Jean Rudolf von Salis. Ausgewählte Briefe 1930-1993

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Jean Rudolf von Salis A u s g e w ä h l t e B r i e f e 19 3 0 − 19 93 Herausgegeben von Urs Bitterli und Irene Riesen

Ve r l a g N e u e Z ü r c h e r Z e i t u n g

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Herausgeber und Verlag danken für die freundliche Unterstützung durch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; ­detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung : J. R. von Salis im Jahr 1955, Foto: W. E. Baur, Zürich Abbildung Seite 6: J. R. von Salis im Jahr 1978, Foto: Candid Lang, Adliswil Faksimilevorlagen: Schweiz. Literaturarchiv, Bern © 2011 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Lektorat : Regula Walser, Zürich Gestaltung, Satz : GYSIN [Konzept + Gestaltung] Zürich Druck, Einband : Kösel GmbH, Altusried-Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der ­Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03823-669-6 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung

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Inhalt Vorwort

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Einf端hrung

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Briefe 1930-1993

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Kommentar

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Editorische Notiz

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Liste der Adressaten

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Lebensdaten

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Dank

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Personenregister

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Vo rwo rt Vor zwei Jahren ist mein Buch Jean Rudolf von Salis. Historiker in beweg­ ter Zeit erschienen. Die Monografie hat bei der Kritik und einer weiteren Leserschaft eine freundliche Aufnahme gefunden. Meine Aufgabe sah ich darin, eine herausragende Persönlichkeit des Schweizer Geisteslebens und ihr Schaffen in kurzer und leicht fasslicher Form vorzustellen. Ich habe die meisten Bücher dieses Historikers zum Zeitpunkt ihres Erscheinens gelesen, und ich fand es reizvoll, mir meine geistige Begegnung mit dem berühmten Kollegen in Erinnerung zu rufen und frühere Eindrücke neu zu überprüfen. Ich verstand mein Buch aber auch als eine Einladung an ältere Leserinnen und Leser, sich ihre eigenen Erinnerungen an von Salis zu vergegenwärtigen und sie mit den meinigen kritisch zu vergleichen. Zugleich hoffte ich, einer jüngeren Generation den Zugang zum umfangreichen Werk eines Mannes zu erleichtern, der eine Zeit verkörpert, die ihr als längst vergangen erscheinen muss. Bei meiner Arbeit konnte ich mich auf den Nachlass von Jean Rudolf von Salis stützen, der im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern verwahrt wird. Von besonderem Wert war mir die umfangreiche Korrespondenz des Historikers, aus der ich zitieren durfte. Doch so aufschlussreich und erhellend ein Zitat auch immer sein mag – es gibt nur einen flüchtigen, gleichsam zur Pointe verkürzten Einblick und erhält dadurch, dass es dem Zusammenhang eines Briefes entnommen und in den Zusammenhang einer Darstellung überführt wird, ein anderes Gewicht. So entstand der Plan, unter den Tausenden von Briefen von Jean Rudolf von Salis eine überblickbare Auswahl zu treffen und sie im vollen Wortlaut wiederzugeben. Ich habe mich bemüht, einen möglichst repräsentativen Einblick in das Leben und Wirken eines Intellektuellen zu geben, der im politischen und kulturellen Leben unseres Landes eine herausragende Stellung eingenommen hat. Das Buch ist in ­enger Zusammen­arbeit mit meiner Frau und mit freundlicher Unterstützung des Verlags entstanden. Urs Bitterli

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Einführung Der Historiker Jean Rudolf von Salis ist bekannt geworden durch seine Radioreden während des Zweiten Weltkrieges, und er ist bekannt geblieben durch ein über fünf Jahrzehnte hinweg mit Umsicht und Stetigkeit gefördertes Werk, das in seiner thematischen Vielfalt und in der Kunst der Darstellung seinesgleichen sucht. Die unterschiedlichsten Formen wissenschaftlicher und publizistischer Darstellung sind innerhalb dieses Œuvres erprobt worden. In seiner Doktorarbeit widmete sich von Salis, gestützt auf ausgedehnte archivalische Studien, dem Leben und Werk des Genfers Jean Charles Léonard Sismondi, einem herausragenden Historiker und Wirtschaftstheoretiker des 18. Jahrhunderts. Wenig später entstand, aus der persönlichen Begegnung mit dem Dichter hervorgegangen, das Buch Rainer Maria Rilkes Schweizer Jahre, ein Standardwerk, das seither wiederholt neu aufgelegt worden ist. Im Jahre 1941, kurz nach dem Tod von Bundesrat Giuseppe Motta, erschien eine umfangreiche Biografie des Tessiner Politikers, dessen Engagement für den Völkerbund der Autor hohes Lob zollte. Im selben Jahr erhielt Jean Rudolf von Salis von Bundesrat Marcel Pilet-Golaz den Auftrag, das Zeitgeschehen allwöchentlich am Radio Beromünster zu kommentieren; eine Auswahl dieser Kommentare kam 1966 unter dem Titel Weltchronik 1939-1945 heraus. Zwischen 1951 und 1960 erschienen die drei monumentalen Bände einer Weltgeschichte der Neuesten Zeit, die 1980 in einer sechsbändigen Ausgabe neu aufgelegt wurde. Aus dem Radiojournalisten, der die Tagesaktualität kommentierte, war der Historiker geworden, der zum Zeitgeschehen auf Distanz ging und aufgrund der vorliegenden Quellen ein möglichst objektives Bild zu gewinnen suchte. In der Folge äusserte sich Jean Rudolf von Salis immer wieder aus aktuellem Anlass zu Fragen von innen- und aussenpolitischem Belang – eine publizistische Tätigkeit, die ihren Niederschlag in mehreren Sammelbänden fand. Besonderes Interesse erregte der Band Schwierige Schweiz, der 1968 erschien. In den 1970er-Jahren verfasste der Historiker einen zweibändigen Lebensbericht unter dem Titel Grenzüberschreitungen. Diese Form der autobiografischen Erkundung fand ihre Fortsetzung auf dem benachbarten Feld der Tagebuchaufzeichnung : In den Jahren 1981 bis 1983

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wurden die Notizen eines Müssiggängers niedergeschrieben, und zwischen 1984 und 1986 folgten unter dem Titel Innen und Aussen Anmerkungen zu aktuellen und historischen Fragen. Als eine weitere Form persönlicher Stellungnahme wird man schliesslich die von der Zürcher Journalistin Klara Obermüller aufgezeichneten Interviews betrachten können, die 1993, drei Jahre vor Jean Rudolf von Salis’ Tod, unter dem Titel Dem Leben recht geben publiziert wurden. Jean Rudolf von Salis wurde 1901 als Sohn eines angesehenen Arztes aus altem Bündner Geschlecht in Bern geboren. Er erhielt eine sorgfältige Erziehung und Schulung, die das Musische pflegte und den Zugang zur französischen Kultur so sehr erschloss, dass er sich eine bemerkenswerte Zweisprachigkeit erwarb. Nach Studiensemestern in Bern und Montpellier schrieb sich Jean Rudolf von Salis im Jahre 1922 an der Berliner Universität ein und entschloss sich, Historiker zu werden. Vier Jahre später wechselte er, nachdem er in Bern sein geisteswissenschaftliches Staatsexamen bestanden hatte, nach Paris über. Zwischen 1926 und 1935 hielt er sich in der französischen Hauptstadt auf. Hier kam er mit den Historikern in Verbindung, welche später die Gelehrtenschule der «Annales» begründeten und mit ihren sozial- und kulturgeschichtlichen Arbeiten wegweisende Impulse vermittelten. Der Schweizer stand freilich zeitlebens der traditionellen Geschichtsschreibung näher, welche die Aussenpolitik der europäischen Nationen und deren führende Persönlichkeiten zu ihrem bevorzugten Studiengebiet machte. Zur Forschungsarbeit hinzu trat während des Pariser Jahrzehnts die Begegnung mit der hohen internationalen Politik, die hoffnungsvoll mit der französisch-deutschen Annäherung unter Briand und Stresemann und dem Locarno-Pakt begonnen hatte. Zwischen 1930 und 1934 berichtete von Salis als Auslandkorrespondent regelmässig für den Berner Bund. Der Pariser Aufenthalt prägte den Historiker. Hier wurde er, um ein Wort von Raymond Aron zu zitieren, zu jenem «spectateur engagé», der dem Zeitgeschehen auf der Spur bleibt und es seinem unabhängigen Urteil unterwirft. Die vorliegende Auswahl von Briefdokumenten setzt im November 1930 mit einem Brief des Historikers an seine Mutter ein, in dem von den Anstellungsbedingungen beim Berner Bund die Rede ist. Drei Jahre später wurde Hitler in Deutschland die Macht übertragen, und die nationalsozialistische Diktatur wurde in kurzer Zeit bedrohliche Wirklichkeit. Mit dem «Anschluss» Österreichs im Jahre 1938 war unser Land im Süden, Norden und Osten von feindlichen Mächten umschlossen. Diese Bedrohungslage wird in der Korrespondenz des Historikers mit der Mutter und mit Bekannten auf beklemmende Weise sichtbar.

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Im Jahre 1935 trat Jean Rudolf von Salis seine Professur für Allgemeine Geschichte in deutscher und französischer Sprache an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich an – ein problemloser beruflicher Werde­gang im Ganzen, abgestützt auf herausragende Begabung, materielle Wohlsituiertheit und hilfreiche persönliche Kontakte. Das neue Amt an der Freifächerabteilung der ETH war eine eigentliche Forschungsprofessur. Sie gewährte grosse Freiheit bei der Gestaltung der Lehrveranstaltungen und der persönlichen wissenschaftlichen Arbeit und ersparte dem Professor die Korrektur der studentischen Arbeiten und die Abnahme von Prüfungen. Mehrere Briefe in unserer Auswahl befassen sich mit von Salis’ Tätigkeit an der ETH, insbesondere auch mit dem spannungsvollen Verhältnis der ETH zur benachbarten Universität. Im Jahre 1940 heiratete der Historiker Elsie Huber, redaktionelle Mitarbeiterin der Tat, die ihm 1941 einen Sohn, Thomas, gebar. Das Ehepaar lebte im Winter in seiner Zürcher Wohnung nahe der ETH, im Sommer auf Schloss Brunegg im Kanton Aargau. Im Februar 1940 wurde dem Geschichtsprofessor von Bundesrat ­Marcel Pilet-Golaz, dem damaligen Leiter der Schweizerischen Aussenpolitik, der Auftrag erteilt, am Radio Beromünster einen wöchentlichen Kommentar zur Weltlage vorzutragen. Einige der hier ausgewählten Briefe aus dem Nachlass des Historikers nehmen Bezug auf diese Weltchronik. Im kollektiven Gedächtnis seiner Zeitgenossen ist die Weltchronik zu einem mutigen Zeugnis des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus geworden. Eine genaue Durchsicht der Papiere im Nachlass von Jean Rudolf von Salis führt zu einem differenzierteren Urteil. Im Grunde näherte sich der Historiker bei Kriegsbeginn der Grundhaltung des Leiters der Schweizerischen Aussen­politik, Bundesrat Pilet-Golaz, in welcher sich der Wille zur Bewahrung der Neutralität mit einer sehr zurückhaltenden Einschätzung der faschistischen und nationalsozialistischen Diktaturen verband. Von ­Salis’ eher rücksichtsvolle Haltung führte auch zur Abwendung von der Neuen Zürcher Zeitung, die gegenüber Hitler-Deutschland prononcierter Stellung bezog. In einem aufschlussreichen Schreiben an seinen Freund Charles ­Simon, den Präsidenten der Schweizerischen Rückversicherungsgesellschaft, findet von Salis’ Haltung ihren Ausdruck. Im Verlaufe des Krieges beurteilte der Historiker allerdings Bundesrat Pilet-Golaz zunehmend kritisch und sah in ihm ein Unglück für unser Land. In einem Brief vom Dezember 1943 an Albert Oeri, den Chefredaktor der Basler Nachrichten und Nationalrat, trat er gar für die Abwahl dieses Bundesrates ein. Dass der Historiker immer ein entschiedener Gegner des National­ sozialismus war, geht aus seiner Korrespondenz deutlich hervor. Wiederholt setzte er sich, wie zwei in unserer Auswahl wiedergegebene Briefe zeigen,

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für Flüchtlinge ein; auch stand er mit Emigranten wie dem Schriftsteller Fritz Hochwälder und dem Bildhauer Fritz Wotruba in enger Verbindung. Kein Zweifel : Die Nationalsozialisten hätten bei einer Besetzung unseres Landes mit dem Historiker kurzen Prozess gemacht. Nach Kriegsende bereiste Jean Rudolf von Salis das benachbarte Ausland, wohnte im Elsass den Feierlichkeiten zur Befreiung von deutscher Besetzung bei, hielt Vorträge in Österreich und war massgeblich daran beteiligt, eine Ausstellung von «Meisterwerken aus Österreich» im Zürcher Kunsthaus zu verwirklichen. Im Jahre 1946, noch vor der kommunistischen Machtübernahme, besuchte er die Tschechoslowakei. Hier hatten besonders viele Schwarzhörer dem Kommentator von Radio Beromünster gelauscht; von Salis wurde von der Bevölkerung begeistert begrüsst und vom Staatspräsidenten Benesch in Audienz empfangen. Der Historiker suchte das Gespräch mit allen politischen Gruppierungen, auch mit der Linken. Doch schon warf der Kalte Krieg seinen Schatten voraus. Nach seiner Rückkehr musste sich von Salis brieflich gegen eine Rüge von Gottlieb Duttweiler zur Wehr setzen, der diese Reise als nicht opportun empfand. Anderseits traten Vertreter der Schweizer Sozialdemokratie, die von der erfolgreichen Reise in die Tschechoslowakei gehört hatten, an ihn heran, um ihn als Partei­ mitglied zu gewinnen. Von Salis lehnte ab, weil er, wie ein Brief dokumentiert, seine unabhängige Stellung als Historiker nicht mit einem parteipolitischen Engagement glaubte vereinbaren zu können. Im Jahre 1947 liess sich Jean Rudolf von Salis an der ETH beurlauben und lehrte ein Semester lang an der Universität Wien. Die österreichische Hauptstadt unterstand noch den alliierten Besatzungstruppen, die Innenstadt bot ein Bild der Zerstörung, und es herrschten Hungersnot und Elend. Für den Historiker bedeutete der Aufenthalt in Wien den Verzicht auf zahlreiche Annehmlichkeiten des täglichen Lebens. Im Brief an einen nach Wien berufenen Kollegen gibt von Salis ein eindrückliches Stimmungsbild. In seinen Wiener Lehrveranstaltungen reifte im Historiker der Plan zu einer umfassenden Weltgeschichte der Neuesten Zeit. Dieses Werk gehört zu den ersten Gesamtdarstellungen eines einzelnen Autors in der Nachkriegszeit. Die Weltgeschichte beschäftigte von Salis während über zehn Jahren, und es erstaunt nicht, dass er in seiner Korrespondenz immer wieder auf dieses Werk zu sprechen kommt. Er sah in ihm seine fachliche Lebensleistung, fragte sich aber zugleich, ob diese Art von universalgeschichtlicher Darstellung noch zeitgemäss sei. Jean Rudolf von Salis wurde zwar nicht zum Parteipolitiker, aber er bezog als unabhängiger Staatsbürger oft und gern politisch Stellung. Auch stellte er seine Mitarbeit Institutionen zur Verfügung, wenn er glaubte, dort

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seine Ideen einbringen zu können. In der Korrespondenz der fünfziger und sechziger Jahre treten die Zielsetzungen seines politischen Denkens klar hervor. Von Salis begrüsste die Schaffung der UNO als ein zwar unvollkommenes, aber doch hilfreiches Instrument zur Friedenssicherung. Ebenso unterstützte er die Bestrebungen zur französisch-deutschen Aussöhnung und zur Schaffung einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. In beiden Fällen hoffte von Salis – zu seinem Leidwesen zeitlebens vergeblich – auf eine aktive aussenpolitische Rolle der Schweiz. Er bemühte sich, die unserem Land durch den Krieg aufgezwungene Igelstellung aufzubrechen, hielt aber an der traditionellen Neutralität fest. Gerade in der Polarisierung des Kalten Krieges, argumentierte er, könne ein Staat, der Neutralität mit Solidarität verbinde, eine wichtige Vermittlerrolle spielen. Als Bundesrat Max Petitpierre Jean Rudolf von Salis ersuchte, an der Pariser Generalkonferenz der UNESCO im November 1946 als Beobachter teilzunehmen, stellte sich der Historiker gern zur Verfügung. Zwischen 1954 und 1964 war er Mitglied der Schweizerischen Nationalen UNESCOKommission. Sein Hauptanliegen war, gegen eine Politisierung von Wissenschaft und Kultur im Magnetfeld des Kalten Krieges anzukämpfen. Dem Geist der französischen Aufklärung verpflichtet, sah von Salis in der Kultur eine Kraft, die es dem Individuum ermöglichte, sich in Freiheit zu ver­ wirklichen. Diesen Standpunkt geltend zu machen, war in einer ideologisch gespaltenen Welt kein leichtes Unterfangen. Auch nachdem der Historiker als Mitglied der Nationalen UNESCO-Kommission zurückgetreten war, setzte er sich für die Freiheit des Geistes ein. So noch in einem Brief an Bundesrat Kurt Furgler vom März 1974, in dem er vehement für die ChileFlüchtlinge Partei ergriff, die vom Regime Pinochet vertrieben worden waren. Sehr ähnlich sah Jean Rudolf von Salis seine Aufgabe, als er zwischen 1952 und 1964 Präsident der Pro Helvetia war. Die nationale Kulturstiftung war im Oktober 1939 gegründet worden mit dem Auftrag, sich in bedrohter Zeit der Kulturwahrung und Kulturwerbung zu widmen. Damit stellte sie sich in die Reihe von Institutionen, die man dem weiten und vielschichtigen Begriff der geistigen Landesverteidigung zuordnen kann. Als Präsident der Pro Helvetia vertrat von Salis zwei Hauptanliegen. Es ging ihm darum, die Unabhängigkeit dieser Institution als einer öffentlich-rechtlichen Stiftung gegenüber der Regierung und der staatlichen Administration sicherzustellen. Ferner war er bemüht, das schweizerische Kulturschaffen nach dem Krieg mit anderen Ländern in einen internationalen Dialog treten zu lassen. Das ursprüngliche Konzept der geistigen Landesverteidigung hatte, davon war von Salis überzeugt, in der weltpolitischen Konstellation des Kalten

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Krieges seine Bedeutung verloren. Nun galt es, den kulturellen Austausch ohne ideologische Scheuklappen zu pflegen. Dadurch hoffte der Präsident der Pro Helvetia zur Entschärfung des Ost-West-Konflikts beitragen zu können. In einem Brief an Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen vom März 1964 findet diese Haltung ihren beredten Ausdruck. Eine wichtige Rolle spielte Jean Rudolf von Salis auch bei den Veranstaltungen des Philipp-Albert-Stapferhauses auf Schloss Lenzburg, dessen Hauskommission er in den Jahren 1959 bis 1982 angehörte. Hier fanden sich Akademiker und Politiker, Journalisten und Studierende aus der deutschen und der welschen Schweiz zusammen, um über aktuelle Fragen zu diskutieren. Im Mai 1961, im Jahr des Berliner Mauerbaus, kam es hier zur denkwürdigen Tagung, in der Jean Rudolf von Salis für den kulturellen Dialog auch mit den Ländern des Ostblocks plädierte und damit auf den scharfen Widerstand der «Kalten Krieger» stiess. In einem Brief an den Präsidenten der Hauskommission hat sich der Reflex dieser Diskussion niedergeschlagen. Mit Historikerkollegen stand Jean Rudolf von Salis selten in brief­ licher Verbindung : Die Schreiben an Carl J. Burckhardt, Edgar Bonjour und an einen Vertreter der jüngeren Generation, den Lausanner Professor Hans Ulrich Jost, bilden hier die Ausnahme. Die Beziehungen zu Schriftstellern sind dagegen besser dokumentiert. Drei Autoren zog der Histori­ker in seine unmittelbare Nähe : Manuel Gasser, Dieter Bachmann und Hermann Burger bewohnten das Pächterhaus auf der Brunegg. Von Salis verehrte ­Thomas Mann, verkehrte in dessen Haus in Kilchberg und wurde zum Präsidenten der Aufsichtskommission des Thomas-Mann-Archivs der ETH gewählt. In seiner Korrespondenz kommt er immer wieder auf seine «Vater­figur» Thomas Mann zu sprechen. Der Historiker stand auch in freundschaft­licher Beziehung zu Friedrich Dürrenmatt und bemühte sich um eine solche zu Max Frisch – die hier vorgelegten Briefe geben Einblick in diesen Austausch. Auch mit Schweizer Schriftstellern der jüngeren Generation wie Hugo Loetscher, Adolf Muschg, Hugo Marti, Otto F. Walter oder Peter Bichsel pflegte Jean Rudolf von Salis einen regen Briefwechsel, den unsere Auswahl in einigen Briefen zu dokumentieren versucht. In den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als sein Kollege Karl Schmid von der ETH mit der Essay-Sammlung Unbehagen im Kleinstaat Aufsehen erregte und Paul Nizon seine kunst- und gesellschaftskritischen Essays unter dem Titel Diskurs in der Enge erscheinen liess, fühlte sich Jean Rudolf von Salis mit ihnen solidarisch. Als 1968 Studenten in Paris und ­Zürich den Aufstand probten, neigte von Salis zu verständnisvoller Nachsicht. Er setzte sich für einen französischen ETH-Studenten ein, dem

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die Ausweisung drohte, und er erkundigte sich beim Schweizer Botschafter in Paris nach dem Los der Schweizer Studierenden in der Pariser Cité universitaire. Jean Rudolf von Salis war ein grosser Briefschreiber und blieb bis ins hohe Alter vielseitig ansprechbar und geistig wach. Er formulierte, ohne literarische Ambitionen zu verfolgen, sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache gewandt und verständlich. Die meisten Briefe, die er erhielt, beantwortete er sofort, mit der Schreibmaschine oder in seiner schönen schwungvollen Handschrift. Es machte ihm offensichtlich Vergnügen, mit seinen Mitmenschen diese Art des Dialogs zu pflegen, und viele seiner Briefe wirken wie die Fortsetzung eines angeregten Gesprächs. Zugleich diente diese Korrespondenz auch der Selbstvergewisserung : Indem er auf seinen Gesprächspartner einging, gewann die eigene Haltung ein schärferes Profil. Seine Position als Hochschullehrer und politischer Publizist brachte es mit sich, dass er vor allem mit prominenten Persönlichkeiten in Verbindung stand – Prominenz im staatsbürgerlich-geistigen Sinne verstanden und nicht als das, was die Boulevardpresse heute darunter versteht. Aber von Salis wandte sich auch, wie einige Briefe in dieser Auswahl zeigen, an «einfache Leute» und ging nicht weniger gewissenhaft auf ihre Anliegen ein. Er rechnete kaum damit, dass seine Briefe je veröffentlicht würden; aber er war nicht frei von Eitelkeit oder, anders formuliert, vom Bewusstsein seiner eigenen Bedeutung, und wir könnten uns vorstellen, dass er die hier vorliegende Auswahl wohlgefällig aufnehmen würde. Im Jahre 1991 übergab Jean Rudolf von Salis, 90 Jahre alt, seine Korrespondenz wohlgeordnet dem Schweizerischen Literaturarchiv in Bern. Natürlich handelt es sich dabei nicht um eine auch nur annähernd vollständige Briefsammlung. Briefe, die sehr privater oder rein geschäftlicher Natur waren, schied von Salis offensichtlich aus. Auch befindet sich noch ein grosser Teil der Korrespondenz, von dem sich der Verfasser keine Kopie anfertigte, in den Händen der Korrespondenzpartner. In einigen Fällen war es uns möglich, auch solche Briefe in unsere Auswahl einzubeziehen. Der Brief hat in der Menschheitsgeschichte eine lange Tradition. Er gehört zu den wichtigsten Quellendokumenten, mit denen der Historiker arbeitet. Jahrtausende liegen zurück seit der Zeit, da emsige Schreiber auf Tontafeln und Papyrusrollen am Euphrat und am Nil ihre Geschäfte und Herzensangelegenheiten brieflich abwickelten. Im Zeitalter der europäischen Aufklärung, dem sich von Salis besonders nahe verwandt fühlte, stand der Brief in hoher Wertschätzung. Das 19. Jahrhundert pflegte diese Tradition weiter, und die Korrespondenzen Bismarcks, Theodor Fontanes

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oder Jacob Burckhardts gehören zu den wichtigen Zeugnissen ihrer Zeit. Mit dem Aufkommen von Schreibmaschine und Telefon mehrten sich die Stimmen, die das Ende der brieflichen Kommunikation voraussagten. Der Schriftsteller Stefan Zweig sah in der Schreibmaschine und im Telefon «zwei Vernichter» der Briefkultur, und Jean Rudolf von Salis pflegte sich, wenn er zur Schreibmaschine griff, noch beim Adressaten zu entschuldigen. Heute, im Zeitalter der elektronischen Kommunikation, erscheint die Briefkultur gefährdeter denn je. Niemand kann sagen, ob es in Zukunft noch möglich sein wird, Leben und Schaffen eines aussergewöhnlichen Menschen durch seine Korrespondenz so zu dokumentieren, wie dies bei Jean Rudolf von Salis noch möglich ist. Urs Bitterli und Irene Riesen

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50. Jahrestag des Kriegsausbruchs feiern, ist für manche, besonders im ­Ausland, der Unterschied zwischen schweizerischer Mobilisation und Kriegsausbruch nicht recht sichtbar. Schliesslich haben zum gleichen Zeitpunkt auch Polen, Deutschland, Frankreich und England mobilisiert, und man hat nicht gehört, dass in diesen Ländern die Regierung und die Armee den 50. Jahrestag ihrer Mobilisation (und eben des Kriegsausbruchs) feiern. Selbstverständlich ist alles zutreffend, was Sie vom Ungemach sagen, das mit dem Aktivdienst verbunden war (Schwierigkeiten und Gefahren kannte ich auch, aber es ist nicht der Rede wert). Nur im Zusammenhang mit der Weltkriegskatastrophe steht eben die Schweiz bevorzugt und verschont da. Wir sind jetzt eine alte Generation; die, die nach uns kamen – bis 45jährige – haben Mühe, Anliegen wie die Mobilisationsfeiern zu verstehen. Die Mentalität hat sich eben geändert. Mit freundlichen Grüssen J. R. v. Salis 163

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An Kaspar Villiger

3. Mai 1990

Sehr geehrter Herr Bundesrat, Zu der Angelegenheit Kohlschütter mache ich folgende Aussage : Wir weilten wie gewohnt vom Januar bis gegen Ende März in Ascona. Seit Jahren pflegen wir freundschaftliche Beziehungen zum Ehepaar Kohlschütter, das in Ronco wohnt. Wir forderten Herrn Kohlschütter auf, uns wieder einmal zu besuchen. Die vorzüglichen Reportagen dieses Journalisten über den Nahen Osten, Afrika usw. in der Hamburger ZEIT und in der Weltwoche sind wegen ihrer Zuverlässigkeit und Sachkenntnis allgemein bekannt. Nach privaten und politischen Gesprächsthemen erzählte uns Herr Kohlschütter, er sei vor einiger Zeit von einem ihm vorgesetzten Oberstleutnant zu einem guten Abendessen in ein Restaurant nach Murten eingeladen worden, wobei ihm dieser Offizier einen überraschenden Auftrag erteilen wollte. Da er, Kohlschütter, sich in journalistischen und anderen Kreisen auskenne, möge er versuchen, Journalisten der «Journalisten-Union» und Leute aus der Friedensbewegung zu observieren und auszuhorchen. Für seine Berichte werde er eine Vergütung in bar erhalten. Selbstverständlich habe er diesen gegen Anstand und Ethik verstossenden Vorschlag abgelehnt. Herr Kohlschütter fügte hinzu, er sei sich noch nicht mit sich einig, ob er in der bevorstehenden «Rundschau»-Sendung des Fernsehens über diesen Vorfall berichten solle. Diese Sache schien unseren Besucher sehr

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zu beschäftigen. Sie war offensichtlich für einen Offizier und ehrlichen Journalisten eine Gewissensfrage. Es sei ihm klar, dass ihm eine solche Veröffentlichung Unannehmlichkeiten bereiten würde. Kohlschütter bat mich nicht um meinen Rat, und ich erteilte ihm keinen. Er musste diese Sache mit sich selbst ausmachen. Dazu folgende Bemerkung. Die Wahrhaftigkeit von Kohlschütters Aussage stand für mich und meine Frau ausser Frage. Zu Misstrauen gegenüber diesem ehrlichen Mann bestand kein Anlass. Meine eigenen Beobachtungen über die Methoden unseres militärischen Nachrichtendienstes, vor dem ich mich bei meiner Informationstätigkeit zu hüten pflegte, standen noch deutlich in meinem Gedächtnis. Ich wunderte mich kaum über das skandalöse Ansinnen eines Stabsoffiziers gegenüber einem rangniedrigeren Milizoffizier und Journalisten. Ich kannte die geradezu klassischen Fälle von Offizieren, denen von einem Vorgesetzten ein verwerflicher Befehl erteilt oder Vorschlag gemacht wird. (Der «Befehlsnotstand» ist aus dem Krieg bekannt.) Herr Kohlschütter hat ein paar Tage nach unserem Gespräch bei und in Ascona diese Angelegenheit in völliger Uebereinstimmung mit der Version, die er uns vorgetragen hatte, in der «Rundschau»-Sendung des schweizerischen Fernsehens bekannt gemacht. Ich kenne mich mit Nachrichtendiensten genügend aus, um zu verstehen, dass der betreffende Oberstleutnant sein Vorgehen gegenüber Herrn Kohlschütter abstreitet. In solchen Fällen müssen Nachrichtenleute auch gegenüber einem Untersuchungsorgan lügen. Das gehört zum Metier. Die Wahrhaftigkeit und Ehrenhaftigkeit von Andreas Kohlschütter wird davon nicht tangiert. Dass ihm seine Aussage am Fernsehen Unannehmlichkeiten bereiten würde, war vorauszusehen. Mit vorzüglicher Hochachtung sig. J. R. v. Salis Herrn Kaspar Villiger Vorsteher des Eidg. Militärdepartementes, Bern Durchschlag an Herrn Erich Gysling Chefredaktor am Schweiz. Fernsehen, Zürich

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An Max Frisch

Brunegg, Sonntag 13.5.1990

Lieber Max Frisch, Sie haben mir Ihr Buch in bewährter Treue mit einer freundlichen Widmung zugeeignet. Ich konnte bei der Lektüre rekapitulieren, was uns in paralleler Zeitgenossenschaft verband und sich heute bestätigt. Den Dank möchte ich einmal nicht auf das Thematische, sondern auf das Persönliche bezogen wissen. Dass unsere sehr alte und freundschaftliche Beziehung solid und klaglos geblieben ist, hat Gründe : Sie brauchen nicht immer in Uebereinstimmung im Gebrauch der Begriffe und Worte zu bestehen. Auf meiner Seite erkenne ich, dass ich nicht nur Ihr literarisches Werk, das ich bewundere, sondern auch Ihre politische Publizistik mit einer Art von selbstverständlicher Arglosigkeit aufgenommen habe. Niemals wäre es mir in den Sinn gekommen, Ihnen einen Vorwurf zu machen, oder, wie an einer Stelle des Buches von einem andern Zeitgenossen angedeutet, Ihre Kritik oder Opposition einem psychopathischen Zustande zuzuschreiben. Sonst müsste ich diesen Zustand ja auch bei mir suchen, zumal ich, mit anderem Temperament und verschiedenen Formulierungen, auf ähnliche bedenkliche Erscheinungen in unserem Lande hingewiesen habe. Um ganz klar zu sein : In Ihrer Solothurner Rede haben Sie die Dinge ganz und klar auf den Punkt gebracht, nichts ausgelassen, nichts verwedelt (was Sie ohnehin nicht könnten) – so dass ich jeden Satz und das Ganze dieser Rede mitunterschreiben könnte. Eine andere Erklärung für unsere intellektuelle Nachbarschaft ist ganz einfach : ich stand seit früher Jugend und stehe in der Tradition der Aufklärung. Und weil Sie eigentlich, auch in Ihren polemischen Sätzen, nichts anderes verteidigt haben, als eine, übrigens recht puritanische, Ethik der Aufklärung, mit der Sie’s ernst und streng meinen, konnte ich Ihnen nie gram sein. Und Ihnen sehr oft in der Sache recht geben. Der Begriff der Utopie, der etwas mit Glaube, Liebe, Hoffnung zu tun hat, gab mir mehr zu schaffen als Ihnen. Ich erblicke darin wohl so etwas wie «Denkanstösse», aber auch die Möglichkeit von Missentwicklungen : diese können tatsächlich zur Guillotine, zum «real existierenden» Sozialismus und Kapitalismus führen (in letzter Konsequenz waren der Wirtschafts­ liberalismus im Geiste des 18. und der Sozialismus im Geiste des 19. Jahrhunderts ursprünglich idealistische Utopien). Hier, vielleicht, wäre der Ansatz zu einer Diskussion zwischen uns. Nach seiner Erfahrung mit dem Staatsdienst sagte Gottfried Keller : «Der Schweizer ist ein Mann der Praxis und nicht der Theorie.» Zweifellos

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gibt es Staatsvölker mit einer «Idee» : Amerikaner, Franzosen – bei den Deutschen wird die Idee allemal zu einer Lebensgefahr! Ich hänge an bestimmten Heimaten hierzulande, die nach meinem Sinn völlig unabhängig sind vom Staatswesen selbst. Wie Sie, lieber Freund, erkenne ich schwerlich oder nicht eine Idee in dieser seltsamen Staatlichkeit. In herzlicher Gesinnung Ihr J. R. v. Salis 165

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An Helmut Kohl

Zürich, 16. Dezember 1990

Sehr verehrter Herr Bundeskanzler, als der Postbote mir unter der Wohnungstür einen Expressbrief des deutschen Bundeskanzlers aushändigte, habe ich mich allerdings sehr gewundert. Es ist für mich eine grosse Ehre, dass Sie sich nicht nur Zeit nahmen, inmitten Ihrer enormen Beanspruchung meine «Grenzüberschreitungen» zu lesen, sondern dies zum Anlass nahmen, mir Glückwünsche zu meinem Geburtstag zu senden. Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihr Interesse an meinem Lebensbericht und für Ihren freundlichen Glückwunsch. Ich bin durch Familientradition und durch meinen Lebenslauf gewissermassen ein «natürlicher» Europäer, noch ausserhalb aller Bemühungen, Europa wirtschaftliche und politische Strukturen zu geben. Sie sind an diesem Werk massgebend beteiligt, was ich natürlich von ferne mit grossem Interesse verfolge. Ihre gütigen Wünsche zum Weihnachtsfest und zum kommenden Jahr, für mich und meine Familie, erwidere ich herzlich für Sie und Ihre Familie. Dem Ihrer Leitung anvertrauten Deutschland wünsche ich eine gedeihliche, friedliche Zukunft. Empfangen Sie, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, meine freund­ lichen Grüsse Ihr ergebener J. R. v. Salis 166

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An Marcel Reich-Ranicki

Brunegg, 23. Juni 1991

Sehr geehrter Herr Reich-Ranicki, Ihr Buch über Thomas Mann und die Seinen habe ich erst jetzt, intensiv und zustimmend, gelesen. Im Rückblick auf meine Beschäftigung mit Thomas

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Manns Werk, das mir in meinem Leben Entscheidendes bot, und auf meine persönlichen Beziehungen zu ihm und zu seiner Familie, hat mir Ihr Buch neue Einsichten gewährt. Ihre Bemühung um analytische Kritik an den Personen und ihren Werken, die der Bedeutung von Thomas Mann keinen Abbruch tut, auch seinem Bruder Heinrich und seinen Kindern zweifellos gerecht wird, machte auf mich einen nachhaltigen Eindruck. Ich bin selber kein Literaturkritiker – eher Essayist und Kommentator. Das «Höfische» von Peter de Mendelssohn lag mir während meiner langen Beziehung zu Thomas Mann und den Seinen freilich fern. Aber man musste vorsichtig und nachsichtig sein im Umgang mit ihnen. Denn man fühlte ständig die «musische Empfindlichkeit», von der T.M. in seiner Tischrede an Eduard Korrodis 50. Geburtstag in Zürich sprach. Merkwürdigerweise empfand ich im Verkehr mit Thomas Mann immer so etwas wie Mitleid. Er war, ich spürte es immer, ein Leidender, leidend an sich selbst, an der Familie, an den Leistungen anderer, an der Welt Lauf. Seine fast undurchdringliche Zurückhaltung, die sich auch darin äusserte, dass er nicht zur Konversation begabt war (wie ich sie in meinen Pariser Jahren so selbstverständlich im Verkehr mit Gelehrten und Intellektuellen praktiziert hatte), liess mich manchmal versuchen, diesen steifen und schwer zugänglichen Hanseaten herauszulocken. Ich erinnere mich, dass wir einmal abends über unsere Väter sprachen, den seinen und den meinen; beide waren patrizische und ehrenhafte Berufsmenschen, ihren Söhnen reserviert, aber keineswegs lieblos zugetan. Auf solchen Wegen kam man Thomas Mann näher. Zu meiner Ueberraschung schrieb er mir zu meinem Buch «Rilkes Schweizer Jahre» zustimmende, Rilkes Wesen rühmende Zeilen (1936) : Ich war neugierig, ob er in seinem Tagebuch über diesen Gegenstand nicht anderes, weniger wohlwollendes gesagt habe. Nein, seine Tagebuch-Eintragung ist fast wörtlich identisch mit seinem Brief, er hat diesen von seinem Tagebuch abgeschrieben, oder umgekehrt dieses für den Brief verwendet. In einem Gespräch erinnerte ich ihn damals, ich hätte (1925) Rilke von meiner Lektüre des «Zauberbergs» erzählt, den dieser noch nicht gelesen hatte. «Da haben Sie ihm gesagt, es sei nichts Rechtes», meinte T.M. Verblüfft erwiderte ich, ich würde ihm diese Geschichte doch nicht erzählen, wenn ich ihm etwas derartiges gesagt hätte. Nach seiner Hauptmann-Rede in Frankfurt drangen wir ein wenig indiskret in ihn, um zu erfahren, wie aufrichtig sie gemeint gewesen sei. Er meinte, zur Kultur gehöre es auch, dass man nicht immer der Wahrheit verpflichtet rede (übrigens steht in dieser Rede eine anerkennende Erwähnung von Rilkes Lyrik). Ich habe von Hauptmanns persönlicher Ausstrahlung (an seinem 60. Geburtstag in Ber-

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lin) noch eine deutliche Erinnerung, sein Pseudoportrait im «Zauberberg» erschien später. Wir waren uns in unserem Zürcher Kreis einig, dass das «Kartell» der grossen Schriftsteller und Dichter seiner Zeit (Sie zählen sie in Ihrem Buch in diesem Zusammenhang auf) Thomas Manns «Persönlichkeit» und Werke nicht zu den Seinen zählte, und dass er daran litt, noch ehe es Hans Mayer in seinem Buch sagte. Daher denn auch dieses unerschöpfliche, fast peinliche Bedürfnis nach Bestätigung. Es tat ihm wohl (es war in Kilchberg an seinem 79 Geburtstag), als meine Frau seine Erzählung «Die Betrogene» gesprächsweise guthiess und billigte; er schrieb in dieses Büchlein eine Widmung für «die liebe Frau, die tapfer und frei genug ist, diese angefochtene Geschichte gutzuheissen». Ein Beispiel mehr, dass noch im höchsten Alter die Kritik an der «Betrogenen» ihm Kummer bereitete. Er war übrigens fähig zu Mitleid. An einem Abend bei uns hatte ich das Pech, dass bei der Aufhebung der Tafel mein Schultergelenk auskugelte, was einen abscheulichen Schmerz verursacht. Alle Gäste verliessen das Zimmer, Thomas Mann blieb allein bei mir zurück, setzte sich neben mich und richtete mit ruhiger Stimme teilnehmende Worte an mich – worauf plötzlich mein Schultergelenk wieder einklickte. Als wir dann zusammen, wie wenn nichts geschehen wäre, zu der Gesellschaft in meiner Bibliothek traten, glaubten alle, der grosse Mann habe «gezaubert»! Das sind Anekdoten. Ich habe in meinen Schriften oft charakteristische Anekdoten verwendet, wenn sie anschaulich einen Sachverhalt aufklären können. Meine «Notizen eines Müssiggängers» (in die ich in Hermann Burgers Gegenwart an der Buchmesse eine Widmung für Sie einschrieb) habe ich in Tagebuchform geschrieben; sie gewährt einem die Freiheit, Autobiographisches, Anekdotisches, Historisches und Gedachtes locker aneinanderzureihen; die «Notizen» stehen unter der dreifachen Schutzherrschaft von Montaigne, Benjamin Constant und Jacob Burckhardt. Schliesslich bin ich Historiker, homo politicus und Leser von guten Büchern. Was ich in meinem langen Leben rezipiert habe, versuchte ich in jenem Buch zu berichten und zu kommentieren. Das ist weniger wichtig, als dass es Hermann Burger war, der mich damals in Frankfurt mit Ihnen bekannt machte. Sie verstehen zweifellos, dass in Brunegg die Nachbarschaft Hermann Burgers und die vielen Gespräche mit ihm voller Probleme waren. Ich erlebte mit ihm seinen Leidensweg, er hatte das Bedürfnis, sich ausführlich mit mir über seine Depressionen und seine Selbstmordpläne auszusprechen. Ich wusste sehr wohl, dass in seinem Fall kein gutgemeinter «Zuspruch» nütze war, aber ich ging auf ihn ein, versuchte, seine Klagen und Anklagen mit ihm durchzusprechen – in der verschwiegenen Annahme,

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dass ich seinen unwiderstehlichen Drang zur Selbstvernichtung nicht aufhalten konnte. Ich habe seine «Künstliche Mutter» (auch «Schilten») bewundert und mich für ihn gefreut, dass gerade Sie ihm grosse Anerkennung widerfahren liessen. Dass auch in seinem Fall schwierige Charakteranlagen und seine Weigerung, kritische Einsicht in sich selbst zu versuchen, zu Vorbehalten an seinem Menschenbild Anlass geben könnten, versteht sich von selbst. In Burgers Fall könnte ich infolge der engen Beziehungen zu ihm und seiner Familie, auch wegen der Probleme, die er mit Freunden, Kollegen und Angehörigen hatte – meist selbstgeschaffene Probleme, wobei er anderen daran Schuld gab –, keinen aufrichtigen Essay über ihn schreiben. Auch in diesem Fall gebietet Kultur, nicht die volle Wahrheit zu sagen. Es war in seinen beiden letzten Jahren unendlich traurig, mir bleibt neben der Bewunderung für sein Werk das tiefe Mitleid mit dem Menschen. Aus diesen Gründen möchte ich nichts über ihn publizieren. Natürlich war ich mir auch bewusst, dass sein Verhältnis zu mir wohl freundschaftlich, aber auch ambivalent war. Er habe mich zwar, sagen seine Freunde, «verehrt», aber ich fühlte auch seinen Neid. Ich begriff sehr wohl, dass da in seiner engsten Nachbarschaft ein alter Mann sass, noch gesund und leistungsfähig, der manche Lebensprobleme bereits hinter sich gebracht hatte, und er selbst rang verzweifelt mit ungelösten, sogar unlösbaren Lebensproblemen. Ich glaube, dass ich für diese Situation Verständnis aufbrachte : ich liess mich nicht aus der Fassung bringen, und er, der schwer leidende, ehrgeizige, von seiner Bedeutung als Schriftsteller überzeugte junge Mann, litt unter seinen Berufs- und Familienverhältnissen und an seinen Depressionen. Wir weilten fern, als Hermann Burger starb. Er wurde gemäss seinem Wunsch in unserem Dorffriedhof bestattet. Ihr Buch hat mich zu diesem langen Brief verführt. Mit herzlichen Grüssen Ihr J. R. v. Salis 167

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An Ingeborg Schnack

Brunegg, 22. Juli 1991

Liebe Freundin, Endlich setze ich mich zum Gespräch wieder an den Schreibtisch. Obgleich ich nicht weiss, welcher Tod Ihnen Kummer bereitet hat, fühle ich mit Ihnen. Ich selber komme mir wie ein einsamer Soldat vor, der immer noch weiter vorrückt, nachdem er seine meisten Kameraden tot hinter sich liess. Merkwürdig ist bei alten Leuten (und also bei mir) nur, dass man sich’s nicht nehmen lässt, das Leben interessant zu finden. Gräber, so viele es

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Liste der Adressaten (mit Briefnummern)

Adenauer, Konrad  93 Aerne, Eduard  41 Albertini, Rudolf von  108 Aman, Elisabeth  43 Bachmann, Dieter  138, 151, 158, 159 Balzli, Ernst  56 Bärtschi, Ernst  20 Bechtler, Hans C.  91 Bichsel, Peter  106 Bismarck, Otto Christian  45 Böhler, Eugen  113 Bonjour, Edgar  152 Brentano, Bernard von  10 Bretscher, Willy  58 Burckhardt, Carl J.  82, 112 Burger, Hermann  135, 137, 153 Churchill, Winston  62 Däniker, Gustav  145 Ducrey, Lily  34 Düggelin, Werner  103 Dürrenmatt, Friedrich  130, 149 Dupont, Pierre  104 Duttweiler, Gottlieb  26 Eidgenössische Fremdenpolizei  12 Ernst, Alfred  102 Ernst, Hans-Ulrich  150 Etter, Philipp  64, 71 Fackler, Franz X.  35 Figl, Leopold  57 Fischer, Fritz  85 Frisch, Max  68, 89, 111,   127, 147, 164 Furgler, Kurt  122

Gasser, Manuel  101 Gaulle, Charles de  107 Gebser, Jean  37, 110 Gygi, Hans  115 Haas, Leonhard  78 Halder, Nold  53 Halter, Ernst  116 Hansen, Ludwig E.  35 Häusermann, Hans W.  31 Heilmann, Hilde  79 Herre, Paul  55 Hochhuth, Rolf  98 Hochwälder, Fritz  30, 96 Huber, Hans A.  75, 76 Huber, Max  24 Humm, Rudolf Jakob  14 Job, Jakob  61 Jost, Hans Ulrich  143, 168, 169 Jouve, Pierre Jean  67, 70 Kaegi, Werner  74 Kiesinger, Kurt Georg  88 Kobelt, Karl  86 Kohl, Helmut  165 Krönert, Emil  148 Kühner, Claudia  141 Lacher, Hans  69 Lasky, Melvin J.  49 Leutwiler, Fritz  146 Loetscher, Hugo  60, 63, 65 Luck, Rätus  155 Lüchinger, Adolf  33 Mann, Golo  38, 157 Mann, Thomas  59 Marti, Hugo  3, 6 Marti, Kurt  83 Masaryk, Jan  25

Meierhans, Paul  29 Meyer, Martin  139 Michels, Volker  160 Mieg, Peter  46, 109 Motta, Giuseppe  8 Muschg, Adolf  124, 131,   132, 133 Neumann, Robert  114 Novotny, Alexander  50 Obermüller, Klara  170, 171 Oehen, Ferdinand  92 Oeri, Albert  21, 22 Oprecht, Hans  47 Ormesson, Jean d’  144, 156 Padel, Gerd  128 Petitpierre, Max  27 Pomaret, Charles  105 Pourtalès, Guy de  11 Reich-Ranicki, Marcel  166 Reinhart, Werner  19 Riess, Curt  154 Rings, Werner  121 Ritschard, Willi  129 Rohn, Arthur  23, 28 Rosenbaum, Wladimir  72 Roth, Markus  80 Rothmund, Heinrich  17 Rüegger, Paul  51 Ruffieux, Roland  142 Sacher, Paul  120 Salis, Maria Pauline von (Mutter)  1, 4, 7, 9, 13, 18 Salis, Thomas von (Sohn)  84 Schlappner, Martin  73 Schlumpf, Leon  140 Schmidt, Helmut  134

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Schnack, Ingeborg 125, 161, 167 Schulenberg, Werner von der 32 Schumacher, Karl von 36 Schwarz, Urs 52, 81 Simon, Charles 16 Stalder, Hans 66 Steiger, Beatrix von 97 Steiner, Hugo 44

Stoll, Ernst 162 Stourzh, Gerald 117 Thalmann, Ernesto 119 Tschudi, Hans Peter 77 Valentin, Lucas Maria 100 Viatte, Auguste 99 Villiger, Kaspar 163 Volkmann, R端diger von 95 Wahlen, Traugott 90 Walter, Otto F. 118

Weber, Werner 87 Weber-Stehlin, Alfred 39 Weibel, P. 48 Widmer, Sigmund 123, 126 Wollenberger, Werner 94 Wotruba, Fritz 42 Wotruba, Marian 42, 54 Wunderly, Volkart, Nanny 2, 5, 40 Wysling, Hans 136

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