Simon Aegerter: Das Wachstum der Grenzen. Über die unerschöpfliche Erfindungskraft der Menschen

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Das Wachstum der Grenzen

Das Wachstum der Grenzen Über die unerschöpfliche Erfindungskraft der Menschen

978-3-03810-476-6

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro

Simon Aegerter

Noch nie ging es so vielen Menschen so gut wie heute. Wie haben wir das geschafft ? Die Geschichte zeigt, dass der Fortschritt immer wieder in Schüben erfolgte. ­Neuerungen meist technischer Art haben das Leben ­verändert – oft mit zunächst schmerzlichen Umwälzun­ gen verbunden, aber schliesslich zum Besseren. Nun scheint es, als hätten wir alles erreicht, was wir erreichen können – wenn nicht sogar zu viel : Man sagt uns, wir konsumierten, als hätten wir drei Erden. Die Rohstoffe gingen zu Ende. Es drohe der Kollaps. Das ist ein Denk­ fehler. Die Angst vor der Zukunft blendet die Erfindungs­ kraft von uns Menschen aus. Auch heute werden Lö­ sungen gefunden – wir müssen sie nur anwenden. Der Physiker Simon Aegerter zeigt anschaulich und leicht verständlich auf, wie wir das anpacken könnten.

Simon Aegerter


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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG Lektorat: Rainer Vollath, München Umschlag: Katarina Lang, Zürich Gestaltung, Satz: Claudia Wild, Konstanz Druck, Einband: Finidr, Tschechische Republik Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der ­Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugs­ weiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der ge­setzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils g ­ eltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-476-6 ISBN E-Book 978-3-03810-488-9 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.


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Inhalt

Vorwort  Einleitung

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Woher kommen wir?

Leben: eine sprunghafte Karriere

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Leben ist unvermeidlich  Das Reich der Algen und Bakterien  Die erste Revolution  Fortpflanzung wird Teamwork  Raus aus dem Wasser!

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Eine kleine Urgeschichte

26

Eine kleine Frühgeschichte

30 34

Lernen und Lehren

Der Beginn der Geschichte  Zählen, Rechnen, Schrei­ben

36 36

Die Erfindung des Heiligen

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Die Erfindung der Wissenschaft

39

Die klassische Antike

40

Das Ende der Antike

42

Das Mittelalter

44

Die Renaissance

46

Die Neuzeit

47

Die industrielle Revolution

48

7


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Inhalt

Die Industrialisierung

52

Das Zeitalter der fossilen Energie

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Die wissenschaftliche Revolution

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Das 20. Jahrhundert

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Massenproduktion  Luftfahrt  Elektrizität  Moderne Physik  Das neue Feuer  Von der Elektronik zu den Mikrochips  Raumfahrt

Fazit

82

Wo stehen wir?

Wachstum  Die Grenzen des Wachstums?  Verschmutzte Umwelt  Der grosse Fussabdruck

Wohlstand  Das Beispiel China  Wachstum und Wohlstand  Wie befreit man Menschen aus der Armut?

Gesundheit  Hygiene  Antibiotika  Impfung  Krebs

Energie  Wozu Energie?  Elektrische Energie  Energiewende

8

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Klima  Frühe Warnungen  Der Kohlenstoffkreislauf  Ein globales Experiment  Aussichten  Verdrängung  Geht es auch ohne Energie?  Kernenergie gegen den Klimawandel?

Alternativen zu fossilen Energien und zur Kernenergie  Solarenergie  Windenergie  Geothermie  Biomasse  Sparen!

Wie realistisch ist diese Energiewende?  Strom speichern?  Mehr Fantasie, bitte!

Kernenergie  Ist Kernenergie teuer?   Ist Kernenergie gefährlich?   Sind Kernkraftwerke menschenverachtend?   Ist Kernenergie widernatürlich?  Ist Kernenergie ein Auslaufmodell?   Kohlendioxid entsorgen?  Ein Sonnenschirm?

Mögliche Szenarien der Klimazukunft  IPCC-Szenarien  USA  Europa  China  Indien  Japan  Afrika

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Inhalt Langfristige Rückkopplungen

Methan

Die Ozeane

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Fazit

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Wohin gehen wir?

Rezepte für die Zukunft

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Die zweite landwirtschaftliche Revolution  Landwirtschaft ohne Boden  Kunstfleisch

Genetik  Irrationale Politik  Genetik in der Medizin

Medizin  Immuntherapie  Erbkrankheiten  Ewiges Leben?

Künstliche Intelligenz  Digitalisierung  Können Maschinen intelligent sein?  Wenn man alles über alles weiss  Wenn Dinge miteinander reden  Die vierte industrielle Revolution  Das globale Hirn

Verkehr  Das Ende des Pendelns  Autonom fahren  Neue Verkehrsachsen  Fliegende Taxis?  Güterverkehr  Luftverkehr  Schiffsverkehr

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Energie  Dekarbonisierung   Dezentrale Energieversorgung

Ökomodernismus  Landflucht und Verstädterung  Die Stadt der fernen Zukunft  Die unberührte Natur

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219 220 222 225

Fazit

226

Anmerkungen  Index  Der Autor

233 241 251

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Vorwort

Dieses Buch hat eine lange Vorgeschichte. Dennis L. Meadows’ Grenzen des Wachstums (1972) und Paul R. Ehrlichs Die Bevölkerungsbombe über die Bevölkerungsexplosion haben mich bewegt und beunruhigt, weil ich schon vor 50 Jahren um die Bedrohungen des Klimawandels durch das anthropogene Kohlendioxid (CO2) wusste. Ich wunderte mich, dass dieses Problem bei Meadows kaum auftauchte. Ich begann, mich vertieft mit diesen Fragen zu befassen, und ich stiess auf Erstaunliches: Nicht Fakten, nicht Forschungsergebnisse, nicht einmal Naturgesetze dienen als Leitlinien politischen Handelns, sondern – ganz profan – materielle Interessen. Ich erhielt sogar den Eindruck, dass wissenschaftliche Fakten – gewissermassen zum Selbstschutz – oft bewusst nicht wahrgenommen werden. Was kann man dagegen tun? Man kann die Fakten immer wieder bekannt machen. Aber wie? Leserbriefe schrei­ben? Ja, aber es ist die Redaktion, die entscheidet, welche Briefe veröffentlicht werden. Und diese entscheidet vorwiegend aufgrund von Geschäftsinteressen. Das Gleiche gilt für Artikel und Gastbeiträge in Zeitungen und Zeitschriften. Seit etwa 20 Jahren gibt es die Möglichkeit, seine Meinung über das Internet zu verbreiten. Aber auch da ist die Reichweite beschränkt. Drei Jahre vor der Energieabstimmung in der Schweiz am 21. Mai 2017 verfasste ich ein Blog zu Energiefragen. Die höchste Leserzahl lag bei tausend. Vielleicht dann doch lieber ein Buch schrei­ben? Ein Buch kann man immer wieder zur Hand nehmen. Dabei stellten sich mir aber verschiedene Fragen. Welche Art von Buch sollte ich schrei­ben? Kann man Wissenschaft in eine spannende Geschichte packen? Ich hab’s versucht. Es hat mich nicht befriedigt. Vielleicht eine Serie von Comics? Das könnte gehen, aber mein Talent zum Zeichnen reicht nicht aus. Die Blogs aus dem Abstimmungskampf zu einem Buch zusammenfassen? Das wäre das Einfachste, aber wohl nicht besonders spannend, weil unzusammenhängend. 13


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Vorwort

Also doch ein klassisches Buch mit Text und Illustrationen. Sie halten es in Ihren Händen. Es besteht aus drei Teilen. Falls Sie sich nicht für Geschichte interessieren, können Sie sich den ersten Teil sparen. Allerdings werden Sie dann einige Zusammenhänge verpassen, die Sie vielleicht noch nicht gekannt haben. Der zweite Teil zeigt, was die Menschheit erreicht hat. Was heisst das für die Zukunft? Davon handelt der dritte Teil. Was werden unsere Enkel erleben und was nicht? Eine Warnung: Dieses Buch habe ich nicht für Fachleute geschrieben. Fachleute wie Historiker, Ärzte oder Molekularbiologen werden, wenn sie beim Lesen auf ihr Fachgebiet stossen, den Kopf schütteln, sich gar die Haare raufen. Ich habe vieles sehr stark vereinfacht, aber ich habe mich bemüht, nichts Falsches zu schrei­ben. Manches mag provozierend tönen. Das ist Absicht. Wenn dieses Buch heisse Diskussionen auslöst, freut es mich. Eine zweite Warnung: Meine Zahlenbeispiele verwenden gerundete Zahlen. Es geht mir um Grössenordnungen, deshalb gehen die Stellen nach dem Komma bisweilen verloren. Also bitte nicht nörgeln, wenn meine Zahlen eine Stelle nach dem Komma von Ihren abweichen. Vieles sehe ich aus schweizerischer Warte, aber der globale Blick geht nicht vergessen. Die Leser nördlich und östlich des Rheins mögen mir den einen oder anderen Helvetismus nachsehen. Die Leser? Und die Leserinnen? Die natürlich auch. Ja, in meinem Deutsch sind sie nicht nur mitgemeint, sondern voll dabei. Sie sind Menschen, und auf Deutsch heisst es «der Mensch». Ich halte es mit Wolf Schneider, dem Doyen des guten deutschen Sprachstils, der einst meinte: «Um ein berechtigtes Anliegen zu unterstützen, ist es nicht nötig, eine Sprache zu zerstören.» Schneider betont immer wieder den Unterschied zwischen dem biologischen und dem grammatikalischen Geschlecht. Die Person kann auch ein Mann sein, der Mensch eine Frau und das Individuum beides. Die kürzlich verstorbene Physikerin Verena Meyer, erste Rektorin der Universität Zürich, zeigte an einem Beispiel, dass geschlechtergerechte Sprache nicht funktionieren kann: «Mein bester Student war eine Frau», sagte sie. Geschlechtergerecht kann man das gar nicht ausdrücken. In gendergerechter Sprache wäre es ein Widerspruch in sich, und «Meine beste Studentin war eine Frau» wäre tautologisch. Das Partizip der Gegenwart funktioniert auch nicht: Die Studierenden studieren ja nicht immer. Manchmal sind sie 14


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Schlafende, Essende, Liebende. Gendersternchen, Binnen-I und Unterstriche gehen gar nicht. Nein, gutes Deutsch ist das Deutsch, das sich über viele Generationen entwickelt hat. Es ist das Deutsch, das zu schrei­ben ich mich bemühe. Dieses Buch wäre nicht so geworden, wie es ist, wenn ich nicht die Hilfe meiner Frau Irene gehabt hätte, die mich immer wieder angespornt hat, hier eine lesbarere und dort eine präzisere Wendung zu finden. Danke, Irene. Geschrieben ist das Buch in erster Linie für unsere Enkel. Sie sollen dereinst nicht sagen müssen: «Unser Grossvater hat zwar gesehen, was auf uns zukommt, aber er hat uns nichts gesagt.»


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Einleitung

Versklavt von Robotern? Verarmt wegen Ressourcenmangel? Auf der Flucht vor dem Krieg ums Wasser? Überrannt von Klimaflüchtlingen? Keuchend in verschmutzter Luft? Verstrahlt vom Atommüll? Sieht so das Schicksal unserer Enkel aus? Wird das Leben auf der Erde von nun an immer schlimmer, schwieriger und gefährlicher? Leben wir jetzt und heute in der besten aller möglichen Welten? Oder haben wir diese vielleicht schon hinter uns? War in der «guten alten Zeit» alles besser? Zeitungen, das Radio und das Fernsehen sowie die Internetmedien – alle machen es uns leicht, uns vor der Zukunft zu fürchten. Noch geht es uns gut! Eigentlich sehr gut. Wir ernähren uns mit erlesenen Speisen, wohnen geräumig und behaglich. Wir gönnen uns Tauchferien auf den Malediven. Wir verbringen den Lebensabend auf Kreuzfahrten und lernen neue Welten kennen. Und der Lebensabend wird immer länger: Die Lebenserwartung übertrifft die unserer Eltern und erst recht die unserer Grosseltern um viele Jahre. Sie nimmt immer noch zu. In der Schweiz jedes Jahr um fast einen Monat. Die Medizin hat die Geisseln der Menschheit – Pest, Tuberkulose, Syphilis – weitgehend überwunden. Pocken gibt es nicht mehr, Kinderlähmung bald auch nicht mehr. Es mangelt uns an fast nichts. Aber so kann es doch nicht weitergehen, lesen und hören wir allenthalben. Wir plündern unseren Planeten. Wir leben, als hätten wir drei Planeten Erde zur Verfügung. Die Grenzen des Wachstums hat man uns schon 1972 aufgezeigt. Wir missachten sie. Wir haben sie überschritten. Der Kollaps sei unausweichlich. Ist die Angst vor der Zukunft also begründet? Schon immer standen die Menschen an der Schwelle zur Zukunft. Schon immer hatten sie Angst davor. Und fast immer kam es ganz anders, als befürchtet. Besser. Angenehmer. Gesünder. Fast immer, aber nicht immer. Um 1913 und 1939, da war die Angst vor der Zukunft begründet. Sie wäre auch 1618 begründet gewesen – aber da erwartete niemand den verheerenden Dreissigjährigen Krieg. 17


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Einleitung

Hundert Jahre später, 1719 – vor 300 Jahren, da drohte nichts besonders Furchterregendes. Da herrschte einfach die übliche Angst vor der Zukunft. Wie sah die Welt damals aus? In Frankreich war der achtjährige Ludwig XV. König. Der Sonnenkönig Ludwig XIV., sein Urgrossvater, war vier Jahre zuvor verstorben. In Leipzig komponierte Johann Sebastian Bach Kantaten und Fugen. Vornehme Männer trugen Perücken, Königs- und Fürstenhöfe waren prächtig mit Samt und Gold ausstaffiert. Es war das Zeitalter des Barocks. Doch der allergrösste Teil der Menschen hatte keinen Anteil an der barocken Pracht. Sie waren Bauern. Sie lebten von der Hand in den Mund und arbeiteten sich dabei buchstäblich zu Tode. Das Land, das sie bebauten, gehörte ihnen nicht. Die Mütter gebaren zehn oder zwölf Kinder, von denen die Hälfte die Kindheit nicht überlebte. Viele junge Männer, die es schafften, erwachsen zu werden, starben als Söldner in fremden Kriegsdiensten. Die hygienischen Verhältnisse stanken buchstäblich zum Himmel, besonders in den Städten, wo die Handwerker ein bescheidenes Auskommen suchten. Die Strassengräben waren offene Kloaken, gespeist durch die Ehgräben zwischen den Häusern, in die man das Nachtgeschirr entleerte. Die Angst vor der Zukunft bezog sich auf die nahe Zukunft: Würde es gelingen, im Herbst eine gute Ernte einzufahren, oder würden Sturm, Hagel und Hochwasser zu Missernten und Hungersnot führen oder Seuchen das Vieh dahinraffen? Würde der Gutsherr die Abgaben erhöhen oder die Obrigkeit einen Krieg anfangen? Und wann endlich bessert sich Vaters Husten? Niemand wusste, dass sich im fernen England eine neue Zeit an­­bahnte. Selbst wenn man gewusst hätte, dass es im abgelegenen Dudley einem Schmied namens Thomas Newcomen einige Jahre zuvor gelungen war, eine Maschine zu konstruieren, die Feuer in Kraft verwandelte, hätte sich niemand die Folgen ausmalen können. Vor 300 Jahren standen die Menschen in Europa an der Schwelle zur Moderne. Doch niemand ahnte es. Hundert Jahre später war die Moderne da – und die Angst davor. Man hatte schwere Zeiten hinter sich. Die Napoleonischen Kriege waren endlich vorüber, und nach dem Wiener Kongress von 1815 schienen in Europa Frieden und Stabilität eingekehrt zu sein. Aber dann folgte das Jahr 1816, das Jahr ohne Sommer, und mit ihm Missernten und Hungersnöte. Niemand wusste, dass ein gigantischer Vulkanausbruch im fernen Indonesien die Ursache war. Man fürchtete, das könnte das neue Normale sein. 18


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Noch konnten sich die Bauern mit Weben und Spinnen zu Hause ein Zubrot verdienen, aber aus England hörte man Beunruhigendes: Maschinen in Fabriken nahmen den Heimarbeitern angeblich die Arbeit weg. Auch auf dem Kontinent entstanden Fabriken. Überhaupt hörte man Schreckliches aus England: Es sollte dort maschinengetriebene Wagen geben, die, ohne von Pferden gezogen zu werden, von selbst fuhren, gar schneller als ein galoppierendes Pferd. Zumindest in Frankreich war mit Ludwig XVIII. die königliche Ordnung wiederhergestellt. Die europäischen Herrscher von Gottes Gnaden konnten ihre Macht und ihren Prunk beruhigt weitergeniessen. Die absurde Idee, das Volk könne sich selbst regieren, hatte sich erledigt – ausser jenseits des Atlantiks, in den sogenannten Vereinigten Staaten von Amerika. Dort kamen sie seltsamerweise immer noch ohne einen König aus, auch nachdem die Engländer sie sechs Jahre zuvor zur Vernunft hatten bringen wollen und das Weisse Haus niederbrannten. Und dann waren da noch die starrköpfigen Schweizer. Ist es die Ruhe vor einem weiteren Sturm? Die meisten waren überzeugt davon. Hätten sie hundert Jahre vorausblicken können, sie hätten sich bestätigt gesehen. Das Jahr 1919 war alles andere als erfreulich. Zwar hatte das grosse Sterben in Flandern endlich ein Ende, aber jetzt raffte die Grippe die Menschen dahin. Die wirtschaftlichen Folgen des Kriegs waren drückend, und wieder kam der Hunger zurück nach Europa. Angesichts dieses Elends war es leicht zu übersehen, wie viel besser es den Menschen ging als hundert Jahre zuvor. Die Industrialisierung hatte die Produktivität massiv gesteigert; alle waren wohlhabender geworden. Auf den Weltausstellungen am Ende des 19. Jahrhunderts hatte man die neuen Wunder der Technik bestaunen können: elektrisches Licht, elektrisch angetriebene Maschinen, selbstfahrende Kutschen. Eisenbahnen transportierten die Güter jetzt viel schneller als Fuhrwerke, und sogar in der Luft sah man neuerdings Maschinen. Die Kinder hatten eine grössere Chance, erwachsen zu werden. Man hatte gelernt, was Hygiene bedeutet. Nachrichten verbreiteten sich fast augenblicklich. Anstelle von Schiffen, die wochenlang unterwegs waren, überbrachte der Telegraf die Neuigkeiten. Die Neue Zürcher Zeitung erschien dreimal am Tag. 19


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Einleitung

Die Nachrichten waren aber nicht dazu angetan, sich auf die Zukunft zu freuen: Der deutsche Kaiser war abgesetzt, ebenso der russische Zar und der österreichisch-ungarische Kaiser. Auch der türkische Sultan klammerte sich mit letzter Kraft an die Macht. Die Welt war in Aufruhr, und niemand wusste, wie es weitergehen würde. Die Zukunft machte Angst. Jetzt schrei­ben wir das Jahr 2020, und wir stehen da, wo wir schon immer gestanden haben: an der Schwelle zur Zukunft. Und wir fürchten uns immer noch davor. Wenn wir 300 Jahre zurückblicken, sehen wir – trotz der Rückschläge und Einbrüche – eine fast unglaubliche positive Entwicklung. Könnte es nicht so weitergehen? Können wir die Zukunft nicht erraten, indem wir die Vergangenheit extrapolieren, weiterschreiben? So einfach geht es leider nicht. Aber wir können aus der Vergangenheit lernen. Dazu möchte ich mit diesem Buch anregen. Im ersten Teil versuche ich, diese Vergangenheit in komprimierter Form in Erinnerung zu rufen. Wir werden sehen, dass die Entwicklung nicht anhaltend und stetig war. Sie verlief in Schüben, ausgelöst durch Neuerungen, die alles, was zuvor galt, infrage stellten. Ich nenne diese Neuerungen disruptiv. Im zweiten Teil wollen wir uns umsehen und zusammenfassen, was wir erreicht haben und wie wir das erreicht haben – im Guten wie im Schlechten. Im dritten Teil wage ich einen Blick in die Zukunft. Nein, ich wage keine Prognosen, ich zeige bloss Möglichkeiten auf. Möglichkeiten, die wir aufgrund des heutigen Wissens haben. Ob wir diese Möglichkeiten nutzen werden, wer sie nutzen wird und ob man sie missbrauchen wird – all das wage ich nicht vorauszusagen. Natürlich weissage ich nichts, was heute noch unbekannt ist. Aber technische Entwicklungen kann man mit einiger Sicherheit voraussagen, vor allem vermag man mit Sicherheit zu sagen, was es auch in hundert oder mehr Jahren nicht geben wird: Zum Beispiel freie Energie aus dem Nichts. Oder die Flucht der Menschheit auf einen anderen Planeten. Oder lauter Menschen, die nur lieb, gut und fürsorglich sind. Gar nicht absehbar ist das gesellschaftliche und politische Umfeld, in dem sich diese Möglichkeiten darbieten werden. Eine Extrapolation ist in diesem Fall völlig unmöglich. Da herrscht im mathematischen Sinn Chaos: Eine kleine Begebenheit kann eine grundlegende Umwälzung auslösen. Man denke an den Mord von Sarajevo. Oder an den Fenstersturz von Prag, 20


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der den Dreissigjährigen Krieg auszulösen half. Und es kann ja auch negative Disruptionen geben. Ist vielleicht der technische Fortschritt, wie wir ihn heute erleben, so eine negative Disruption? Steuern wir nicht sehenden Auges in eine Katastrophe? Sind Umweltzerstörung, Ressourcenverbrauch, Energieverschwendung und Bevölkerungsexplosion nicht Wege in den Untergang? Sollten wir nicht wieder natürlicher leben, auf Technik und Wachstum verzichten? Ja, die technische und gesellschaftliche Entwicklung ist rasant, und sie kann beängstigend sein. Sie ist zurzeit für eine Mehrheit der Menschen offenbar eher beängstigend als vielversprechend. Diese Mehrheit gleicht einem Menschen, der erstmals fliegt, und das gleich auf dem Sitz des Kopiloten. Er sieht, wie das Flugzeug beim Start beschleunigt, er hört den Lärm der Motoren und spürt die Vibrationen. Alles wird immer schlimmer, und er sieht mit Entsetzen, wie das Flugzeug, in dem er hilflos ausgeliefert sitzt, immer schneller auf das Ende der Piste zurast, auf den Zaun, die Strasse mit dem dichten Verkehr und den Wald dahinter. Panik ergreift ihn, er möchte mit voller Wucht auf die Bremse treten – und würde damit eine Katastrophe verursachen, denn das Flugzeug lässt sich in dieser Phase des Startvorgangs nicht mehr rechtzeitig abbremsen. Es knallt in den Zaun, in die Autos und in die Bäume. Der Pilot weiss das. Die kritische Geschwindigkeit ist überschritten. Was auch passiert, er hebt ab. Er fliegt. Er überfliegt das Ende der Piste, den Zaun, die Strasse und den Wald. Wir, die Menschheit, sind in dieser Situation. Wir haben einen kritischen Punkt überschritten. Zum Bremsen ist es zu spät. Jeder Versuch, den Start abzubrechen, schlägt nicht nur fehl, sondern endet in einem Desaster. Jetzt sind Wissen und Können gefragt. Noch nie in der Geschichte wussten wir so viel, hatten wir so viele technische Möglichkeiten und so viele Chancen, das Leben aller Menschen zu verbessern. Mit diesem Buch möchte ich Mut machen, dieses Wissen, diese Technik und diese Chancen zu nutzen, damit unsere Enkel ihr Leben meistern und geniessen können.

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Wo stehen wir?

Wachstum Wir sind jetzt bald acht Milliarden Menschen. Für die erste Milliarde brauchten wir Hunderttausende von Jahren. Um 1800, also etwa zur Zeit der Französischen Revolution, war es so weit: Die erste Milliarde war erreicht. Für die zweite Milliarde brauchten wir gerade noch 120 Jahre, für die dritte 40 und für die vierte 20 Jahre. Vier Milliarden betrug die Weltbevölkerung im Jahr 1980. Innerhalb von nur zehn Jahren kam eine weitere Milliarde dazu. Ist das beängstigend? Aber sicher! Die Menschheit wächst nicht ex­­ ponentiell, sie wächst überexponentiell. Das heisst, die Zeit, in der sich ihre Zahl verdoppelt, wird immer kürzer: von ein bis zwei Milliarden: 120 Jahre, von zwei bis vier Milliarden: 60 Jahre. Von vier bis acht Milliarden: 40 Jahre. Das lässt sich durch eine mathematische Funktion beschreiben. Diese Funktion hat eine unangenehme Eigenschaft: Sie strebt irgendwann nach unendlich. Wann wird das sein? In der fernen Zukunft? Nein, unser Sohn Christof hat diese Funktion von der grauen Vorzeit bis etwa ins Jahr 1980 berechnet. Wenn er sie weiterführt, kommt die Singularität, die unendlich grosse Menschheit, der Weltuntergang, exakt am 8. Februar 2038. Zufälligerweise ist das mein hundertster Geburtstag. Selbstverständlich schaue ich meinem hundertsten Geburtstag gelassen entgegen. Die Singularität wird nicht kommen. Etwa um 1980 hat die Wachstumsrate den Höhepunkt erreicht und ist seither gefallen. Die nächste Verdoppelung wird nicht 30 oder gar nur 20 Jahre dauern. Die nächste Verdoppelung wird es nicht geben. Die Menschheit wird elf Milliarden kaum überschreiten. Die Grenze des Wachstums ist erreicht, allerdings unter der Voraussetzung, dass es gelingt, Afrika wohlhabend zu machen. Das explosive, ja katastrophale Wachstum der Menschheit ist gebremst worden. Die Bremse heisst: Ende der Armut. Wie beendet man die Armut? Man beendet sie mit einem ausreichenden Energie-Angebot. Die Begründung für diese Behauptung folgt. 87


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Wo stehen wir?

Das hat man nicht immer so gesehen. Paul R. Ehrlich, Autor von Die Bevölkerungsbombe, schrieb 1975: «In dieser Situation der Gesellschaft reichliche, billige Energie zu geben, wäre moralisch gesehen das Gleiche wie wenn man einem dummen Kind ein Maschinengewehr gäbe.» Amory Lovins sagte 1977 zum Thema Energie: «Es wäre verheerend, eine billige, saubere und reichliche Energiequelle zu entdecken, wenn man bedenkt, was damit gemacht würde.»62 Aus heutiger Sicht sind das völlig abwegige Aussagen. Aber es gibt heute noch viele Menschen, die es genauso sehen: Stephen Emmott schreibt im Flyer zur Vermarktung seines Buchs Ten Billion etwa zu der Frage, wie die Bevölkerungsexplosion gestoppt und rückgängig gemacht werden kann: «Wir können die Situation, in der wir uns befinden, ändern. Wohl kaum mit technischen Lösungen, aber mit einer radikalen Änderung unseres Verhaltens.»63 Eine radikale Verhaltensänderung von allen kann es nicht geben, kann man nicht befehlen. Es ist eine überholte Ideologie, aber damals war sie voll im Zeitgeist. Es war im Sinn eines schmalen Büchleins, das die Welt erschütterte: Die Grenzen des Wachstums von Donella und Dennis Meadows und ihren Koautoren, ein Bericht an den Club of Rome.64 Die Grenzen des Wachstums? Die Meadows sagten nichts weniger als den bevorstehenden Kollaps unseres Gesellschafts- und Wirtschaftssystems voraus. Die Begründung war ebenso einleuchtend wie folgerichtig: Jedes exponentielle Wachstum erreicht zwangsläufig irgendwann eine Grenze; dann wandelt sich das Wachstum abrupt ins Gegenteil. Und wo wir hinschauen, sehen wir exponentielles oder gar überexponentielles Wachstum: bei der Weltbevölkerung, beim Rohstoffverbrauch, bei der Umweltverschmutzung. Nicht nur das Prestige des Club of Rome bürgte für die Glaubwürdigkeit der Untergangsszenarien, sondern auch die Tatsache, dass sie das Resultat eines Computermodells waren. Das war damals ein Gütesiegel. Dabei hatte man nicht irgendwelche Computerrechnungen gemacht, sondern gewissermassen eine neue mathematische Disziplin, die Systemdynamik («system dynamics»), extra dafür erfunden.65 Meadows’ pessimistische Zukunftsaussichten schufen für Investoren nicht gerade ein Klima des Vertrauens. Zu allem Überfluss hatten die Erdöl produzierenden Länder kurz danach den Hahn zugedreht. Der «Ölschock» 88


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Wachstum

der Scheichs und der «Zukunftsschock» des Club of Rome lenkten die Wirtschaft und noch mehr die Politik in eine völlig neue Richtung. Nullwachstum wurde gefordert, und ein Investitionsstopp war die Folge. Die Weltwirtschaft stürzte in eine Krise. Wie sehen die Prognosen und Modelle, die die Welt vor fast einem halben Jahrhundert geschockt haben, heute aus? Sehen wir heute, fast ein halbes Jahrhundert später, immer noch die gleichen Grenzen des Wachstums? Die Antwort mag überraschen. Dennis Meadows hat einige Kennzahlen, von denen er annehmen konnte, sie definierten das Wohlergehen der Menschheit, in seine Computer gespeist. Dazu gehörten das Angebot an Nahrungsmitteln, der Rohstoffverbrauch, die Umweltverschmutzung, die Bevölkerungszahl und einige andere. Diese Zahlen sind voneinander nicht unabhängig; sie beeinflussen sich gegenseitig. Auch diese Abhängigkeiten mussten die Computer berücksichtigen. Dann haben Meadows und Forrester ihre Computer auf die Reise in die Zukunft geschickt, mit der Frage: Wie geht es weiter? Die Antwort war erschreckend: Die Zahl der Menschen, das Nahrungsangebot, aber auch der Rohstoffverbrauch und die Umweltverschmutzung wuchsen Jahr für Jahr um einen im Voraus bestimmten Prozentsatz. Alle Zahlen näherten sich den von der Natur (und von Meadows) vorgegebenen Grenzen immer schneller. Dann stürzten sie alle ins Bodenlose: der Rohstoffverbrauch, das Nahrungsangebot – und die Menschenzahl. Der Kollaps! Die globale Katastrophe. Irgendwann im 21. Jahrhundert müsste sie eintreffen – wenn es so weitergeht. So neu waren Meadows’ Einsichten gar nicht. Die Erkenntnis, dass exponentielles Wachstum nicht unbegrenzt weiterlaufen kann, ist so alt wie die Zukunftsforschung. Viele haben davor gewarnt. Der Erste war der englische Ökonom Thomas R. Malthus. Er prophezeite 1798 in seinem Essay on the Principles of Population ein abruptes und zwangsläufiges Ende des Wachstums. Weil seine Voraussagen nicht eintraten, ist es Mode geworden, derartige Warnungen nicht mehr ernst zu nehmen. Doch die Zukunft, die Meadows und seine Computer ausmalten, hat man ernst genommen. Sie prophezeiten denn auch Erschreckendes: Schon zu unseren Lebzeiten, ja wenige Jahre nach der Publikation von Grenzen des Wachstums würden bestimmte Rohstoffe zur Neige gehen, wenn der Verbrauch weiter im selben Masse zunehmen würde. Hier einige Beispiele: 89


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Wo stehen wir?

Gold: Die bekannten Vorräte sollten gerade noch neun Jahre lang reichen. Sogar dann, wenn – was als unwahrscheinlich galt – neue, fünffache Mengen der bislang bekannten Vorräte gefunden würden, hätte das Jahr 2001 das letzte «goldene» Jahr sein müssen. Aluminium: Obwohl die Vorräte 1972 mehr als eine Milliarde Tonnen betrugen, sah Meadows schwarz: Weil der Verbrauch jährlich um 6,4 Prozent zunahm, schätzte er die Reichweite gerade noch auf 31 Jahre. Es hätte also ab 2003 kein Aluminium mehr geben dürfen! Auch Silber dürfte es längst nicht mehr geben. Silber war in grossen Mengen als Silberbromid in Fotoalben verschwunden. Doch dann erfand man die digitale Fotografie. Auch Blei, Quecksilber, Kupfer, Zink und Zinn hätten bereits zur Neige gehen oder aus den letzten Löchern gegraben werden sollen. Besonders krass ist das Beispiel Erdgas: Noch ganze 22 Jahre sollten die Vorräte reichen, also bis 1994. Im Frühling 1997 fand die 20. Weltgaskonferenz statt. Dort wurde festgestellt, dass die Vorräte in den vergangenen sechs Jahren um 23 Prozent zugenommen hatten. Gleichzeitig stieg der Verbrauch bloss um 14 Prozent! Die Reichweite der Gasvorräte wird immer länger, und Erdgas gilt heute als Energiequelle der Zukunft, mit Vorräten für viele Jahrzehnte. Seit man gelernt hat, durch Fracking auch das vermeintlich unzugängliche Schiefergas zu gewinnen, ist ein Ende des Gasbooms nicht absehbar. Erdgas ist vielleicht das krasseste, aber keineswegs das einzige Beispiel für ein Rohmaterial, dessen Vorräte in den letzten Jahrzehnten schneller gewachsen sind als der Verbrauch. Das gilt auch für Erdöl: 1996 betrugen die nachgewiesenen Vorräte 1149 Milliarden Fass, 2006 1388 Milliarden und 2016 1691 Milliarden.66 Keine Spur von «peak oil». Es gibt schlechterdings keinen einzigen Rohstoff, dessen restlose Ausbeutung unmittelbar bevorsteht. Aber exponentielles Wachstum muss in die Katastrophe führen, und unser Heimatplanet ist offensichtlich nicht unendlich gross. Warum kam denn alles anders? Das Modell ist mathematisch nicht falsch, es ist in drei wesentlichen Punkten unvollständig: Das Modell kann Veränderungen des Systems schlecht wiedergeben, und die Selbststeuerungskräfte des Systems wurden, ebenso wie die technische Entwicklung, offensichtlich unterschätzt. 90


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Wachstum

Nehmen wir Gold als Beispiel für die Systemänderungen: Bis 1971 galt Gold als Basis für die Währungen der Welt. 1 US-Dollar war 1 US-Dollar, weil in Fort Knox sein Gegenwert in Gold lag. Das Gleiche galt für die D-Mark, den Franc und den Yen. Das war im Abkommen von Bretton Woods so festgelegt. Doch 1971 fiel das Abkommen von Bretton Woods. Der Goldstandard wurde abgeschafft. Zur Deckung der wachsenden Geldmenge wurde kein Gold mehr benötigt. Fort Knox, die Schweizerische Nationalbank und alle Notenbanken der Welt wurden über Nacht zu Goldminen. Minen für einen industriellen Rohstoff wie alle anderen. Der Untergang der Goldbindung und die Erfindung der digitalen Fotografie waren im Weltmodell nicht eingebaut, seine Folgen somit nicht berechenbar. Forresters Weltmodell ist nicht falsch, es ist unvollständig. Es geht am wirklichen Leben vorbei. Das System «Goldwirtschaft» hatte sich entscheidend verändert. Die Selbststeuerung des Systems zeigte sich besonders plastisch am Beispiel des Erdöls. Kurz nach dem Erscheinen von Grenzen des Wachstums zogen die klassischen Erdölproduzenten (die OPEC-Länder) die Preisschraube an. Die Kosten der Energieversorgung stiegen so drastisch, dass das ganze Weltwirtschaftssystem in Aufruhr geriet. Das Energiesparen, insbesondere das Sparen von Benzin und Öl, wurde zur nationalen Tugend. In der Schweiz hat man das Autofahren an Sonntagen zeitweise verboten, und im Land des Automobils, in den USA, standen unabsehbare Schlangen vor den trockengelegten Tankstellen. Das waren die unmittelbaren Auswirkungen. Längerfristig geschah etwas, das für die Staaten, die den Ölpreisschock ausgelöst hatten, böse Folgen haben würde: Das System «Erdölwirtschaft» sorgte für Korrekturen. Plötzlich wurde die lange vernachlässigte Erdölexploration wieder lohnend, und Förderanlagen, die eben noch als unwirtschaftlich geschlossen worden waren, wurden wieder zu Geldmaschinen. Öl floss plötzlich auch ausserhalb der Organisation erdölproduzierender Länder (OPEC). Aber insgesamt floss weniger Erdöl. Das ungestüme Wachstum der 1960er-Jahre kam abrupt zum Stillstand. Frankreich stellte fast seine gesamte Elektrizitätsproduktion von Öl auf Kernenergie um. Sparautos und wärmegedämmte Häuser wurden schick, sogar die solare Warmwasseraufbereitung begann sich zu verbreiten. 91


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Wo stehen wir?

Solche Mechanismen gelten für alle Rohstoffe. Wenn ein Rohstoff knapp wird, steigt sein Preis. Wenn der Preis steigt, sind drei Reaktionen möglich: –– Erstens gehen alle sparsamer mit der Ressource um, und es lohnt sich, sie zu rezyklieren. –– Zweitens werden minderwertige, rohstoffärmere Lagerstätten erschlossen, weil sich der teurere Abbau zu lohnen beginnt. –– Drittens sucht man Alternativen. Vor allem die ersten zwei Effekte führen zu einer paradoxen Erkenntnis: Zwar sind alle Ressourcen endlich, aber gleichzeitig sind sie unerschöpflich! Der Tag, an dem man den letzten verbliebenen Liter Öl aus dem Boden pumpt, wird niemals kommen. Verschmutzte Umwelt Ja, das Leben ist farbiger als die graue Modelltheorie. Das gilt besonders für das Thema Umweltverschmutzung. Meadows nahm an, dass sie direkt proportional zur Wirtschaftstätigkeit sein müsse. In diesem Punkt ist Meadows’ Modell allerdings nicht nur falsch, sondern grundfalsch, denn das Gegenteil ist richtig. Vergiftete Flüsse, verpestete Luft, zerstörte Landschaften findet man nicht in entwickelten Ländern mit hoher Wirtschaftstätigkeit. Das sind Markenzeichen von Städten in Entwicklungsländern. Industrieländer mit hoher Produktivität leisten sich Abwasserreinigungsanlagen, Katalysatoren, bleifreies Benzin und schwefelfreies Heizöl. Die Luft ist klar, und das Wasser sauber, man kann darin baden. In den Kläranlagen der Schweiz plant man, auch die letzten Reste Phosphor zurückzugewinnen. Die Fischereierträge in den Schweizer Seen sind eingebrochen. Nicht weil die Fische vergiftet wurden. Die Fische verhungern, weil das Wasser zu sauber ist. Die Umweltverschmutzung in den Industrieländern ist subtiler: Medikamente und Hormone passieren die Kläranlagen. Nicht alle werden abgebaut, sie reichern sich im Meer an. Noch ist das Problem quantitativ unbedeutend, aber man sollte es im Auge behalten. Die Plastikverschmutzung der Weltmeere ist unerträglich und unnötig. Woher sie kommt, weiss, wer jemals in Entwicklungs- und Schwellenländern gereist ist: Man weiss, dass man sich einer grösseren Siedlung nähert, wenn die Zahl der 92


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Wachstum

herumfliegenden und herumliegenden Plastiktüten aus der offenen Deponie zunimmt. Die Umweltverschmutzung, wie Meadows sie versteht, ist nicht proportional zur Wirtschaftstätigkeit. Im Gegenteil: Sie ist umgekehrt proportional. Je reicher eine Gesellschaft ist, desto besser kann sie es sich leisten, die Verschmutzung der Umwelt zu vermeiden. Der grosse Fussabdruck Am 25. September 2016 war das Schweizervolk aufgerufen, seine Verfassung zu ändern. Es sollte ein neuer Artikel eingeführt werden, der verlangt, dass die Wirtschaft der Schweiz nachhaltig sein müsse und ihr ökologischer Fussabdruck ab dem Jahr 2050 den schweizerischen Anteil an einer Erde nicht überschreiten dürfe. Zurzeit entspreche er drei Erden. Was ist ein «ökologischer Fussabdruck»? Das wurde im Verfassungstext nicht definiert, auch nicht im begleitenden Abstimmungsbüchlein der Regierung. Darf man eine Bestimmung in eine Verfassung schrei­ben, von der man nicht weiss, wie man misst, ob sie erfüllt ist? Man darf nicht. Das hat das Stimmvolk auch so gesehen und hat die Verfassungsänderung mit fast 64 Prozent der Stimmen deutlich abgelehnt. Es gibt einen weit wichtigeren Grund, eine solche Bestimmung abzulehnen: Wirtschaft muss wirtschaftlich sein. Das tönt zunächst tautologisch. Ist doch klar! Ist aber nicht allen klar. Wirtschaft ist nicht ein Zweck an sich. Niemand wirtschaftet um des Wirtschaftens willen. Wirtschaft schafft Werte. Bäckereien backen Brot, Ziegeleien brennen Backsteine, Maschinenfabriken bauen Maschinen, zum Beispiel Werkzeugmaschinen, mit denen Bauteile für Autos produziert werden. Uhrmacher bauen Uhren, und Baumeister bauen Häuser. Sie alle machen all das, um Geld zu verdienen. Das heisst, sie müssen möglichst kostengünstig arbeiten. Also keine Verschwendung von Rohstoffen, keine Verschwendung von Energie und keine Verschwendung von menschlicher Arbeitskraft. Das ist, was man nachhaltig nennt. Dazu braucht es keine staatliche Regulierung, keine Vorschriften und schon gar keine Verfassungsbestimmung. Aber was ist ein ökologischer Fussabdruck? Ein Fussabdruck ist zunächst eine Fläche, und Flächen misst man in Quadratmetern (m2) oder in Hektaren (ha). Der ökologische Fussabdruck 93


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Wo stehen wir?

eines Menschen entspricht der Fläche, die notwendig ist, damit die biologische Kapazität dieser Fläche den ökologischen Schaden eines Menschen kompensieren kann. Nun ist eine Hektare Wüste nicht gleich produktiv wie eine Hektare Regenwald und diese nicht wie eine Hektare Ackerland. Man muss also einen Durchschnitt bilden. Damit tappen die Erfinder des Fussabdrucks in die gleiche Falle wie seinerzeit Dennis Meadows: Die Dinge ändern sich. Die biologische Aktivität einer Landfläche ist nicht unabänderlich. Sie kann sich auf natürliche Weise durch Klimaänderungen verändern oder künstlich durch Bewässerung, Düngung und Bewirtschaftung. In den Berechnungen des Fussabdrucks spielt oft die CO2-Emission die grösste Rolle. Zum Fussabdruck einer Person oder eines Landes gehört die Waldfläche, die benötigt wird, um das von einer Person oder einem Land produzierte Kohlendioxid zu absorbieren. Das ist an sich richtig, aber verschwindet der Fussabdruck eines Landes, wenn es auf CO2-freie Energieproduktion umstellt oder einen Weg findet, das Kohlendioxid zu vergraben? Im Gegensatz zu Meadows berücksichtigt der ökologische Fussabdruck den Ressourcenverbrauch nicht. Allerdings wird auch die Idee eines Ressourcenfussabdrucks fleissig propagiert. Was davon zu halten ist, kann man weiter vorn nachlesen.

Wohlstand Wie gesagt: Wir sind jetzt fast acht Milliarden Menschen. Bald wird eine weitere Milliarde dazukommen! Ein grosser Teil der Menschen erfreut sich eines Wohlstands, der vor Kurzem selbst für Fürsten und Könige unvorstellbar war. Wir haben nicht nur genug zu essen, wir können auch aus einer riesigen Vielfalt von Speisen auswählen – aus einheimischen und exotischen, gesunden und deftigen. Wer wollte heute wie der Sonnenkönig Ludwig XIV. im Palast von Versailles wohnen? Niemand, der bei Sinnen ist. Natürlich staunt man als Besucher über die Pracht, die Möbel und Dekors, den Reichtum der Kunstwerke und den scheinbaren Luxus der vielen Zimmer und riesigen Säle. Vor lauter Staunen fällt gar nicht auf, dass es keine Badezimmer und keine Toiletten gibt. Majestät verrichteten ihro Notdurft ins Nachtgeschirr. 94


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Wohlstand

Unsere Lebenserwartung schlägt alle Rekorde. In der Schweiz nimmt sie jedes Jahr um fast einen Monat zu. Als ich jung war, wurde den 95-Jährigen und Älteren im Radio zum Geburtstag gratuliert. Das wäre heute wohl an einigen Tagen eine abendfüllende Sendung. Man müsste im Durchschnitt täglich 60 Personen gratulieren. Es mag überraschen, aber die Zahl der Menschen, die weltweit in absoluter Armut leben, war noch nie so gering – nicht der Prozentsatz, die Anzahl! Hunger ist fast nur noch die Folge von Kriegen und politischen Konflikten. Wir können acht Milliarden Menschen problemlos ernähren. Was dort fehlt, wo Menschen hungern, wird in den reichen Gesellschaften verschwendet. Weltweit verdirbt ein Drittel der produzierten Nahrungsmittel.67 Die Ausrottung des Hungers ist nur noch eine Frage der Logistik. Alle Indikatoren für Lebensqualität entwickeln sich, mit Schwankungen zwar, über die letzten Generationen hinweg nur positiv. Sogar die Gewalt nimmt ab. Trotz Terror und lokaler Kriege: Noch nie sind so wenige Menschen durch Gewalt gestorben. Wir lesen mit Entsetzen, dass eine AutoMia. 8 7 6 5 4 3

nicht arm

2 1

2014

2000

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1900

1850

arm 1820

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Abb. 8: Die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut leben, hat nicht nur ­prozentual, sondern absolut abgenommen Das heisst: Noch nie in der Moderne gab es so wenige arme Menschen. (Darstellung: Autor)

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Wo stehen wir?

bombe in Bagdad 20 Menschen getötet hat. Wir vergessen die Hundertau­ senden, die in den beiden Weltkriegen manchmal an einem einzigen Tag ums Leben gekommen sind. Das Beispiel China Was Wirtschaft und Technik vermögen – im Guten wie im Schlechten –, zeigt uns China: Als ich 1980 zum ersten Mal in das Land reiste, sah man praktisch nur beinmagere Menschen – die grosse Hungersnot lag noch nicht weit zurück. Der Verkehr in den Städten brach zeitweise zusammen – die Fahrräder kamen in den engen Strassen kaum aneinander vorbei. Die Menschen steckten in Uniformen. Nur im unkonventionellen Süden, in Guangzhou, sah man ab und zu ein farbiges Halstuch. Dann kam Deng Xiaoping (1904–1997) und sagte: «Mir ist es egal, ob die Katze weiss ist oder schwarz, Hauptsache, sie fängt Mäuse.» Und: «Es ist okay, reich zu sein.» Das war’s. Damit hat er eine Lawine losgetreten. Eine Lawine des Unternehmertums und der Innovation. Er befreite die Wirtschaft aus den Fesseln einer ideologiebestimmten Politik. Damals, 1980, stand ich in Schanghai am Bund, am Ufer des Huangpu, und sah am gegenüberliegenden Ufer Fischerhütten und Reisfelder. Im Juli 2009 stand ich erstmals wieder am Bund und schaute über den Huangpu. Jetzt blickte ich auf eine neue Stadt: Pudong mit einer Skyline, die mit der von Manhattan wetteifert. Das geschah innerhalb einer einzigen Generation! Damals, 1980, trafen wir uns am Abend zu einem Bier mit dem Dolmetscher. Mit zunehmendem Konsum von Tsing Tao, dem lokalen Bier, lockerten sich die Schranken der politischen Korrektheit, und ich wagte die Prognose: «Unsere Enkel werden dereinst Konkurrenten auf dem Weltmarkt sein!» Unser Übersetzer hielt das für unvorstellbar. Heute weiss ich: Ich hatte mich um eine Generation getäuscht. Nicht erst unsere Enkel, schon unsere Töchter und Söhne sind Konkurrenten auf dem Weltmarkt. So schnell kann es gehen; ohne Entwicklungshilfe und ohne den International Monetary Fund (IMF). Allein die Macht des Marktes und der neuen Ideen hat China in die Weltwirtschaft zurückkatapultiert. Das Reich der Mitte wird bald wieder in der Mitte des Reichtums stehen. Ja, es gibt Schattenseiten: Die Bürgerrechtsbewegung wurde auf dem Platz des Himmlischen Friedens brutal niedergewalzt. Der explodierende 96


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Wohin gehen wir?

Rezepte für die Zukunft Wir stehen da, wo wir schon immer gestanden haben: an der Schwelle zur Zukunft. Und wir fragen uns, was wir uns schon immer gefragt haben: Kann es so weitergehen? Von jeher geniessen wir die Früchte vergangener Erfolge und fürchten uns vor den kommenden Misserfolgen. «So kann es nicht weitergehen.» – «Wir müssen bescheidener werden.» – «Wir müssen mit 2000 Watt auskommen.» – «Wir müssen uns wieder mehr um die Natur kümmern.» Solche und viele weitere Rezepte füllen Zeitungen, Radio- und Fernsehsendungen und Vortragssäle. Ich nenne das Ökoromantik. Sie führt in die Katastrophe. Nehmen wir das Beispiel «bio». Viele verlangen heute, dass alle Lebensmittel das Label «bio» tragen. Die Konsumenten sind bereit, dafür mehr zu bezahlen. Kriegen sie für mehr Geld bessere Produkte? Natürlich nicht – im Gegenteil. Was heisst «bio» eigentlich? Die biologische Landwirtschaft und der biologische Gartenbau sollen ohne Insektizide, Herbizide und Kunstdünger auskommen. Mit Verlaub: Das hatten wir doch schon mal. Das war die Landwirtschaft vor Justus von Liebig. Das war die Landwirtschaft, die die wachsende Bevölkerung nicht mehr zu ernähren vermochte. Mit bio lassen sich keine acht Milliarden Menschen ernähren – ausgeschlossen. Bio ist eine Luxusmarotte für reiche Gesellschaften. Es ist eine Wohlfühlmarke für Naturschwärmer, die nicht wissen, was Natur ist. Auch auf einem Biobauernhof gibt es längst nichts Natürliches mehr. Alle Tiere und Pflanzen sind das Resultat jahrhundertelanger Zuchtreihen. Wenn auf einem Bauernhof etwas Natürliches auftaucht, nennt man es Unkraut und Ungeziefer. Man reisst es aus und schlägt es tot – oder vergiftet es, wenn man nicht «bio» heisst. Politisch korrekt ist auch die Forderung nach erneuerbarer Energie. Ab­­ gesehen davon, dass dies ein physikalischer Unsinn ist – Energie kann man weder produzieren noch vernichten noch erneuern; man kann sie nur umwandeln von einer Erscheinungsform in eine andere –, also abgesehen 177


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Wohin gehen wir?

davon ist es auch ein praktischer und ökonomischer Unsinn. Was heisst denn eigentlich «erneuerbar»? Ich habe noch nie gesehen, dass sich ein kaputtes Solarpanel von selbst erneuert hätte oder dass eine umgewehte Windturbine von selbst wieder aufgestanden wäre. Jenseits aller Semantik ist der Weg mit den erneuerbaren Energien ein Weg in die Vergangenheit, ähnlich wie die Biolandwirtschaft. In der Geschichte war jede Energiewende ein Schritt zu stärker konzentrierten Energieformen. Vom Jagen und Sammeln zum Hegen und Pflegen, vom Holz zur Kohle und zum Öl. Warum haben die Engländer im 17. Jahrhundert angefangen, Kohle auszugraben? Weil die Wälder sich nicht schnell genug erneuerten und zu verschwinden drohten. Bioenergie, einer der Lieblinge der Ökoromantiker, gehört der Vergangenheit an, nicht der Zukunft. Wenn wir uns den erneuerbaren Energien verschreiben, kehren wir in die Vergangenheit zurück. Zur Vergangenheit, wenn auch zu einer näheren, gehört auch der Traum von der 2000-Watt-Gesellschaft. Die Triebfeder dafür finden wir in der Ideologie von Grenzen des Wachstums, die davon ausgeht, dass Energie gleich Wirtschaftswachstum gleich Bevölkerungsexplosion gleich Umweltverschmutzung bedeutet. In der Schweiz hatten wir um 1962 eine 2000-Watt-Gesellschaft. Das Bevölkerungswachstum war damals grösser als heute. Zurzeit haben Länder wie Uruguay oder Kasachstan eine 2000-Watt-Gesellschaft – und ein höheres Bevölkerungswachstum als die Schweiz. Nachhaltige Produktion ist ein weiterer zur Worthülse verkommener Begriff. Ursprünglich kommt er aus der Waldwirtschaft. Einen Wald nachhaltig zu bewirtschaften bedeutet, nicht mehr Holz zu schlagen, als nachwächst. In der Schweiz stammt dieses Konzept aus dem 19. Jahrhundert. Das Parlament erliess im Jahr 1876 das sogenannte Forstpolizeigesetz. Es verlangte, dass jede Are gerodeter Wald anderenorts wieder aufgeforstet werde. Um 1987 definierte eine UNO-Kommission unter dem Vorsitz der norwegischen Ex-Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland Nachhaltigkeit als ein Prinzip, nichts zu tun, das kommende Generationen beeinträchtigt. Heute wird alles als nachhaltig bezeichnet, was irgendwie politisch korrekt ist: die T-Shirt-Produktion unter gewerkschaftlicher Aufsicht, Kakaobohnen vom Kleinbauern, das Velofahren – und natürlich bio. Nein, bio, die erneuerbaren Energien und die 2000-Watt-Gesellschaft sind keine Rezepte für die Bewältigung von Zukunftsproblemen. Sie sind 178


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Die zweite landwirtschaftliche Revolution

bestenfalls nutzlos, eher schädlich. Sie erinnern an medizinische Praktiken der Vergangenheit wie Aderlass, Schröpfen und Geistheilen. Es geht besser. Wir können von der Geschichte lernen. Wir verfügen über neue Einsichten, neue Techniken, neue Verfahren, neues Wissen. Wir müssen sie nur zu nutzen verstehen. Sie haben das Potenzial, die Erfolgsgeschichte der Moderne weiterzuschreiben. Wir können die ganze Menschheit an den Wohltaten der industriellen und wissenschaftlichen Revolution teilhaben lassen, ohne die Welt zu zerstören. Alles, was es braucht, ist, dass wir Neues wagen. Einige dieser Neuheiten möchte ich in diesem dritten und letzten Teil vorstellen. Es geht keinesfalls um Prognosen. Ob diese möglichen neuen Techniken genutzt werden, ob sie sich durchsetzen und wie schnell, wage ich nicht vorauszusehen. Ich lege ein «menu de dégustation» vor. Ich hoffe, dass die Menschheit alle sechs Gänge geniessen wird.

Die zweite landwirtschaftliche Revolution Bis vor 12 000 Jahren waren die Menschen ein Teil der Natur. Wie andere Raubtiere ernährten sie sich von anderen Tieren und mussten allzu oft selbst als Nahrung dienen. Sie assen, was sie fanden, und sie verhungerten, wenn sie lange Zeit nichts fanden. Nach 12 000 Jahren vor unserer Zeit änderte sich das Bild vollkommen: Die Menschen machten sich die Natur gewissermassen untertan. Sie wurden Züchter und Pflanzer. Jetzt ist es an der Zeit, diesen Prozess abzuschliessen und die Nahrungsmittelproduktion von der Natur zu entkoppeln. Also gewissermassen das Gegenteil von bio. Dabei wird die Natur nicht geschädigt, sondern im Gegenteil geschont. Wie soll das gehen? Das Schlüsselwort heisst – bezogen auf Pflanzen – «hors sol», auf Deutsch: ohne Erde, oder auch Hydroponik – für Leute, die gescheit tönen wollen.

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Wohin gehen wir?

Landwirtschaft ohne Boden 1984 sah ich zum ersten Mal eine Pflanze ohne Erde. Im damals neu eröffneten EPCOT-Vergnügungspark des Walt Disney World Resorts bei Orlando, Florida, gab es den Pavillon «The Land», damals gesponsert vom Nahrungsmittelmulti Kraft – heute von Nestlé. Dort konnte man Pflanzen bewundern – ich erinnere mich nicht mehr an die Art –, die an Gittern aufgehängt waren und deren Wurzeln frei in der Luft hingen. Sie waren nass und tropften leicht. Offenbar wurden sie mit einer Nährlösung beträufelt. Man konnte lesen, dass sie sonst nichts benötigten und prächtig gediehen. Ach ja, Sonnenlicht gab es da keines. Die Fotosynthese wurde von Kunstlicht angetrieben. Ich hielt das für eine interessante Spielerei, die vielleicht in ferner Zukunft eine Bedeutung erlangen könnte. Schon zwei Jahre später wurde ich eines Besseren belehrt. Auf einer Autofahrt durch die Provinz Misiones in Argentinien fuhr man an Gewächshäusern aus Plastikfolien vorbei. Jemand konnte irgendwie einen Besuch organisieren, und wir sahen mit Staunen, wie Tomaten, Peperoni und Gurken in Glaswolle wurzelten. Man erklärte uns, dass die Glaswolle ständig mit einer genau rezeptierten Nährlösung benetzt werde. Wenn nötig, könne man der Lösung Insektizide oder Herbizide beimischen, allerdings so dosiert, dass nichts davon in die Umwelt gelange. Übrigens hat man auch hier der Sonne mit Kunstlicht nachgeholfen. Das riesige Wasserkraftwerk von Itaipú ist ja nicht allzu weit weg. Das war vor 34 Jahren. Seither haben sich Pflanzen ohne Erde weltweit durchgesetzt. Nachtschattengewächse wie Tomaten, Peperoni und Auberginen werden kaum noch klassisch angepflanzt (ausser in Biogärten natürlich). Zu besonderer Meisterschaft haben es die Niederländer gebracht. Dank der hocheffizienten Produktion von Pflanzen ohne Erde exportieren sie nach den USA die zweitmeisten Landwirtschaftsprodukte.122 Die kleinen, dicht besiedelten Niederlande weisen als Vizeweltmeister der Nahrungsproduktion den Weg in die Zukunft. Auch Stadtstaaten wie Singapur und Hongkong gehen den Weg der industriellen Produktion von Nahrungsmitteln. Sie haben erkannt, dass es keinen Grund gibt, Pflanzen ohne Erde ausschliesslich auf dem Boden an­­ zulegen. In Singapur macht man das auf fünf Stockwerken. Anderenorts spricht man von deren 50. Schon gibt es den Begriff «Agrohochhaus». In 180


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Die zweite landwirtschaftliche Revolution

Abb. 19: Hydroponische Kultur von Gemüse (© Foto: iStock 1152754656)

New Jersey wächst Kopfsalat in einem alten Fabrikgebäude unter Kunstlicht auf Dutzenden von niedrigen Etagen (siehe Abb. 20). Die Vorteile dieser Indoorlandwirtschaft liegen auf der Hand: –– Der Landverbrauch wird auf einen Bruchteil vermindert. –– Die Pflanzen wachsen doppelt bis dreimal so schnell – 24 Stunden am Tag bei wolkenlosem Himmel, dank ständigen Kunstlichts. –– Der Wasserverbrauch sinkt um 95 Prozent. –– Es gelangen weder Pestizide noch Dünger in die Umwelt. 181


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Wohin gehen wir?

Also alles im Sinn der Nachhaltigkeit. Ja, der Energieverbrauch steigt, jedenfalls der Stromverbrauch. Aber es braucht keine Traktoren und andere landwirtschaftlichen Maschinen mit Verbrennungsmotoren. Der Stromverbrauch wird dadurch optimiert, dass man LED-Leuchten entwickelt, deren Spektrum den Pflanzen genau angepasst ist.123 Noch ist die Indoorlandwirtschaft eine Nische, allerdings eine rasch wachsende. Vorläufig wachsen vor allem Salate, Kräuter und Nachtschattengewächse nicht mehr im Freien. Kann man auf diese Weise auch Getreide produzieren? Warum nicht? In Japan versucht man es bereits mit Reis. Noch sind wir weit davon entfernt, die Grundnahrungsmittel Weizen, Mais, Reis, Soja und Sorghum ausschliesslich auf diese Weise zu produzieren. Am ehesten dürfte es mit Kartoffeln gelingen. Auch die Kartoffel ist wie die Tomate und die Gurke ein Nachtschattengewächs und kann dank ihrer breiten Blätter das Kunstlicht besonders gut aufnehmen. Was würde es bedeuten, wenn der grösste Teil der pflanzlichen Nahrung nicht mehr im Freien produziert würde? Das hätte in verschiedenen Ländern unterschiedliche Auswirkungen, je nachdem wie gross der Anteil der Fläche ist, die heute landwirtschaftlich genutzt wird. Die USA und China nutzen jeweils 18 Prozent ihrer Fläche landwirtschaftlich, die Rekordhalter Ungarn und Moldavien 80 Prozent. Die Indoorlandwirtschaft käme mit einem Bruchteil dieser Fläche aus. 99 Prozent oder mehr könnten der Natur zurückgegeben werden. Die Rechnung ist einfach: Der Ertrag pro Hektare und Jahr kann um das Drei- bis Fünffache gesteigert werden. Nichts hindert zukünftige Agronomen, 50 oder mehr Hydrokulturen übereinanderzubauen. Das ergibt den 100- bis 150-fachen Ertrag pro Hektare. Was heisst das für die Natur? Sie kann sich Lebensräume zurückerobern, die sie seit Jahrtausenden verloren hatte. Die Artenvielfalt bliebe erhalten, ja sie könnte langsam zunehmen. Und über die Prärien im Mittleren Westen der USA könnten wieder Bisonherden donnern. Ich weiss, das tönt revolutionär, utopisch und wohl sogar unmöglich. Das ist ja auch nicht eine Entwicklung von heute auf morgen. Das ist ein Projekt über viele Generationen. Trotzdem gibt es ernst zu nehmende Einwände und Argumente dagegen. Zunächst ist da der Aufwand für die Ge­­ bäude! Das ist ja die Bedeutung von «indoor»: in Gebäuden. Ja, das kostet einerseits, andererseits muss man dagegen abwägen, welches die Kosten der 182


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Der Autor

Simon Aegerter, Jahrgang 1938, lernte Möbelschreiner, bevor er an der Universität Bern Physik, Mathematik und Astronomie studierte. Nach Abschluss des Studiums mit einer Dissertation über die Verwendung schwacher, natürlicher Radioisotope in den Erdwissenschaften absolvierte er Forschungsaufenthalte am Tata Institute of Fundamental Research in Mumbai, Indien und an der UCLA bei Willard F. Libby in Los Angeles, Kalifornien, USA. Von 1969 bis 1980 leitete er die Abteilung Exakte und Naturwissenschaften des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, anschliessend das Technorama der Schweiz in Winterthur. Ab 1987 war er selbstständiger Unternehmer. Zusammen mit seinem Sohn Daniel entwickelte er ein Unternehmen der Softwarebranche, das sie 1999 verkauften. Mit einem Teil der dabei erzielten Mittel gründete der Autor 2001 die cogito foundation, die sich zum Ziel gesetzt hat, Naturund Geisteswissenschaften einander näherzubringen. In der Schweizer Armee diente er als Chefphysiker. Er ist mit einer Physikerin verheiratet und hat zwei Söhne und vier Enkel.

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Das Wachstum der Grenzen

Das Wachstum der Grenzen Über die unerschöpfliche Erfindungskraft der Menschen

978-3-03810-476-6

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro

Simon Aegerter

Noch nie ging es so vielen Menschen so gut wie heute. Wie haben wir das geschafft ? Die Geschichte zeigt, dass der Fortschritt immer wieder in Schüben erfolgte. ­Neuerungen meist technischer Art haben das Leben ­verändert – oft mit zunächst schmerzlichen Umwälzun­ gen verbunden, aber schliesslich zum Besseren. Nun scheint es, als hätten wir alles erreicht, was wir erreichen können – wenn nicht sogar zu viel : Man sagt uns, wir konsumierten, als hätten wir drei Erden. Die Rohstoffe gingen zu Ende. Es drohe der Kollaps. Das ist ein Denk­ fehler. Die Angst vor der Zukunft blendet die Erfindungs­ kraft von uns Menschen aus. Auch heute werden Lö­ sungen gefunden – wir müssen sie nur anwenden. Der Physiker Simon Aegerter zeigt anschaulich und leicht verständlich auf, wie wir das anpacken könnten.

Simon Aegerter


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