4 minute read
Frühlingsregen und Rosenknospen
DIE VIER JAHRESZEITEN UND DIE JAPANISCHE SPRACHE
Japans wunderschöne Natur und Landschaften sind zu egal welcher Zeit ein Erlebnis, und das nicht erst seit gestern. Schon vor Jahrhunderten ließen Dichter die prächtigen Farben der Jahreszeiten in ihre Werke einfließen, oder sie bestimmten gar die Mode und Traditionen der Bevölkerung. Wir nehmen Sie mit auf eine sprachliche
Advertisement
Reise durch die vier Jahreszeiten. (Text: Aya Puster)
Mehr auf der Webseite: Alltag > Sprache
Dass eine harmonische Beziehung zur Natur in Japan schon lange eine große Rolle spielt, zeigt sich in der vor 1 000 Jahren vorherrschenden Kleiderordnung zur Heian-Zeit. Die Hofdamen trugen damals sogenannte jūnihitoe, zwölflagige Gewänder, und die Hofbeamten den kariginu genannten Hosenanzug. Ihre Seidenstoffe waren so dünn und transparent, dass die Farben der unteren Lagen durchschienen und die Kombinationen einen feinen Farbverlauf zeigten. Für jede Jahreszeit gab es mehr als 20 Farbkombinationen und vorgeschriebene Trageperioden, damit man genau dieselben Farben tragen konnte, die zeitgleich in der Natur zu sehen waren. Im Frühjahr trugen die Menschen weiß und hellrosa wie die Kirschblüten, violett wie die Veilchen oder Grüntöne wie die Blätter der Bäume. Es wäre verpönt gewesen, wenn man Herbst- oder Winterfarben im Frühling getragen hätte.
Farben und kigo in der japanischen Dichtkunst
Jede Farbe hatte damals eine hübsche Bezeichnung: z.B. moegi für die gelbgrüne Farbe junger Knospen oder suo für dunkelrot. Diesen klassischen Farbbezeichnungen begegnet man oft in tanka (Kurzgedichte), wie beispielsweise dem Wort kurenai (rosenrot) im folgenden Gedicht von Masaoka Shiki:
Das Wort harusame (Frühlingsregen) kann auch ein sogenanntes kigo sein: Wörter, die vor allem in der Dichtkunst haiku auf bestimmte Jahreszeiten hinweisen. Auch von Shiki stammt dieses bekannte haiku:
Das kigo ist die Kaki-Frucht, die auf den Herbst hinweist. Wenn Muttersprachler dieses Gedicht hören, erscheint vor ihren Augen automatisch die Szenerie eines kahlen Baumes unter blauem Herbsthimmel, an dem orangefarbene Kaki-Früchte hängen, mit dem alten Tempel im Hintergrund.
Kurenai no nishaku nobitaru bara no me no hari yawarakani harusame no furu hachijūhachiya
Sanfter Frühlingsregen fällt auf die roten Rosenknospen mit ihren noch weichen Dornen
Kaki kueba kane ga narunari hōryūji
Als ich eine Kaki-Frucht aß, ertönte die Zeit verkündende Glocke des Hōryūji-Tempels
Der alte Mondkalender und japanische Traditionen
Die kigo-Sammlungen und die auf Jahreszeiten bezogenen Rituale wurden seit der Nara-Zeit immer wieder in der Jahreszeiten-Chronik saijiki zusammengefasst. Allerdings brachte die Einführung des gregorianischen Kalenders 1872 diese jahrhundertelange Tradition durcheinander, beruhte sie doch auf dem alten Mondkalender. Ein Jahr wurde nicht nur in zwölf Monate, sondern in 24 Perioden nach dem chinesischen Kalender eingeteilt. Für jede Periode war je nach Region ein besonderes Ritual vorgesehen. Auch heute noch wird der Alltag dadurch geprägt, wie folgende Feiertage und Traditionen zeigen: Das Sprichwort Atsusa samusa mo higan made bedeutet, dass „keine Kälte über den Frühlingsanfang dauert, und keine Hitze über den Herbstanfang“. Warum feiert man an diesen Tagen also die Ahnen? Früher glaubte man, dass die Sonnenwende gleichzeitig die Grenze zwischen der sterblichen Welt und dem Jenseits bedeutete. Das Wort higan heißt nichts anderes als Jenseits. Somit gewinnt dieses Sprichwort einen weiteren, tieferen Sinn – nämlich, dass man durch den Tod (am Übergang zum Jenseits) von allem Leid und Kummer dieser Welt befreit wird und in Frieden ruhen kann.
88 Tage nach dem Frühlingsanfang ist der Tag des Tee-Pflückens.
doyō no ushinohi
Ende Juli, wenn man sich vor der kräftezehrenden Sommerhitze schützen und gebratenen Aal essen soll.
nihyaku tōka
Die Zeit 210 Tage nach dem Frühlingsanfang gilt als besonders Taifun-gefährdet.
higan
Die Ahnenverehrung am Frühlings- bzw. Herbstanfang zu den Tagundnachtgleichen.
Auswirkungen des Klimawandels
Japan hat vier wunderschöne Jahreszeiten und ist dementsprechend mit vielfältiger Natur und leckeren Speisen gesegnet. Doch ob all das den voranschreitenden Klimawandel überleben und an die nächste Generation weitergegeben werden kann, bleibt fraglich. So reduzierte das meteorologische Amt Japans im Januar 2021 drastisch seinen phänologischen Beobachtungsdienst, der seit 1953 zahlreiche Tier- und Pflanzenarten sowie besondere Phänomene aufzeichnete, u.a. wann und wo die ersten Kirschblüten blühen oder die ersten Zikaden zu hören sein werden. Durch Erderwärmung und Urbanisierung sind bestimmte Tierarten kaum noch zu finden oder agieren völlig unabhängig von den Jahreszeiten. Mehrere Beobachtungsobjekte des Amtes sind in den letzten Jahren gar völlig verschwunden. Es ist also möglich, dass der Klimawandel auch die Sprache und Traditionen des zukünftigen Japans beeinflussen wird.
QUIZ
Können Sie das kigo in den folgenden haiku finden?
1 Shizukesa ya iwa ni shimiiru semi no koe
In der Stille hört man nur das laute Singen der Zikaden, das in den Felsen zu versickern scheint
2 Araumi ya sado ni yokotau amanogawa
Am wogenden Strand beobachte ich die Milchstraße, die am klaren Himmel über der Insel Sado zu sehen ist
3 Nanohana ya tsuki wa higashi ni hi wa nishi ni
Über einem Rapsfeld geht im Osten der Mond auf und im Westen die Sonne unter
nanohana (Raps) = Frühling
3
amanogawa (Milchstraße) = Herbst
2
semi (Zikade) = Sommer
1
LÖSUNG