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Jugend und Studium

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Einleitung

Einleitung

Jakob Wilhelm Wartmann, genannt Willi (Willy), wird am 20. Juli 1882 als jüngstes Kind von Hermann Wartmann und Louise geborene Hochreutiner in St. Gallen geboren und dort evangelisch-reformiert getauft. Sein Pate ist der bekannte Historiker Gerold Meyer von Knonau (1843–1931). Wilhelm erzählt in einem Schulaufsatz aus seiner frühen Kindheit: «Ich erblickte das Licht der Welt zuerst in einem Hause an der Langgasse. Als ich zwei Jahre alt war, zogen wir in die Wohnung, wo wir jetzt noch sind (Notkerstrasse 15). Da gefiel es uns sehr gut, denn vor und hinter unserm Hause war eine Wiese, wir waren ganz nahe beim Wohnorte unserer Grossmutter, die im alten Bürgli wohnte. Ihr Gut war damals aber viel grösser als jetzt. Die Realschule stand noch nicht, und der ganze Platz war eine Wiese mit Obstbäumen. Es war auch noch eine Scheune nebst einem grossen Hühnerhofe da. Es sah alles aus, wie auf einem Bauernhofe. Nachher baute man die Notkerstrasse mitten hindurch, und kurz darauf wurde mit dem Bau des neuen Bürgli begonnen.»20

Die Familie Wartmann

Die Familie Wartmann, deren Name ursprünglich «Mann auf der Wart, Wächter» bedeutet, ist seit 1577 in St. Gallen eingebürgert; sie gehört zu den alteingesessenen Familien der Stadt. Grossvater Jakob Wartmann (1803–1873), Sohn eines Buchbinders, studiert in St. Gallen Theologie, wendet sich dann der Lehrtätigkeit zu und unterrichtet an der Knabenrealschule Religion, Deutsche Sprache, Naturgeschichte, Geschichte und Geografie. Er begründet das St. Galler Naturalienkabinett, baut sich eine reichhaltige wissenschaftliche Bibliothek auf, verfasst naturgeschichtliche Lehrbücher und engagiert sich für die Errichtung einer sankt-gallischen Industrieschule. In späteren Jahren arbeitet er als Verwalter der städtischen Bibliothek und des Museums. Der Ehe mit Anna Nette Helena

Weibratha Wild (1802- 1877) entspriessen drei Söhne und eine Tochter: Friedrich Bernhard (1830–1902), Viktor Theodor (1832–1922), Jakob Hermann (1835–1929), Vater von Wilhelm, sowie Karoline (1841–1925).

Eine enge Beziehung pflegt die Familie Wartmann zu Luise Hochreutiner-Scherrer, der Grossmutter mütterlicherseits, die im alten, ab 1886 im neuen Bürgli, vor den Toren der Stadt residiert. In ihrem «Salon» empfängt sie regelmässig Gäste aus dem In- und Ausland. Wilhelm erinnert sich, «wie sie als Haus- und Gutsherrin im Eisenladen oder im alten Bürgli die Zügel kräftig in Händen hatte und sich unter Umständen persönlich mit den Iltisfallen zu schaffen machte».21

Der Vater von Wilhelm, Hermann Wartmann, geboren 1835 in St. Gallen, studiert an den philosophischen Fakultäten der Universitäten Zürich, Bonn und Göttingen, wo er mit der wissenschaftlichen Bewegung der systematischen Erschliessung mittelalterlicher Quellen in Kontakt tritt. Sie motiviert ihn für die Erforschung der St. Galler Geschichtsquellen, aus denen er vier Bände mit Urkunden der Abtei St. Gallen publiziert. Seine Lebensstelle findet er als Aktuar des St. Gallischen Kaufmännischen Directoriums, in der Publikation historischer und handelswissenschaftlicher Schriften für den St. Gallischen Historischen Verein und die Allgemeine geschichtsforschende Gesellschaft der Schweiz. Er pflegt ein weltoffenes Haus und steht mit den führenden Historikern seiner Zeit in reger Korrespondenz. 1909 wird ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Bern verliehen.

Mit seinem Bruder Friedrich Bernhard, Rektor der Kantonsschule und Direktor des Museums für Naturkundliche Sammlungen, entwickelt er sich zu einer Persönlichkeit des kulturellen Lebens der Stadt St. Gallen.

Helene Luise Hochreutiner, Wilhelms Mutter, stammt aus einer wohlhabenden st. gallischen Geschäftsfamilie. Ihr Vater betreibt eine Eisenwarenhandlung in der Marktgasse, ihre Mutter führt ein gesellschaftliches Haus.22 Wilhelm steht während der Studienjahre in Zürich und Paris in engem brieflichen Kontakt zu seiner Mutter bis zu ihrem frühen Tod 1905.

Stadt St. Gallen

Die Stadt St. Gallen ist in den 1880er-Jahren eine wirtschaftlich florierende Stadt. Den dominierenden Eckpfeiler bildet die Stickereiindustrie, von der Betriebe wie Spinnereien, Webereien, die Ausrüstungs- und Veredelungsindustrie in Abhängigkeit stehen. Die Kaufleute der Stadt zeigen besondere Fähigkeiten, auf Änderungen der Mode und der Marktlage – eine Voraussetzung für die Stickereiblüte – zu reagieren, wohl auch ein Verdienst des handelsorientierten Wirkens des Aktuars des Kaufmännischen Directoriums Hermann Wartmann.

Infolge des Wirtschaftsbooms verdoppelt sich in diesen Jahrzehnten die Bevölkerung der Stadt, St. Gallen wächst nach allen Seiten; die Villen am Rosenberg zeugen bis heute vom Reichtum der Stickereibarone. Auch die Kultur profitiert, 1857 entsteht ein neues Stadttheater am Bohl, 1877 wird unter massgebender Beteiligung von Hermann Wartmann ein Museum für Naturalien und Kunstgüter auf dem Brühl, in unmittelbarer Nähe des Wohnorts der Familie Wartmann, errichtet, 1909 wird eine Musik- Tonhalle gebaut.

In dieser wirtschaftlich prosperierenden Welt wächst Wilhelm Wartmann mit den drei älteren Geschwistern Stephanie Luise (geboren am 22. September 1866), August Hermann (geboren am 5. April 1870) und Anna Frida (geboren am 5. April 1875) auf. Wilhelms Vater ersteht 1884 an der Notkerstrasse 15, im neuen Museumsquartier, ein Gebäude mit drei Wohnungen. Mitte März 1885 bezieht die Familie die obersten zwei Etagen, im zweiten Stock wohnt ab Juli 1885 die Familie des Schwagers Debrunner, die unterste Wohnung wird fremdvermietet. J. Debrunner, von Paris nach St. Gallen zurückgekehrt, übernimmt das Eisenwarengeschäft Hochreutiner in der Marktgasse, in dem er seine Lehrzeit absolviert hat.

Wartmann wächst in einem grossbürgerlichen Haushalt auf. Die umfassende Bibliothek des Vaters lädt zum Lesen ein. Sie steht «den schweifenden Wünschen des Knaben als ebenso grenzenloser Weidegrund offen […], wie draussen das ostschweizerische Hügelland, die Ufer von Bodensee und Rhein und die Appenzeller Berge» mit ihren «geschichtlichen Quellenwerke[n]» und dem «betörenden Dichterwald […] aller indogermanischen Völker», erinnert sich Wartmann.23 Politische und wirtschaftliche Themen fördern das Gespräch, jahrelang hält sich die Tradition des Vorlesens historischer oder literarischer Werke wie einer Biografie über Alfred Escher oder der Neuerscheinung der Buddenbrooks von Thomas Mann. Die Mutter ist künstlerisch begabt, wovon einzelne erhaltene Zeichnungen Zeugnis ablegen. Hermann Wartmann hält die Tradition der Hausmusik hoch. «In die grosse bessere Stube der neuen Wohnung stiftete mir meine schenkungsfreudige Schwiegermutter ein Pianino zu meinem Stutzflügel, so dass wir nun nicht mehr bloss vierhändig, sondern achthändig spielen konnten, wozu in der engeren Familie die Kräfte reichlich zur Verfügung standen. Das war die Freude unserer Sonn- und Festtage, und mein Musikschrank war in seiner Art nicht weniger reich ausgestattet, als meine Bibliothek.»24 Das städtische Kulturleben gehört zur Bereicherung des Familienlebens.

Ausbildung

Wilhelms schulische Ausbildung beginnt im Frühjahr 1889 mit dem Eintritt in die Klasse 1d der Gemeindeschule der Stadt St. Gallen am Unteren Graben. Die erhaltenen Primarschulzeugnisse weisen ihn als «intelligenten, fleissigen und anständigen Schüler aus».25 Gemeinsame Wanderungen in die nähere und fernere Umgebung, in die Innerschweiz, nach Konstanz, an den Walensee verbinden Vater und Sohn; von seinem Onkel Bernhard mit einer Botanisierbüchse ausgerüstet lernt dieser die Schönheiten der Natur kennen. Jahrzehnte später wird er auf Familienwanderungen seine beiden kleinen Töchter für die Geheimnisse der Natur begeistern, wie sich seine Tochter Louise erinnert.26

1895 wechselt Wilhelm an das von Felix Wilhelm Kubly auf dem oberen Brühl 1855 erstellte Neurenaissance-Schulhaus, das Kantonale Gymnasium. Der Ostflügel beherbergt die Knabenrealschule, der Mittelbau das

Gymnasium und die Industrieschule, der Westflügel die naturwissenschaftliche Sammlung, im ersten Stock befindet sich die Stadtbibliothek. Der grosse Saal im zweiten Stock dient dem Kunstverein für Ausstellungen und ist zugleich Konzertsaal.27 Wilhelm wählt das von den beiden alten Sprachen Latein und Griechisch dominierte Gymnasium. Als Lektüre gelten Klassiker wie Vergil, Horaz, Cicero, Sallust, Livius, Homer, Herodot, Xenophon,Thukydides, Sophokles und Aischylos. Im Deutschunterricht bilden das Nibelungenlied sowie die Dramen von Lessing und Schiller ein Schwergewicht. Gerne erinnert er sich an den Französischunterricht, die französische Literatur ist ihm aus Vaters Bibliothek vertraut.

In der Familie Wartmann spielt Musik eine grosse Rolle, das Geigenspiel im schulischen Orchester gehört zu den Pflichten wie die Gesangslektionen.

Das Kadettenwesen steht in voller Blüte, die Schüler bilden eine militärisch organisierte Einheit. Die Stadt St. Gallen ist schweizweit für ihr Kadettencorps bekannt, die Teilnahme am Kadettenunterricht ist für die 13- bis 19-jährigen Studenten obligatorisch.28

Im Alter von 20 Jahren zieht Luise, die älteste Schwester von Wilhelm, mit Gottlieb Siegrist 1886 nach Paris, sie führen das von Onkel J. Debrunner übernommene Geschäft Dépôt d’Articles Anglais pour Reliure et Papeterie weiter. Die Familienbande sind ausgeprägt, im Sommer kommt Luise mit ihren Kindern Georges und Maurice für einige Wochen nach St. Gallen, im Gegenzug besuchen Frida und Willi die Familie Siegrist in Paris. Ein Brief von April 1900 berichtet über die Faszination der Grossstadt: «Du bist in Paris! Weisst du, was das heisst? In dem berühmten und berüchtigten Paris! In Lutetia, das von Cäsar belagert wurde, in den Mauern, welche die Normannen bestürmten, am Flusse, an welchem Abälard sass, in dem Paris der Bartholomäusnacht, in der Stadt des Roi Soleil, im Paris von 1789 und 1804, inmitten der Andenken an die Commune … Im Louvre habe ich bis jetzt einige Säle antike Statuen und Handzeichnungen alter Meister gründlich studiert, im Musée de la Marine und in den Sammlungen aus Altägypten war ich … Nach dem Nachtessen gehen wir noch auf die grossen Boulevards oder ins Theater …

In der Welt-Ausstellung war ich am Donnerstag vor 14 Tagen und fand erst drei kleine Gebäude fertig; am letzten Donnerstag ging ich wieder hin; da waren zwei davon wieder geschlossen, sonst sah man keine Veränderung.»29

Am 5. April 1902 finden die Maturaprüfungen ihren Abschluss. Wilhelm Wartmann erreicht die hervorragende Durchschnittsnote von 5,9, die Jahreszeugnisse dokumentieren seine überdurchschnittliche Intelligenz. Traditionsgemäss werden die Maturanden mit Gesang und einem Umzug um den Oberen Brühl gefeiert.

Studium in Zürich

Der Studienort Zürich steht für Wilhelm Wartmann fest, denn sein Vater ist mit der Zürcher Professorenschaft vertraut, eine enge Freundschaft verbindet ihn mit dem Geschichtsdozenten Gerold Meyer von Knonau. Am 19. April 1902 immatrikuliert er sich an der Zürcherischen Hochschule 30 und begegnet einigen seiner St. Galler Kollegen. Wartmann kommt in eine Stadt, die sich auf dem Weg zur Grossstadt befindet. 1893 sind elf Vororte eingemeindet worden, die die Verwaltung eines vollamtlichen Stadtrats und Stadtpräsidenten verlangen. Mit der Stadtvereinigung setzt ein grosser Zustrom der Bevölkerung nach Zürich ein, auf die Depression der 1980er-Jahre folgt eine Periode der Hochkonjunktur. Ein Bauboom setzt ein, Miethäuser werden hochgezogen, Firmen gegründet, eine elektrische Bahn fährt durch die Strassen. Zürich entwickelt sich zu einer Stadt des Handels, der Banken und der grossen Versicherungsgesellschaften. Um 1900 zählt sie 150 000, zehn Jahre später bereits 190 000 Einwohnerinnen und Einwohner.31

Der Student findet an der Gemeindestrasse 4 im Stadtkreis Hottingen ein Zimmer und freut sich, der Enge St. Gallens zu entfliehen. «Schon lange bin ich zur Einsicht gekommen, dass man die Heimat am besten in der Fremde kennen lernt, doch ist Zürich sehr schön; alles ist hier weiter, breiter und glänzender als in St. Gallen, den Rosenberg vertritt der Zürichberg … der ‹Rechberg› ist ein prächtiges steinernes Patrizierhaus aus der Rokokozeit, hier gab die Stadt Zürich jeweilen den Gesandten der fremden Mächte Quartier, jetzt ist ein Teil der Hochschulvorlesungen da hinein verlegt worden, statt der krummbeinigen Rokokostühle und -tische und der feinen Diplomaten findet man nun in den Gemächern eckige Schulbänke und Studenten.»32 Mit hoher Motivation nimmt er an den universitären Veranstaltungen teil. «Gestern, genau mit dem akademischen Viertel trat Herr Professor Meyer schneidig ans Katheder und be- gann vorzutragen. In der Vorlesung über neuere Geschichte bin ich bis jetzt ganz gut nach- und mitgekommen; es ist die Rede von den Zuständen in Italien, und ich habe ja seinerzeit Burckhardts ‹Kultur der Renaissance in Italien› studiert … Gestern war ich an der Seefeldstrasse, bei Dr. Brun, Prof. Hitzig-Steiner und vor den noch verschlossenen Türen der Prof. Blümner und Kägi. Was ich dort hörte, hat mich ein wenig beunruhigt. Ich hatte mir bis jetzt immer vorgestellt, ich könne von der Grundlage der bisherigen Gymnasialbildung im humanistischen Studium auf allen Linien zugleich, parallel, oder in immer weiteren konzentrischen Ringen vorrücken … Dr. Brun nun sagte im Gespräch ganz von sich aus, 25 Stunden seien entschieden das Äusserste und Prof. Hitzig stellte mir für das philologische Seminar ziemlich viel Arbeit in Aussicht. Wie ich nun zu Hause meine Stunden überzählte, waren es 34, und ich war der Überzeugung gewesen, ich habe mich auf das Unentbehrliche, nicht bloss auf das Nötigste beschränkt. So strich ich zuerst die 2 Stunden im deutschen Seminar (Otfried) und werde wohl das Althochdeutsche (Heliand) überhaupt ausschalten müssen, sehr ungern verzichte ich auch auf meine einzige philosophische Vorlesung: Über die Beziehungen zwischen religiöser und sittlicher Kultur (1 Stunde).»33 Worauf Wartmann nicht verzichten will, ist das Erlernen der Sprache Sanskrit bei Professor Adolf Kaegi34.

Der Kontakt zwischen Dozenten und Studenten an der Universität ist freundschaftlich, die Studenten besuchen die Professoren in ihren Privathäusern, der gegenseitige Austausch ist kollegial. «Gestern machte ich nach dem Abendessen eine Traubenblustfahrt. Von den Tischgenossen hatte keiner Verständnis für einen so wenig materiellen blossen Nasengenuss und für eine Wanderung nach Gegenden, ‹wo in Düften schwelgt die Nacht›, die Bierpressionen aber nicht gerade an jeder Ecke sprudeln; … Etwa um halb 10 Uhr erhob ich mich, stieg noch ein Stück bergauf und streckte mich schliesslich in der Nähe des Waldes unter einen Apfelbaum … hier beschäftigte ich mich damit, die verworrenen Geräusche der Sommernacht in ihre zusammenklingenden Untergeräusche zu zerlegen, bis das böse Summen der Mücken in nächster Nähe gar zu vorherrschend wurde.»35

Als «Nichtzürcher» beeindruckt ihn der Frühlingsbrauch des Sechseläutens im April 1902: «Am 20. am Sonntag, spazierte ich mit drei Herren von der Tischgesellschaft ins Sihltal … um halb 10 Uhr öffnete sich weit oben im grauen Helm des dicken Turmes von St. Peter eine Luke und eine schmale, tief gespaltene, blauweisse Flagge kam heraus; auf der andern Seite zeigte sich die eidgenössische rotweisse … Bald klatschten auch um die Türme von Frau- und Grossmünster die Festfahnen … Das Sechsiläuten war etwas anders als ich es mir vorgestellt hatte, nach dem Album. Wohl stand dort und überall auf den Plakaten als Motto für dieses Jahr ‹Vom hoh’n Olymp herab›; aber man täuschte sich, wenn man die griechische Götterversammlung zu Gesicht zu bekommen hoffte. Der festliche Umzug der Zünfte ist in moderner Zeit allmählich zu einem gewöhnlichen Verkleidungsfestzug mit ungewissem Charakter geworden und ist heutzutage halb Fasnachtszug, halb ein allgemein kulturhistorisches Schau- und Prunkstück.»36

Militärdienst

Im Juli 1902 rückt Wilhelm Wartmann für die Absolvierung der Infanterie-Rekrutenschule, 1. Zug der 3. Kompanie, in die Kaserne Aarau ein. «Unser Zug war für Freitag Abend auf die Wache kommandiert, da muss man 24 Stunden hinhalten und darf nichts ablegen als Gewehr, Tornister und Käppi; für den Postdienst sind drei Ablösungen bezeichnet, von denen jede 2 Stunden stehen muss, etwa 12 Mann sind beständig im Wachtlokal und stehen auf Piket, das heisst: sie müssen jeden Augenblick bereit sein, mit Gewehr auszutreten; in der Wachtstube ergeben sich dann malerische Bilder, ganz wie auf dem Theater; die Einen pflegen das Kartenspiel nach Soldatenart, andere starren ins Dunkle und kultivieren Heimweh u.s.w.; ich fasste den ganzen Betrieb so romantisch als möglich.»37 Unerwartet erkrankt Wartmann an einer Blinddarmentzündung, er wird in die kantonale Krankenanstalt Aarau eingeliefert, die Rekrutenschule muss abgebrochen werden.38

Wintersemester 1902/03

Die Vorlesungen von Professor Johann Rudolf Rahn, Pionier des schweizerischen Denkmalschutzes, vertiefen Wilhelm Wartmanns Interesse an Archäologie: «Am Samstagabend hielt Herr Prof. Rahn an Ort und Stelle, im niederen Loche selbst, einen Vortrag über die karolingische Krypta unter dem Chor der Fraumünsterkirche; diese Krypta sah man freilich dann am besten, wenn man die Augen schloss und auf die Worte des Redners hörte; gegen acht Uhr ging man nach dem Sitzungssaal der antiquarischen Gesellschaft in die Meise hinüber.» 39 Seine Begeisterung für Latein und Griechisch lebt er in den philologischen Studien aus: «Auf nächsten Dienstag habe ich zur Behandlung in den hist. Übungen etwa fünfzig Seiten einer lateinischen Mönchschronik zu studieren; ich freue mich darauf, und möchte den Geschichtsstudenten einmal zeigen, wie man einen lateinischen Text gewissenhaft und liebevoll behandelt.»40 Wartmann ist ein regelmässiger Gast in der Tonhalle, besucht Kunstausstellungen im Ausstellungsgebäude der Zürcher Kunstgesellschaft, im Künstlerhaus an der Talgasse, wie die Nachlassausstellung des Basler Landschaftsmalers Hans Sandreuter, den Nachlass von Arnold Böcklin oder Werke zeitgenössischer Berliner Künstler.41 Nach drei Semestern in Zürich wünscht sich der Student einen Universitätswechsel. Sein Vater, der sich auf Studien in Bonn und Göttingen beruft, schlägt eine deutsche Ausbildungsstätte vor. Wilhelm hegt andere Pläne; von der französischen Sprache und Kultur fasziniert, zieht es ihn an die Sorbonne in Paris. Hermann Wartmann sieht in diesem Wunsch eine Übergangslösung der Horizonterweiterung und lässt sich überzeugen.

Studium in Paris

Es wird Spätherbst, bis Wilhelm Wartmann endlich nach Paris aufbrechen kann, wie sich Hermann Wartmann erinnert: «Am 4. November (1903) reiste Willi nach Paris ab, um dort seine Studien fortzusetzen, nachdem er vorher noch seine im Vorjahr so unerfreulich unterbrochenen Militärcurse absolviert hatte.»42 Der junge St. Galler taucht in das Paris der Belle Époque ein. Das Bürgertum lebt finanziell abgesichert im Wohlstand und blickt mehrheitlich mit Optimismus in die Zukunft. Politisch ist Frankreich eine Demokratie, technisch ein Industrieland, kulturell bildet seine Hauptstadt das Zentrum Europas. Diese Prosperität widerspiegelte die Weltausstellung von 1900, die Wilhelm als Gymnasiast in ihrer Entstehungsphase beobachten konnte. Die Stadt wächst in atemberaubendem Tempo, ihre Struktur verändert sich rasant, moderne Verkehrsmittel wie die ersten Metrolinien erobern das architektonische Stadtgefüge. Das prosperierende Leben weist auch Schattenseiten auf, eine hohe Anzahl von Bauern, Land- und Industriearbeitern und Angestellten haben wenig Anteil am Wohlstand.43 Der Kunsthändler Wilhelm Uhde, beinahe zeitgleich wie Wartmann in Paris, notiert: «Paris war damals eine Stadt, in der man die höchsten Ansprüche stellen und auch befriedigen konnte … Nachts hingen die Laternen der Avenuen wie lange goldene Ketten in der dunkelblauen Luft. Bei Maxim’s stampften ungeduldig die Pferde vor den eleganten Wagen der grossen Halbwelt … Man wusste, wohin man zu gehen hatte, wenn man schöne Bilder sehen wollte. Durand-Ruel, Vollard, Bernheim Jeune waren in der Rue Laffitte, Paul Rosenberg und Hessel in der Avenue de l’Opéra, Druet im Faubourg St-Honoré. Dann gab es noch drei oder vier kleine Galerien. Das war alles. Die impressionistischen Maler waren herrschend; nach schweren materiellen Krisen, nach Jahren voll Schimpf und Hohn hatte Durand-Ruel sie durchgesetzt. In seinem Laden und in seiner Wohnung sahen wir ihren Triumph. Die Stadt war voll von ihrem Ruhme und ihre Bilder voll von der Schönheit der Stadt.»44

Wartmann schreibt sich an der 1896 während der dritten Französischen Republik unter Félix Fauré gegründeten Sorbonne, der Nouvelle Université de Paris, ein. Er belegt Vorlesungen und Seminare an der Section d’Histoire et de Philologie, an der Faculté des Lettres, sowie Kurse an der École Pratique des Hautes Études, einer Institution für fort- geschrittene Studien der Grandes Écoles. An dieser belegt er die Lektüre des Ramayana und die Vorlesung «Indische Kultur und Literaturgeschichte», muss später zu seinem Bedauern den in Zürich begonnenen Sanskritunterricht aus Zeitmangel aufgeben.

Die monumentalen Bauten der Grossstadt lassen die Menschen klein erscheinen: «Die lastenden Massen der öffentlichen Gebäude in der Cité und im Quartier Latin mit Säulen, Pilastern, Freitreppen und hohen Fenstern scheinen auf alles Ernst und Feierlichkeit zu legen. Die neue Sorbonne oder eigentlich nur das Gebäude für die Fakultäten lettres und science, ist auch ein so riesenhafter Bau von sehr massiver Architektur; als ich aber hinein kam, sah ich tatsächlich unter den vielen jungen und würdigen Gestalten keine ohne Zylinder, ganz hohen Kragen, schwarzem Gehrock oder Paletot u.s.w. Wenn die Alma Mater Parisiorum an ihre Jünger solche Ansprüche macht, so muss ja sie selbst die eleganteste Pariserin sein.»45 Am Anfang reichen seine Französischkenntnisse für eine geschliffene Konversation noch nicht aus, doch schon nach wenigen Monaten erschliesst sich Wartmann das akademische Spektrum: «Am Montag war ich von 9 bis 12 Abends bei einer Réception im Hause meines Sanskritprofessors, gestern Vormittag bei Dr. Nott, für heute in acht Tagen bin ich bei ihm zum Dinner eingeladen.»46

«Heute Abend gehe ich … ins Konzert; man spielt neben französischen Sachen (Massenet, Rameau, Saint-Saëns) die Ouverture zu Coriolan, die bekannte Streicherserenade von Haydn und das grosse Quintett von Beethoven, da nehme ich den Zylinderhut mit.»47 «In jener Theatervorstellung, als ich eine grosse Anzahl Menschen respektvoll bei Racine und Molière zusammen kommen sah, und die Schauspieler mit vernünftiger Beschränkung fein und wahrhaft fröhlich spielten, kam mir erst zum Bewusstsein, dass die Franzosen auch Herz und Kopf haben, und seit mir nicht überall mehr bloss die Zunge in erster Linie erscheint, rede ich eben frisch, wie es geht, und dringe fast durch, über die Worte weg zum Gedanken.»48 Der erste Heiligabend 1903 in Paris hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. «Weil alle Tramwagen gestossen voll waren, ging ich zu Fuss nach Hause, es befanden sich mehr Leute auf den Boulevards als je, alle lachten und hüpften, ein interessanter Anblick, wenn auch nicht eben christnächtlich. An diesem und am vorhergehenden Abend waren an Strassenkreuzungen und vor öffentlichen Gebäuden Soldaten der Garde Municipale aufgestellt und Dragoner ritten in Gruppen von 8 Mann durch die Quartiere, weil die streikenden Bäcker für diese Tage grosse Demonstrationszüge angekündigt hatten.»49

Zu Beginn des neuen Jahrs zieht Wartmann um, seine Adresse ab dem 9. Januar 1904 lautet: Chez Mme. Stroh, Rue du Val de Grâce 9. «Mein jetziges Zimmer geht geradewegs auf einen mit Bäumen bepflanzten Hof, liegt aber über deren Wipfelhöhe, an gegenüberliegenden Häuser vorbei sehe ich ungefähr die Hälfte der Kirche des Val de Grâce, und links seitwärts sehe ich über die Häuser hinweg die Kuppel des Pantheon, etwa eine Viertelstunde weit.»50 Wartmann arbeitet intensiv, selbst die Fastnachtszeit hält ihn nicht ab: «So ungesund wie in St. Gallen ist … das Wetter jetzt nicht, dafür trostlos und hässlich, immer wieder Regen und Wind, dazu kommen noch Russ und Rauch … Von der Fasnacht habe ich hier nicht viel genossen; weil die Bibliotheken geschlossen waren und ich am Aschermittwoch bei Prof. Monod zu interpretieren hatte, sass ich den ganzen Dienstag hinter meinem Tisch und den Büchern. Nur am Abend zwischen Tag und Nacht ging ich schnell nach dem Boulevard St. Michel, da ich neue Seife kaufen musste.»51

Nach der ersten Begeisterung über die Grossartigkeit der architektonischen Bauten und die Eleganz der Menschen erkennt der junge Student nach und nach die Schattenseiten von Paris, wie die Mutter erfährt: «Es sind zu viele Menschen und zu herbe Gegensätze beieinander; ich habe vom Montmartre oder vom Lande hier die dunkle Wolke gesehen, die beständig über Paris lastet, und weiss, ein wie breiter Gürtel von Schmutz und Elend ringsum liegt, damit sich in einem kleinen innern Kreise jene Perlen von Wohlleben und Schönheit kristallisieren, an die man immer nur denkt, wenn von Paris gesprochen wird.»52 Hingegen entspricht die akademische Welt seinen Wünschen: «Im wissenschaftlichen Paris spüre ich eine ganz andere Ausdehnung und viel grosszügigere Behandlung des Stoffes als ich von Zürich her fast gewohnt war zu sehen. Man merkt, dass in Paris als der Haupt- und Zentralgewalt von Frankreich auch die Wissenschaft des ganzen Landes vereint und gelehrt wird; man sieht nach Berlin, München, London, Wien sozusagen à niveau hinüber, während diese Zentren von Zürich aus als fast unerreichbar erhabene Grössen und Stätten einer den bescheideneren Studenten wenig verschlossenen besonders strengen Gelehrtheit erscheinen.»53 Die Freizeit verbringt Wartmann im Cabaret Artistique les Noctambules in der Nähe des Place de la Sorbonne, hört Konzerte zeitgenössischer Musik mit Werken von Vincent d’Indy, Claude Debussy oder Modest Mussorgsky im Salle de la Schola Cantorum in der Rue Saint-Jacques. Besonders liebt er die Aufführungen in der Comédie Française, wie die zahlreichen Eintrittskarten im Nachlass belegen.

Oft weilt er in den Sälen des Louvre, zeichnet, beobachtet und entdeckt französische Literatur und Kunst, deren Werke ihn während der Gymnasialzeit in Vaters Bibliothek faszinierten. «Ich finde hoffentlich Zeit, den Louvre so zu studieren, dass mir etwas Solides davon bleibt (bis jetzt bin ich erst 4 Mal dort gewesen, und habe eine systematische, nachdenkliche Betrachtung stets verschieben müssen), dann ist es mir vielleicht auch möglich, noch in Ruhe französische Bücher zu lesen als bescheidene Realität zu meinen phantastischen Hoffnungen einer allgemeinen Bekanntwerdung mit der ganzen französischen Literatur, wie ich sie in der Schweiz fasste, vielleicht kann ich dann auch kurz das musikalische und das Paris der bildendenden Künste kennenlernen und das Paris der Pariser.»54

Im Jahr 1949 erinnert sich Wartmann an die ersten Begegnungen mit der Pariser Kunstwelt: «Als im Mai 1904 im ‹Grand Palais› beim Pont Alexandre III in Paris, wieder einmal der Salon der Société Nationale des Beaux-Arts sich auftat, kaufte ein wissens- und erkenntnisdurstiger junger Schweizer Student den Katalog, und machte sich an die Arbeit, von Bild zu Bild, in dem er Nummer, Künstler, Titel nachschlug, um zu jedem Künstlernamen das zugehörige Werk sich einzuprägen und seinen Eindruck über Art und Wert des Werkes im Katalog aufzuschreiben. Als er mit seinen Pariser Freunden und Lehrern über den Salon und seine Bemühungen, ihn so für ihn fruchtbar zu machen, ins Gespräch kam, überschütteten sie ihn mit allgemeinem, heiteren Gelächter: ‹Ah – c’est bien, le Suisse! Voilà les horlogers!› Sie meinten, so treibe es doch kein Mensch. Man schreite an den langen Zeilen der Leinwände vorbei, durchwandle rasch den Wald der Skulpturen und sehe bald genug, wo unter dem Bekannten das Neue und Besondere heraussteche. Der Schweizer in der Fremde liess sich durch solche Vorstellungen einstweilen nicht beirren. Wenn seine Sorgfalt als Uhrmacher-Genauigkeit empfunden und gestempelt wurde, warum sollte sie es schliesslich nicht sein? Es war ihm ja alles neu. Warum sollte er nicht alles prüfen? Wo er vor ihm bisher ganz Unbekanntem stand, warum sollte er nicht richtig von vorn anfangen dürfen? Er wollte wissen, und musste selber ergründen, um was in einer solchen Ausstellung es geht … Wo und wie diese Kunst in jedem Werk sich offenbarte oder versteckte.»55 Unter den neuen Pariser Freunden entdeckt Wartmann Künstler. «Nächste Nachbarn waren die Maler Karl Hofer, Hans Brühlmann, Konrad Ferdinand Edmund von Freyhold. Da gab es viel zu sehen und zu hören mit mitternächtlichen Gesprächen über Kunst und Menschen und die Götter und Teufel die in ihnen wohnen.»56 Wie seine Kommilitonen an der Sorbonne ist er Mitglied der

Association des étudiants mit dem Vorteil ermässigter Theaterbesuche. «Es steht mir nicht nur das Haus der Gesellschaft mit allen Räumlichkeiten und Bibliotheken jederzeit gastlich offen, sondern ich habe auch das Recht, fast vergebens Fechtstunden und Reitunterricht zu geniessen … die ungemein billigen Reitstunden locken mich sehr; beim Austritt aus der Aspirantenschule wurde uns zudem ausdrücklich ans Herz gelegt, wenn immer möglich, im Winter auf die rudimentären Anfänge des Militärreitkurses weiter zu bauen. Wenn ich später, oder möglichst bald, Offizier im Generalstab, das heisst bloss Hauptmann im Generalstab, werden will, so habe ich das Reiten nicht in letzter Linie nötig; ich wage es deshalb, auf meinen Wunschzettel auch ein Posten Reithosen zu schreiben.»57

Studienschwerpunkte Mittelalter und Byzanz

Ein Studienschwerpunkt bildet die Epoche des Mittelalters, wie Wilhelm Wartmann dem St. Galler Historiker, Johannes Dierauer, erläutert: «Der Inhalt Ihrer St. Galler Analekten traf mich fast wie eine Mahnung, ob der bunten Fremde die Heimat nicht zu vergessen … Es fesseln mich einstweilen Fragen von allgemeiner Geltung und der Wille, die Wurzeln und Formen der mittelalterlichen Kultur und Geschichte diesseits der Alpen zu erkennen … Ich weiss nicht, ob es unrecht ist, dass sich der Kulturmensch und Student in mir einzig als Abendländer, nicht speziell als Schweizer fühlt, aber es gelingt mir nicht, alles vor 1291 überhaupt und später ausserhalb der Schweizergrenzen Erreichte bloss als Nachbargebiet zu sehen.»58 Im Wintersemester 1904/05 entdeckt er mit Faszination die Geschichte des byzantinischen Staats, sie wird von den Professoren Charles Diehl, Faculté des Lettres, und Daniel Serruys, École Pratique des Hautes Études gelehrt. Die lateinische und altgriechische Sprache ist Wartmann seit dem Gymnasium vertraut. Im Januar 1905 schreibt er Johannes Dierauer: «Im Vordergrund und Mittelpunkt steht die byzantinische Geschichte; die Rolle des oströmischen Reichs bei der Wandlung vom Altertum zur Neuzeit und auch seine selbständige Geschichte waren mir bisher nur schattenhaft bekannt; jetzt höre ich an der Sorbonne zwei entsprechende Vorlesungen und habe Gelegenheit, mit einem Versuch zur Militärgeschichte nach einer Schrift des Konstantin Porphyrogenitus mich in den Stoff einzuführen; an der École des Hautes-Études nehme ich teil an Untersuchungen über byzantinische Quellen zum 5. bis 7. Jahrhundert … In einem Privatissimum, zu dem ich auch eingeladen bin, wird die Erstausgabe eines byzantinischen Textes der Nationalbibliothek vorbereitet; ich habe gegenüber der jugendlich frischen Per- sönlichkeit dieses Professors und seiner energisch eifrigen Art, sein Fach zu betreiben, die grösste Mühe, nicht ganz den Kompass zu verlieren und mich mit Leib und Seele seiner Führung in ein so ausschliessliches Spezialgebiet ganz zu überlassen.»59 Im Wintersemester 1905/06 setzt Wartmann seine Studien der byzantinischen Kultur und Geschichte fort. An der Faculté des Lettres hört er bei Professor Diehl «Histoire byzantine. L’Orient au Moyen Âge (IX au XI siècle)».

Wartmann ist längst in Paris heimisch geworden. Auf zahlreichen Spaziergängen hat er die Innenstadt geografisch ausgelotet, Professoren und Mitstudenten schätzen seine bescheidene Art. «Der geschmeidige, elegante Ch. Diehl sprach sich gestern fast unheimlich liebeswürdig über eine Kleinigkeit aus, die ich ihm vorlegte, und M. Monod bat mich, meinem Vater viele Grüsse und seine Gratulation zum Geburtstag auszurichten.»60 Neben den akademischen Zirkeln wird er in die Konservatorenkreise der Museen eingeführt. «Voulez-vous nous faire le plaisir de venir déjeuner chez nous demain, Samedi, à midi et quart. Nous attendons mon ami André Pérati, conservateur au Musée de Versailles et je serais charmé de vous récevoir à lui [sic]», schreibt Conrad von Mandach.61 Der seit 1899 als Privatdozent in Paris lehrende Kunsthistoriker wird ein wichtiger Ansprechpartner, die Kollegialität findet 20 Jahre später im Kunstmuseums Bern ihre Fortsetzung. Der Kontakt zu den Professoren gestaltet sich zunehmend persönlich und freundschaftlich. Professor Gabriel Monod, Mitglied des Collège de France, lädt den eifrigen Studenten ins Restaurant de la Societé Savante in der Rue Danton ein: «Venez me prendre demain Samedi après mon cours.»62 Professor Charles Bémont, maître de conférence,63 bedankt sich bei seinem Studenten: «Tout au regret … de n’avoir pu vous remercier de l’amitié avec laquelle vous avez suivi mes cours et la part personnelle que vous avez bien voulu y prendre pendant ces deux années.»64 Zahlreiche nachgelassene «billets» zeugen von Einladungen in die privaten Professorenkreise, die dem Austausch wissenschaftlicher Forschungen sowie bibliophilen Neuerscheinungen dienen. Die kleinen weissen handgeschriebenen Visitenkarten ändern sich im Tonfall vom formellen «Cher Monsieur» zum freundschaftlichen «Mon cher Ami».

Wege in die Kunstgeschichte

Eine Schlüsselfigur wird der nur sieben Jahre ältere Professor Daniel Serruys, zu dem Wilhelm Wartmann ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Wartmann belegt bei ihm die Vorlesungen «Philologie grecque» und «Historiens byzantins des VIII–IX siécle». Serruys ist leidenschaftlich an Kunst interessiert, er macht den Schweizer Studenten mit Galerien und Galeristen bekannt und vermittelt unter anderem ein Treffen mit Paul Durand-Ruel, um ihm die Impressionisten nahezulegen: «Mon cher Ami, Voici une carte de Monsieur Durand-Ruel, … on vous y aller, l’un de ces mardis, rue de Rome. J’éspère que cette collection vous intéressera.»65 Bei einem Besuch der Familie Serruys lernt er die Schwester, die Künstlerin Yvonne Serruys66, kennen, die ihn in Ateliers und künstlerische Werkstätten führt. «Ihr verdanke ich Einführung in manche kostbare Privatsammlung, z. B. bei Rouault, aber auch bei Rodin, dem alten Degas, Bourdelle und manchen kleinen Sternen.»67 Als Professor Serruys erkrankt, übernimmt Wartmann die Vorlesungen. «Ich ging gestern Abend … bei ihm vorbei, um nach seinem Befinden zu fragen und ihm einen Teil der Abschrift des cod. 1712 zurück zu geben, den ich durchgearbeitet und vorläufig zu analysieren versucht hatte. M. Serruys dankte mir lebhaft für den Besuch und bat mich … für ihn einzuspringen und meine jetzt gewonnenen Resultate ihm und den anderen Schülern vorzulegen.»68 Die akademische historische Ausrichtung wird durch die Erfahrung und Auseinandersetzung mit Kunst geschärft, sie erschliesst Wartmann eine neue Welt. Unerwartet öffnet sich eine weitere Türe in die wissenschaftliche kunsthistorische Richtung. Den Ausschlag gibt Professor Henry Lemonnier, der in Zusammenarbeit mit Louis-CharlesLéon Courajod, Professor an der École du Louvre, eine Pionierolle in der Einführung der höheren Kunstgeschichte spielt. 1899 wird Lemonnier zum ersten Professor für Kunstgeschichte an der Sorbonne ernannt. Die Kunstgeschichte, mit Schwerpunkt der Geschichte Frankreichs zur Zeit der Gotik und der Renaissance, findet Einzug in die Universität. Lemonnier richtet eine Kunstbibliothek ein, ein Kabinett-Archiv mit Kunstdrucken und Fotografien, sowie ein kleines Museum mit Gipsabgüssen von Skulpturen.

Ein Testatblatt bezeugt, dass Wartmann im Semester 1906/07 neben den Vorlesungen der Geschichtsprofessoren Auguste Bouché-Leclercq und Charles Diehl sich bei Henry Lemonnier für «Histoire de l’ art, État de la science sur les grandes question de l’art francais depuis les origines (art gothique et Renaissance)» im Amphithéâtre Richelieu eingeschrieben hat. Zeitgleich belegt er an der École du Louvre das Seminar «Histoire des arts appliqués à l’industrie en France» bei Gaston Migeon.

Die Ausbildung an der 1882 gegründeten École du Louvre verfolgt ein praxisorientiertes Ziel, «de former des élèves capables d’être employés soit dans les musées de Paris …, soit à des missions scientifiques ou à des fouilles».69 Diese Kunstexperten werden Wartmann bei der Doktorprüfung examinieren, die Entscheidung zugunsten der Kunstgeschichte wird in diesem Jahr still und leise gefällt. Wartmann hat seine Berufung in die Welt der Kunst gefunden.

Im Sommer 1905 trifft Wartmann ein Schicksalsschlag, seine Mutter stirbt nach langer Krankheit und hinterlässt im Familiengefüge eine grosse Lücke. Besonders in den Pariser Jahren war sie eine wichtige briefliche Ansprechpartnerin, die seinen künstlerischen Neigungen ein offenes Ohr bot. Er nimmt sich wieder Zeit für seine Violine. «Mit Herrn Schib, der recht gut Klavier spielt, habe ich schon eine Art von Kammermusikvereinigung gegründet … [Wir] studieren gegenwärtig hauptsächlich eine allerneuste Sonate von Vincent d’Indy, in der beständig ein Rhythmus in einen anderen und alle Tonarten ineinander überfliessen.»70 Auch das Tanzen hat seinen Platz: «Einer der lichtesten und anmutigsten Punkte bildet auf alle Fälle die matinée dansante oder ‹unlängste Tanzstunde› an der Rue Réaumur.»71 «An 4 oder 5 Samstagabenden kann man in einem ziemlich kleinen Raum bei einem ganz kleinen Tanzmeister zuschauen, um sich in die höheren Künste der gegenwärtigen Tanzmode einweihen zu lassen.»72 Im Februar 1906 sendet Wartmann das Annuaire der École Pratiques des Hautes Études mit der lobenden Erwähnung seiner Mitarbeit in den «Conférences de M. Monod» nach St. Gallen.73 Sein Vater antwortet: «Es scheint mir zum mindesten SEHR erwünschenswert, dass Du nach Paris für etwa zwei Semester noch eine deutsche Universität besuchtest, um auch von dem deutschen wissenschaftlichen Leben einen richtigen Begriff zu erhalten.» 74 Die väterlichen Ambitionen gelten einer historischen Laufbahn, wie ein privater Brief von Ende April 1905 belegt. «Die Geschichte der Schweizercolonie in Lyon muss einmal für sich behandelt werden. Das wäre ein schöner Stoff für eine Dissertation, besonders für einen jungen St. Galler.»75 Am 21. November 1907 bezieht der Student ein Zimmer im Haus Nummer 90 an der Rue d’Assas in Montparnasse: «Das Haus liegt ganz nahe an der Südwestecke des Jardin du Luxembourg, ausserhalb der Stelle, wo die Rue Auguste Comte an die Rue d’Assas stösst. Mein Zimmer, im dritten Stockwerk (über dem ‹Parterre›), geht auf die breite, asphaltierte Rue d’Assas und hat als Gegenüber zwei Höfe des Lycée Montaigne; darüber … Dächer und Kaminreihen, auch einige gläserne Wintergärten oder Malerateliers, die mir besonders gestern Abend auffielen, als sie innen beleuchtet waren und sich vom Nachthimmel hell abhoben.»76

Les Vitraux suisses au Musée du Louvre

Auf Wanderungen und Reisen in die nahe und ferne Umgebung entdeckt Wilhelm Wartmann den kulturellen Reichtum Frankreichs. Anfang

März 1904 besucht er mit seinem Neffen Moritz die Kathedrale von Chartres, deren leuchtende Pracht der Glasfenster einen unauslöschlichen Eindruck hinterlässt. Fortan gelten die Reisen quer durch Frankreich dem bemalten Glas, den Fenstern in Kirchen, den bunten Scheiben in Häusern und Museen. Im April 1905 reist er über Chartres, Le Mans, Rennes bis nach Saint-Malo, der Küste entlang nach Brest und kehrt über Nantes, Angers und Tours nach Paris zurück. Zu einem Stadtrundgang gehört der Besuch von Kirchen und Museen mit dem Baedeker-Reiseführer und einem Notizheft in der Hand.

«Anlässlich eines kurzen Aufenthaltes in Angers, Dép. Maine-etLoire, war ich sehr überrascht, im dortigen Musée de l’Hôtel de Pincé verschiedene schweizerische Stifterscheiben anzutreffen.»77 Mit diesen Worten leitet Wartmann seine erste Publikation über die Entdeckung von sechs Schweizer Scheiben im Anzeiger für schweizerische Altertumskunde ein, weitere Entdeckungen von Glasscheiben in Iseltwald, Bergamo, Paris, Dijon, Cluny folgen. Er verfasst einen Essay über die Glasmaler Hans Caspar Gallati und Martin Ruchensteiner in Wil, über das Wappen von Allensbach, die Geschichte des Geschlechts Knobloch in der Schweiz, über schweizerische Glasgemälde in alten französischen Katalogen und über oberdeutsche Wappenscheiben, die fälschlicherweise der Schweiz zugeordnet sind. Nach kurzer Zeit stossen seine Publikationen auf das Interesse der Fachleute, auch der Direktor des Zürcher Landesmuseums reagiert. Der Eintritt in die Schweizerische Heraldische Gesellschaft bedeutet einen nächsten Schritt in Richtung Kunstgeschichte – ohne die historischen Pfade zu verlassen. «Ich nehme als abgemacht an, dass Du aus massgebenden Gründen den nächsten Winter wieder in Paris weiter zu studieren wünschtest und erkläre mich damit einverstanden.»78 Für die Finanzierung der Pariser Studienausgaben nimmt Hermann Wartmann einen Bankkredit in St. Gallen auf.

Das Thema einer Doktorarbeit steht fest: Die Wahl widerspiegelt das in den Pariser Jahren entdeckte und wachsende Interesse an Kunstgeschichte. Gemalte Glasscheiben entsprechen einem aktuellen Wissensinteresse Wartmanns, wie eine Schrift von 1902 über die Glasscheiben im Schützenhaus zu Basel aus seiner Bibliothek belegt: «Unbestreitbar gehören die Glasmalereien früherer Jahrhunderte zu den beachtenswertesten Schöpfungen auf dem grossen Gebiet der Kunst. Fast Jahrhunder- te lang verkannt und unbeachtet, haben die Werke derselben in neuester Zeit wieder ihre Verehrer gefunden.»79 Systematisch beginnt Wartmann mit der Erforschung der Schweizer Wappenscheiben auf französischem Boden und stellt die Forschungsergebnisse in den schweizerischen heraldischen Zeitschriften vor: «Si jamais un amateur avait la curiosité de vouloir se renseigner sur les collections de vitraux suisses existant à Paris, et sur l’histoire de ces collections, ils s’apercevrait bientôt que la bibliographie en est extrêmement pauvre, presque nulle.»80 Die wachsenden Ergebnisse fokussieren auf bislang unbeachtete Glasscheiben der Pariser Museen, in denen sich drei grössere Sammlungen von Schweizer Wappenscheiben befinden, unter anderen 43 Scheiben im Louvre, 68 im Cluny-Museum und 20 im Musée de la Manufacture de Sèvres.81 Das ambitiöse Projekt der Aufarbeitung aller Sammlungen wird auf die kleine Kollektion im Louvre reduziert.Wartmanns Forschungsarbeit zieht sich über drei Jahre hin, ein umfangreicher Briefwechsel mit Schweizer Museen, Gemeinden, Pfarrämtern und Privatpersonen zeugt von der akribischen Arbeitsweise. Er entdeckt auch zwei St. Galler Scheiben, über deren Ankauf er mit dem Vater diskutiert: «Wenn Du den zwei St. Galler Scheiben noch weiter nachgehst und uns über ihre unzweifelhafte Echtheit und ihren Zustand noch ganz genauen und sicheren Bericht geben kannst, wird es uns recht erwünscht sein. Der Preis von Fr. 500 für beide wäre an sich nicht zu hoch.»82 Die Dissertation verfasst Wartmann in französischer Sprache mit der Begründung, dass es sich für einen Schweizer schicke, dass er Französisch so gut verstehe, spreche und schreibe wie Deutsch.» Ende des Jahrs 1907 vollendet Wartmann seine Forschungsarbeit und sie wird von der Universität akzeptiert. Für die Drucklegung tritt er mit Charles Eggimann, Genfer Leiter des Pariser Verlags Librairie Centrale d’Art et d’Architecture am Boulevard SaintGermain, in Verhandlung, der das junge, erst 1904 eröffnete Verlagshaus für Kunst und Architektur führt. Aus dem Vertragsentwurf geht hervor, dass eine Auflage von 500 Exemplaren vorgesehen ist, vonseiten des Autors wird ein Beitrag von 500 Francs an die Druckkosten verlangt. «Nach den spannenden Verhandlungen mit dem Verleger um Neujahr herum und nach der Hetz mit dem Drucker an Ostern ist die gegenwärtige Situation die reine Windstille»,83 schreibt Wartmann im Mai 1908 nach St. Gallen. Besondere Freude bereitet ihm das wohlwollende Vorwort von Gaston Migeon, Konservator des Louvre. «Vor ein paar Tagen hat mir M. Migeon, vom Louvre, eine so schmeichelhafte Vorrede für die Herausgabe … gestiftet, dass die Professoren eigentlich gar nichts mehr sagen dürfen, gegen die Arbeit nichts, weil M. Migeon sie so günstig beurteilt, dafür nichts, weil sich überhaupt nichts Verbindlicheres darüber sagen lässt.»84 Die Dissertation mit dem Titel Les Vitraux suisses au Musée du Louvre. Catalogue critique et raisonné, précédé d’une introduction historique erscheint Ende Mai 1908; sie wird im Rahmen der Reihe «Archives des Musées Nationaux et de l’École du Louvre» publiziert. Den Vertrieb in der Schweiz übernimmt der Verlag Schulthess & Co. in Zürich. «Wir sind gerne bereit, das schöne Werk in Zürich durch unser Sortiment zu vertreiben und haben eine Anzahl Ex. in Kommission bestellt.»85

Das prächtige Buch gibt eine Einführung in die Geschichte der Schweizer Glasmalerei des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Die Fragestellungen gelten der Einordnung der Scheiben innerhalb der Geschichte der schweizerischen Glasmalerei, dem stofflichen Gehalt der dargestellten Personen und Szenen, dem technischen Wert, den lokalen Schulen des Gewerbes, den Namen der Donatoren, Wappen, Malern und ihrer Arbeitsweise. Wartmann schildert detailliert die soziale und politische Entstehungsgeschichte der kirchlichen und weltlichen Kunstwerke.

Den zweiten Teil bildet der Catalogue des Vitraux suisses du Musée du Louvre. Jede Glasscheibe erhält eine Beschreibung, Inschriftenanalyse, Alter und Zweck der Objekte, und soweit eruierbar die Authentizität der Glasmaler. 30 Schwarz-Weiss-Abbildungen, aufwändig gesucht und gesammelt, ergänzen den theoretischen Teil.

Reaktionen und Rezensionen

Nach der Einsendung von 125 Exemplaren an den Dekan der Faculté des Lettres de l’Université de Paris wird der Schweizer Student für Samstag, 23. Mai 1908, 9 Uhr morgens in den Salle du Doctorat zur Ablegung der Doktorprüfung eingeladen. Die Professoren Charles Diehl, Émile Mâle und Henry Lemonnier halten sich an die vereinbarten Fragestellungen:

«1. La politique extérieure du patriarche Nikolaos Mystikos de Constantinople (901–907 et 912 à 925) d’après ses lettres, und 2. La gravure sur bois au XVIe Siècle à Lyon et dans la Haute-Allemagne. Rapports entre l’œuvre gravée de Salomon Bernard et celle de certains maîtres allemands.»86 Wartmann besteht die Prüfung mit Bravour, drei Tage später liegt die Urkunde der Sorbonne vor.87 Sein Freund Rudolf W. Huber gratuliert umgehend: «Meinen herzlichsten Glückwunsch zu Deiner Pariser Doktor Würde, die Du Dir quasi hinter unserem Rücken, aber nicht minder rühmlich erworben hast. Deine Thèse imponiert mir gewaltig. Kein Zweifel, dass sie Dir sehr vielseitige Anerkennung eintragen wird. Hoffentlich haben auch die Herren an der Seine dankbar eingesehen, dass einzig ein Schweizer Vollblut-Historiker ihnen diesen echt wissenschaftlichen Katalog schenken konnte.»88

Der Ostschweizer Historiker Otto Fässler widmet der Publikation in den St. Galler Blättern eine ausführliche Würdigung: «Eine prächtige, in jeder Hinsicht aufs vornehmste sich präsentierende, bedeutsame Veröffentlichung.»89 Die Zeitschrift für Geschichte des Ober-Rheins weist auf sieben Wappenscheiben einer Konstanzer Werkstätte des 16. Jahrhunderts hin. «Bei dem völligen Dunkel, das noch über der Geschichte der Konstanzer Glasmalerei jener Zeit ruht, sind die sorgfältigen kritischen Ausführungen Wartmanns als ein höchst dankenswerter Beitrag zu begrüssen, der, wie wir hoffen, zu weiteren umfassenden Untersuchungen auf diesem bisher vernachlässigten Gebiete anregen wird.» 90 Die Pariser Zeitschrift Le Bulletin de l’Art Ancien et Moderne publiziert eine ausführliche Rezension: «M. Wartmann divise son étude en deux parties. Dans la première partie, qui a un caractère historique, il donne un aperçu du milieu social et politique dans lequel s’est dévéloppée cette industrie.»91 Zu den ersten Gratulanten gehört auch Paul Ganz, Kunsthistoriker und Konservator der Öffentlichen Kunstsammlung Basel: «Mit wirklich grosser Freude habe ich den stattlichen Band durchgesehen, der von Paris mir zugesandt worden ist. Ich werde die Arbeit gerne besprechen, denn sie erscheint mir vorbildlich in der Anordnung und der überaus sorgfältigen historischen Bearbeitung. Sie gehen den Hypothesen mit Recht aus dem Weg, aber wir Kunsthistoriker können das nicht lassen und sind stets im Taufen voran. Darin liegt ein grosser Vorzug Ihrer Arbeit. Die Ausstattung ist sehr gut und Eggimann hat sich in Bezug auf die Tafeln wirklich angestrengt. Wenn Sie an Basel vorbeifahren, so würde es mich sehr freuen, Sie hier zu sehen, vielleicht führt Sie auch Ihre Arbeit bald wieder einmal zu uns.»92 Der Zürcher Kommilitone Ernst Gagliardi, der nach Studien bei Heinrich Wölfflin in München kunstgeschichtlich bewandert ist, lobt: «Wollen Sie es einer durch vorsichtige Schonung allmählich sich wieder ausgleichenden Nervenübermüdung zuschreiben, wenn ich Ihnen für den schönen übersandten Band vorläufig etwas kümmerlich danke. Die wissenschaftliche Gediegenheit seines Inhalts ist mir im Voraus gewiss, und das Thema für mich stets von Interesse gewesen, um wie viel mehr, als die ausgezeichnete Illustration das Studium so angesehen macht und erleichtert.»93 Auch in St. Gallen freut man sich über den Erfolg: «Am 23. Mai langte von Paris das Telegramm an, dass mein jüngerer Sohn sein Doktor-Examen an der Sorbonne glücklich bestanden habe, und wenige Tage später kehrte er als Doktor der Pariser Universität nach St. Gallen zurück.»94

Nach dem Militärdienst nimmt Wartmann Abschied von den für seine Biografie prägenden französischen Jahren. Er bezieht ein Zimmer an der Gemeindestrasse 4 in Zürich. Unschlüssig, wie sein Leben weitergehen soll, besucht er einzelne Vorlesungen an der Universität Zürich und unterstützt seinen Vater bei der Edition der Briefe des St. Galler Reformators Joachim Vadian.

Prix Bordin, Institut de France, Paris

Am 16. Dezember 1908 legt Wilhelm Wartmann sein Buch Les Vitraux suisses au Musée du Louvre dem Institut de France für den Concours du Prix Bordin 1909 vor.95 Die Eingabe erfolgt an die Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, eine der fünf Abteilungen des Institut de France, ursprünglich eine Gesellschaft zur Förderung der französischen Epigrafik. Der passionierte Verleger Charles Eggimann sendet zwei Exemplare an das Institut, deren Eingang am 31. Dezember 1908 bestätigt wird.

Nach ausführlicher Prüfung erfolgt am 17. Mai 1909 die offizielle Bestätigung der grossen Ehre: Das Institut de France würdigt die Doktorschrift mit dem Prix de la Fondation Bordin mit der hohen Preissumme von 500 Francs.96

Fast 60 Jahre später erinnert sich Wilhelm Wartmann: «Mai 1908 ist das Erscheinungsdatum meines Kataloges der schweizerischen Glasgemälde des Louvre-Museums. Das Institut de France hat ihn …, mit dem Prix Bordin ausgezeichnet und mir 1500 Franken in goldener Vorkriegswährung übergeben, die ich mit Freude und Genugtuung meinem Vater nach St. Gallen gebracht habe, als Beitrag an das für mich aufgewendete Pariser Studiengeld.»97

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