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Jรถrg Kohlmeyer Die Tore nach Thulien Fantasy Roman
Jörg Kohlmeyer Die Tore nach Thulien 8. Episode – Tränen der Herrin (LEUENBURG)
Coverhintergrund und Logogestaltung: Diana Rahfoth Published by Null Papier Verlag, Deutschland Copyright © 2015 by Null Papier Verlag 1. Auflage, ISBN 978-3-95418-574-0 www.null-papier.de/290
p Das Flüchtlingslager erweist sich schnell als zweischneidiges Schwert. Mildreth, die Anführerin und letzte Tochter derer von Hirschingen, hat den Verstand verloren. Sie herrscht mit brutaler Gewalt und führt das Lager nur noch zu einem einzigen Zweck: dem persönlichen Wunsch nach Rache. Als ihre Pläne immer irrwitziger werden, beschließt Liam zu handeln und bringt sich und seine Familie damit in höchste Gefahr. In Leuenburg regt sich inzwischen Widerstand. Asenfried, der Schmied vom Alten Markt, ist nicht untätig und erneuert alte Kontakte zur Leuenburger Unterwelt. Aus alten Feinden werden Verbündete und gemeinsam nehmen die letzten Herzogtreuen den Kampf gegen das Protektorium auf.
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Inhalt IN DEN UNTERGRUND........................................................................10 DIE NEUNSCHWÄNZIGE..................................................................30 GOSSENLÄUFER.......................................................................................... 47 NEUE ZIELE...................................................................................................... 74 IN DIE BURG.................................................................................................... 89 GEGENSCHLAG......................................................................................... 103 GEHEIMNISSE IM GLAUBEN.......................................................122 DER LETZTE TROPFEN.......................................................................139 STAUB UND TRÄNEN.........................................................................154 AUSBLICK......................................................................................................... 166
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Zum Buch Danke, dass du mit dem Kauf dieses ebooks das Indie-Literatur-Projekt »Tore nach Thulien« unterstützt! Das ist aber erst der Anfang. Lass Dich von uns zu mehr verführen… Was sind die »Tore nach Thulien«? Die „Tore nach Thulien“ sind Dein Weg in die phantastische, glaubwürdige und erwachsene Fantasy-Welt von Thulien. Sie werden Dir die Möglichkeit geben, mit uns gemeinsam an den großen Geschichten zu arbeiten und der Welt mehr und mehr Leben einzuhauchen. Unter www.Tore-nach-Thulien.de kannst du uns besuchen und Näheres erfahren. Wir freuen uns auf Dich! Wie kannst du uns heute schon helfen? Nimm einfach an den regelmäßigen Abstimmungen teil! Per Mehrheitsentscheid machen wir am Ende der Abstimmungen dann den nächsten Schritt auf unserem gemeinsamen Weg durch Thulien. Wir würden uns freuen, wenn du uns begleitest!
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Autor Jörg Kohlmeyer, geboren in Augsburg, studierte Elektrotechnik und arbeitet heute als Dipl.-Ing. in der Energiewirtschaft. Schon als Kind hatte er Spaß am Schreiben und seine erste Abenteuergeschichte mit dem klangvollen Namen »Die drei magischen Sternzeichen« passt noch heute bequem in eine Hosentasche. Der faszinierende Gedanke mit Bücher interagieren zu können ließ ihn seit seinem ersten Kontakt mit den Abenteuer Spielbüchern nicht mehr los und gipfelte im Dezember 2012 in seinem ersten Literatur-Indie-Projekt »Die Tore nach Thulien«. Immer dann wenn neben der Familie noch etwas Zeit bleibt und er nicht gerade damit beschäftigt ist, seinen ältesten Sohn in phanatasievolle Welten zu entführen arbeitet er beständig am Ausbau der Welt »Thulien«. www.Tore-nach-Thulien.de
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In den Untergrund
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ie Zeit, endlich mal wieder Farbe zu bekennen, war gekommen. In seinem Alter vielleicht etwas spät, aber immer noch besser als nie. Vor allem, wenn es gegen die verhassten Brüder des Protektoriums ging. Diese Mordbrenner und Halsabschneider brauchten nicht zu glauben, dass sie jetzt, da Herzog Grodwig tot war, einfach so, mir nichts, dir nichts, die Macht in Leuenburg an sich reißen konnten. Und wenn sie es doch versuchen sollten, dann hatten sie eben die Rechnung ohne den Wirt gemacht. In seinem Fall wohl eher ohne den Schmied, aber das spielte jetzt keine Rolle. Am Ende lief es nämlich aufs Selbe raus: Er würde ihnen gehörig in die Suppe spucken. Noch war Leuenburg nicht in der Hand dieser Verräter in Mönchsgestalt, und Asenfried kannte, der Herrin sei Dank, ein paar Leute, die wollten, dass das auch so blieb. Aufgewühlt und voller Sorge, aber deswegen nicht weniger fest entschlossen, hastete der Schmied vom alten Markt durch die schmalen und verwinkelten Gassen nach Sieben Schänken. Er wollte zum Goldenen Erker und hatte es eilig. Zwar zählte ihn schon so mancher, wie etwa der Söldner vor ein paar Wochen, zum alten Eisen – vielleicht sogar mit Recht, denn ganz so gut zu Fuß wie früher war er tatsächlich nicht mehr – aber zuschlagen konnte er noch genauso hart und präzise wie in jungen Jahren. Wenn nicht gar härter. Schwielige Hände und dicke Arme, über Jahre vom Ringen mit dem Amboss gehärtet, spürten das Gewicht einer Klinge kaum mehr. Außerdem war das verrufene Viertel der Herzogstadt lange sein Zuhause gewesen, und er konnte die altersbe10
dingt müden und leicht eingerosteten Knochen durch seine hervorragende Ortskenntnis mehr als wettmachen. Grimmig bog Asenfried an der nächsten Ecke scharf nach links. Das direkt dahinter quer über die Gasse gespannte Wäscheseil zwang ihn nicht nur blitzschnell auszuweichen, sondern sagte ihm auch, dass er die unsichtbaren Grenzen nach Sieben Schänken überschritten hatte. Die Häuser wurden schlagartig kleiner, standen dichter beieinander und hatten fast alle etwas Ruinöses an sich. Eitrigen Warzen gleich pressten sie sich hier dicht an dicht auf das Antlitz der alten Herzogstadt. Hässlich und verkommen, gleichzeitig aber auch authentisch und wahrhaftig. Egal ob windschiefe Bretterbude oder verfallenes Herrenhaus, sie alle verpassten Sieben Schänken am Ende seinen unnachahmlich schäbigen Charakter. Für die meisten der widerwärtiger Graus der Stadt, für manche hingegen gerade deswegen ihr süßlich herber Charme. Asenfried musste schmunzeln. Heruntergekommen, dreckig und unglaublich stolz, so hatte er seine Heimat einst kennen und lieben gelernt. Gut möglich, dass das Lieben auf viele, wenn nicht gar alle, befremdlich und anrüchig wirkte, er aber fühlte sich nun mal wohl dabei. Bei der Herrin, so war Sieben Schänken eben! Reflexartig tauchte er unter dem ausgefransten Seil hindurch und hielt auf die nächste, kaum erkennbare Seitenstraße zu, die Plundergasse. Dort angekommen, sah er im Vorbeilaufen an der gegenüberliegenden Hauswand den großen, stinkenden Müllhaufen, dem die Gasse ihren Namen verdankte. Jede Menge zerfetzter Kleidungsstücke, Küchenab11
fälle, zerschlagenes Mobiliar und allerlei sonstiger Unrat türmten sich zu einem halbhohen Berg auf. Ganz oben lag der verweste Kadaver eines Hundes. Mit verfilztem Fell und Myriaden von Fliegen darüber faulte er langsam und gemächlich vor sich hin. Asenfried hielt den Atem an. Es stank erbärmlich. Von den Bewohnern Sieben Schänkens ständig gefüttert, wurde der Müllberg Tag für Tag größer. Jede Nacht kam neuer Unrat dazu, und wären die Karrenkinder nicht gewesen, würde er den Menschen wohl irgendwann über die Köpfe wachsen. Einzig den verwahrlosten Waisen und Straßenkindern der Stadt war es zu verdanken, dass es bisher nicht so weit gekommen war. Die Arroganz und Unbarmherzigkeit der gutbetuchten Bürger in den anderen Stadtvierteln schwemmte diese armen Seelen immer wieder zielsicher nach Sieben Schänken zurück. Von dort zogen sie dann mit kleinen Handwägelchen los und machten selbst aus dem letzten Verwertbaren noch etwas Geld. Manchmal, wenn gar nichts dabei war, warfen sie den Müll auch einfach in einen Graben vor der Stadt und bekamen mit Glück einen Groschen von den Wachen. Kein besonders schönes System, aber zumindest eins, das funktionierte. Kaum hatte Asenfried den Müllhaufen passiert, nahm er auch schon den nächsten Abzweig nach rechts. Die Gasse hier war noch schmaler und durch den weiten Überstand der Dächer in ständiges Dämmerlicht getaucht. Dass er auch hier richtig war, verriet ihm ein Blick nach oben. Die alte, handtellergroße Heiligenikone hing noch immer in gut drei Schritte Höhe an der Hauswand. In ihrer halb herausgerissenen Verankerung ragte sie windschief in die Gasse und machte keinen guten Eindruck. Das verwitterte Ding hatte 12
schon bessere Zeiten gesehen und Asenfried fragte sich ernsthaft, warum es noch keiner abgenommen hatte. Für ihn markierte der heilige Cuthbert, dessen Gesicht inzwischen bis zur Unkenntlichkeit verrottet war, seit jeher den Eingang zur Dunklen Gasse, und wenn der Zahn der Zeit nicht bald energischer an ihm nagte, würde das wohl noch eine ganze Weile so bleiben. Wie immer lag die Gasse in absoluter Ruhe da. Nichts rührte sich und niemand war zu sehen. Einzig ihrem, selbst für Sieben Schänken, schlechten Ruf war es zu verdanken, dass Asenfried und die unzähligen stinkenden Pfützen aus nur langsam versickernden menschlichen Ausscheidungen unter sich blieben. Er wusste genau, dass die Gäste des Goldenen Erkers ihre Notdurft mangels Alternativen allesamt auf der Gasse verrichteten und niemand auf deren Bekanntschaft erpicht war. Die Kloake füllte sich jeden Abend aufs Neue und schwängerte die Luft mit ihrem süßlich herben Gestank. Als Asenfried, neben all den anderen wenig appetitlichen Eindrücken, der Geruch von Bier in die Nase stieg, hatte er sein Ziel erreicht. Für Fremde war der schmale Hintereingang des Goldenen Erkers kaum zu sehen. Vollkommen unscheinbar fügte er sich zwischen den brüchigen und verwitterten Fassaden und den verschlossenen und mit groben Holzbrettern zugenagelten Fenstern in das trostlose Bild der übrigen Gebäude mit ein. Mehr als das hatte die Dunkle Gasse nicht zu bieten, und mehr brauchte sie auch nicht zu bieten. Sie war Teil von Sieben Schänken und hatte gefälligst auszusehen wie Sieben Schänken: heruntergekommen, verwahrlost und dreckig. Froh darüber, dem schlimmsten Gestank entgehen zu können, drückte Asenfried den groben Riegel der windschiefen 13
Tür nach unten und trat in den dahinter liegenden Dunst. Die flackernden Kerzen und Öllampen verbreiteten sofort eine schummrige Stimmung und vom Tageslicht drang nur noch wenig nach innen. Zielstrebig ging er durch den Flur in Richtung Wirtsstube. Auf halbem Weg kam ihm Olda, die nur spärlich bekleidete Bedienung entgegen. Als sie ihn bemerkte, zog sie sich rasch das zerschlissene Kleid über die halb heraushängenden Brüste, nickte ihm fahrig zu und verschwand in einem der wenigen Nebenzimmer. Sigurd, der Wirt, stand hinter dem Ausschank und wischte mit einem speckigen Tuch über den hölzernen Tresen. Mit seinem wild wuchernden Schnurrbart und dem gewaltigen Bauch sah er aus wie ein großes, an Land gespültes Walross. Man konnte also sagen, er hatte sich kaum verändert. »Schau dir das an!«, rief Sigurd überrascht aus und schlug mit der flachen Hand auf den Tresen. »Erst lässt er sich jahrelang nicht blicken, und dann hat er es auf einmal ganz besonders wichtig.« Ungläubig schüttelte er kurz den Kopf. »Stapft der Kerl doch glatt zweimal in einer Woche durch meinen Schankraum.« Misstrauisch beäugte er Asenfried. »Springt beim Hammerklimpern nichts mehr raus, oder warum treibst du dich schon wieder hier rum?« »Ich freu mich auch dich zu sehen, Sigurd«, brummelte Asenfried im Vorbeigehen und stellte genervt fest, dass das alte Walross von einem Wirt noch genau derselbe Idiot wie früher war. »Ich will zu meinem Bruder. Mach auf!« Sigurd stieß einen leisen Pfiff aus. »Na, das ist mal was. Vangar wird sein Glück kaum fassen können.« Er beugte sich weit über den Tresen und gaffte Asenfried mit einem hinterhältigen Lächeln an. »Bist jetzt wohl doch nichts Besseres 14
mehr, hm? Kommst, um alte Familienbande wieder aufzuwärmen oder was?« Asenfried blieb vor der Theke stehen. Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Meine Familie geht dich nichts an. Bleib bei deinem Bier und grüble über die nächste Gärung nach. Davon verstehst du wenigstens was.« Sigurds Lächeln verschwand. »Täusch dich bloß nicht Schmied! Ich hab noch ein bisschen mehr auf der Pfanne. Da kannst du Gift drauf nehmen.« Seine Augen spuckten Feuer. »Glaubst du etwa, dein Bruder hat vergessen was geschehen ist? Glaubst du, WIR haben vergessen was geschehen ist? Wenn ja, bist du sogar noch dümmer als ich dachte.« Asenfried seufzte. Das Walross fing jetzt doch an zu nerven. Ein allerletztes Mal zwang er sich ruhig zu bleiben. »Hör mit dem Scheiß auf, Sigurd!« Er winkte ab. »Das ist lange her und die alten Zeiten sind vorbei, das weißt du genau. Außerdem bist du hier der Letzte, der sich zu beschweren braucht. Wer hat denn dein Bier in höchsten Tönen gelobt und dir damit immer wieder ahnungslose Reisende zugeschoben, hm?« Sigurd rümpfte die Nase und stieß empört die Luft aus. »Von wegen ahnungslos. Der letzte war ein Berg von einem Mann. Der hätte mir die halbe Mannschaft in der Luft zerrissen! Ich brauch zahme Lämmer, keine wilden Bären!« Asenfried verdrehte die Augen. »Wenn du mit dem was ich zu dir schicke nicht fertig wirst, ist das dein Problem, nicht meins. Früher warst du auch nicht so zimperlich und hast sie alle wie eine Gans ausgenommen. Wirst langsam zu alt für den Scheiß, was?« Er lächelte bissig und trat kräftig
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auf den Boden. »Und jetzt halt die Klappe und mach auf! Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.« Sigurd stieg die Zornesröte ins Gesicht. »Bei allem was mir heilig ist, Asenfried. Wenn es nicht dein Bruder wäre, der die alte Truppe noch irgendwie zusammenhält, dann könntest du deine Überreste jetzt draußen vom Boden kratzen.« Das Walross streckte sich durch und stemmte die Arme in die Hüften. Vollkommen unbeeindruckt zog Asenfried die Mundwinkel nach unten und machte große Augen. »Dummerweise ist er aber mein Bruder.« Dann seufzte er und senkte übertrieben traurig den Blick. »Hätte ich’s mir raussuchen können, wär’s vielleicht anders gekommen. Aber so…«, er zuckte mit den Schultern. »Blut ist eben doch dicker als Wasser.« Ein kurzer Seufzer, und die gespielte Bestürzung verschwand aus seiner Stimme. »Jetzt mach endlich das verdammte Ding auf!« Sigurd funkelte ihn trotzig an. »Ohne Losungswort geht hier mal gar nichts.« Demonstrativ langsam verschränkte er die Arme vor der Brust. Eilig hatte er es nicht. Asenfried verdrehte die Augen und presste zornig die Lippen aufeinander. Die Vorstellung, dem Kerl an die Gurgel zu gehen, wurde immer verlockender. Nur mit Mühe hielt er sich zurück. »Leck’ mich doch am Arsch du sturer Bock!«, zischte er stattdessen und zog ihm dafür in Gedanken eins mit dem Schmiedehammer über. »Richtig!« Ein schadenfrohes Grinsen sprang Sigurd plötzlich ins Gesicht. Gleichzeitig griff er blitzschnell nach dem krummen Kerzenhalter an der Wand und zog daran.
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Ein dumpfes Knacken, gefolgt von einem kurzen Quietschen, ließ Asenfried zusammenfahren. Eine Sekunde später verlor er den Boden unter den Füßen und wusste, dass er sich getäuscht hatte. Sein letzter Besuch bei Vangar war eben doch schon zu lange her. Die Falltür, die so geschickt in den Dielenboden eingelassen war, lief nämlich nicht parallel, sondern quer zur Theke. Und er stand genau darauf. Ehe er sich versah, klaffte die verborgene Rampe mit einem langgezogenen Gähnen auf und verschlang ihn in einem Bissen. Er fluchte, drohte auf den versifften Holzbohlen das Gleichgewicht zu verlieren und rutschte die Schräge hinunter. Wild mit den Armen rudernd schlitterte er dem Fuß der Rampe entgegen. Er versuchte noch zu bremsen, doch erst der feste Steinboden beendete seinen unfreiwilligen Abgang. Der abrupte Halt ließ ihn taumeln und er ging in die Knie. Verdammt! Wollte ihn dieser Hurensohn von einem Wirt etwa umbringen? Wütend rappelte sich Asenfried auf und sah, wie sich die Klappe hinter ihm wieder schloss. Unter Sigurds schadenfrohem Gelächter fiel der Verschluss klappernd in die Halterung zurück und sperrte das Tageslicht aus. Zurück blieben nur das schummrige Flackern zweier Fackeln und ein inzwischen bis aufs Blut gereizter Asenfried. Zornig schlug er sich den Staub von der Hose, sah sich um und ging auf die gegenüberliegende Tür zu. Kurz bevor er sie erreichte, schwang das windschiefe Ding knarzend auf. Ein unrasierter Kerl mit schulterlangem Haar erschien im Durchgang. Er war hager und die Augen lagen ihm tief in den Höhlen. In einen grauen, zerschlissenen Mantel gehüllt stand er im Türspalt und sah nach oben.
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»Verdammt, Sigurd! Was ist da los?«, zischte er. »Geht das nicht leiser?« Als er Asenfried bemerkte, wurden seine Augen groß. »Asenfried?« Er blinzelte. »Asenfried, bist du das?« Die Stimme gehörte Kalle, der rechten Hand seines Bruders. Asenfried brauchte einen Moment, dann aber erkannte er Kalle wieder. Immer noch derselbe, spärliche Stoppelbart und die viel zu hohlen Wangenknochen. Die ein oder andere neue Narbe und ein paar graue Haare mehr, ansonsten aber noch ganz klar Kalle. Ein guter Kerl, der das Herz stets am rechten Fleck trug. »Ja, ich bin’s, Kalle. Ich will zu Vangar. Ist er da?« Asenfried hielt ihm die Rechte hin und lächelte. Der Ärger über Sigurds dämliches Verhalten war verflogen. »Lang nicht mehr gesehen, hm?« Kalle starrte ihn an, als hätte er einen Geist gesehen. »Ja das … das kann man wohl sagen.« Anfangs noch zögerlich, griff er Asenfrieds Hand dann umso heftiger. »Bei der Herrin, Asenfried! Es tut gut dich hier unten zu sehen.« Seine Augen begannen zu leuchten. Er freute sich wirklich. »Geht mir auch so«, log Asenfried. Eigentlich hatte er mit seiner alten Vergangenheit und dem Leben hier unten abgeschlossen, über das Wiedersehen mit Kalle freute er sich aber dennoch. »Ist Vangar da? Ich muss unbedingt mit ihm sprechen.« »Ja, er ist hier. Aber…«, Kalle druckte herum als er Asenfried hereinließ. »Dein Bruder hat nichts vergessen, musst du wissen. Für ihn ist es, als wäre es gestern gewesen.«
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Asenfried schnalzte mit der Zunge. »Das hab ich mir schon gedacht. Vangar war und ist der sturste Bock, der mir je untergekommen ist. Lieber zwickt er sich eine Blutblase, als dass er einen Haken an alten Ärger macht.« Asenfried lachte heißer. »Ehrlich gesagt ist mir das aber scheißegal. Es gibt wichtigeres zu besprechen.« »Klar. Liegt bei dir. Ich wollt’s nur gesagt haben. Komm mit!« Kalle schloss die Tür und ging voran. Obwohl sein letzter Besuch hier unten schon mehr als zehn Jahre her war, kannte sich Asenfried noch gut in Sieben Schänkens Untergrund aus. Vieles hatte sich verändert, einiges aber war noch genau wie damals und ließ längst vergessen geglaubte Erinnerungen wieder hoch kommen. Den Impuls, länger darüber nachzudenken, unterdrückte er sofort. Er hatte jetzt keine Lust, sich mit unerledigten Dingen aus der Vergangenheit zu beschäftigen. Die Zeit drängte und er verschloss diesen Teil der Geschichte wieder tief in seinem Innersten. Heute spielte sich sein Leben nur noch oben am alten Markt ab. Er hatte Familie und … der Gedanke an seinen Sohn verpasste Asenfried einen plötzlichen Stich. Hellings Tod war noch zu nah, als dass die Wut auf das Protektorium und die Entwicklung in Leuenburg den Schmerz darüber vertreiben konnten. In Gedanken korrigierte er sich. Nein, Familie hatte er nicht mehr wirklich, und trotzdem war da eine Frau, die auf ihn wartete. Wegen ihr hatte er sich damals gegen ein Leben am Rande der Gesellschaft entschieden, und wegen ihr würde er jetzt sicher nicht damit aufhören. Im Gegenteil, Viandra brauchte ihn mehr denn je. Helling war ihr ein und alles gewesen. Allein würde sie über seinen Tod niemals hinwegkommen. Er musste sich um sie kümmern. Für Schmuggel 19
oder andere zwielichtige Geschäfte war kein Platz mehr. Mit Gewalt drängte er die düsteren Bilder zurück, stellte jedoch verbittert fest, dass die Liste seiner heimlichen Rückzugsorte gefährlich kurz geworden war. Angestrengt versuchte er sich auf andere Gedanken zu bringen. »Wie’s aussieht seid ihr immer noch gut im Geschäft. Habt mächtig viel Zeug hier unten stehen.« Allerlei Kisten und Fässer reihten sich an den Seiten des unterirdischen Ganges auf. Einige waren verschlossen, die meisten jedoch leer oder unbrauchbar. Kalle nickte. »Du weißt doch: Unkraut vergeht nicht.« Er versuchte sich an einem Lächeln. Es misslang kläglich. Seine Miene wurde finster. »Das Geschäft geht noch, ja, aber es ist anders geworden. In den letzten Jahren hat sich einiges verändert, musst du wissen. Die Dinge laufen nicht mehr so gut wie früher.« Nachdenklich sah sich Asenfried um. »Ihr könnt froh sein, wenn in Zukunft überhaupt noch was läuft. Ärger ist im Anmarsch, und kein kleiner.« »Ärger? Was für Ärger?« Kalle sah kurz über die Schulter, ehe er die nächste Tür öffnete. »Komm mit zu Vangar und du wirst es erfahren«, antwortete Asenfried. »Nicht nur hier hat sich was verändert. Auch da oben liegt einiges im Argen.« Er wartete bis die Tür offen war und trat dann mit einem großen Schritt unter dem tiefliegenden Türstock hindurch. Dahinter befand sich eine große Höhle. Neben weiteren Fässern und Kisten gab es ein paar großzügig angelegte 20
Schlafstätten und eine kleine Feuerstelle. Ein Mann kniete davor und rührte in einem Suppenkessel. Feiner Rauch kräuselte sich an seinem Schnauzbart entlang, strich ihm über das feiste Gesicht und verschwand irgendwo zwischen dem lockigen Haar und der dunklen Höhlendecke. Ein ebenso grauer, zerschlissener Mantel wie der von Kalle hing ihm von den Schultern und schabte bei jeder Bewegung scharrend über den kiesigen Boden. Direkt dahinter saß ein zweiter Mann auf einem mit schmutzigen Fellen und Decken ausgelegten Stuhl. Die Beine locker überschlagen kaute er auf dem Stiel einer rauchenden Pfeife herum und starrte in die Flammen. Der rötliche Schein des Feuers fiel dabei glänzend auf sein Gesicht und offenbarte eine lange, gezackte Narbe auf der rechten Wange. Die Stelle, wo sein linkes Auge hätte sein sollen, wurde von einer schwarzen Lederklappe bedeckt. Keiner der beiden sah auf, als Kalle und Asenfried die Höhle betraten. »Wann kommt nochmal die nächste Lieferung?«, wollte der Kerl am Feuer wissen und fuhr sich mit dem Ärmel über die triefende Nase. Er war etwas beleibter und stöhnte bei fast jeder Bewegung leise auf. »Bei der alten Hure, Trenkl! Sperr endlich deine Ohren auf! Ich hab’s vorhin schon gesagt. Übermorgen! Übermorgen! Hast du das jetzt kapiert? Übermorgen!« »Ja, ja, ist ja schon gut! Hab’s verstanden.« Der Kerl mit dem Suppenlöffel hob beschwichtigend eine Hand. »Und wer wird bei der Nummer alles mitmachen?« »Du, Kalle und Piotr. Piotr bringt außerdem noch seinen Wechselbalg mit. Zu viert werdet ihr das Kind schon schau21
keln.« Der Mann auf dem Stuhl lachte kurz und nahm dann einen tiefen Zug aus seiner Pfeife. »Ich an deiner Stelle würde mich etwas bedeckter halten, Vangar«, gab sich Asenfried plötzlich zu erkennen. Ihm reichte was er gehört hatte und er wollte nicht länger warten. Krumme Geschäfte gingen ihn nichts mehr an. Ohne große Umschweife trat er ans Feuer und sah mit unbewegter Miene zu seinem Bruder. Dem blieb der Pfeifenstiel vor Überraschung fast im Halse stecken. Unglauben und ein dunkler Schatten machten sich in seinem Gesicht breit. Er musste husten und setzte sich aufrecht hin. Trenkl, der Kerl am Feuer, riss die Augen weit auf, ließ den Löffel vor Schreck in den Eintopf fallen und trat ein paar Schritte zurück. »Das DU dich hier wirklich noch reintraust!«, bellte Vangar eine Sekunde später und sprang auf, als er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. Seine Stimme bebte. Asenfried zuckte innerlich zusammen. Kalle hatte die Wahrheit gesagt. Vangar war wegen der Sache immer noch sauer. Nein, es war sogar noch schlimmer. So wie er sprach konnte man meinen, dass alles erst gestern geschehen sei. Dabei lag doch ein gutes Jahrzehnt dazwischen. Die Zeit hatte bei ihm offenbar keine Wunden geheilt. »Ja, ich bin gekommen. Aber nur weil ich kommen musste. Du bist immerhin mein Bruder, egal was damals geschehen ist.« Asenfried ließ sich, anders wie Kalle und Trenkl, nicht von der impulsiven Art seines Bruders beeindrucken. Er kannte ihn besser.
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Vangar wurde puterrot im Gesicht. »Du bist nicht mehr mein Bruder! Mein Bruder starb vor über zehn Jahren.« Er schnappte nach Luft, so aufgewühlt war er. »Und nenn mir einen guten Grund, warum ich dich nicht gleich wieder rauswerfen soll!« Er schüttelte den Kopf und warf seine Pfeife zornig auf den Stuhl. »Bruder … pah! Das ist nicht lache!« Er drehte Asenfried den Rücken zu und ging ein paar Schritte vom Feuer weg. »Vielleicht reicht dir ja zu hören, dass dir und deinen Leuten bald ein Riegel vorgeschoben wird.« Asenfried stand in aller Ruhe da. Er dachte überhaupt nicht daran sich provozieren zu lassen. Stattdessen machte er eine kurze Pause und wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. »Das Protektorium ist auf dem Weg hierher, Vangar.« Vangar zuckte kurz zusammen. Er drehte sich zwar nicht um, aber Asenfried wusste, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Das Protektorium war keinem von beiden in guter Erinnerung geblieben. Im Gegenteil, wenn sie noch etwas gemein hatten, dann den Hass auf den militärischen Arm der Kirche. Da war sich Asenfried sicher. Er legte nach. »Du kennst diese Bastarde genauso gut wie ich. Und«, er senkte die Stimme, »ich glaube, du hast ebenso wenig vergessen wie ich.« Erst jetzt zeigte Vangar wieder eine Reaktion. Langsam drehte er sich um. Sein Gesicht war wie versteinert. »Nichts ist vergessen und nichts ist vergeben.« Er schluckte und starrte abwesend ins Feuer. »Ich höre Mutters Schreie noch heute.« Mit leerem Blick ballte er die Hände zu Fäusten bis sie knackten. Asenfried konnte trotz der reglosen Miene sehen, wie es in seinem Bruder arbeitete. Er focht einen Kampf 23
mit sich selber aus, das war klar. Als die Stille unerträglich wurde, klärte sich sein Blick endlich wieder. Einen Moment später presste er die Lippen argwöhnisch aufeinander. »Zehn Jahre lässt du dich nicht blicken, und dann kommst du hier runter und warnst mich vor dem Protektorium?« Er zog eine Braue nach oben. »Du machst das nicht einfach so. Sowas hast du noch nie gemacht. Da steckt was dahinter.« Jetzt fixierte er Asenfried hart. »Sprich! Woher kommt deine plötzliche Fürsorge?« Asenfried nickte verständnisvoll. Die Frage war berechtigt. »Sag oder denk von mir aus was du willst, Vangar, aber du warst, bist und bleibst mein Bruder. Die Sache von damals geht nur uns beide etwas an und hat mit dem, was heute geschehen wird, nichts zu tun. Ich bitte dich, vergiss den alten Streit. Wenigstens für ein paar Tage.« Er ging einen Schritt auf seinen Bruder zu. »Das Protektorium kommt. Und wenn wir nichts unternehmen, wird es dieser Stadt den Rest geben. Sieh dich doch um! Leuenburg ist fast am Ende. Die alten Zeiten sind vergangen und alles geht irgendwie den Bach runter. Die Flüchtlinge, die Gerüchte aus dem Westen, du merkst es doch selber.« Er suchte Vangars Blick. »Wir müssen uns vorbereiten.« Kurz schien Vangar tatsächlich darüber nachzudenken, dann aber machte er eine wegwischende Handbewegung. »Diese Bastarde und Mörder in ihren weiß geflammten Kutten können mir gestohlen bleiben. Der Herzog wird sich schon um sie kümmern. Er weiß, wie wichtig wir für Sieben Schänken sind. Wirklich gut ging’s uns sowieso nie, über die Runden aber sind wir allemal gekommen. Sollen die Kirchenhunde ruhig wie wild gewordene Meuten durch die Straßen jagen, hier unten stört mich ihr Bellen nicht.« 24
»Beim Bellen wird’s nicht bleiben. Irgendwann werden sie kommen und dich beißen.« Äußerlich mochte Asenfried ruhig und gelassen erscheinen, in ihm drin aber sah es ganz anders aus. Der Druck war groß. Aduns Plan hatte nur mit Vangar und seinen Männern Aussicht auf Erfolg. Er musste nachlegen. »Bisher hat man dich gewähren lassen, das stimmt. Aber der Herzog ließ dich nur machen, weil er klug genug war zu erkennen, dass das ganze Viertel was von deinen Gaunereien hat. Hier mal ein Brot und da mal was Feines zum Anziehen hält das arme Volk in Schach. Diese Zeiten aber sind jetzt endgültig vorbei.« Er holte tief Luft. Der Punkt, den größten und gleichzeitig traurigsten Trumpf auszuspielen, war gekommen. »Jene, die dich schützten, sind nicht mehr, Vangar. Der Herzog ist tot und das Protektorium wird die Macht in Leuenburg an sich reißen.« »Erzähl keinen Mist!«, platzte es aus Vangar heraus. »Grodwig soll tot sein? Ausgemachter Blödsinn! Wo hast du so einen Scheiß bloß her? Klar, der Herzog ist tot und niemand außer meinem bescheuerten großen Bruder weiß davon?« Sein halbherziges Lächeln erstarb, als er Asenfrieds reglose Miene bemerkte. Die bereits bröckelnde Maske aus Zorn und aufgestauter Wut verschwand schlagartig von seinem Gesicht. »Seit wann? Und wie?« Mit einem Mal schienen die alten Händel zwischen ihm und Asenfried vergessen zu sein. Ganz plötzlich wirkte er ratlos und verwirrt.
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»Wenn du mir versprichst zuzuhören, und dich nicht wie ein wild gewordener Keiler aufführst, werde ich’s dir erzählen.« Asenfried atmete erleichtert durch. Jetzt hatte er einen Fuß in der Tür. Vangar nickte und kam zurück ans Feuer. Er wirkte vor den Kopf gestoßen und total aus dem Konzept gebracht. »Ja, ja, schon gut. Das verschieben wir auf später. Jetzt sprich erstmal.« Und so nahm Vangar wieder auf seinem Stuhl Platz, zerdrückte ohne es zu merken seine Pfeife und Asenfried begann zu erzählen. Er sprach von Berenghor, dem Erscheinen der Schattenkrieger und wie er in den Katakomben auf seinen Sohn und die Widergänger getroffen war. Als die Sprache auf Helling kam, trübte sich die Stimmung weiter ein. »Das mit Helling tut mir leid.« Vangar sah ehrlich betroffen zu seinem Bruder. »Er war ab und zu hier und hat mich besucht. Ein guter Junge. Durch ihn hab ich von den Schattenkriegern erfahren. Seitdem haben wir die Tunneleingänge bewacht und dafür gesorgt, dass sie nicht nach unten können. Wir verdanken ihm viel.« Er nickte betreten und presste die Lippen verlegen aufeinander. »Und über die Widergänger zerreißen sich sowieso alle das Maul. Bin gespannt, wann die Pfaffen die Seuche in den Griff bekommen.« Vangar holte tief Luft und rieb sich mit einer Hand übers Gesicht. Asenfried hatte sowas schon vermutet. Er hatte Helling den Umgang mit seinem Onkel zwar nicht verboten, ihn aber auch nicht dazu ermutigt. Dass der Junge den Kontakt am Ende trotzdem und aus eigenem Antrieb gesucht hatte, machte ihn im Nachhinein stolz. »Mit den Widergängern werden wir fertig. Das ist nur eine Frage der Zeit«, antwortete er 26
rasch. Er wollte so schnell wie möglich das Thema wechseln und nicht schon wieder an seinen Sohn denken müssen. »Keine Ahnung, ob an den Gerüchten vom gewaltigen Heerwurm im Westen wirklich was dran ist, aber die herzoglichen Truppen sind zumindest mal auf dem Weg zur Leue. Wenn’s stimmt was die Leute sagen, wird’s schwer die Furt und die Brücke zu halten, aber«, er hob mahnend einen Finger, »wie’s am Ende auch ausgeht, meine Rache werde ich in jedem Fall bekommen, da kannst du Gift drauf nehmen. Entweder dort oder hier vor den Toren unserer Stadt.« Hart schlug er sich mit der Faust in die schwielige Hand. »Das viel drängendere Problem heute ist aber der Mord am Herzog und das verfluchte Protektorium. Die Pfaffen wollen unsere Stadt, Vangar. Und sie wollen sie schnell.« »Schon gut, das hab ich verstanden. Erzähl weiter!« Vangar fuchtelte ungeduldig mit einer Hand herum. Es sah aus als wolle er Ungeziefer vertreiben. Asenfried ließ sich nicht zweimal bitten. Er weihte seinen Bruder in die Sache mit dem geheimen Rat und der ersten Versammlung ein. Auch das Adun ihn vor dem Protektor gewarnt hatte und der Mörder nur aus den Reihen der Kirche stammen konnte, behielt er nicht für sich. Als er fertig war, starrte Vangar ins inzwischen neu geschürte Feuer und fummelte gedankenverloren an seiner zerbrochenen Pfeife herum. Trenkl und Kalle standen daneben und sagten nichts. »Der geheime Rat von Leuenburg also. Da schau an.« Anerkennend stieß er einen Pfiff aus. »Nicht schlecht Bruderherz. Wirklich nicht schlecht. Für einen Schmied, der sein Leben lang mehr Schmuggler als Schmied gewesen ist, hast du’s 27
weit gebracht. Wussten die hohen Herren denn nicht, wen sie sich da ins Boot holen?« Asenfried zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung was sie wussten. Ich weiß nur, dass ich mir den Posten nicht ausgesucht hab. Außerdem ist der Rat eh schon wieder Geschichte. Also was soll’s.« Vangar lächelte schadenfroh und wurde danach wieder ernst. »Und dieser Adun will jetzt, dass wir uns alle gegen das Protektorium stellen?« Asenfried nickte. »Die Leibgarde des Herzogs steht hinter ihm. Allein aber werden sie es nicht schaffen. Es heißt, der Protektor hat über einhundert Weißröcke dabei.« Vangar lachte laut auf. »Ha! Viel Feind viel Ehr bleibt mir da nur zu sagen.« Dann lächelte er grimmig. »Und weißt du was: die Gossenläufer wollen ihren Anteil daran haben. Wir sind dabei!« Er stand auf und warf die Überreste seiner Pfeife in die Flammen. »Wann sonst hat man schon mal die Gelegenheit, der Kirche ganz offiziell in den Arsch zu treten?« Jetzt lächelte auch Asenfried. »Wieviel Männer kannst du stellen? Und wie schnell?« »Das kommt drauf an. Wann soll’s denn losgehen?« »Das Protektorium ist schon in Sichtweite der Mauern. Wir haben zwei Stunden, vielleicht auch drei.« Vangar stieß einen überraschten Pfiff aus. »Die haben’s verdammt eilig.« Er überlegte kurz. »Zwei Dutzend Männer kann ich gleich organisieren. Doppelt so viele bis Übermor28
gen. Und wenn die Leute in Sieben Schänken hören, dass es gegen das Protektorium geht, werden’s sicher noch ein paar mehr.« »Gut. Hol so viel du kannst und komm dann zur Schmiede. Ich werde nochmal mit Adun sprechen und dann schauen, was das Protektorium so treibt.« Ohne recht zu wissen was er tat, hielt er Vangar die Rechte hin. Der zögerte kurz, schlug dann aber ein. Vangar verengte sein verbliebenes Auge zu einem schmalen Schlitz. »Aber glaub ja nicht, dass damit alles vergessen ist. Ich mach das für Leuenburg, nicht für dich.« Asenfried schmunzelte. »Dann haben wir doch noch was gemein, kleiner Bruder.« Damit drehte er sich um und verschwand aus dem geheimen Quartier der Gossenläufer. Als er, sehr zur Verwunderung von Sigurd dem Wirt, den Goldenen Erker diesmal durch den Haupteingang verließ, lächelte er zuversichtlich. Irgendwann kam für jeden Mal die Zeit. Auch für Leuenburg. Vorher aber würde es aufstehen und kämpfen.
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Die Neunschwänzige
L
eise huschte Liam zwischen den heruntergebrannten Feuerstellen hindurch. Alles schlief und nur die Geräusche der Nacht waren zu hören. Ab und an stieß ein Käuzchen seinen Ruf aus und hier und da raschelte Kleingetier durchs Gras. Ansonsten aber war alles ruhig. Die Wachen am Eingang hatten sich nicht sonderlich für ihn interessiert und ihm nur halb verschlafen zugenickt. Sie kannten ihn inzwischen gut genug und wussten um seine speziellen Jagd- oder Spähaufträge. Kein Grund mitten in der Nacht dumme Fragen zu stellen. Geschickt und ohne viel Aufheben schlich er zur Schlafstatt von Ilsa und Nalia. Er hatte genug gesehen und wusste, was nun zu tun war. Für die anderen tat es ihm zwar leid, aber seine Familie war in diesem Lager nicht mehr sicher. Jetzt, da er Mildreths Plan kannte, wirkte hier alles nur noch seltsam aufgesetzt und falsch. Selbst die Leute, auch wenn sie überhaupt nichts dafür konnten, waren nur noch Teil einer überaus trügerischen Kulisse. Mildreths Kulisse. Sie hatte den Verstand verloren und verfolgte selbstsüchtige Rachepläne. Das Leben anderer war für sie dabei nur noch Mittel zum Zweck. Das ganze Lager war nur Mittel zum Zweck. Bei der Herrin! Sie mussten hier schnellstens weg. Noch heute Nacht. Genau genommen hätten sie niemals herkommen dürfen. Das kleine Feuer war bereits erloschen, als Liam unter das schräg aufgespannte Baumwolltuch kroch und seine Frau sanft aber bestimmend weckte. Verschlafen setzte sie sich auf.
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»Liam? Du bist schon zurück?« Verwirrt rieb sie sich über die nur halb geöffneten Augen. Als sie im schwachen Schein der Glut seinen ernsten Blick sah wurde sie schlagartig wach. »Was ist los? Was ist passiert?« Sorge und Angst schwangen in ihrer Stimme mit. »Sammle unsere Sachen zusammen!«, antwortete Liam im Flüsterton. »Dann wecke Nalia und die anderen. Noch vor Sonnenaufgang brechen wir auf. Ich suche inzwischen Balkor.« Er wollte wieder aufstehen, Ilsa aber hielt ihn fest. »Liam, du machst mir Angst«, hauchte sie. »Sag mir was geschehen ist. Warum sollen wir mitten in der Nacht das Lager verlassen?« Liam drehte sich kurz um und griff nach seinem großen Jagdspeer. Den Eibenbogen trug er bereits auf dem Rücken. »Weil Mildreth verrückt geworden ist. Oder es immer schon war, ich weiß es nicht. Sie hält einen der Hellen in einem Käfig hinter ihrem Zelt gefangen und träumt von Rache und Vergeltung.« Ilsa warf die Stirn in Falten und wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Vergeltung? Liam, wovon sprichst du?« Erst wollte er nicht, dann aber erzählte er ihr in aller Kürze, was er gesehen und gehört hatte. Er sprach von Mildreth und ihrem Mord an Widgar, dem Gespräch mit Mauser und seinem nächtlichen Besuch im abgesperrten Bereich. Dass es sich bei dem Hellen um Belia, der ehemaligen Priesterin ihres Dorfes handelte, verschwieg er aber.
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»Bei der Herrin! Ein Heller hier im Lager?« Erschüttert über das Gehörte hielt sich Ilsa eine Hand vor den Mund. »Du hast Recht, wir sind hier wirklich nicht mehr sicher.« Sachte schüttelte sie den Kopf. Dann suchte sie nachdenklich seinen Blick. »Aber warum so überstürzt? Wir brauchen Zeit, um uns vorzubereiten. Wir müssen ausreichend Wasser und Nahrung mitnehmen, Decken und vielleicht sogar Arznei.« Liam schüttelte den Kopf. »Die Zeit haben wir nicht. Du weißt doch, was Mauser gesagt hat: Diese Dinger sprechen in aller Stille miteinander. Durch irgendeinen Zauber hören sie die Gedanken ihrer Artgenossen.« Müde und gleichzeitig aufgeputscht von den Ereignissen, rieb sich Liam übers Gesicht. »Verstehst du nicht, Ilsa? Das Ding im Käfig wird andere Helle herlocken!« Jetzt nickte sie zögerlich, gänzlich überzeugt aber war sie noch nicht. »Aber was ist mit den übrigen Menschen hier im Lager? Wir können sie doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Wir müssen ihnen sagen was los ist!« »Nein! Auf keinen Fall! Mildreth würde erfahren was wir wissen und uns zum Schweigen bringen. Wir müssen heimlich verschwinden. Denn selbst wenn keiner etwas erfährt, freiwillig wird sie uns niemals gehen lassen. Deine Arbeitskraft und meine Kampfkraft sind viel zu wertvoll für sie.« Liam blickte sie eindringlich an. »Niemand darf wissen, dass wir gehen, Ilsa.« Ilsa sah ihn entsetzt an. »Nein, das kann ich nicht. Nicht schon wieder.« Ihre Stimme wurde brüchig. »Schon einmal haben wir Freunde und Bekannte im Stich gelassen.« Sie schüttelte vehement den Kopf. »Ich kann das nicht nochmal. Bitte, Liam! Verlang das nicht von mir!« 32
Sachte griff er ihre Hand und drückte sie sanft. »Mir fällt es auch nicht leicht, aber es muss sein. Mildreth hat das Lager nicht aus Fürsorge oder gar Nächstenliebe aufgebaut. Sie will Krieg, Ilsa. Sie will mit den Hellen kämpfen und meint, ihr altes Leben dadurch wieder bekommen zu können. Diese Frau ist verrückt. Sie hat den Verstand verloren, und jeder der ihr folgt ist dem Untergang geweiht.« Ilsa presste verzweifelt die Lippen aufeinander. Sie sagte nichts und schüttelte nur weiterhin heftig den Kopf. Liam fasste sie unters Kinn und hielt sie mit sanfter Gewalt fest. »Weißt du noch, was du in jener schicksalhaften Nacht im Wald über Balkor gesagt hast?« Augenblicklich beruhigte sie sich und starrte ihn wissend an. »Du sagtest, er würde die Gruppe spalten und Zwietracht säen, und wenn wir nichts unternähmen, würde er uns alle mit in den Abgrund reißen.« Er holte tief Luft ehe er weitersprach. »Du hast dich getäuscht. Balkor mag ein frecher und ungehobelter Klotz sein, der gerne mal nur an sich selber denkt, aber er trifft auch die richtigen Entscheidungen und weiß, was gut für ihn ist. Er stand uns zur Seite und hat sich trotz allem mein Vertrauen verdient.« Liam seufzte und sein Blick verfinsterte sich. »Bei Mildreth ist das anders. Sie hat jeden Bezug zur Realität verloren. Sie ist bereit uns alle zu opfern, selbst Nalia.« Obwohl Ilsa bei der Erwähnung ihrer Tochter kurz zusammenzuckte, ließ sie sich von alledem nur wenig beeindrucken. »Bitte, Liam … nein!« Sie griff nach seiner Hand und küsste sie. »Ich kann das nicht nochmal. Ich schaff das nicht!« Flehentlich suchte sie seinen Blick.
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»Ilsa, du musst mir vertrauen. Mildreth wird uns nicht nur in den Abgrund reißen, sie selbst ist der Abgrund! Wir müssen so schnell wie möglich …«, er geriet ins Stocken als Ilsa die ersten Tränen über die Wangen liefen. »Bitte Liam, nur ein paar Tage. Ich bitte dich!« Sie machte große Augen. »Lass uns noch warten und beobachten was geschieht, ja? Wenn sich tatsächlich wieder Helle in der Nähe des Lagers aufhalten, brechen wir sofort auf. Bis es aber soweit ist, können wir uns vorbereiten und heimlich Vorräte horten.« Ein Hauch von Zuversicht schlich sich in ihren Blick. »Und wer weiß, vielleicht sind sogar noch andere der gleichen Meinung wie wir.« Liam wollte nicht, aber er spürte deutlich, wie ihn die Trauer seiner Frau übermannte. Ein Blick auf die schlafende Nalia gab ihm schließlich den Rest. Hier im Lager hatte seine Tochter fast so etwas wie Normalität, da draußen hingegen wartete nur der gnadenlose Kampf ums Überleben auf sie. Vielleicht konnten ein paar Tage mehr wirklich nicht schaden. Immerhin war bis jetzt auch alles gut gegangen. In der Hoffnung, diese Entscheidung niemals zu bereuen, nickte er. »Also gut. Wie lange brauchst du, um alles vorzubereiten?« Leise legte er den Jagdspeer zurück und streifte sich den Eibenbogen vom Rücken. »Fünf oder sechs Tage. Die alte Rullka ist zwar ein herzensguter Mensch, aber mehr noch ist sie Mildreth zutiefst ergeben. Ich kann nur wenig auf einmal davonschaffen.« Ilsas Züge entspannten sich deutlich. Kurz wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und sah ihn dann liebevoll lächelnd an.
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»Danke, Liam.« Sie beugte sich nach vorne und küsste ihn auf den Mund. »Unser Dorf ist verbrannt und unsere Freunde sind gestorben, du aber hast uns sicher bis hierher gebracht.« Ihre Augen leuchteten, als sie ihm zärtlich über die Wange strich. »Wem sollte ich vertrauen wenn nicht dir?« Liam schnallte sich den kleinen Gürtel mit dem Jagdmesser ab und rutschte näher an Ilsa heran. »Niemandem«, hauchte er ihr ins Ohr und zog sie dann sanft zu Boden. Wohlig seufzend kuschelte sie sich mit dem Rücken an seine Brust und streifte die aus Fellen zusammengenähte Decke bis über die Schultern. »Ich liebe dich«, flüsterte sie und schloss die Augen. Liam sagte nichts mehr. Er schlang nur den Arm um seine Frau, zog sie dicht an sich heran und dachte noch lange über den vergangenen Tag nach. Der nächste Morgen kam rasch. Kaum, dass die ersten Sonnenstrahlen durch die Baumwipfel krochen, wurde Liam wach. Irgendwo weiter hinten im Lager war Tumult. Leute riefen aufgeregt durcheinander und dazwischen erklang immer wieder die hohe, klagende Stimme einer Frau. Sie hörte sich ängstlich, beinahe panisch an. Mit einem Ruck setzte er sich auf. Kurz rieb er sich den Schlaf aus den Augen. »Was ist da los?«, wollte Ilsa wissen und tat es ihm gleich. Auch Nalia war inzwischen aufgewacht. »Ich weiß es nicht.« Mit ernstem Gesicht griff Liam nach Bogen und Köcher. »Klingt nach einem Streit. Ich geh und seh’ mir das mal genauer an.« Er stand auf, legte sich den Gürtel um und ging gebückt aus dem halb offenen Unterstand. 35
»Wir kommen mit!« Ilsa schlüpfte rasch in den wollenen Überwurf und half Nalia danach mit ihrem. Liam wartete nicht auf die beiden. Er war unruhig und musste unbedingt wissen, was da gerade im Lager geschah. Gestern Abend hatte er noch lange wach gelegen, und selbst im Traum hatten ihn die Sorgen vor dem, was Mildreth irgendwann heraufbeschwören würde, nicht mehr losgelassen. Bei der Herrin! Hoffentlich waren es nicht schon die Hellen. Wenige Augenblicke später wusste er, dass zumindest diese Angst unbegründet war. An den Palisaden schien alles ruhig zu sein. Lediglich hinten im Bereich der Küche hatte sich ein großer Menschenauflauf gebildet. Ein gutes Dutzend Lagerbewohner stand im Halbkreis davor und rief wild durcheinander. Als Liam näher kam, sah er in die erschrockenen Gesichter von Frauen und Kindern und hörte die teils unwirschen Rufe einiger Männer. Balkor war auch dabei. Der große Krieger hielt sich jedoch im Hintergrund. Er starrte einfach über die Köpfe der anderen hinweg und sagte nichts. Liam merkte seine schlechte Laune noch bevor er ihn ansprach. »Was ist da los?«, wollte er von ihm wissen und streckte sich, um besser sehen zu können. »Die haben Anwind beim Stehlen erwischt«, bekam er knurrend zur Antwort. »Eine der Frauen sah sie mit einem Bündel aus der Küche schleichen.« »Was? Anwind? Das kann ich nicht glauben.« Liam reckte den Kopf nach links und rechts. Etwas weiter vorne sah er einen Wachmann, der Anwind grob am Ärmel festhielt. Sie selbst hatte den Kopf gesenkt und sah zu Boden. Das ge-
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öffnete Bündel lag vor ihr im Gras. Trockenes Fleisch, ein paar Beeren und Kräuterbüschel schauten daraus hervor. »Glaub’s einfach«, brummelte Balkor gereizt. »Sie hat schon gestanden. Die Kämpferration wollte sie für Igertha haben. Angeblich ist die Kleine krank.« »Nicht nur angeblich! Igertha ist tatsächlich krank!«, empörte sich plötzlich eine Frauenstimme hinter ihnen. Es war Ilsa. Sie kam gerade mit Nalia an und stellte sich entrüstet neben Liam. »Igertha hat seit Tagen Fieber und ist schwach.« Nach einem strafenden Blick zu Balkor sah auch Ilsa suchend an den Leuten vorbei nach vorne. Balkor schnalzte mehrmals hintereinander mit der Zunge. »Dann hätte sie das eben deutlich klüger anstellen müssen. Liam ist doch ständig draußen. Da wäre sicher was möglich gewesen. Aber so?« Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Wenn’s blöd läuft, müssen wir jetzt alle für ihre Dummheit bezahlen.« »Spar dir dein herzloses Gerede, Balkor!«, zischte Ilsa. »Anwind ist halb verrückt vor Sorge. Wie soll sie da noch klar denken?« »Keine Ahnung. Ist mir egal«, gab er giftend zurück. »Ich hoffe nur, die dumme Gans wirft jetzt kein schlechtes Bild auf uns. Immerhin kam sie mit uns ins Lager.« »Verdammt, du denkst auch nur an…«, weiter kam Ilsa nicht. Liam ging beschwichtigend dazwischen. Das ohnehin schon angespannte Verhältnis zwischen den beiden durfte nicht noch schlechter werden. Sollten sie das Lager wirklich
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verlassen, würden sie Balkor brauchen. Eine Klinge mehr wog in der Welt da draußen ungemein viel. »Nur die Ruhe! Streit hilft uns auch nicht weiter«, mahnte er und zog Ilsa näher an sich ran. »Anwinds Verhalten war dumm, da hat Balkor Recht. Andererseits hab ich Verständnis für ihre Situation. Kranke Kinder können ihre Eltern um den Verstand bringen.« Ilsas bohrender Blick gab ihm deutlich zu verstehen, was sie von seiner Einmischung hielt. Kurz funkelte sie ihn noch an, dann aber ließ sie es darauf bewenden und starrte trotzig nach vorne. Nachdenklich wandte Liam sich an Balkor. »Ich hoffe bloß, dass mit der Sache keiner zu Mildreth geht.« Balkor verzog ungehalten den Mund. »Bei der Herrin! Genau darum geht’s mir doch. Mildreth weiß längst Bescheid. Sie müsste jeden Moment … verdammt«, seine Miene verfinsterte sich. »Da kommt sie auch schon.« Er deutete mit einem Kopfnicken nach rechts und verschränkte die Arme vor der Brust. »Macht Platz! Macht Platz!« Rücksichtslos bahnten sich Mildreths schwer bewaffneten Wachen einen Weg durch die Menschenmenge. Sie schoben die Leute grob auseinander und bildeten eine Gasse. Knapp dahinter kam Mildreth mit weit ausholenden Schritten heran. Kalter Zorn trieb sie vorwärts, das sah man ihr an. »Wo ist das faule Ei, das meint, die Lagergemeinschaft bestehlen zu müssen?« Sie baute sich in der Mitte auf und schickte ihren eisigen Blick durch die Runde. Niemand hielt 38
ihm stand und am Ende blieb er auf Anwind liegen. Die rührte sich noch immer nicht. »DU bist das.« Mildreth musterte sie geringschätzig und ging dann raschen Schrittes zu ihr rüber. Ihre Augen blitzten gefährlich. »Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche!«, brüllte sie. Erst jetzt fiel Liam auf, dass ihr Stilett nicht mehr am Gürtel hing. Sie hatte es bereits in der Hand. »Ist es wahr? Hast du die Vorräte gestohlen?« Ungeduldig schlug sich Mildreth das Stilett ans lederne Hosenbein. Anwind blickte auf und nickte. Sie sah furchtbar aus. Das unschöne Gefühl ertappt worden zu sein, stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Ja, ich habe die Ration an mich genommen.« Sie schluckte und begann zu schluchzen. »Aber doch nur wegen Igertha, sie…«, weiter kam Anwind nicht. Blitzschnell schlug ihr Mildreth das Stilett auf die Finger. »Hör auf zu jammern! Warum du gestohlen hast, ist mir egal. Einzig, dass du es getan hast zählt.« Hart packte sie Anwind am Kinn und drückte ihren Kopf nach oben. »In meinem Lager wird Diebstahl sehr hart bestraft. Wusstest du das nicht?« Anwind sagte nichts. Starr vor Angst stand sie einfach nur da und stierte zu Boden. »Dummes, kleines Miststück«, zischte Mildreth angewidert und nahm die Hand wieder runter. Sie machte kehrt und wandte sich mit kräftiger Stimme an die Menge. »Wer mich oder einen von euch bestiehlt, bestiehlt in Wahrheit die Gemeinschaft. Und wer die Gemeinschaft be39
stiehlt, vergiftet nicht nur das Vertrauen untereinander, sondern schwächt den Zusammenhalt und die Kraft des Lagers. Von innen wie von außen.« Langsam schritt sie die Runde ab und maß die Anwesenden mit hartem Blick. »Diese Untreue werde ich nicht akzeptieren!«, rief sie und blieb wieder stehen. »Wer meint, die Gemeinschaft bestehlen und sie damit schwächen zu müssen, wird künftig mit nicht weniger als zehn Peitschenhieben bestraft. Wen das nicht läutert, dem droht der Tod!« Ein unterdrücktes Raunen ging durch die Menge und Liam biss sich auf die Lippen. Die Strafe war hart, selbst für Mildreths Verhältnisse. Vor allem wenn man bedachte, dass die Motive unberücksichtigt blieben. »Nochmal Glück gehabt, würd ich sagen. Uns hat sie gar nicht erwähnt.« Balkor stieß leise die Luft aus. »Wobei zehn Peitschenhiebe nicht ohne sind.« Er verzog abschätzend den Mund. »Aber gut, was soll’s? Anwind ist selber schuld. Vielleicht lernt sie ja daraus und stellt sich beim nächsten Mal geschickter an.« »Halt die Klappe, Balkor!«, zischte Liam leise. »Die Strafe ist einfach nur unmenschlich. Und lernen wird daraus niemand etwas. Mildreths Art das Lager zu führen hat Anwind dazu gebracht zu stehlen. Aus freien Stücken hätte sie das niemals gemacht.« Balkor rümpfte die Nase. »Was gibt’s an Mildreths Art auszusetzen? Uns geht’s hier doch so gut wie seit Wochen nicht mehr. Ja, die Strafe ist hart, aber das hat doch jeder selber in der Hand.« Er zuckte gleichgültig mit den Schultern.
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»Wer sich an die Regeln hält, hat nichts zu befürchten. Ganz einfach.« »Nein, ganz und gar nicht einfach«, mischte sich Ilsa zornig ein. »Ihr Wachen und Kämpfer seid doch gut versorgt. Ihr bekommt ausreichend zu essen und Arznei. Für euch ist in diesem Lager immer genug Platz. Aber was ist mit den Alten, Kranken und Schwachen? Die müssen sehen wo sie bleiben und dürfen sich um die Reste der Tafel streiten.« In einer Mischung aus Hilflosigkeit und Wut starrte sie Balkor an. Der tat vollkommen unbeteiligt. »Es steht jedem frei zu gehen. Keiner muss hier bleiben.« »Das werden wir noch sehen«, murmelte Liam und zog seine Frau ein Stück zur Seite. Sie und Balkor würden niemals richtig grün miteinander werden, also war es das Beste, die beiden Streithähne voneinander zu trennen. »Lass gut sein, Ilsa! Balkor hat seine Sicht der Dinge.« Noch während er versuchte seine Frau zu beruhigen, musste er wieder an das Gespräch von letzter Nacht denken. Wieder geschah in Mildreths Namen Unrecht, und wieder bestärkte es ihn in seiner Entscheidung zu gehen. »Holt die Neunschwänzige!« Mildreths lauthals ausgerufener Befehl riss ihn aus seinen Gedanken. Eigentlich hatte er ja fest damit gerechnet, dass Anwind nochmal mit dem Schrecken davon kommen würde. Als er aber sah, wie sie von zwei der schwer bewaffneten Wachen in die Mitte genommen wurde, wusste er es besser. Mildreth würde sie tatsächlich für ihre eigenen Fehler mit Schmerz bezahlen lassen.
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»Macht sie dort am Holzbalken fest! Und bindet ihre Armgelenke weit nach oben!« Mildreth deutete auf das kleine Vordach bei der Essensausgabe. Die beiden Wachen gehorchten und zogen Anwind hinter sich her. Die hatte inzwischen aufgehört zu schluchzen und sich in ihr Schicksal ergeben. Widerstandslos ließ sie die beiden Männer machen. »Seht euch genau an, was mit Dieben und Verbrechern passiert«, rief Mildreth in die Menge, als sie die lange Peitsche von einem der Soldaten entgegennahm und damit begann, die einzelnen Stränge zu entwirren. »Nur mit Zusammenhalt und Stärke können wir diese schweren Zeiten überstehen. Wer stiehlt und unseren Kämpfern Essen vorenthält spielt dem Feind in die Arme. Das werde ich nicht zulassen!« Sie hob die Peitsche und schlug mehrmals hintereinander demonstrativ in die Luft. Es knallte lautstark. Anwind zuckte jedes Mal zusammen. »Nur mit gestärkten und kräftigen Kämpfern können wir uns eines Tages unsere Heimat zurückholen. Wehrhaft müssen wir sein, jederzeit zu Krieg und Widerstand bereit. Alles und Jeder muss sich diesen neuen Idealen unterordnen. Wer es nicht tut, hat hier keinen Platz.« Mildreth machte eine harte, wegwischende Handbewegung. »Ihr alle habt neben eurem alten Leben auch Freunde und Verwandte an die hellen Bastarde verloren. Eure Herzen sind voller Trauer und von Angst erfüllt. Unsicherheit steht in euren Augen geschrieben. Doch gerade deshalb sage ich: Bleibt standhaft und widersetzt euch voll grimmiger Entschlossenheit dem Untergang. Bekämpft den Feind und lasst nicht zu, dass innere Querelen oder Nestbeschmutzer die Lagergemein42
schaft zermürben.« Sie hielt in ihrer phrasenhaften Rede inne und zeigte mit der Peitsche auf Anwind. »Anwind ist so ein Nestbeschmutzer. Sie hat eine Kämpferration gestohlen und wird nun dafür bestraft.« Mildreth gab ein Zeichen und einer der Soldaten schnitt Anwinds Überwurf auf. Mit einem Ruck riss er ihn ihr ganz vom Körper. Die Menge hielt den Atem an. Nach einem letzten prüfenden Blick auf die ledernen Schnüre der Peitsche stellte sich Mildreth auf. Dann holte sie aus, und eine Sekunde später klatschten die beißenden Lederschwänze laut auf Anwinds weiße Haut. Grässlich schneidend fraßen sie sich in das darunterliegende Fleisch. Anwind ließ einen unterdrückten Schrei los und Ilsa vergrub ihren Kopf mit einem leisen Schluchzen in Liams Schulter. »Eins!«, rief Mildreth und zog gleich darauf noch einmal durch. Wieder klatschte es furchterregend und diesmal war der Schrei alles andere als unterdrückt. »Zwei!« Unbarmherzig zählte Mildreth weiter und holte abermals aus. Bereits nach dem dritten Schlag war Anwinds Rücken mit roten Striemen übersät. Viele der Umstehenden sahen jetzt betreten zu Boden oder wendeten sich ab, Liam aber zwang sich zuzusehen. Er wollte Anteil nehmen an ihrem Leid, die Augen vor dem Blut nicht verschließen, dass ihr in feinen Rinnsalen über die Schultern lief. Tröstend bildete er sich ein, ihr dadurch in dieser schweren Stunde näher zu sein.
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»Drei!« Mildreths gnadenloses Zählen hallte in seinen Ohren wieder. Ihre selbst in diesem grausamen Akt noch penible und ordnungsliebende Art ließ die ganze Szene noch grotesker und unwirklicher erscheinen. »Vier!« Spätestens nach dem vierten Schlag zuckte auch Liam unter jedem Hieb zusammen. Anwind konnte sich kaum noch auf den Füßen halten und hing in ihren Fesseln. Sie schrie nicht mehr, sondern stöhnte nur noch leise vor sich hin. Liam wünschte ihr die Gnade der Ohnmacht. »Fünf!« Mit zusammengepressten Lippen sah Liam stoisch auf das barbarische Schauspiel. Bis aufs Äußerste angespannt strich er Ilsa dabei immer wieder übers Haar. Die Berührung beruhigte nicht nur sie. Zähl doch schneller! Zähl endlich schneller! Noch nie in seinem Leben hatte er die Zehn sosehr herbeigesehnt. Die Zehn war gut, sie bedeutete Erlösung. Sein Puls wurde schneller. Wann war es endlich soweit? Aus Sekunden wurden Minuten und aus Minuten wurden Stunden. Irgendwann schaltete er ab und wünschte sich nur noch, die schrecklich zählende Stimme möge endlich verstummen. Stille, er wünschte sich Stille. Plötzlich schreckte er auf. Das laute Klatschen war vorbei. Noch immer sah er nach vorne, doch wirklich gesehen hatte er nicht mehr. Eher gefühlt und irgendwie … gelitten. Erst im zweiten Anlauf klärte sich sein Blick. Mildreth trat ein paar Schritte zurück, warf die inzwischen blutüberströmte Peitsche ins Gras und wischte sich über die verschwitzte Stirn. Sie atmete schnell. Ganz im Gegensatz zu ihrem Opfer. Anwind rührte sich nicht mehr. Sie hing leblos 44
in den Fesseln, den Kopf weit vornübergebeugt. Ihr Rücken war nur noch eine einzige, rote Masse. Liam fing sich als erster. Er löste Ilsa sanft aber bestimmend aus der Umklammerung, drückte Balkor einen Ellbogen in die Seite und deutete auf Anwind. »Komm mit.« Ohne auf eine Reaktion zu warten, schob er sich durch die noch immer mucksmäuschenstille Menge. Nur wenige Blicke begleiteten ihn. Die es doch taten waren voller Scham, und Mildreth schien davon überhaupt nichts wahrzunehmen. Als er die ledernen Schnüre mit seinem Jagdmesser durchtrennte war Balkor bereits zur Stelle. Er fing Anwind auf und hielt sie ungelenk in seinen Armen. Auch ihm sah man die Bestürzung trotz seiner sonst so rüden Art deutlich an. So sanft wie nur irgend möglich und darauf bedacht, keine der offenen Wunden zu berühren, legte sich Liam Anwind über die Schultern. Mildreth würdigte er dabei keines Blickes. Er sah nur, wie sie irgendwann ihre schwer bewaffneten Krieger um sich scharte und ohne ein weiteres Wort den Platz verließ. Die Peitsche ließ sie dabei einfach liegen. »Nimm den Überwurf mit!«, wies Liam Balkor mit belegter Stimme an und ging durch die bestürzten Gesichter in Richtung Ilsa davon. Die wartete schon mit verweinten Augen. »Bei der Herrin!«, zitternd legte sie Anwind eine Hand auf die Wange. Abermals rannen Tränen. Liam ging weiter. »Nicht hier! Wir bringen sie in den Unterstand. Dort können wir ihre Wunden versorgen.«
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Ilsa nickte und stolperte ihm hinterher. »Du hattest Recht, Liam. Wir hätten sofort aufbrechen müssen.« Ihre Stimme klang gehetzt und brüchig. »Hätte ich dich nicht bewogen zu bleiben, würde es Anwind jetzt noch gut gehen.« Liam schüttelte im Laufen den Kopf. »Du kannst nichts dafür. Das ist allein Mildreths Schuld.« Im nächsten Moment sah er das behelfsmäßige Zelt und hielt direkt darauf zu. Er wollte den neugierigen Blicken der anderen unbedingt entgehen. »Außerdem hat die Sache auch etwas Gutes.« Kurz blieb er stehen und sah Ilsa entschlossen an. »Ich weiß jetzt, dass wir die Menschen hier nicht sich selbst und schon gar nicht Mildreth überlassen dürfen.« Ilsas Miene hellte sich augenblicklich auf. Sie versuchte sich sogar an einem Lächeln. Liam nickte in Richtung Unterstand. »Aber jetzt komm. Erstmal müssen wir dafür sorgen, dass Anwind überlebt. Danach kümmern wir uns um Mildreth.«
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