Urs Altermatt (Hrsg.): Das Bundesratslexikon

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Komplett überarbeitet und aktualisiert

Der Bundesrat steht im Zentrum des schweizerischen Regierungssystems. Seit der Gründung des Bundesstaats im Jahre 1848 ist diese Institution im Wesentlichen unverändert geblieben. Das vom Historiker Urs Altermatt herausgegebene und 1991 letztmals publizierte Bundes­ratslexikon etablierte sich innert kurzer Zeit als Standardwerk der Bundesratsgeschichte. Jetzt liegt es komplett überarbeitet und aktualisiert vor. 93 Autorinnen und Autoren zeichnen für jedes Mitglied des Bundesrats ein bewegtes Bild ihrer Wahlen und Rücktritte, Karrieren und Politik – von der Gründung der modernen Schweiz bis in die Gegenwart. Die Porträts sind auf dem neusten Forschungsstand und mit Bildern, Tabellen, Quellen und Literaturhinweisen versehen. Über das rein Biografische hinaus vermittelt dieses Handbuch einen prägnanten Überblick sowie überraschende ­Einblicke in 170 Jahre Bundesstaat. Ein politisch-historisches Lesebuch und faszinierendes helvetisches Kaleidoskop.

ISBN 978-3-03810-218-2 ISBN 978-3-03810-218-2

Das Bundesratslexikon

Urs Altermatt ( Hrsg.)

Das Bundes Urs Altermatt ( Hrsg.)

Das Bundesratslexikon

rats-lexikon

9 783038 102182

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NZZ Libro


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Das Bundesratslexikon

Inhaltsverzeichnis 7 Vorwort und Dank Hinweise zur Benützung des Lexikons

17 Der schweizerische Bundesrat auf dem langen Weg zur Konkordanzdemokratie Einführung von Urs Altermatt

Porträts der Bundesrätinnen und Bundesräte 30 1848 – 1874

Jonas Furrer 31 – Ulrich Ochsenbein 38 – Henri Druey 44 – Josef Munzinger 51ª– Stefano Franscini 57 – Friedrich Frey-Herosé 63 – Wilhelm Matthias Näff 69 – Jakob Stämpfli 74 – Constant Fornerod 81 – Josef Martin Knüsel 88 – Giovanni Battista Pioda 93 – Jakob Dubs 99 – Carl Schenk 105 – Jean-Jacques Challet-Venel 112 – Emil Welti 118 – Victor Ruffy 125 – Paul Cérésole 130 – Johann Jakob Scherer 136 – Eugène Borel 142 147 1875 –1918

Joachim Heer 147 – Friedrich Anderwert 152 – Bernhard Hammer 157 – Numa Droz 163 – Simeon Bavier 169 – Wilhelm Friedrich Hertenstein 173 – Louis Ruchonnet 177 – Adolf Deucher 183 – Walter Hauser 189 – Emil Frey 193 – Josef Zemp 200 – Adrien Lachenal 206 – Eugène Ruffy 211ª– Eduard Müller 216 – Ernst Brenner 222 – Robert Comtesse 227 – Marc Ruchet 233 – Ludwig Forrer 240 – Josef Anton Schobinger 246 – Arthur Hoffmann 250 – Giuseppe Motta 257 – Louis Perrier 264 – Camille Decoppet 269 – Edmund Schulthess 275 – Felix Calonder 282 – Gustave Ador 289 – Robert Haab 296

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Das Bundesratslexikon

301 1919 –1958

Karl Scheurer 301 – Ernest Chuard 306 – Jean-Marie Musy 312 – Heinrich Häberlin 319 – Marcel Pilet-Golaz 325 – Rudolf Minger 331 – Albert Meyer 338 – Johannes Baumann 344 – Philipp Etter 349 – Hermann Obrecht 356 – Ernst Wetter 361 – Enrico Celio 366 – Walther Stampfli 371 – Edmund von Steiger 377 – Karl Kobelt 383 – Ernst Nobs 389 – Max Petitpierre 393 – Rodolphe Rubattel 400 – Josef Escher 407 – Markus Feldmann 412 – Max Weber 417 – Hans Streuli 423 – Thomas Holenstein 429 – Paul Chaudet 434 – Giuseppe Lepori 440 – Friedrich T.Wahlen 445 452 1959 – 2002

Jean Bourgknecht 452 – Willy Spühler 457 – Ludwig von Moos 464 – Hans Peter Tschudi 471 – Hans Schaffner 478 – Roger Bonvin 485 – Rudolf Gnägi 492 – Nello Celio 497 – Pierre Graber 503 – Ernst Brugger 509 – Kurt Furgler 515 – Willi Ritschard 523 – Hans Hürlimann 529 – Georges-André Chevallaz 536 – Fritz Honegger 543 – Pierre Aubert 550 – Leon Schlumpf 557 – Alphons Egli 563 – Rudolf Friedrich 570 – Otto Stich 578 – Jean-Pascal Delamuraz 584 – Elisabeth Kopp 591 – Arnold Koller 598 – Flavio Cotti 605 – René Felber 612 – Adolf Ogi 619 – Kaspar Villiger 626 – Ruth Dreifuss 632 – Moritz Leuenberger 638 – Pascal Couchepin 645 – Ruth Metzler-Arnold 652 – Joseph Deiss 659 – Samuel Schmid 666 – Micheline Calmy-Rey 673 682 2003– 2019

Christoph Blocher 680 – Hans-Rudolf Merz 688 – Doris Leuthard 694 – Eveline Widmer-Schlumpf 701 – Ueli Maurer 707 – Didier Burkhalter 708 – Simonetta Sommaruga 715 – Johann Schneider-Ammann 716 – Alain Berset 723 – Guy Parmelin 724 – Ignazio Cassis 725 – Viola Amherd 726 – Karin Keller-Sutter 727

Anhang 730 738 740 743 749 750 751 752 756 757

Die Mitglieder des Bundesrats seit 1848 Die Bundesräte seit 1848 in alphabetischer Reihenfolge Die Bundespräsidenten und Vizepräsidenten seit 1848 Die Departementsvorsteher 1848 – 2019 Bezeichnung der Departemente seit 1848 Die Bundeskanzler und Vizekanzler 1848 – 2019 Die Staatssekretäre und Staatssekretariate 1979 – 2019 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Bildnachweis Personenregister


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Vorwort und Dank Hinweise zur BenĂźtzung des Lexikons


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Das Bundesratslexikon

Vorwort Als ich vor über 25 Jahren im Hinblick auf das 700-Jahr-Jubiläum der Eidgenossenschaft von 1991 zusammen mit dem Artemis Verlag das Bundesratslexikon konzipierte, stiess ich in der universitären Zunft der Geschichtswissenschaftler auf Zurückhaltung. Für Biografien von « grossen Persönlichkeiten » zeigte man damals wenig Interesse. Anstelle der Institutionen- und Personengeschichte bevorzugten die Historiker die Struktur- sowie die Wirtschaftsund Sozialgeschichte – Methoden und Zugänge, die ich bei anderen Themenfeldern intensiv anwandte. Dazu kam ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Grossprojekten, von denen man der Meinung war, der Bund müsse diese übernehmen. Noch fehlte das Historische Lexikon der Schweiz, dessen erster Band zehn Jahre später, 2002, erschien. Es war dem Optimismus des Verlags, der unerschütterlichen Schaffensfreude meines Freiburger Teams und auch meinem Übermut als jungem Professor zu verdanken, dass ich das Lexikonprojekt trotzdem an die Hand nahm. Das Bundesratslexikon, das 1991 zum ersten Mal erschien, etablierte sich innert kurzer Zeit als Standardwerk der Bundesratsgeschichte und wird seither von Politik und Verwaltung, von Universitäten und Medien als Referenzwerk sowie von einem breiten Publikum als politikhistorisches Lesebuch benutzt. 1993 folgte eine französische und 1997 eine italienische Ausgabe, was die nationale Bedeutung des Buchs unterstreicht. Als Modell von strukturierten Kollektivbiografien bekam das Lexikon für andere Elitegruppen und – das ist ungewöhnlich – sogar über die Grenzen der Schweiz hinaus Vorbildcharakter. Das Lexikon steht am Anfang einer Welle von neuen Bundesratsbüchern ; es inspirierte Historiker und Publizisten zur Abfassung von neuen Biografien und Sozialwissenschaftler zur Auseinandersetzung mit der Schweizer Regierung. Die deutschsprachige Ausgabe des Bundesratslexikons ist seit einiger Zeit nicht mehr erhältlich. Auf vielfachen Wunsch plante ich nach der Jahrhundertwende von 2000 eine revidierte Neuausgabe, die wegen meiner Wahl zum Rektor der Universität Freiburg verschoben werden musste. Im Nachhinein erweist sich diese Verzögerung als glückliche Fügung, denn die ersten 15 Jahre des 21. Jahrhunderts wurden in der Schweiz zu einer Wendezeit, in der sich die Politik und die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrats veränderten. Nach meiner Emeritierung im Jahr 2010 nahm ich das Lexikonprojekt wieder auf und fand mit NZZ Libro einen neuen Schweizer Verlag. Die revidierte und aktualisierte Neuausgabe des Bundesratslexikons, bei der ich mich auf die erste Ausgabe von 1991 stütze, bringt die bisherigen Port-


Vorwort

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räts auf den aktuellen Stand. Darüber hinaus enthält das neue Lexikon erstmals die Porträts der 20 Bundesrätinnen und Bundesräte, die seit 1991 aus dem Amt ausgeschieden sind (Redaktionsschluss : Dezember 2018). Die Übersichtstabellen im Anhang wurden vollständig nachgeführt sowie ergänzt und erweitert. Wie in der Erstausgabe geben die in den Porträts eingefügten Wahlkästchen die Zahlen wieder, die in den Protokollen der Vereinigten Bundesversammlung zu finden sind. Diese sind bis 1890 im Bundesarchiv ausschliesslich handschriftlich vorhanden und wurden seinerzeit für das Bundesratslexikon von 1991 systematisch erfasst und publiziert. Was die innere Struktur der einzelnen Bundesratsporträts angeht, übernehme ich das bewährte Modell der Erstausgabe. Allen Porträts liegt – und das ist der wesentliche Unterschied zu anderen Büchern über den Bundesrat und die Bundesräte – ein von mir vorgegebener einheitlicher Aufbau zugrunde, der folgendermassen unterteilt ist : 1. Herkunft und politische Lauf bahn, 2. Bundesratswahl, 3. Tätigkeit als Bundesrat, 4. Rücktritt und spätere Tätigkeit, 5. Würdigung, 6. kurzer Anhang mit zeitgenössischen Stimmen und mit bibliografischen und archivalischen Hinweisen. Die innere Gliederung der Porträts erleichtert Quervergleiche unter den Bundesrätinnen und Bundesräten und ermöglicht ein komparatives Studium des Bundesrats als Kollektiv seit 1848. Dies wird von den Benutzerinnen und Benutzern des Lexikons aus Politik, Verwaltung, Medien und Wissenschaft besonders geschätzt und gibt dem Buch den Status eines Referenzwerks. Wie jedes Lexikon ist das Bundesratslexikon ein Gemeinschaftswerk. Am revidierten Lexikon wirkten insgesamt 93 Autorinnen und Autoren mit, ohne die ich das Werk nicht hätte realisieren können. Ich spreche allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die meine aufwendige Redaktionsarbeit mit den strikten Vorgaben willig mitgetragen haben, meinen grossen Dank aus. Für die einzelnen Beiträge sind die zeichnenden Autorinnen und Autoren verantwortlich. Bei ihrer Auswahl ging ich von der Grundregel aus, dass die Porträts von Spezialisten der jeweiligen Sprachgemeinschaften verfasst werden, denen die Bundesrätinnen und Bundesräte angehören. Durch die grosse Zahl der Autoren und durch die Übersetzung einzelner Beiträge aus dem Französischen und aus dem Italienischen entsteht ein helvetisches Kaleidoskop der Bundesratsgeschichte mit einer spannenden Vielfalt von Perspektiven. Da ich für die Herausgabe des gesamten Lexikons verantwortlich zeichne, füge ich einige Erläuterungen zur Neuausgabe an. Erstens : Die Revision und Aktualisierung der Porträts aus dem Lexikon von 1991 erfolgte nach Möglichkeit durch die Autorinnen und Autoren der Erstausgabe. Sofern ein Porträt von einem anderen Autor oder einer anderen Autorin neu verfasst worden ist, erscheint das aktualisierte Bundesratsporträt


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Das Bundesratslexikon

unter neuem Namen ; die Hinweise zum ursprünglichen Porträt finden sich in der Literaturliste. In jenen Fällen, in denen die Überarbeitung partiell oder wenig ins ursprüngliche Porträt eingriff, zeichnet der neue Bearbeiter gemeinsam mit dem Autor der Erstausgabe. In diesem Fall sind die beiden Namen unter dem Porträt durch einen Schrägstrich getrennt aufgeführt, wobei der Name der letzten Hand am Anfang steht und derjenige des früheren Autors mit der Jahreszahl der ersten Ausgabe (1991) vermerkt ist. Dasselbe gilt, sofern der Text eines verstorbenen, erkrankten oder nicht mehr zur Verfügung stehenden Autors bearbeitet worden ist. In ganz wenigen Fällen habe ich entschieden, das bisherige Porträt von 1991 in der ursprünglichen Form zu belassen, weil der verstorbene Verfasser die letzte grössere Biografie des betroffenen Bundesrats veröffentlicht hat oder als anerkannter Spezialist gilt. Aus praktischen Gründen übernahm ich als Herausgeber bei der Revision bisheriger Porträts in verschiedenen Fällen die Neubearbeitung. Leider verstarb ein Autor eines der neuen Porträts kurz vor dem Satz, konnte aber seinen endgültigen Beitrag noch selbst autorisieren. Zweitens : Das alte Bundesratslexikon von 1991 bildete ein Kompendium aus zwei Büchern. Neben dem Kernstück des Lexikons mit den 99 Bundesratsporträts von 1848 bis 1991 enthielt es eine ausführliche 100-seitige wissenschaftliche Einführung in die Geschichte des schweizerischen Bundesrats. Ich zeichnete die Zusammensetzung der Regierung seit 1848 bis in die Gegenwart sowie die Meilensteine der Bundesratswahlen mit ihren Rücktritten und Ersatzwahlen im Wandel der Zeit nach. Gleichzeitig verfasste ich eine Art von Kollektivbiografie der Bundesräte. Mit 20 neuen Porträts wäre das neue Lexikon zu voluminös geworden, sodass ich mich zusammen mit dem Verlag entschlossen habe, diese ausführliche Darstellung vom Lexikon abzutrennen und zu einem späteren Zeitpunkt als eigenständiges Buch zu veröffentlichen. Drittens : Das Lexikon enthält die Porträts aller Bundesrätinnen und Bundesräte seit 1848 bis in die Gegenwart (Redaktionsschluss : Dezember 2018). Wie in der Ausgabe von 1991 werden die zurückgetretenen Bundesratsmitglieder vollständig porträtiert und die sieben amtierenden Magistraten kurz vorgestellt. In der Neuausgabe finden sich die folgenden neuen Porträts (in der Reihenfolge ihrer Wahl) : Otto Stich, Jean-Pascal Delamuraz, Arnold Koller, Flavio Cotti, René Felber, Adolf Ogi, Kaspar Villiger, Ruth Dreifuss, Moritz Leuenberger, Pascal Couchepin, Ruth Metzler-Arnold, Joseph Deiss, Samuel Schmid, Micheline Calmy-Rey, Christoph Blocher, Hans-Rudolf Merz, Doris Leuthard, Eveline Widmer-Schlumpf, Didier Burkhalter und Johann SchneiderAmmann. Die Porträts der zwei im Herbst 2018 zurückgetretenen Bundesratsmitglieder habe ich in einer kurzfristigen Aktion verfasst. Die Ergebnisse der Bundesratswahlen vom 5.µDezember 2018 sind berücksichtigt


Vorwort

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Wegen der klar strukturierten inneren Ordnung ermöglicht das Bundesratslexikon eine selektive Lektüre. Wer sich für Wahlen und Rücktritte interessiert, liest die betreffenden Kapitel in den Porträts ; wer über die unterschiedliche Herkunft, die politische Laufbahn oder die Regierungstätigkeit der Bundesrätinnen und Bundesräte Auskunft sucht, wird ebenfalls fündig. Das Buch ermöglicht einen Blick auf das Kollektiv des Bundesrats als Teil der gesellschaftlichen und politischen Elite der Schweiz. Da die Zahl der Departemente seit der Gründung des Bundesstaats 1848 gleich blieb, können sich Leser und Leserinnen auch über die Entwicklung von ganzen Politikfeldern im Bundesstaat, so etwa über das Rechtswesen, die Armee oder die Aussenpolitik, einen raschen Überblick verschaffen, indem sie die Portraits der jeweiligen Ministerinnen und Minister lesen. Durch das Prisma des Bundesrats und der Bundesräte oder Bundesrätinnen erzählt das Lexikon Schweizer Geschichte seit der Gründung des Bundesstaats 1848. Als Schulbub verbrachte ich an Regentagen ganze Sonntagnachmittage mit dem Blättern in den mehrbändigen Konversationslexika unserer Familie und machte in der noch fernsehlosen Zeit unerwartete Entdeckungen. Eine ähnliche Funktion wünsche ich dem Bundesratslexikon als ergänzende Lektüre zu den aktualitätsbezogenen Medien, aber auch als Entdeckungsreise in überraschende und unbekannte Felder der Geschichte der Schweiz. Ich bin zuversichtlich, dass die Leserinnen und Leser viel Spannendes, Anregendes und Vergnügliches finden. In Lexika stösst man oft auf Themen, die man gar nicht sucht. Lassen Sie sich überraschen ! Urs Altermatt Solothurn, im Dezember 2018


Hinweise zur Benützung des Lexikons

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Hinweise zur Benützung des Lexikons Ordnungsnummer : Die Mitglieder des Bundesrats sind in chronologischer Reihenfolge von 1848 bis zur Gegenwart entsprechend der offiziellen Ordnungsnummer der Bundeskanzlei aufgeführt. Amtsdauer : Die Angaben zur Amtsdauer unter dem Fotoporträt beziehen sich auf das Jahr des Amtsantritts (und nicht der Wahl) und auf das Jahr des Rücktritts oder des Todes. Rücktritt : Wenn das genaue Datum des tatsächlichen Austritts aus dem Bundesrat nicht eruiert werden konnte, ist das Datum der Rücktrittserklärung vermerkt. Kantonszugehörigkeit : Für Bundesräte, die seit 1987 gewählt worden sind, ist gemäss der Bundesverfassung der Ort der politischen Tätigkeit massgebend. Vor 1987 ist der bei der Wahl ausschlaggebende Heimatkanton aufgeführt. Bei Arnold Koller (gewählt 1986, Amtsantritt 1987) ist auf dessen ausdrücklichen Wunsch Appenzell Innerrhoden als Bezugskanton angegeben. Departemente : Die Departemente werden in der Regel in der zeitgenössischen Bezeichnung aufgeführt. Die wechselnden Namen sind in einer synoptischen Tabelle im Anhang auf Seite 749 dargestellt. Parteibezeichnungen : Die Porträts und Tabellen enthalten für die Periode des Majorz-Parlaments von 1848 bis 1919 in der Regel zeitgenössische Partei- oder Fraktionsbezeichnungen, die für die ersten 25 Jahre des Bundesstaats noch nicht im heutigen Verständnis fixiert waren. Die Parteiabgrenzungen waren im 19.Jahrhundert fliessend und erhielten erst in den 1890er-Jahren national bekannte Namensbezeichnungen, die heute verständlich und teilweise noch gebräuchlich sind. Ich halte mich weitgehend an Erich Gruners Referenzwerk über die Bundesversammlung von 1848 bis 1920. Einige Hinweise : Vor der Reorganisation der Schweizerischen Volkspartei 1971 lautet deren Name Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei BGB. Die Vorgängerparteien der CVP wechselten ihren Namen mehrfach : ab 1912 Konservative Volkspartei KVP, von 1957 bis 1970 Konservativ-christlichsoziale Volkspartei KCVP, ab 1970 Christlichdemokratische Volkspartei CVP ; die Fraktion firmierte jahrzehntelang unter der Bezeichnung katholisch-konservativ. Für die Mitglieder der Freisinnigdemokratischen Partei (gegr. 1894) war lange Jahrzehnte der Name Radikale


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Das Bundesratslexikon

und später Radikal-Demokraten geläufig. Die Liberalen bildeten eine eigene Partei und verschmolzen erst 2009 mit der FDP zu den « FDP. Die Liberalen ». In den ersten Jahrzehnten nach 1848 lautete ihre Parteibezeichnung « Mitte », später « Zentrum », was nicht mit den späteren Liberaldemokraten deckungsgleich ist, da diese Kleinpartei nur einen Rest der Zentrumsliberalen umfasst hat. Wahlkästchen : Die aufgeführten Zahlen zur Wahl beziehen sich auf den jeweiligen letzten Wahlgang. Unter der Rubrik « weitere Stimmen » werden nur jene Kandidatinnen und Kandidaten namentlich aufgeführt, die im letzten Wahlgang zehn oder mehr Stimmen erzielten.


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Porträts der Bundesrätinnen und Bundesräte seit 1848



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Ulrich Ochsenbein

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Ulrich Ochsenbein 1811 – 1890 1848/49 –1854 BE, Rad. ( dann Mitte )

Herkunft und politische Laufbahn

Ulrich Ochsenbein, geboren am 11.µNovember 1811, war das zweite von zehn Kindern des Ehepaars Caspar und Magdalena Ochsenbein-Gasser, wohnhaft in Schwarzenegg ob Thun. Es herrschte bescheidener Wohlstand. Vater Ochsenbein hatte das Gasthaus Bären und den dazugehörigen Gutskomplex geerbt. Er war Wirt, Bauer und Pferdehändler, seine Frau stammte aus einer Müllersfamilie. Im Jahr 1818 zogen die Ochsenbeins nach Marnand bei Moudon und sieben Jahre später ins bernische Nidau. Sieben Jahre französische Kultur blieben für Ulrich Ochsenbein prägend. Von 1830 bis 1834 studierte Ochsenbein Rechtswissenschaften an der alten Akademie in Bern ; die Universität wurde erst 1834 gegründet. 1835 war ein Schicksalsjahr. Dem unerwarteten Tod der Mutter im Jahr 1830 folgten jetzt der Tod des Vaters und der Schock, dass er einen Schuldenberg hinterliess, der die achtköpfige Familie unter sich begrub. Ochsenbein kämpfte gegen die soziale Deklassierung. Er mobilisierte seine Ge-

16. November 1848

Wahl in den Bundesrat

6. Dezember 1854

Nichtwiederwahl

1848/49 –1854

Militärdepartement

schwister und brachte das väterliche Geschäft innert eines Jahres wieder in Schwung. Gleichzeitig gründete er in Nidau ein rasch florierendes Advokaturbüro und verheiratete sich mit der Kirchberger Arzttochter Emilie Margaritha Sury. 1835 begann er auch, sich politisch ernsthaft zu betätigen. Er wurde Sekretär der Sektion Nidau des Schweizerischen Nationalvereins, dessen Ziel die Bundesrevision war. Kantonal und regional engagierte er sich für den Kampf gegen die periodischen Überschwemmungen im Seeland und für die Abschaffung der Bodenzinsen und Zehnten. Das politische Geschäft in allen Facetten erlernte er in der Lokalpolitik der Stadt Nidau, die ihn von 1837 bis 1844 in alle wichtigen politischen Ämter wählte. Die Machtübernahme der EvangelischKonservativen im Züriputsch von 1839 und die anschliessenden katholisch-konservativen Erfolge in den Kantonen Wallis, Tessin, Aargau, Solothurn und vor allem Luzern, wo die Konservativen 1841 durch Wahlen an die Macht kamen, wertete Ochsenbein als Beweis, dass der Kampf zwischen Konservativismus und Liberalismus unausweichlich würde. Von da an forcierte er seine Militärkarriere, absolvierte die Generalstabsschule in Thun, wurde 1844 Hauptmann im eidgenössischen Generalstab und Adjutant von Oberst Friedrich Frey-Herosé, dem späteren Generalstabschef und Bundesrat. Das war der Beginn einer langen Freundschaft, die beim Bau des Bundesstaats eine wichtige Rolle spielte.


Ulrich Ochsenbein

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Als Luzern im Oktober 1844 den Jesuiten die Oberst Frey-Herosé, der unterlag. Die MissstimTheologische Lehranstalt und die Volksseelsorge mung zwischen General und Bundespräsident anvertraute, nahmen die Spannungen in der Eid- verwandelte sich im Lauf des Kriegs in eine genossenschaft bürgerkriegsähnliche Züge an. In Freundschaft fürs Leben. Im Bürgerkrieg führte der gesamten protestantischen Schweiz wurden Ochsenbein die 5600 Mann starke Berner Reserjetzt Antijesuitenvereine gegründet, Volksver- vedivision als Divisionskommandant zuerst nach sammlungen organisiert und die Ausweisung des Freiburg und dann durch das Entlebuch nach Ordens gefordert. In dieser Situation übernahm Luzern. Ochsenbein im März 1845 das Oberkommando Mitte Februar 1848 trat die Bundesrevisionsdes sogenannten zweiten Freischarenzugs, dessen kommission zum ersten Mal zusammen. Am 8.µApZiel die Bundesrevision und der gewaltsame Regi- ril 1848 legte sie ihren Verfassungsentwurf vor, mewechsel in Luzern war : « Ich will einen Bun- nach 51 Wochen und 31 Sitzungen. Ochsenbein desstaat. Nordamerika gibt uns ein Vorbild, das war ihr Präsident und spielte eine führende Rolle wir nachahmen sollten. » Doch das Unternehmen insbesondere beim Durchbruch zum Zweikamscheiterte, das Ergebnis war eine Katastrophe : mersystem, bei der Monopolisierung der Aussenmehr als 100 tote Freikorpskämpfer, 60 Verwun- politik beim Bund, bei der Bundeskompetenz für dete, 1800 Gefangene. Infrastrukturbauten, bei der Befugnis des Bundes, Bereits im Herbst 1845 wurde Ochsenbein in eine eidgenössische Universität und eine polyden bernischen Grossen Rat gewählt, wo er als he- technische Schule zu errichten, bei der Verfasrausragender Parlamentsredner auffiel. Im folgen- sungsinitiative durch das Volk. den Jahr brach das (liberale ?) Berner Regime von In dieser Zeit veränderte sich die Welt. Europa 1831 zusammen. Ein Verfassungsrat unter Füh- stand in Flammen. In Frankreich brach die Februrung von Ulrich Ochsenbein und Jakob Stämpfli arrevolution aus. Welches war in solcher Lage der arbeitete die neue demokratische Berner Verfas- politische Kurs, der das Überleben des entstehensung von 1846 aus. Die Grossrats- und Regierungs- den Bundesstaats am besten gewährleistete? Die ratswahlen brachten die Radikalen an die Macht. Mehrheit unter dem Präsidium von Ochsenbein Ochsenbein erzielte überall die besten Resultate, setzte die Pfeiler, die das Land in den folgenden der ehemalige Freischarenführer stand jetzt an 150 Jahren tragen sollten : Zweikammer-Bundesder Spitze des Kantons Bern. staat und bewaffnete Neutralität. 1847 und 1848 amtete Bern turnusgemäss als Die Berner Ultraradikalen unter Jakob Stämpfeidgenössischer Vorort, besorgte als solcher die li bekämpften beides, die neue Bundesverfassung eidgenössischen Geschäfte und stellte in der Per- und das Neutralitätsprinzip, mit unzimperlichen son seines Regierungspräsidenten den Vorortsprä- Mitteln, auch mit Putschversuchen gegen Ochsensidenten, der ab 1845 Bundespräsident hiess. bein. Ihr Ideal war ein von oben nach unten geHauptaufgabe der Tagsatzung war die Bun- bauter Einheitsstaat mit Einkammersystem und desrevision. Dabei stand auch die gewaltsame Abschaffung der Kantone sowie eine AussenpoliAuflösung des bundeswidrigen Sonderbunds zur tik, die zugunsten der Revolutionen in DeutschDebatte, den die sieben katholisch-konservati- land und Italien mit militärischer Gewalt eingriff. ven Stände im Dezember 1845 zur Verteidigung Sie hielten das Schweizer Zweimillionenvolk für ihrer Souveränität geschlossen hatten. Nach har- fähig und berufen, das Schicksal der übrigen Eurotem Ringen beschloss eine knappe Mehrheit päer mit militärischen Mitteln zu beeinflussen. die Auf lösung mit militärischer Gewalt. Bei der Am 12.µSeptember 1848 erklärte die Tagsatzung Wahl des Generals traten Irritationen auf. Och- nach einer umstrittenen Volksabstimmung die senbein war gegen den konservativen Oberst neue Bundesverfassung zum Grundgesetz der Dufour und stimmte für den radikal-liberalen Eidgenossenschaft.


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Ulrich Ochsenbein

Letzte Sitzungsperiode der Eidgenössischen Tagsatzung im Oktober 1847 vor dem Sonderbundskrieg unter dem Vorsitz des späteren Bundesrats Ulrich Ochsenbein ( hinten, erhöht sitzend ) ( ZBZ ).

Bundesratswahl

Dass am 16.µNovember 1848, bei den allerersten Bundesratswahlen, sechs der sieben Bundesräte aus dem Kreis der Revisionskommission genommen wurden, war kein Zufall, gehörten sie doch zu den politischen Persönlichkeiten, die das Land in den vergangenen Monaten unter Ochsenbeins Führung faktisch regiert hatten. Für die Ultraradikalen freilich, vor allem für die bernischen, war Ochsenbein Persona non grata. Ihre nicht wenigen Versuche, ihn zu Fall zu bringen, hinderten die Bundesversammlung nicht daran, ihre Hochschätzung des Berners und seiner Leistungen im vergangenen Jahr zum Ausdruck zu bringen und ihn mit 92 von 132 abgegebenen Stimmen in den Bundesrat zu wählen. Das war das beste Ergebnis. Jonas Furrer, der im ersten Wahlgang gewählt wurde und das zweitbeste Resultat erzielte, erhielt 85 von 132 abgegebenen Stimmen.

Wahl

16. November 1848

ausgeteilte Stimmzettel eingegangene Stimmzettel

132 132

leer ungültig gültig absolutes Mehr

– – 132 67

Ulrich Ochsenbein wird im 1. Wahlgang mit 92 Stimmen zum zweiten Mitglied des Bundesrats gewählt. Weitere Stimmen : Charles Neuhaus (BE, lib. Mitte) Henri Druey (VD, rad. Linke) vereinzelte Stimmen

13 12 15

Tätigkeit im Bundesrat

Ochsenbein übernahm das Militärdepartement und behielt es während seiner gesamten Bundesratszeit bis Ende 1854. Für General Dufour war er


Ulrich Ochsenbein

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die Idealbesetzung im Militärdepartement. 1853, mengefunden hatten, erneut zu sammeln : eine als der Vorsteher des EMD seinen Rücktritt erwog, Koalition von gemässigten Konservativen und gebeschwor ihn der General zu bleiben, « denn ich mässigten Radikalen, er nannte das « weisse Desehe wirklich nicht, wie Sie ersetzt werden könn- mokratie ». Er startete das Projekt bei den Berner ten ». Wie seine Kollegen legte er ein scharfes Grossratswahlen vom Mai 1850. Das Resultat war Tempo vor, und wie bei ihnen kam vieles darauf an, ein Fiasko. Die Gewinner waren nicht die « Weisdass er sich mit den richtigen Mitarbeitern umgab. sen », sondern die Konservativen, sie kamen an die Bereits Anfang Januar 1849 bestätigte der Gesamt- Macht. Der Graben zwischen Ochsenbein und den bundesrat die von Ochsenbein vorgeschlagene Ex- Radikalen vertiefte sich. pertenkommission, General Dufour gehörte dazu. Im Mai 1850 lag das Gesetz über die Militärorgani- Ausscheiden aus dem Bundesrat sation vor, der entsprechende Entwurf hatte die und spätere Tätigkeit parlamentarische Debatte in der Substanz und Bei den Bundesratswahlen vom Dezember 1854 auch den meisten Einzelheiten unversehrt über- spielten innerbernische Mechanismen gegen Ochsenbein. Ausgangspunkt waren die Grossratswahstanden. Neu war die Aufstockung des Bundesheers len vom Mai 1854, bei denen weder die Konservaum ein Drittel auf 105µ000 Mann, neu eingeführt tiven noch die Radikalen eine regierungsfähige wurden Rekrutenschulen, periodische Wieder- Mehrheit erreichten und eine Koalition, die soholungskurse und Inspektionen. Flankierende Ge- genannte Fusion, bildeten, also etwa das, was Ochsetze der folgenden Jahre regelten die Fürsorge senbein vier Jahre zuvor den Vorwurf des Verrats für verunglückte Militärangehörige, ordneten die vonseiten der Radikalen eingetragen hatte. Das läutete Ochsenbeins Ende als Bundesrat militärische Strafrechtspflege, legten Bekleidung ein. Als ihm im Oktober die damals für Bundesräte und Bewaffnung fest usw. Das Bundesratsgremium zeichnete sich in obligatorische Bestätigungswahl in den Nationalden zwei ersten Jahren der dreijährigen Legisla- rat misslang, war er politisch angeschlagen. In der turperiode durch eine bemerkenswerte Geschlos- Nacht der langen Messer vom 5.µDezember 1854 senheit aus. Bundesrat Frey-Herosé sprach 1850 wurde er erledigt. Berns radikale Mitglieder der von einem « einheitlichen Willen ». Die Richtungs- Vereinigten Bundesversammlung erklärten Ochkämpfe, die sich 1848 innerhalb der bernischen senbein kategorisch als unwählbar. Die KonservaRegierung zwischen Ochsenbein und Stämpfli ab- tiven wichen ihrem Druck, und die Bundesvergespielt hatten, verwandelten sich jetzt in einen sammlung kam zum Schluss, dass man gegen den verbissenen Kampf des nunmehr von Stämpfli ge- Willen des mächtigen Bern keinen Berner Bundesführten Berner Regierungsrats gegen die neutrale rat wählen konnte. Bundesrat Ochsenbein erhielt 1854 die QuitBundesaussenpolitik. Der Bundesrat duldete nicht mehr, dass einzelne Kantone eine eigene Politik tung dafür, dass er 1848 den Zweikammer-Bunbetrieben, als gäbe es das aussenpolitische Mono- desstaat und die Politik der Neutralität gegen die pol des neuen Bundesstaats nicht. Wenn diese Art Opposition von Berns radikaler Elite durchgesetzt Illoyalität nicht aufhöre, konstatierte Bundesprä- hatte. Er wurde abgewählt, weil die Radikalen um sident Furrer, « so zweifle ich nicht, dass der Bun- Stämpfli ihre militärisch-missionarische Aussendesrat in corpore seine Demission nehmen wird politik und den zentralistischen Einheitsstaat immer noch als Ideal hochhielten. Ochsenbeins Abund muss ». Das war die Lage, in der Ochsenbein den Ver- wahl bewirkte, dass die Familie mit acht Kindern such unternahm, Berns liberale und gemässigt ra- ab 1.µJanuar 1855 ohne Einkommen dastand. Ochdikale Kräfte, die sich 1848 hinter seiner Politik senbein dachte ans Auswandern, an Amerika, und hinter der neuen Bundesverfassung zusam- nahm dann aber ein Angebot Frankreichs an, im


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Ulrich Ochsenbein

Rang eines Brigadegenerals eine Schweizer Legion durch schwere Fehleinschätzungen gekennzeichfür den Krimkrieg zusammenzustellen. Die Trup- net. Der Freischarenzug von 1845, die Militärkarpe kam nicht zum Einsatz. riere in Frankreich nach der Nichtwiederwahl in Ochsenbein kehrte 1856 in die Schweiz zurück, den Bundesrat, auch der Versuch, im hohen Alter kaufte das Bellevuegut ob Nidau und betätigte sich noch einmal in die Politik einzugreifen – das waals Landwirt, Sachbuchautor und aktives Mitglied ren problematische, letztlich aber unbedeutende der renommierten Ökonomischen Gesellschaft des Episoden im Wirken eines Staatsmanns, der als Kantons Bern, die mehrere seiner Schriften heraus- Bundesrat der Schweiz mit dem Bundesheer ein gab. Eine seiner Broschüren ist bis heute aktuell : funktionierendes Verteidigungsinstrument hinDie Versumpfung des Gebiets der Juragewässer, er- terliess und als Tagsatzungs- und Bundespräsischienen 1864. Darin kritisierte er die von Bern und dent im Jahr 1848 sowohl den demokratischen vom Bund beschlossene Juragewässerkorrektion Zweikammer-Bundesstaat wie die Positionierung aus der damals unzeitgemässen, heute aber hoch- des Landes als bewaffnete neutrale Republik aktuellen Perspektive des ökologischen Gleich- massgeblich prägte und in schweren Kämpfen gegewichts, warnte vor dem Absinken des Torfbodens, gen die ultraradikale Bewegung durchsetzte. sagte die verheerenden Überschwemmungen des Rolf Holenstein 20.µJahrhunderts präzis voraus und präsentierte Zeitgenössische Stimmen einen eigenen ökologischen Korrektionsplan. « 1871, in der zweiten Phase des Deutsch-Fran- Herr Präsident ! seitdem die Tagsatzung vor bald einem zösischen Kriegs, kam Ochsenbein als französi- Jahre zum ersten Male unter Ihrer Leitung in diesem scher General zum Einsatz, nicht im Dienst von Saale sich versammelt hat, ist eine inhaltsschwere verhängnisvolle Zeit an uns vorübergegangen. Während Napoleons Kaiserreich, sondern der Provisorischen Ihres Amtsjahres haben Sie unablässig nicht bloss auf Republik von Jules Favre und Léon Gambetta. Sie dem Rathause, sondern auch im Felde die heiligsten Inwar es, die ihn zum Divisionsgeneral machte und teressen der Eidgenossenschaft erfolgreich verfochten. ihm im Februar 1871 das 30µ000 Mann starke Ihre Thätigkeit hat namentlich nicht wenig dazu beige24. Armeekorps anvertraute. Nach Kriegsende tragen, dass unser Vaterland in einem Augenblick allgewurde er für seine geleisteten Dienste als Ritter der meiner Gährung fast allein in Europa einer beneidensfranzösischen Ehrenlegion ausgezeichnet. werthen Ruhe sich erfreut. Es sei mir vergönnt, Ihnen, 1878, nach einem Vierteljahrhundert politi- Herr Präsident! im Namen dieser h. Versammlung ihre scher Abstinenz, stürzte sich Ochsenbein noch ein- Geschäftsführung aufs lebhafteste zu verdanken und mal in die Politik. 1882 wurde er Mitgründer der Ihnen ein herzliches Lebewohl zuzurufen. » (Verabchristlich-konservativen Bernischen Volkspartei, schiedung Ochsenbeins als Tagsatzungs- und Bundespräsident durch den Zürcher Gesandten, 31.µMai 1848, gelangte aber nie mehr zu politischer Bedeutung. in : Neue Zürcher Zeitung, 2./3.µJuni 1848) Schwere persönliche Schicksalsschläge blie« Er wußte trefflich die Mängel der wirklichen Verben Ochsenbein sein Leben lang nicht erspart : hältnisse und die Mißgriffe der frühern Machthaber zu der frühe Tod der Mutter, der vorzeitige Tod von beurtheilen und zu benutzen, um sich auf den Trümvier Kindern, schliesslich der tragische Unfall vom mern der gestürzten Ordnung der Dinge emporzu13.µNovember 1883, als sich ein Schuss aus seiner schwingen, wo er die neuen Verhältniße mit mehr Jagdwaffe löste und seine Frau tödlich traf. Lebenskenntniß als doktrinärer Einseitigkeit erfaßte, Ulrich Ochsenbein starb am 3.µNovember 1890 weshalb man ihn mit Unrecht später der Wandelbarkeit beschuldigte. Eine feine Art des Benehmens liess ihn in auf dem Landgut Bellevue ob Nidau. Würdigung

Das politische Werk von Ulrich Ochsenbein ist durch ausserordentliche Leistungen, aber auch

höhern Verhältnissen mit Glück auftreten […]. » (Anton von Tillier, Zeithistoriker und Berner Regierungsrat, in seiner « Geschichte der Eidgenossenschaft während des sogeheißenen Fortschritts » Bd. 2, Bern 1854, S. 359)


Ulrich Ochsenbein

« Am 3.µNovember 1890 erlosch in Stille ein einstmals großer Name der neueren Schweizergeschichte, mit Ulrich Ochsenbein von Nidau, Anführer des Freischaarenzuges von 1845 gegen Luzern, Präsident der letzten Tagsatzung und erstem Vertreter des Kantons Bern in dem Bundesrathe. […] Nachdem er 1854 aus dem Bundesrathe getreten war, übernahm er die Generalsstelle einer Fremdenlegion in dem durch den verfassungswidrigen Staatsstreich von 1851 gegründeten zweiten französischen Kaiserreich, womit seine schweizerische politische Laufbahn plötzlich und völlig zu Ende ging. Er war ein Mann, der auf den Idealismus angelegt war, und diese Denkart verträgt jede Art von Leiden und Anfechtung, aber nicht etwas, was als ein eigenes Aufgeben des Prinzips erscheint. » (Carl Hilty, in : Politisches Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft 6 [1891], S. 640) Reden und Schriften

– Rede zur Eröffnung der Tagsatzung in Bern vom 5.µJuli 1847, abgedruckt in : Edgar Bonjour, Die Gründung des schweizerischen Bundesstaates, Basel 1948, S. 213 – 220. – Die Branntweinfrage und die Landwirtschaft. Von der Ökonomischen Gesellschaft des Kantons Bern gekrönte und herausgegebene Preisschrift. Bern 1864. – Die Versumpfung des Gebietes der Juragewässer durch die Ausführung des Planes des Herrn eidg. Obersten La Nicca, zu Chur, von 1863 und die Entsumpfung dieses Gebietes. Bern 1864. – Die bernisch-agricole Geld- und Creditfrage, Biel 1866. – Der bernische Eisenbahnschwindel, Herzogenbuchsee 1883. Literaturhinweise

– Wilhelm Oechsli, Ulrich Ochsenbein, in : Allgemeine Deutsche Biographie, Leipzig 1906, Bd. 52, S. 695 ff. – Erwin Bucher, Die Geschichte des Sonderbundskrieges, Zürich 1966, S. 498 – 511. – Beat Junker, Ulrich Ochsenbein, in : Urs Altermatt ( Hg. ), Die Schweizer Bundesräte. Ein biografisches Lexikon, Zürich/München 1991, S. 109 – 114. – Fritz Häusler, Der letzte Kriegseinsatz einer bernischen Heereseinheit. Zwei Berichte über den Sonderbundsfeldzug der Berner Reservedivision Ochsenbein 1847. In : Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 75/1992.

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– Bruno Wägli, Die schweizerischen Militärminister von 1848 bis 2008. Ein Beitrag zur Geschichte des Bundesrates, Diss. Freiburg, Bern 2014. – Rolf Holenstein, Ochsenbein – Erfinder der modernen Schweiz. 2. Auflage, Basel 2015. – Rolf Holenstein, Stunde Null. Die Neuerfindung der Schweiz im Jahr 1848 – Die Protokolle und Geheimberichte der Erfinder. Basel 2018. Archiv

Der Nachlass von Ulrich Ochsenbein liegt im Staatsarchiv des Kantons Bern. Er betrifft aber zum grössten Teil nicht Ochsenbeins Bundesratsjahre. Vereinzelte persönliche Briefe und Dokumente finden sich im Bundesarchiv in Bern. 376 Briefe und andere Dokumente im Privatarchiv Ida Courvoisier.


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Doris Leuthard

Didier Burkhalter ( FDP ) oft eine von der freisinnigen Parteilinie abweichende Politik vertrat. Von ihren Grundwerten her war Leuthard eine klassische Christdemokratin – offen in Wirtschafts- und Finanzfragen und aufgeschlossen in der Sozialpolitik, in gesellschaftspolitischen Themen freilich liberaler als Teile der wertkonservativen Parteibasis der CVP. Dass sich ihr persönlicher Erfolg für ihre Partei, die CVP, nicht in Wählerstimmen auszahlte, ist angesichts des verstärkten Persönlichkeitsbonus in der Politik erstaunlich. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheinen der Zeitgeist, die Medien und die Wähler die Polarisierung zu bevorzugen und die von Leuthard personifizierte Politik der ausgleichenden Mitte weniger zu honorieren. Urs Altermatt Zeitgenössische Stimmen

« Auf den biederen Professor [ Joseph Deiss ] folgte die aufgestellte Sonnenkönigin, der alles ein bisschen leichter fiel: Doris Leuthard. Eine Ausnahmepolitikerin, Königin Doris I. von Merenschwand und Super-Doris – an Superlativen mangelte es für die Aargauerin nie. » ( Lea Hartmann und Pascal Tischhauser, in : « Blick », 27. September 2018 ) « Leuthard war mehr als eine Strahlefrau. ‹ Gestalten statt verwalten › hiess ihr Motto. Als Nachfolgerin von Moritz Leuenberger entideologisierte sie den Verkehr. Strasse und Bahn wurden gleichberechtigte Player. » ( Othmar von Matt, in : « Aargauer Zeitung », 28. September 2018 ) « Doris Leuthard ist eine Marathon-Läuferin der direkten Demokratie. In dieser Disziplin erzielt sie Spitzenresultate dank ihres unvergleichlichen Charismas, gepaart mit konstanter Standfestigkeit. » ( Bernard Wüthrich, in : « Le Temps », 28. September 2018, Übersetzung aus dem Französischen ) « Anstatt den Sieg gegen die ‹ No Billag ›-Initiative im März 2018 auskosten zu können, wurde Leuthard am Ende ihrer Amtszeit mit dem Skandal der illegal bezogenen Subventionen der Postauto AG konfrontiert. [ … ] Dieser Skandal war nicht der einzige, der ihr das Ende der Bundesratslaufbahn versalzte. Auch bei der Fixierung der Wasserzinsen musste sie vor der Opposition der Bergkantone klein beigeben. Und ihr projektiertes Gesetz über die elektronischen Medien enttäuschte so-

wohl Spezialisten wie einen Teil der bürgerlichen Politiker. » ( Florent Quiverez, in : « 24 heures », 28. September 2018, Übersetzung aus dem Französischen ) Reden und Schriften

– Wirtschaftspolitische Herausforderungen für die Schweiz. Vortrag vor der Handelskammer Deutschland-Schweiz am 25. Oktober 2007 in Zürich, in : CH-D Wirtschaft, Jg. 56, Nr. 12, S. 2 – 4. – Die Schweiz als Modell für Europa. Rede am Festplenum der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Salzburg, 3. März 2013. – Eröffnungsrede am Weltwirtschaftsform in Davos, 17. Januar 2017. – Gemeinsamer Einsatz für eine starke UNO – ein Gewinn für uns alle. Rede anlässlich der hochrangigen Woche der 72. Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York, 19. September 2017. – Weitere Reden sind über die Internetseiten des Bundes verfügbar. Literaturhinweise ( Auswahl Anfang Dez. 2018 )

– Presseartikel nach der Wahl vom 14. Juni 2006 und nach der Rücktrittserklärung von Doris Leuthard vom 27. September 2018. – Année politique Suisse, 2006 – 2018. – Dieter Stamm, Ich wäre gern eine Weltverbesserin, in: Bruno Glausµ&µKarl Lüönd ( Hg. ), Läufer, Mietmaul, König. Anwälte an der Schnittstelle von Recht und Macht. 17 Porträts, Zürich 2005, S. 137 – 151. – Matthias Müller, Bundesrätin-Doris-LeuthardMarsch ( für Blasorchester ), Küsnacht ( ZH ) 2006. Archiv

Bundesarchiv.


Eveline Widmer-Schlumpf

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Eveline Widmer-Schlumpf 1956 2008 – 2015 GR, SVP ( ab 2008 BDP ) 12. Dezember 2007

Wahl in den Bundesrat

31. Dezember 2015

Rücktritt

2008 – 2010

Justiz- und Polizeidepartement

2010 – 2015

Finanzdepartement

2012

Bundespräsidentin

Trin. Sie versah das Richteramt bis 1997, die letzten sechs Jahre als Kreispräsidentin. WidmerSchlumpf war die erste Frau, die dieses Amt ausübte. 1994 wurde sie in den Grossen Rat gewählt, vier Jahre später – wiederum als erste Frau – in die Bündner Regierung. Dort übernahm sie das Finanz- und Militärdepartement. Als FinanzHerkunft und politische Laufbahn ministerin wollte Widmer-Schlumpf den tiefroten Eveline Schlumpf wurde am 16. März 1956 als Kantonshaushalt mittels Ausgabenreduktion und mittlere von drei Töchtern in Felsberg GR geboren. einer zehnprozentigen Steuererhöhung ins Lot Sie ist nach Eugène Ruffy das zweite Mitglied des bringen. Der Grosse Rat lehnte die SteuererhöBundesrats, dessen Vater bereits der Landesregie- hung ab und forderte eine Sanierung ausschliessrung angehörte. Ihr Vater Leon Schlumpf war von lich über Sparmassnahmen. 1980 bis 1987 SVP-Bundesrat und hatte eine klas2001 wurde Widmer-Schlumpf Präsidentin sische Politkarriere absolviert. Entsprechend früh der Konferenz der kantonalen Finanzdirektorinwurde Eveline Schlumpf politisiert. 1981 trat sie nen und Finanzdirektoren. In dieser Funktion war der SVP bei. Dabei wurzelten ihre Überzeugungen sie massgeblich daran beteiligt, dass die Kantone wie die ihres Vaters in der Tradition der sozial- 2003 gegen das Steuerpaket opponierten, das Bunliberalen Bündner Demokraten, die 1971 in der desrat und Parlament verabschiedet hatten. Die SVP aufgegangen waren. Nach ihrem juristischen Kantone befürchteten wegen der vorgesehenen Lizenziat an der Universität Zürich heiratete sie Steuererleichterungen Mindereinnahmen in Milihren Jugendfreund, den Bauingenieur Christoph liardenhöhe und sahen ihre Finanzautonomie Widmer. Das Paar hat drei Kinder. 1983 erwarb bedroht. Die überzeugte Föderalistin WidmerWidmer-Schlumpf das Bündner Anwaltspatent Schlumpf wurde zur Wortführerin der bürgerund drei Jahre später als erste Frau das Bündner lichen Gegner des Steuerpakets. Schliesslich erNotariatspatent. 1990 promovierte sie an der Uni- griffen elf Kantone erstmals in der Geschichte des versität Zürich. Bundesstaats das Kantonsreferendum, und am Die politische Karriere von Widmer-Schlumpf 16. Mai 2004 scheiterte die Vorlage mit 65,9 Prostartete 1985 mit ihrer Wahl an das Kreisgericht zent Nein an der Urne.


Evleine Widmer-Schlumpf

Tätigkeit als Bundesrätin

Mit der Annahme der Wahl nahm WidmerSchlumpf den Bruch mit der SVP Schweiz in Kauf. Zusammen mit Samuel Schmid wurde sie aus der Fraktion ausgeschlossen. Trotz der turbulenten Wahl verlief die Departementsübergabe von Blocher zu Widmer-Schlumpf geordnet, und die neue Bundesrätin übernahm am 1. Januar 2008 das Justiz- und Polizeidepartement. Doch nachdem das Schweizer Fernsehen am 6. März 2008 den DOKFilm Die Abwahl ausgestrahlt hatte, war es vorbei mit der scheinbaren Ruhe. Im Film berichteten Protagonisten des Coups freimütig über die geheimen Absprachen im Vorfeld von WidmerSchlumpfs Wahl. Dies sorgte für Empörung innerhalb der SVP, und die Partei forderte die Bundesrätin zum Rücktritt und zum Parteiaustritt auf. Widmer-Schlumpf kam dem ebenso wenig nach, wie die SVP Graubünden nicht daran dachte, ihre Bundesrätin auszuschliessen. Darauf schloss die SVP Schweiz am 1. Juni 2008 die gesamte Bündner Sektion aus.

Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf und Bundesrat Samuel Schmid an der Gründungsversammlung der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP) der Schweiz am 1. November 2008 in der Glarner Landesbibliothek ( Keystone / Arno Balzarini ).

703

Begleitet waren diese Vorgänge von massiven Anfeindungen gegenüber der neuen Bundesrätin, die Polizeischutz benötigte. Doch auch ihre Unterstützer machten mobil : Am 11. April 2008 demonstrierten rund 12µ000 Personen auf dem Bundesplatz in Bern für Widmer-Schlumpf. Sie habe erst vom Sommer 2008 an « wieder Boden unter den Füssen gehabt », sagte die Bundesrätin später. Die meisten ausgeschlossenen Mitglieder der SVP Graubünden wechselten in die am 1. November 2008 auf nationaler Ebene gegründete BDP. Die Partei zählte mit Eveline Widmer-Schlumpf und Samuel Schmid auf Anhieb zwei Bundesratsmitglieder in ihren Reihen. Im Rücken hatten diese zu Beginn jedoch bloss vier Nationalräte und einen Ständerat – was nicht einmal zur Fraktionsstärke reichte. Kaum im Amt, musste die Justizministerin gegen die restriktive SVP-Einbürgerungsinitiative antreten. In der Arena-Sendung des Schweizer Fernsehens traf sie auf Christoph Blocher, und das Duell wurde zur bisher meistgeschauten Arena. Die SVP-Initiative scheiterte am 1. Juni 2008 mit 63,8 Prozent Nein-Stimmen an der Urne und bescherte der Justizministerin den ersten Abstimmungserfolg. Derweil hatte sich in der Folge der US-Hypothekenkrise die Lage der Grossbank UBS dramatisch zugespitzt. Finanzminister HansRudolf Merz arbeitete zusammen mit der Nationalbank und der Finanzmarktaufsicht an einem Rettungsplan, erlitt jedoch am 22. September 2008 einen Herzinfarkt. Seine Stellvertreterin WidmerSchlumpf konkretisierte den Rettungsplan und setzte ihn um. In dessen Rahmen übernahm die Nationalbank für 62 Milliarden Franken problematische Wertpapiere der UBS, und der Bund stellte der Grossbank 6 Milliarden Franken als Pflichtwandelanleihe zur Verfügung. WidmerSchlumpf bewies in solchen Krisensituationen ihre Qualitäten als effiziente Führungspersönlichkeit. Weniger glücklich agierte sie bei der Reorganisation des Bundesamts für Migration. Statt der erwünschten Beschleunigung der Asylverfahren resultierte das Gegenteil, und mehrere Kaderleute verliessen das Amt. Auf Unverständnis stiess auch


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Eveline Widmer-Schlumpf

Die Finanzminister der Schweiz und Deutschlands, Eveline Widmer-Schlumpf und Wolfgang Schäuble, nach der Unterzeichnung eines bilateralen Steuerabkommens am 21. September 2011 ( Keystone / AP / Michael Sohn ).

Widmer-Schlumpfs Ansinnen, das Kinderhüten Am 1. November 2010 gelang Widmer-Schlumpf durch Grosseltern und Freunde einer Bewilligungs- in der Folge einer Ämterrochade nach den Rückpflicht zu unterstellen. Nach einem öffentlichen tritten von Hans-Rudolf Merz und Moritz LeuenSturm der Entrüstung liess sie das Vorhaben fallen. berger der Wechsel in das Finanzdepartement, In den Zuständigkeitsbereich der Justizmi- ihr eigentliches Wunschressort. Als Finanzminisnisterin, die am 10. Januar 2009 vom TV-Publi- terin brachte sie 2011 die « Too big to fail »-Vorlage kum zur « Schweizerin des Jahres 2008 » gewählt gegen den Widerstand der Grossbanken durch worden war, fiel auch die UBS-Steueraffäre in den das Parlament und verpflichtete die Banken zu USA. Die Bank hatte US-Kunden Beihilfe zur strengeren Eigenkapital- und LiquiditätsanfordeSteuerhinterziehung gewährt. Um der UBS eine rungen. Im selben Jahr unterzeichnete sie mit ihZivilklage und Milliardenbussen zu ersparen, han- rem deutschen Amtskollegen Wolfgang Schäuble delte Widmer-Schlumpf einen Staatsvertrag mit ein Abkommen für eine Abgeltungssteuer zur den USA aus. Damit sollten die Kontendaten von Legalisierung deutscher Finanzvermögen in der 4450 amerikanischen UBS-Kunden an die US- Schweiz. Doch das Abkommen scheiterte 2012 in Behörden geliefert werden. Nachdem das Bundes- der deutschen Landeskammer, dem Bundesrat. verwaltungsgericht auf die Beschwerde einer Kurz darauf dachte Widmer-Schlumpf öffentlich Amerikanerin hin die Datenlieferung gestoppt über einen automatischen Austausch von Inforhatte, legte der Bundesrat den Staatsvertrag dem mationen (AIA) über Finanzkunden nach – und Parlament vor. Die Räte stimmten nach heftiger erntete damit massive Kritik. Die FDP forderte Debatte am 17. Juni 2010 zu und ermöglichten so gar, man müsse Widmer-Schlumpf das Dossier die Datenlieferungen. entziehen. Gegen aussen vertrat der Bundesrat


Evleine Widmer-Schlumpf

damals die Strategie, sich mit den EU-Staaten über eine Abgeltungssteuer zu einigen. Diese Pläne schlugen jedoch fehl, und der AIA entwickelte sich zum internationalen Standard. 2015 stimmte ihm auch das Schweizer Parlament zu. Nach der Atomkatastrophe von Fukushima kündigte Widmer-Schlumpf 2011 eine ökologische Steuerreform mit einer Lenkungsabgabe auf alle Energieträger an. Damit stiess sie bereits im Bundesrat auf Widerstand. Die Regierung priorisierte das von Energieministerin Doris Leuthard vertretene Gesetz für mehr Energieeffizienz und erneuerbare Energien. Widmer-Schlumpfs Lenkungsabgabe kam erst 2017 ins Parlament, wo sie chancenlos blieb. Im Wahljahr 2011 spitzte sich auch die Diskussion um die Zukunft der Bundesrätin zu. Die BDP kam noch auf 5,4 Prozent Wähleranteil und hatte arithmetisch gesehen keinen Anspruch auf einen Bundesratssitz. Widmer-Schlumpf stellte sich trotzdem der Wiederwahl, die SVP ihrerseits nominierte Nationalrat Bruno Zuppiger. Kurz vor der Wahl wurde der Zürcher Kandidat zurückgezogen, da er sich in einer Erbschaftsangelegenheit strafbar gemacht hatte. An seiner Stelle griff am 14. Dezember 2011 SVP-Nationalratspräsident Hansjörg Walter den Sitz von Widmer-Schlumpf an, erreichte aber bloss 63 Stimmen. Widmer-Schlumpf wurde mit 131 Stimmen im ersten Wahlgang im Amt bestätigt und mit beachtlichen 174 Stimmen als Bundespräsidentin für das Jahr 2012 gewählt. Eine Niederlage erlitt Widmer-Schlumpf, als Ende 2011 umstrittene Devisengeschäfte von Nationalbank-Präsident Philipp Hildebrand aufgedeckt wurden. Die Finanzministerin stützte Hildebrand bis zuletzt. Trotzdem musste er auf Druck des Bankrats zurücktreten. Ohne Erfolg blieb Widmer-Schlumpf auch bei ihrem Versuch, den Steuerstreit mit den USA 2013 mit einem Spezialgesetz beizulegen. Die sogenannte Lex USA hätte die Lieferung weiterer Bankkundendaten an die US-Behörden ermöglicht. Trotz WidmerSchlumpfs eindringlicher Warnung scheiterte die Vorlage im Parlament.

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Rücktritt und spätere Tätigkeit

Am 28. Oktober 2015 erklärte Widmer-Schlumpf, sie werde auf Ende Jahr aus dem Bundesrat ausscheiden. Zuvor war die BDP bei den Nationalratswahlen auf 4,1 Prozent Wähleranteil zurückgefallen. Gleichzeitig hatte die SVP auf 29,4 Prozent zugelegt. Das Resultat der Wahlen sei « mit ein Grund für den Rücktritt, aber nicht ausschlaggebend gewesen », sagte Widmer-Schlumpf. Tatsächlich hätte sie jedoch infolge des Rechtsrutsches im Parlament damit rechnen müssen, eine Wiederwahl zu verpassen. Für Aufsehen sorgte nach dem Rücktritt ein Interview, das am 22. Januar 2017 im Blick erschien. Darin bezeichnete Widmer-Schlumpf die kurz darauf zur Abstimmung kommende Unternehmenssteuerreform III als unausgewogen. Diese Intervention war von besonderer Bedeutung, da Widmer-Schlumpf die Vorlage während ihrer Amtszeit initiiert hatte und in der Bevölkerung weiterhin sehr hohe Glaubwürdigkeit besass. Mit ihrer Wortmeldung hat die frühere Finanzministerin dazu beigetragen, dass die Steuerreform an der Urne scheiterte. Am 1. April 2017 übernahm Widmer-Schlumpf das Präsidium von Pro Senectute. Würdigung

Eveline Widmer-Schlumpf stand vom ersten Tag ihrer Amtstätigkeit an unter verschärfter Beobachtung. Als Sprengkandidatin von Mitte-links gewählt, wurde sie zum personifizierten Feindbild der SVP – zur « Verräterin », die Christoph Blocher aus dem Amt gedrängt hatte. WidmerSchlumpf hielt diesen Anfeindungen mit Zähigkeit stand. Allerdings bekannte sie später, dass ihr die « ständige psychologische Begutachtung » ihrer Person und ihres Charakters zugesetzt habe. Die Bundesrätin ohne Hausmacht stand jeweils im Verdacht, politisch auf Mitte-links Rücksicht zu nehmen. Sie war von diesem Lager gewählt worden und benötigte dessen Unterstützung für ihre Wiederwahl. Tatsächlich besass Widmer- Schlumpf einen gewissen Hang zum Etatismus. Doch mehr als parteitaktische Rücksichtsnahmen prägten Pragmatismus sowie eine


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Eveline Widmer-Schlumpf

realistische Einschätzung der Lage ihr politi- räten hat sie überdurchschnittliche Spuren hintersches Handeln. lassen. Als Finanzministerin kam ihr die Rolle zu, das Daniel Foppa seit Jahrzehnten für das schweizerische Selbstverständnis konstitutive Bankgeheimnis in der bishe- Zeitgenössische Stimmen rigen Form abzuschaffen. Die Verfehlungen der « Als Finanzministerin hatte Widmer-Schlumpf den Schweizer Grossbanken und die internationalen Marsch in Richtung internationaler Steuertransparenz Entwicklungen liessen Widmer-Schlumpf keine anzuführen. Sie besass als jahrelange Bündner Finanzandere Wahl, als die sogenannte Weissgeld-Strate- direktorin ein Grundverständnis für die Anliegen der gie anzuwenden. Als bürgerliche Politikerin mit Steuerbehörden und musste im Gegensatz zu manch hoher Akzeptanz bis weit ins Mitte-links-Lager anderen bürgerlichen Politikern wenig Herzblut für die war die Finanzpolitikerin prädestiniert dazu, poli- Aufweichung des Bankgeheimnisses vergiessen. » (Neue tische Mehrheiten für diesen Transformations- Zürcher Zeitung, 29. Oktober 2015) « Die Schweizerische Bankiervereinigung hatte mit prozess wie auch für strengere RegulierungsvorEveline Widmer-Schlumpf eine dossierstarke Geschriften für die Grossbanken zu finden. Fundierte sprächspartnerin, zu der wir guten Zugang hatten. InDossierkenntnisse sowie eine Kämpfernatur, die ternational hat sie die Interessen der Schweiz und des sich selbst nie schonte, ermöglichten ihr ein unab- Finanzplatzes konsequent vertreten. Sie hat früh erhängiges Auftreten gegenüber Interessengruppen kannt, dass sich der automatische Informationsausund der Verwaltung. Widmer-Schlumpf liess sich tausch als internationaler Standard durchsetzen wird, nicht von Chefbeamten steuern – sondern trennte hat diesen Weg eingeschlagen und die Schweiz gut posisich von ihnen, wenn es ihr geboten schien. Je tioniert. Bei anderen Dossiers, wie bei der Neuausrichnach politischer Ausrichtung wurde der Bundes- tung des Finanzplatzes und bei Steuerdossiers, vermissrätin vorauseilender Gehorsam gegenüber auslän- ten wir klare strategische Visionen. » (Thomas Sutter, dischen Forderungen vorgeworfen, oder sie wur- in : Tages-Anzeiger, 29. Oktober 2015) de für das Antizipieren kommender Entwicklungen gelobt. Unter dem Strich blieb ihr Handlungsspiel- Reden und Schriften raum angesichts international verschärfter Stan- – Voraussetzungen der Konzession bei Radio und Fernsehen (Dissertation), Basel/Frankfurt 1990. dards für mehr Steuertransparenz und dezidierter – Auf den Webseiten des Justiz- und PolizeideparteForderungen von Ländern wie den USA jedoch ments sowie des Finanzdepartements findet sich eine beschränkt. Auswahl der Reden von Eveline Widmer- Schlumpf. In staatspolitischer Hinsicht hat WidmerSchlumpfs Wahl und insbesondere die Wiederwahl als Vertreterin der Kleinpartei BDP die Literatur- und Filmhinweise – Esther Girsberger, Eveline Widmer-Schlumpf. Die Diskussion befördert, ob der Bundesrat nach rein Unbeirrbare, Zürich 2012. arithmetischer oder auch nach inhaltlicher Kon– Andrea Hämmerle, Die Abwahl. Fakten & Figuren, kordanz zusammengesetzt werden sollte. Nach Glarus/Chur 2011. dem Rücktritt der Finanzministerin schien die – Hansjörg Zumstein, Die Abwahl. DOK-Film von SRF, öffentliche Meinung wieder klar einer arithmeZürich 2008. tischen Konkordanz den Vorzug zu geben, was – Hansjörg Zumstein, Der Rücktritt. Die Ära Widmerdie Singularität der Ära Widmer-Schlumpf unterSchlumpf. DOK-Film von SRF, Zürich 2016. streicht. Gewählt als Reaktion auf die ebenso einmalige Ära Blocher, hat Widmer-Schlumpf Archiv mit dem Umbau des Finanzplatzes und als KrisenEin Tagebuch über die ersten Monate als Bundesrätin managerin in turbulenten Zeiten Führungsbefindet sich in Familienbesitz. stärke bewiesen. Verglichen mit anderen Bundes-


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Der Bundesrat steht im Zentrum des schweizerischen Regierungssystems. Seit der Gründung des Bundesstaats im Jahre 1848 ist diese Institution im Wesentlichen unverändert geblieben. Das vom Historiker Urs Altermatt herausgegebene und 1991 letztmals publizierte Bundes­ratslexikon etablierte sich innert kurzer Zeit als Standardwerk der Bundesratsgeschichte. Jetzt liegt es komplett überarbeitet und aktualisiert vor. 93 Autorinnen und Autoren zeichnen für jedes Mitglied des Bundesrats ein bewegtes Bild ihrer Wahlen und Rücktritte, Karrieren und Politik – von der Gründung der modernen Schweiz bis in die Gegenwart. Die Porträts sind auf dem neusten Forschungsstand und mit Bildern, Tabellen, Quellen und Literaturhinweisen versehen. Über das rein Biografische hinaus vermittelt dieses Handbuch einen prägnanten Überblick sowie überraschende ­Einblicke in 170 Jahre Bundesstaat. Ein politisch-historisches Lesebuch und faszinierendes helvetisches Kaleidoskop.

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