsteht (Abb. 12‒14). Insbesondere durch hereinfallendes Licht oder den Blick nach draußen kann dies entstehen, etwa wenn die Stimmung des Himmels oder die Landschaft des Außenraumes sichtbar wird.
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12 STUD: Stark kontrastierender Rahmen, der in seiner Plastizität deutlich erkennbar ist, und Durchsicht in den Raum dahinter. 13 STUD: Dialog durch hereinfallendes Licht und die Geste der Mädchenfigur im Fenster. 14 STUD: Dialog durch zentralen Blick durch das Fenster auf abstrahierte Landschaftsdarstellung.
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ANWENDUNG DER PROJEKTIONSSCHABLONE Agnes Tatzber
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PROBLEMATIK DER KONSTRUKTION DER PFEILER Dieser Beitrag bietet eine Art „Manual“ zur Erleichterung der praktischen Erstellung der Fluchtpunktperspektive zur „großen Hochhauszeichnung“, wie sie im Kap. 6, Perspektivische Konstruktion von Hochhäusern, von Laurenz Kyral (S. 98 ff.) dargestellt wird. Strukturell knüpft dieses „Manual“ an Inhalte und Unterricht in Wahrnehmungsmethoden von Thomas Gronegger an (S. 39‒46).
001 Hochhausstruktur auf der urbanen Insel, für die der Standpunkt festgelegt wurde und bereits in der Rohstruktur in die Perspektive konstruiert werden kann. Diese Studie ist Grundlage für die große A1-Zeichnung. Sobald das Hochhaus in seiner Klotzstruktur aufgerissen ist, wird auch die Pfeilerstruktur übertragen.
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Wir gehen also davon aus, dass die Studierenden ihre Hochhausstruktur fertig entwickelt haben. Der Pfeilerrhythmus der Bauklotzsegmente ist festgelegt und auf den „urbanen Inseln“ (Abb. 001) wurde eine interessante Bauklotzstruktur aufgetürmt. Die Studierenden haben in den Vorübungen verschiedene Standpunkte für die Perspektive erprobt und sich nun für eine Ansicht entschieden, die im großen Format A1 konstruiert wird. Im ersten Schritt wird nur die Bauklotzstruktur perspektivisch konstruiert. Sobald diese in der Perspektive steht, geht es daran, den von den Studierenden entwickelten Pfeiler-Rhythmus in die Perspektive zu übertragen. Angepasst an das persönliche gestalterische Konzept variieren bei jedem Projekt der Pfeilerrhythmus und die Stapelstruktur der Bauklötze. Arbeitet man mit Präzision im perspektivischen Bild in die weit hinten liegenden Bereiche, gelangt man irgendwann an einen Punkt, an dem sich zu viele Konstruktionslinien überlagern und es unmöglich wird, die für den Bau notwendigen Pfeiler in der Tiefe noch klar und scharf dazustellen (Abb. 002). Ein Hilfsmittel dafür – und zusätzlich eine drastische Reduzierung des Arbeitsaufwandes – soll die Projektionsschablone bieten, welche nach einmaliger Übertragung der Pfeilerabstände auf die Schablone ein simples, mechanisches Übertragen auf allen Fassaden ermöglicht, die auf die gleichen Fluchtpunkte ausgerichtet sind. Somit sind bei zwei Fluchtpunkten nur zwei Projektionsschablonen anzufertigen, mit denen dann alle Fassaden durchgearbeitet werden können.
002 Das hier gezeigte Blatt führt deutlich vor Augen, was für eine nahezu unüberschaubare Dichte der Projektionslinien entsteht, wenn man versucht, alle Pfeiler zu konstruieren. Die Projektionsschablone ermöglicht es, die Pfeiler nur von einer gut zeichenbaren Einheit zu projizieren und den Rest der Pfeiler ohne Projektion mit der Schablone zu übertragen.
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