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Einleitung

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Dank

Dank

«Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.»2

Johann Wolfgang Goethe

Die richtige Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort

«Ich war 26 Jahre alt, als ich Ende April im kleinen Künstlerhaus an der Talstrasse … meinen Dienst antrat … An diesem Tag kam Herr Oberst Ulrich, Präsident der Zürcher Kunstgesellschaft mit dem Eisenhändler Kisling, Präsident der Ausstellungskommission. Sie zeigten mir den engen Arbeitsplatz im kleinen Arbeitsraum, begrüssten mich mit einem Handschlag und meinten, ich werde dann ja schon sehen, was es zu tun gebe. Dabei ist es geblieben, durch vierzig Jahre. Kein Arbeitsreglement! Kein Anstellungsvertrag! Ich hatte gewissermassen Zeit meines Lebens nichts Schriftliches in meiner Hand, nur den Handschlag jener beiden Herren am ersten Tag meines Erscheinens.»3 Im Frühling 1909 wählt die Zürcher Kunstgesellschaft einen neuen Sekretär und Konservator. Zu diesem Zeitpunkt ahnen wohl wenige, dass sich mit Wilhelm Wartmann die richtige Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort erweisen wird. Nach einem handfesten Skandal im Kunsthaus gilt es, die Wogen zu glätten und die Kunstgesellschaft wieder in ruhige Gewässer zu führen. Der promovierte junge Kunsthistoriker ist für diese Aufgabe prädestiniert. Aus der Ostschweizer Provinz stammend, verbringt er die Studienjahre von 1903 bis 1909 in der Kulturhauptstadt Paris und entdeckt die neuesten Strömungen zeitgenössischer Kunst.

Die Stadt Zürich öffnet sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts für Kunst und Kultur, es herrscht Aufbruchstimmung. Endlich wartet in Zürich ein repräsentativer Museumsbau auf eine adäquate Bespielung. Sie erweist sich als einmalige Chance: Wartmann ist überzeugt, den seinen Fähigkeiten entsprechenden Arbeitsplatz gefunden zu haben.

Der Erfolg seiner 40-jährigen Amtsdauer gibt ihm Recht. Ziel gerichtet verfolgt er die Öffnung der Zürcher Sammlung für ausländische Kunst und legt damit den Grundstein für die heutige internationale Bedeutung des Kunsthauses Zürich.

Das Haus

Wilhelm Wartmann tritt seine Stelle fast gleichzeitig mit der Eröffnung des neuen Kunsthauses an. Er schreibt die Geschichte des Hauses, sie schreibt sich mit ihm. Seine Ausstellungen widerspiegeln den zeitgenössischen Diskurs, spinnen jedoch die traditionellen Fäden weiter. Sein Haus entwickelt sich zum Brennpunkt widersprüchlicher Interessen und Erwartungen. Die Grenzüberschreitungen des kunsthistorischen, wissenschaftlichen, publizistischen und sozialen Engagements und ihre Einbettung in einen zeitgeschichtlichen Kontext bilden den Rahmen dieser Biografie. Sie ist eine Annäherung an die Führungsperson einer Institution und an eine komplexe menschliche Persönlichkeit. Wie sich das Zürcher Kunsthaus vergrössert und verändert, welche Fäden er spannt, wie er seine wissenschaftlichen Kenntnisse und charakterlichen Fähigkeiten einsetzt, um seine Ziele zu erreichen – diesen Fragen gilt die Spurensuche. Das umfangreiche Archiv des Kunsthauses entsteht unter seiner Ägide, es bildet neben dem Familiennachlass die Grundlage für das vorliegende Werk.

1940 sinniert Wartmann über die Bedeutung des Kunsthauses und über seine Dominanz gegenüber allen anderen Belangen seines Lebens. «Meine Tätigkeit im Kunsthaus ist kein Geschäft, sondern eine Aufgabe … Ich bin durch diese Aufgabe immer gebunden, kann meinen Privattag nicht einteilen wie ich will … Und diese Gebundenheit ist irgendwie … der Sinn des Lebens und die Rechtfertigung dafür, dass man da sein und sich schliesslich doch irgendwie des Lebens freuen kann.»4 Diese Briefstelle formuliert ein zentrales Selbstverständnis Wartmanns. Er ist mit Herz und Seele dem Kunsthaus verbunden, alles hat sich dieser Aufgabe unterzuordnen. Mit seinem Mercedes-Benz ist ihm kein Weg zu weit, um eine Ausstellung zu organisieren. Keine Nachtstunde hindert ihn am Schreiben eines Briefs, um ein Bild zu gewinnen. Sein grosses Beziehungsnetz verbindet ihn mit Künstlern, Museumsdirektoren, Kunstvermittlern, Sammlern und Kunstinteressierten. Der Kern des Lebens bildet das Kunstwerk. Fragen um die Schöpfung und Entstehung der Kunst bewegen sein Leben.

Das geschriebene und gesprochene Wort

Wilhelm Wartmann schreibt sein Leben lang. Der Historiker sammelt einen Grossteil seiner Schriften, sie bilden das Fundament des Kunsthaus-Archivs und des Familienbesitzes. Texte sind Quellen, die die Vergangenheit bewahren. Sein Vater, Herausgeber von Quellen zur Schweizergeschichte, mag ihm ein Vorbild gewesen sein. «Als ich beim Schuleintritt nach seinem Beruf gefragt wurde, sagte ich: ‹Mein Vater ist Schreiber.› Ich sah ihn wirklich von meinen Kindsbeinen an immer am Pult stehen und mit der Kielfeder auf kleine Zettel, dann wieder auf grosse Bogen schreiben.»5

Dieses Buch basiert mehrheitlich auf Originalzitaten Wartmanns, sie geben in der oft weitschweifenden, etwas umständlichen Formulierung und im Sprachgefüge viel von seiner Persönlichkeit preis. Die Schriftstücke in Handschrift waren nicht immer leicht zu lesen, seine Schrift wird mit den Jahren krakeliger und unleserlicher. Der Historiker Ernst Gagliardi, ein Jahrgänger, schreibt: «Ihre Karte aus Chantilly ist leider erst heute in meine Hände gelangt, da ich 14 Tage in Italien war. Um offen zu sein, habe ich sie nur annähernd entziffern können u. weiss deshalb nur ungefähr, worum es sich wohl handelte.»6

Die Zeitgeschichte

Wilhelm Wartmanns Biografie ist nicht zu trennen vom politischen Geschehen seiner Zeit. Zwei Weltkriege setzen Zäsuren in seinem persönlichen Leben und in der Entwicklung des Kunsthauses. Sie bedrängen und beengen das Leben. Obwohl die Schweiz vom Kriegsgeschehen verschont bleibt, steht sie unter Einfluss der politischen Lage Europas. Der Historiker Wartmann reagiert sensibel auf die sich verändernden Zeitumstände. Eine Aussage über den Berner Maler Niklaus Manuel Deutsch gilt auch für ihn: «Wer sich eingehender mit dem Künstler Niklaus Manuel Deutsch beschäftigt und ihn und sein Werk erfassen will, kann unmöglich der Vertrautheit mit der bewegten Geschichte seiner Heimat, Stadt und Staat Bern und der schweizerischen Eidgenossenschaft entraten, die für sein Denken und Schaffen nicht nur mehr oder weniger pittoresken Hintergrund bedeutet, sondern den Boden, auf dem er wird, besteht und vergeht.»7

Im Rückblick erscheint Wartmann seine Tätigkeit am Kunsthaus als eine nachvollziehbare Abfolge von selbstbestimmten, beeinflussten oder vorbestimmten Ereignissen. Seine Beharrlichkeit, die «constantia», bringt ihn den gesteckten Zielen und deren Entscheidungen nahe.

In der Dankesrede zu seiner Verabschiedung 1950 deutet er an: «Ich bin gelegentlich gefragt worden, was für ein Zufall mich eigentlich von Paris nach Zürich und an das Kunsthaus verschlagen habe. Ich glaube, eigentlich gibt es keinen Zufall, wenn man nicht die ganze Welt und das ganze Weltall, in seiner Unfassbarkeit und Unendlichkeit, die uns die Astronomen ja so genau vorrechnen, als Leistung eines Zufalls verstehen will. Auch die Klein-Erlebnisse und Gross-Schicksale der kleinen GerneGross-Einzelmenschen scheinen doch eher, wenn nicht vor-bestimmt, doch durch Erlebnisse, Leistungen und Schicksal ihrer Mitmenschen und ihrer selbst wenigstens vorbereitet.»8

Die Künstlerfreundschaften

Während der Studienjahre in Paris weitet sich Wilhelm Wartmanns Horizont. Henri Bergsons Vorlesungen über Schöpferische Entwicklung, Wilhelm Worringers Abstraktion und Einfühlung und Wassily Kandinskys Schriften eröffnen eine unbekannte Welt und bilden eine erkenntnistheoretische Grundlage. Sie offenbaren erhellende Einsichten in den künstlerischen Schaffensprozess. Für Wartmann sind sie ein Ausgangsmoment, das sich in konzentrischen Kreisen weiterentwickeln wird. Er wendet sich zunehmend von historisch-analytischen Wertungen ab und entdeckt die ästhetischen Fragestellungen der Zeit: Der schöpferische Prozess und der um Ausdruck ringende Künstler geraten in den Fokus seiner Interessen.

Die Freundschaften mit Ferdinand Hodler, Edvard Munch, später mit Oskar Kokoschka bilden Marksteine in seiner Biografie. Die persönliche Begegnung mit Künstlern, Atelierbesuche mit ausführlichen Gesprächen setzen neue Massstäbe der künstlerischen Entfaltung. In Empathie mit dem Künstler versucht Wartmann, Momente der Kreativität zu erhaschen. Preist nicht Henri Bergson die Intuition als eine Kraft, die das Kunstwerk hervorbringt? Diesem Ursprung des Schöpferischen ist Wartmann auf der Spur, sie ist sein Lebensansporn.9

Die Komposition

Der Forschungsarbeit liegt eine stringente Chronologie zugrunde, die den Prozesscharakter unterstreicht. Die einzelnen Abschnitte sind in sich geschlossene eigenständige Abhandlungen. Sie eröffnen ein Kaleidoskop von Geschichten und Einblicken in Wilhelm Wartmanns Wirken, von Höhepunkten seiner Tätigkeit. Der expressionistische Zeitgeist schwingt wie ein «cantus firmus» durch alle Kapitel.

Dieses Buch umkreist einen kulturellen Brennpunkt, ein wichtiger Aspekt ist der zweiseitige Blick. Die offiziellen Unterlagen sprechen die administrative Sprache des Kunsthauses, der Privatnachlass wirft einen Blick auf die Denkvorgänge, auf persönliche Vorstellungen und Gedanken hinter seiner Tätigkeit und seinen Entscheidungen.

Wartmann ist ein wacher Beobachter, er besitzt ein seismografisches Gespür für künstlerische Qualität. Der Erfolg gibt ihm recht: Welcher Kunsthaus-Direktor wurde schon von Edvard Munch porträtiert?

Der wissenschaftliche Kontext

Wilhelm Wartmann ist eine der zentralen Figuren des schweizerischen Kulturlebens der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Während Richard Kisling, 1909 bis 1917 Präsident der Ausstellungskommission des Kunsthauses Zürich, 2008 ein biografisches Denkmal erhält,10 steht eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Verdienste Wilhelm Wartmanns aus. Seine Bedeutung widerspiegelt sich bis anhin in Nekrologen,11 in einzelnen Essays über Künstler wie Edvard Munch,12 Oskar Kokoschka13 oder seiner Zeitgenossen. In jüngster Zeit widmet sich die Kunstgeschichte zunehmend der wissenschaftlichen Erforschung herausragender Kunstvermittler wie Museumsdirektoren, Sammler oder Galeristen, wie exemplarische Untersuchungen über Franz Meyer, Zürich,14 Arnold Rüdlinger, Basel,15 Alfred Lichtwark, Hamburg,16 Alfred Flechtheim, Berlin,17 Ludwig Justi und die Nationalgalerie, Berlin,18 und die jüngste Publikation über Julius Meier-Graefe, Paris,19 belegen.

Mit Recht gilt Wilhelm Wartmann als einer der bedeutendsten Museumsdirektoren der Schweiz. Die vorliegende kunstwissenschaftliche Biografie erweist ihm eine adäquate Würdigung.

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