Ralph Brühwiler
«Eine verblüffende Saga voller Pionier- und Innovationsgeist.» Marina Pondini, Amt für Kultur St. Gallen
Die Caran d’Ache Saga
Drei Genfer Geschäftsfreunde, die eine verrückte Idee haben ; ein St. Galler Börsenmakler, der St. Petersburg fluchtartig verlassen muss und in Genf eine Russin kennenlernt, die ihm für seine neue Firma einen französisch klingenden Namen beschert ; ein Schaffhauser Kaufmann, der in Marseille mit Getreidehandel zum Millionär wird und sein Geld in Genf gut investiert, nachdem er wegen Intrigen aus Frankreich ausgewiesen worden ist; ein Hotel-Portier, der gute Miene macht und Talent zum Zeichnen hat ; ein bedeutender Künstler, der in seiner Villa in Südfrankreich zu Farbstiften und Wachskreiden greift, um nicht nur mit seinen Kindern zu malen ; Diamanten, die eine Füllfeder zum teuersten Stift ihrer Zeit machen ; ein Firmeninhaber, der sehr erfolgreich und sehr diskret ist ; eine Präsidentin, die einmal Astronautin werden wollte und heute das Unternehmen in eine Welt voller Frauenpower führt. Ralph Brühwiler erzählt in seiner Saga die Geschichte, wie aus einer kleinen Genfer Bleistiftfabrik eine Weltmarke wurde : Caran d’Ache.
Ralph Brühwiler
Die
Saga Von Genf in die Welt
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Die Caran d’Ache Saga Von Genf in die Welt
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2020 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel Textbegleitung: Christian Schwarz, St. Gallen Lektorat: Regula Walser, Zürich Umschlag, Gestaltung und Satz: Katarina Lang, Zürich Lithografie: Fred Braune, Bern Druck, Einband: Kösel, Altusried-Krugzell
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-495-7 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.
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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1 Die Gründung der Genfer Bleistiftfabrik. Krieg, Krisen und kostspielige Erfahrungen . . . . . . . 9 2 Ein St. Galler Financier, das St. Petersburger Erbe und eine Begegnung im Genfer «Beau-Rivage» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3 Die Firma Caran d’Ache betritt die nationale Bühne. Mit neuen Produkten. Und neuen Werbemethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 4 Gebrochenes Licht. Ein nächtlicher Anruf. Und ein gebrochenes Herz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 5 Ein Jubiläum, die «Neocolor» und ein Kugelschreiber, der Geschichte schreibt . . . . . . . . . . . . . 105 6 Mehr Schreibkultur, mehr Farben und eine neue Fabrik zum 50-Jahr-Jubiläum . . . . . . . . . . . . 121 7 Wechsel an der Spitze, Feuer und Flamme für Luxusartikel und ein «Prix des Beaux-Arts» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 8 Eine Absage mit Folgen, eine Zusage mit Einschränkungen und ein Rekord . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 9 In der Welt des Luxus, asiatische Abende und besondere Premieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 10 Neue Wege, eine Strasse nach Rom und ein Abendhimmel in Rot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Bildverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Quellenverzeichnis und bibliographische Angaben
Gedruckte Quellen und Internet-Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Caran d’Ache-Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Amtliche Quellen, Archive und Bibliotheken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Private Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 59 Mündliche Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Über den Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
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Vorwort
Caran d’Ache ist für mich – wie für viele – zuerst einmal eine Kindheitserinnerung: Magisch angezogen, stand ich als kleiner Primarschüler, nicht nur vor Weihnachten, am Schaufenster im Genfer Bahnhof Cornavin, die Nase an die Scheibe gedrückt, und bestaunte den dirigierenden Bären und den Hasen, der auf seinem Velo mit Radspeichen aus Farbstiften in die Pedalen trat. Eine farbige, zauberhafte Welt … Und ich wünschte, ich könnte den Bären berühren, so wie er meine Kinderseele berührte. Jahrzehnte später nahm ich meine Caran d’Ache-Farbstifte zur Hand und beteiligte mich am nationalen Zeichenwettbewerb, den die Genfer Firma unter dem Motto «Ich und meine Caran d’Ache» zu ihrem 100-Jahr-Jubiläum 2015 veranstaltete. An der Preisverleihung im Kunsthaus Interlaken erfuhr ich, dass der Gründer Arnold Schweitzer einen Bezug zum Toggenburg hatte, eine Region, in der ich seit bald 40 Jahren lebe. Und so begann eine spannende Suche. Was ich in den ersten Wochen und Monaten entdeckte, bewog mich, ein Buchprojekt zu starten, das mich fast drei Jahre lang in seinen Bann zog: Geschichten von Menschen, die Anfang des letzten Jahrhunderts in Genf eine kleine Bleistiftfabrik gründeten, die zu einer Weltmarke wurde. Schicksale und Tragödien pflasterten den Weg, Pioniergeist und Fantasie weiteten ihn, Geschäftssinn und Innovationsgeist mehrten ihn. Die Geschichten spielen an Schauplätzen in St. Gallen, Schaffhausen und Zürich, sie führen nach St. Petersburg und Bukarest, nach Marseille und Paris, nach London und New York, nach Kuala Lumpur und Shanghai. Sie bedingten Recherchen in Staats- und anderen Archiven, bescherten mir Tausende von Dokumenten und beschenkten mich mit Begegnungen von Menschen, die ihre Erinnerungen hervorriefen und Fotoschachteln hervorholten. Schon bald wurde mir klar, dass diese Geschichten nur in einer literarischen Form erzählt werden können: In einer Saga, die einen Stoff mit Hilfe verschiedener Figuren in einer Alltagsprosa erschliesst. So sind zahlreiche Dialoge und Handlungen in diesem Buch erfunden – wo es Faktenlage und Kontext erlaubten. Mein Buchprojekt führte mich natürlich auch nach Genf zurück. Das Schaufenster von Caran d’Ache im Bahnhof ist längst verschwunden.
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Die Rampe, an der es sich befand, ebenfalls. So nahm ich einen neuen Weg: Zuerst an die Rue de la Terrassière, wo all die «Prismalo» und «Neocolor» erfunden worden sind – und sich die Dépendance des Genfer Staatsarchivs befindet, in deren Kellergeschoss ich mich in noch mehr Dokumente vertiefte. Erst später fuhr ich nach Thônex, wo Caran d’Ache seit 1974 auch exklusivste Schreibutensilien kreiert. Als ich die Fabrik betrat, war sie wieder da – die Kindheitserinnerung. Im Entree gab es allerdings keine Bären und Hasen. Aber es duftete nach Zedernholz. Ralph Brühwiler
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2 Die Place Neuve in Genf. Im Gebäude hinter dem Musée Rath (Bildmitte) fand am 10.12.1915 die Gründung der Fabrique Genevoise de Crayons S.A. statt.
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Die Gründung der Genfer Bleistiftfabrik. Krieg, Krisen und kostspielige Erfahrungen
Der Himmel über Genf ist grau, als Edouard Paisant an diesem Freitagnachmittag sein Haus an der Rue Imbert Galloix verlässt.1 Die lederne Aktenmappe unter dem linken Arm, den Regenschirm in der rechten Hand, überquert der Kaufmann die Rue Saint-Léger und geht zügigen Schritts auf der Promenade des Parc des Bastions an der ehrwürdigen Universität vorbei Richtung Place Neuve, die vom Grand Théâtre de Genève dominiert wird. Sein Ziel ist das Büro von Notar Charles Alfred Cherbuliez, das sich gleich hinter dem Museé Rath an der Rue de la Corraterie 26 befindet.Vor dem Eingang des klassizistischen Eckhauses warten bereits zwei Herren, der Genfer Industrielle Gustave Reverdin und der Sekretär des kantonalen Departements für Handel und Industrie, Joseph Eggermann. Paisant begrüsst die beiden, dann blickt er auf seine Uhr. «Wo bleiben Reymond und Duret?» «Sie werden das elektrifizierte Tram genommen haben», antwortet Reverdin. «Gut, wir haben ja noch etwas Zeit», konstatiert Paisant. Er blickt Richtung Place Bel-Air. «Ah, da kommen sie ja.» Der Industrielle Paul Reymond und der Chemiker Albert Duret wohnen beide im Quartier Eaux-Vives. «Bonjour, mes amis», begrüsst sie Paisant. «Wir sind etwas früher ausgestiegen. Frische Luft vor so wichtigen Ereignissen kann ja nur guttun», sagt Paul Reymond und schüttelt Paisants Hand. «Du hast recht», erwidert dieser, «schreiten wir zur Tat.» 2
«Eine grosse Herausforderung» Die Herren nehmen im Sitzungszimmer Platz. Notar Cherbuliez legt ihnen die ausgearbeiteten Statuten für die Firmengründung vor. Es ist der 10. Dezember 1915. «Wir werden sie unter dem Namen Fabrique Genevoise de Crayons S.A. eintragen und den Firmenzweck mit ‹Fabrikation aller Arten von Bleistiften und anderer Papeterie-Artikeln› umschreiben», sagt er und fügt hinzu: «Der Sitz der Gesellschaft ist Eaux-Vives,
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11  Die Metzgergasse in St. Gallen um 1905. Arnold Schweitzer wurde im etwas vorstehenden Haus mit den Sockelpilastern (r.) geboren.
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Ein St. Galler Financier, das St. Petersburger Erbe und eine Begegnung im Genfer «Beau-Rivage»
Heinrich Arnold Schweitzer ist am 24. Juni 1885 in einem stilvollen Haus an der Metzgergasse 25 am Rand der St. Galler Altstadt geboren – als «ehelicher Sohn des Schweizer Arthur, Dr. Jur. Vermittler von Oberhelfenswyl u. Lichtensteig in St. Gallen u. der Ottilie Elisabetha nee Behles von Hermaringen o/a Heidenheim Württemberg», wie es der Zivilstandsbeamte Wickle feinsäuberlich in das Geburtsregister eingetragen hat.1 Sein Vater war 1876 vom Toggenburger Felsenstädtchen Lichtensteig nach St. Gallen gezogen, nachdem er in Leipzig und Heidelberg ein Rechtsstudium absolviert hatte. Zurück in der Ostschweiz verbrachte er zunächst ein Jahr in einem St. Galler Anwaltsbüro, um mit der Rechts praxis vertraut zu werden. Danach bekleidete er die Stelle des Gemeinderatsschreibers in Lichtensteig und später in St. Gallen die Posten des Schuldentriebbeamten und des Vermittlers, um schliesslich an das Bezirksgericht gewählt zu werden. «In dieser Zeit gründete er einen eigenen Hausstand mit Ottilie Behles, die ihm eine treubesorgte Gattin war und sich in den über 25 Jahren ihrer Ehe alle Mühe gab, seinen Wünschen gerecht zu werden, soweit es ihr möglich war», wird es in seinem Nachruf heissen.2
Der berühmte Grossvater Arnold Schweitzer ist mit seinen Eltern und seinem zehn Jahre jüngeren Bruder Armin oft in Lichtensteig, um seine Verwandten zu besuchen. Das Toggenburg ist das Stammland seiner Vorfahren, deren erste urkundliche Erwähnung ins Jahr 1437 zurückreicht. Sein Ururgrossvater Johannes Schweitzer war vor 1750 vom «Hüsliberg» oberhalb des heutigen EbnatKappel «mit wenig Batzen im Sack und einem Bündel Nastüchern auf dem Rücken (…) mit bitterer Not kämpfend» nach Basel ausgewandert,
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um mit «Hausieren sein Brot zu verdienen». Nach seiner Rückkehr, bei der er «ein ordentliches Sümmchen» mitbrachte, fertigte er in Lichtensteig erfolgreich Nastücher, die bis nach Genf Abnehmer fanden. Die Fabrikation erfolgte im Parterre des «Hauses Schweitzer», das 1770 gebaut worden ist. Sein Urgrossvater führte die Produktion der «mouchoirs» weiter. Schweizweit bekannt und angesehen war Arnold Schweitzers gleichnamiger Grossvater Heinrich Arnold Schweitzer. Er gründete 1863 die Toggenburger Bank, eine Vorläuferin der heutigen UBS. Er stand der Bank, die 1912 mit der Bank in Winterthur zur Schweizerischen Bankgesellschaft fusionierte, 30 Jahre lang als Direktor vor. Zudem brachte er die Eisenbahn ins Toggenburg. Das 1873 erstellte Bankgebäude in Lichtensteig diente der UBS bis 2014 als Bankfiliale. Neben seinen wirtschaftlichen Verdiensten hatte er ein Faible für die Poesie. Als Mitglied einer toggenburgisch-französischen Gesellschaft dichtete er auch in französischer Sprache. Eines seiner Werke trägt den Titel L’Argent, in dem es heisst: «De ce monde le régent/Et le Dieu que l’on adore,/C’est en vérité l’argent,/Ce métal dur et sonore.» 3
Von St. Gallen nach Zürich, Lausanne und Genf Arnold Schweitzer besucht in St. Gallen das Grabenschulhaus, bevor er mit seinen Eltern und seinem Bruder nach Zürich zieht. Hier wohnt die Familie am Sonnenberg, wo sein Vater 1899 ein stattliches Haus erworben hat. Nach Abschluss seiner Schulzeit zieht Arnold Schweitzer im März 1903 nach Lausanne. Bei der Anmeldung gibt er als Beruf «commis» an: «Angestellter, Gehilfe, Schreiber». Schon sein Onkel William hat in jungen Jahren in Lausanne gelebt. Er besuchte dort die Handelsabteilung der Ecole cantonale, um später Bankfachlehren in Florenz und London zu absolvieren, bevor er in die Dienste der Toggenburger Bank in Lichtensteig trat. 4 Arnold Schweizer aber zieht es weiter westwärts: Ende Januar 1906 nimmt er Wohnsitz in Genf.5
Karriere als Börsenmakler In der Rhonestadt tritt er ins Büro der Wertschriftenhändler Decrue & Pallard ein und arbeitet zuerst als «employé intéressé». Schnell begreift er die Mechanismen der Finanzwelt. Der börsenmässige Handel mit Wertpapieren von Kapitalgesellschaften hatte in Genf bereits um 1850 begonnen, die Stadt Calvins war damals der wichtigste Bankenplatz der Schweiz. Innerhalb weniger Jahre bringt es Arnold Schweitzer zu einem
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höchst erfolgreichen Börsenmakler. Er bezieht an der Rue de Lyon eine Sechszimmerwohnung. 1910 wird er Geschäftspartner des Wertschriften- und Immobilienhändlers Donat Alexandre Dupont, dessen Büro sich an der Place de la Synagogue 6 befindet – heute einer der Firmensitze der Privatbank Edmond de Rothschild.
Das Hotchkiss-Engagement Im selben Jahr reist Arnold Schweitzer nach Bukarest, um seinen Onkel Eugen Behles zu besuchen. Der Bruder seiner Mutter ist in Rumänien Repräsentant zahlreicher internationaler Firmen wie des französischen Rüstungs- und Automobilherstellers Hotchkiss, des deutschen Stahlkonzerns Krupp oder der Maschinenfabrik und Telegraphen Bau-Anstalt von Siemens & Halske Actiengesellschaft. Er vertritt auch die Interessen des amerika 12 Arnold Schweitzers Onkel nischen Landmaschinenproduzenten Johnston Harvester Co. Batavia Eugen Behles. und hat es zu einem beachtlichen Wohlstand gebracht. Eugen Behles ist immer ein Vorbild des jungen Arnold Schweitzer gewesen. In Bukarest steigt Schweitzer im feudalen Grand Hôtel du Boulevard ab. An einem Nachmittag betritt er mit Behles ein Kaffeehaus an der Calea Victoriei, der Bukarester Siegesstrasse. Während sie auf die Bedienung warten, erzählt ihm sein Onkel, dass er am nächsten Abend den technischen Direktor von Hotchkiss zu einem Abendessen in der Casa Cap�a, dem besten Restaurant der Stadt, treffen werde. «Das Restaurant ist ganz in deiner Nähe. Du könntest doch dabei sein. Der Mann heisst Squire. Er ist im Zwist mit seinem Verwaltungsrat und auf dem Sprung, den Posten eines Generaldirektors bei den St. Petersburger Putilowwerken anzutreten, einem anderen Rüstungskonzern. Sein Abgang wäre für Hotchkiss gleichbedeutend mit der Aufgabe der lukrativen Salvengeschütz-Fabrikation. Ich kann mir vorstellen, dass das ein gutes Geschäft für dich sein könnte.» Schweitzer wird mit William Horace Squire handelseinig. Er vermittelt und investiert gleichzeitig, indem er die Aktienmehrheit von Hotchkiss erwirbt.6 Als Verwaltungsrat setzt er den mit ihm befreundeten Geschäftsführer des Pariser Petit Journal, Alfred Bergaud, ein, da ihm diese Funktion als Schweizer Bürger verwehrt ist.Bergaud steht dem Konzern später als Verwaltungsratspräsident vor. Er ist Mitbegründer der Pariser Galeries Georges Petit und Kunstsammler. In seinem Besitz befinden sich unter anderem Werke von Alfred Sisley und Camille Pissarro
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19 Arnold und Irène Schweitzer mit ihren Kindern Serge und Jacqueline im Garten ihres Hauses an der Avenue Marc Monnier 6 in Genf.
in seinem Lieblingsrestaurant La Tour d’Argent die kulinarischen Vor züge der französischen Küche beim Blick auf das Seine-Ufer.16
Das verlockende Angebot In Genf gilt Arnold Schweitzers Hauptaugenmerk der sich in Liquidation befindlichen Fabrique de Crayons Ecridor S.A. Er hat schon vor dem Gespräch mit seinem früheren Geschäftspartner Donat Dupont von den Schwierigkeiten der Firma erfahren und kontaktiert nun den mit der Liquidation beauftragten Treuhänder Charles Miville. Er besucht das Unternehmen an der Rue de la Terrassière, um sich vor Ort ein Bild von
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der Liegenschaft, der Bleistiftproduktion und dem Zustand des Maschinenparks zu machen. Als technisch versierter Mensch interessiert ihn vor allem der Fabrikationsprozess, der ihn fasziniert. Natürlich unterzieht er alle Zahlen, die ihm Miville vorlegt, einer intensiven Prüfung. Er merkt aber schon bald, dass er hier nicht nur als Investor auftreten will. Die Aussicht, in Genf, wo seine Familie lebt, ein Unternehmen zu übernehmen, das schweizweit einzigartig wäre, beginnt ihn zu beflügeln. Er sieht dessen Potenzial, vertieft sich in die Unterlagen, spricht mit Geschäftsfreunden in Deutschland und Frankreich, wo die Bleistiftfabriken schon längst etabliert sind und wo man möglicherweise Fachkräfte abwerben könnte. Und er sucht Gleichgesinnte, die bereit wären, mit ihm ein neues Kapitel in der Geschichte der Genfer Bleistiftfabrik zu schreiben. Er findet sie.17
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20 Das Fabrikgebäude an der Rue de la Terrassière 43 in Genf.
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Die Firma Caran d’Ache betritt die nationale Bühne. Mit neuen Produkten. Und neuen Werbemethoden
Es ist Abend. In der Villa Beau Soleil in Genf brennt das Licht an diesem Oktobertag 1923 etwas länger. Arnold Schweitzer hat sich nach dem Essen in die Bibliothek zurückgezogen. Die Bedienstete hat den Tisch längst abgeräumt, die beiden Kinder schlafen. Er hat sich im Salon einen Cognac eingeschenkt und sitzt nun in seinem Lederfauteuil. Sein Blick ruht auf dem Glas, das er in der Hand schwenkt. Irène, seine Frau, betritt den Raum. Sie nimmt ihm gegenüber Platz. «Woran denkst du?», fragt sie ihn. Er antwortet nicht. «Du hattest doch einen guten Tag», nimmt sie das Gespräch auf, das sie beim Nachtessen geführt haben. «Ist es nicht wunderbar, dass dieser Freiburger Industrielle, von der Weid, bei der Gründung deiner Bleistiftfirma mitmacht?» Arnold Schweitzer wendet den Blick seiner Frau zu. «Ja», sagt er. «Und», entgegnet ihm Irène, «was bedrückt dich denn?» Er nimmt einen Schluck. Der Cognac wärmt. «Wir haben immer noch keinen Namen für die Firma.» Er blickt zur Pendule, die an der Wand hängt. «Wir brauchen einen wirklich guten Namen.» Irène steht auf. Sie holt sich im Salon einen Digestif. Als sie in die Bibliothek zurückkommt, geht sie langsamen Schrittes zum Fenster. Dann wendet sie sich zu ihrem Mann. «Warum nennt ihr die Firma nicht Caran d’Ache?» Arnold Schweitzer blickt auf und schaut sie an. «Caran d’Ache? Was ist das für ein Name?» Irène nimmt wieder Platz. «Caran d’Ache ist das Pseudonym eines russischen Karikaturisten, der in Frankreich gewirkt hat. So viel ich weiss, ist er vor langer Zeit gestorben. Der Name bedeutet in unserer russischen Sprache ‹Bleistift›, Karandach.» Arnold Schweitzers Mine hellt sich auf. Langsam spricht er den Namen aus. S ilbe für Silbe: «Caran d’Ache». Seine Augen beginnen zu glänzen. «Das könnte er sein! Unser Firmenname.»1 In den folgenden Tagen versucht Arnold Schweitzer, Informationen über das Leben des Karikaturisten zu beschaffen. Er erkundigt sich auch
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21 Emmanuel Poiré, der seine Karikaturen mit «Caran d’Ache» signierte.
bei seinem Pariser Geschäftsfreund Alfred Bergaud und erfährt, dass der Zeichner Emmanuel Poiré hiess und 1858 in Moskau geboren wurde, wo sich sein Grossvater nach dem Russlandfeldzug Napoleons niedergelassen hatte. Als Poiré um 1878 nach Paris übersiedelte und dort für mehrere Zeitungen und Zeitschriften zu zeichnen begann, legte er sich das Pseudonym «Caran d’Ache» zu. Abgeleitet ist der Name vom russischen Wort «karandach», das seinerseits von den türkischen Begriffen «kara» für schwarz und «ta�» für Stein stammen soll. Poirés berühmteste Karikatur erschien in der Zeitung Le Figaro: Sie zeigt eine Familie, die am Esstisch sitzt und in eine wüste Schlägerei gerät, nachdem sie trotz erhobenen Zeigefingers des Familienoberhaupts auf die Dreyfus-Affäre zu sprechen gekommen war. Die Verurteilung des jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus 1894 wegen angeblichen Landesverrats hatte in Frankreich einen immensen Skandal ausgelöst, der erst 1906 mit dessen Rehabilitierung ein Ende fand. Gestorben war Emmanuel Poiré 1909 in Paris. «Er war einer der berühmtesten Karikaturisten Frankreichs», hatte Bergaud noch betont.2
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hung an: Die Firma braucht mehr Mittel, um sich im umkämpften Schweizer Markt zu behaupten und sich im benachbarten Ausland weiter durchzusetzen. Am 14. Oktober 1925 wird die Erhöhung an einer ausserordentlichen Generalversammlung durch die Ausgabe von 400 neuen Namenaktien zu 1000 Franken gutgeheissen. Das Aktienkapital beträgt nun 1,2 Millionen Franken. Nach eingehenden Gesprächen erklärt sich Verwaltungsrat Edmond Naville bereit, als neuer VR-Delegierter die geschäftsführende Direktion der Firma zu übernehmen. Seine Ernennung wird zeitgleich mit jener von Chefchemiker Nils Andersen zum technischen Direktor im Schweizerischen Handelsamtsblatt pub liziert.14
Präsenz in Deutschland Um das Geschäft im nördlichen Nachbarland voranzutreiben, setzt rnold Schweitzer auf das Berliner Unternehmen Drögmöller & MaletzA ki. Dieses firmiert an vornehmster Adresse: Unter den Linden 47. Die vor züglichen Fabrikate, die sich mit jedem anderen Produkt messen können, sind in einem schmucken Laden, gleich bei der Friedrichstrasse, ausgestellt und werden «von dem einheimischen und internationalen Publikum, das diese Hauptverkehrsachse Berlins bevölkert, gebührend bewundert», schreibt das Correspondenzblatt für die Schweizer und Schweizervereine im Auslande in seiner Berliner Ausgabe vom 15. September 1925 und fügt hinzu: «Hoffentlich wird sich bald jeder Auslandschweizer des schweizerischen Bleistiftes Caran d’Ache bedienen, um so die heimische Industrie zu unterstützen.» Die Produkte aus Genf werden aber auch von der deutschen Fachpresse sehr wohlwollend aufgenommen. «Die Erzeugnisse der schweizerischen Bleistiftfabrik Caran d’Ache (…) wenden sich an den Schreib- und Zeichenwarenmarkt, mit dem Anspruch auf besondere Beachtung, die sie nach den uns vorliegenden Mustern verdienen», heisst es in der Thüringer Papier-Welt. Auch die in Berlin erscheinende PapierZeitung hat die Produkte getestet und lobt vor allem den «Manifold»-Kopierstift: «Eigene Versuche ergaben, dass wir tatsächlich mit einer einzigen Spitze die umfangreichen Messnotizen machen konnten, die sich auf die Dauer etwa einer Woche erstreckten: während der ganzen Zeit brach weder die Spitze noch brauchte sie erneuert zu werden.» Auch wenn die Papier-Welt anführt, dass die Genfer Stifte «gegenüber den von altersher weltbekannten Blei- und Farbstiften unserer deutschen Fabriken naturgemäss einen schweren Stand haben», so lasse sich «doch voraussagen, dass sie auch im ernstesten Wettbewerb bestehen werden,
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denn sie sind hinsichtlich ihrer Beschaffenheit, hinsichtlich dessen, was mit ihnen den Zeichnern, den Büros und Aemtern geboten wird, vor einer Güte ersten Ranges».
Ein besonderer Werbeträger für Caran d’Ache
26 Der Bundesrat posierte an der «Muba» 1926 vor dem Caran d’Ache-Stand. Arnold Schweitzer stellte sich hinten zwischen die beiden Magistraten rechts.
Anfang 1926 findet im Fabrikbüro von Arnold Schweitzer eine Sitzung statt, die einem einzigen Thema gewidmet ist: dem Auftritt von Caran d’Ache an der 10. «Schweizer Mustermesse» vom 17. bis 27. April in Basel. Neben den beiden Direktoren Naville und Andersen ist auch der Leiter der Schreinerei-Abteilung anwesend. «Meine Herren, die Schweizer Mustermesse stellt, wie Sie wissen, für uns die bedeutendste Verkaufsmesse dar. Wie ich von den Organisatoren erfahren habe, wird zur diesjährigen Jubiläumsmesse eine Rekordzahl von Geschäftsbesuchern erwartet», begrüsst der VR-Präsident die Runde. «Ich möchte, dass unser Stand dieses Jahr wirklich auffällt und habe deswegen in unserer Schreinerei Prototypen von über 3 Meter hohen, gespitzten Bleistiften anfertigen lassen. Diese wollen wir einzeln, aber auch in einer Reihe als Wanddekoration aufstellen. Wie mir unser Abteilungsleiter bestätigt hat, sind die Stifte einsetzbar. Wir können sie nachher im Atelier begutachten. Heute möchte ich mit Ihnen weitere Werbemassnahmen besprechen. Wobei es mir vor allem darum geht, dass wir den grösstmöglichen Werbenutzen aus unserem Auftritt ziehen können. Wem darf ich das Wort erteilen?» Als Erster meldet sich Direktor Edmond Naville: «Ich habe von meinem Bruder Robert, der Nationalrat war, erfahren, dass die eidgenössischen Räte aus Anlass des Messejubiläums als Ehrengäste eingeladen werden. Vielleicht kann er seine Beziehungen in Bern nutzen und einen Bundesrat dazu bewegen, unserem Stand einen Besuch abzustatten. Die Bundesverwaltung ist ja auch ein Kunde von uns. Werbewirksam wäre ein solcher Auftritt bestimmt.» «Eine sehr gute Idee», erwidert Schweitzer. «Da fällt mir ein, dass Nationalrat Adrien Lachenal, ein befreundeter Anwalt von mir, davon auch Kenntnis haben müsste. Sein Vater war ja sogar Genfer Bundesrat. Möglicherweise schaffen wir es auch über ihn», nimmt er Navilles Vorschlag auf. «Auf jeden Fall würde ich dann umgehend den Verlagsleiter der Zürcher Illustrierten kontaktieren. Die könnten dann Fotos bringen.» Die Wochenzeitschrift war 1925 vom Verlag Conzett & Huber lanciert worden und hatte sich auf eine populäre Berichterstattung über Schweizer Aktualitäten spezialisiert. «Gibt es andere Vorschläge?», fragt Schweitzer. «Neben den Einkäufern», antwortet Nils Andersen, «sollten wir auch das Publikum direkt
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40 Unübersehbar: Am «Comptoir Suisse» in Lausanne beeindruckte die Firma 1941 mit einem begehbaren Turm.
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Gebrochenes Licht. Ein nächtlicher Anruf. Und ein gebrochenes Herz
«Oh nein», entfährt es Edmond Naville. Der Caran d’Ache-Geschäftsführer sitzt in seinem Büro. Mit einem Seufzer legt er die Blätter mit den Umsatzzahlen des ersten Quartals 1930 zur Seite, die ihm Chefbuchhalter Henri Tissot übergeben hat. Die Bestelleingänge aus dem Ausland sind weiter zurückgegangen. Das kann auch die kontinuierliche Zunahme im kleineren heimischen Markt nicht wettmachen. Nachdenklich blickt er zum Fenster hinaus. Da klopft es an seiner Tür. «Herein!» Es ist Fritz Eichenberger, einer der beiden Caran d’Ache-Handelsvertreter. Als er Navilles Gesichtsausdruck sieht, fragt er besorgt: «Ist etwas?» Der Geschäftsführer zeigt auf die Unterlagen auf seinem Tisch. «Wir spüren die Weltwirtschaftskrise. Unsere Exporteinbussen sind erheblich.» «Ja, ich merke das auch bei meinen Besuchen. Die Kunden sind zurückhaltend geworden. Aber ich habe da vielleicht etwas, das uns dienen könnte», sagt Eichenberger, «deswegen wollte ich bei Ihnen hereinschauen.» Naville hebt den Kopf und bittet ihn, Platz zu nehmen. «Carl Schmid, ein Aargauer Maschineningenieur, hat mich kontaktiert. Er arbeitet seit über zehn Jahren bei den Sécheron Ateliers hier in Genf. Wie andere benutzt er Bleistifte und Minenhalter, die sich aber seiner Meinung nach verbessern liessen. Und so hat er einen völlig neuartigen Klemmzangenmechanismus entwickelt: Die Mine wird mit einem Spannfutter festgehalten, das sich mit einem Knopfdruck öffnen lässt, sodass die Mine durch ihre Schwerkraft in die Schreibstellung gleitet. Er hat letztes Jahr ein Modell zur Patentierung eingereicht und kürzlich den Patenteintrag für seinen Minenhalter erhalten. Er nennt ihn ‹Fixpencil›.» Naville blickt seinen Handelsvertreter interessiert an. «Und wieso hat er sich an Sie gewandt?» «Ich bin ihm bei einer Veranstaltung begegnet. Er sucht eine Firma, die den Minenhalter produziert», antwortet Eichenberger. «Hat er ihn Ihnen gezeigt?», fragt der Geschäftsführer gespannt. «Ja, ich halte den ‹Fixpencil› für eine bestechende Erfindung.» Naville fährt mit dem Zeigefinger über seine Lippen. Dann setzt er sich auf. «Bitten Sie ihn doch herzukommen. Er soll seinen Minenhalter unserem technischen Direktor Ernest Huber vorlegen. Das könnte uns tatsächlich voranbringen.»1
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Der «Fixpencil» wird lanciert Noch im selben Jahr lanciert Caran d’Ache den «Fixpencil», «der moderne Präzisions-Minenhalter, der unentbehrlich ist für Ingenieure, Techniker, Architekten, Zeichner und Kaufleute», wie die Firma wirbt. Zur Herstellung des neuartigen Schreibgeräts, das ein Welterfolg werden sollte, bezieht sie vorerst Teile von der Genfer Uhrenindustrie, da ihr die dazu geeigneten Werkzeugmaschinen fehlen. Der Schaft des Minenhalters besteht anfänglich aus Kunststoff, später aus Aluminium. Die Eigenfabrikation erfolgt ab Mitte der 1930er-Jahre, die ab 1936 auch die Kollektion «Ecridor» umfassen wird. Deren Name lässt Caran d’Ache schützen. Bei der Lancierung des «Fixpencils» betont die Bleistiftfabrik dessen Schweizer Herkunft. Um den einheimischen Markt noch mehr anzusprechen, werden auch Kreidestifte für das Schweizer Kartenspiel «Jassen» und Bleistifte mit dem Namen «Edelweiss» und «St. Gotthard» ins Sortiment aufgenommen. 41 So warb Caran d’Ache für den «Fixpencil» und den «Technograph»-Bleistift.
«Prismalo» – der erste aquarellierbare Farbstift Aber das Genfer Unternehmen leidet weiter unter der schwierigen Weltwirtschaftslage. Diese schlägt sich vor allem auf die Exporte nieder: Sie brechen 1931 um mehr als die Hälfte ein. Nach Italien, Deutschland, England, Polen und Rumänien können praktisch keine Produkte mehr geliefert werden. Ein Desaster. Erstmals in ihrer Geschichte muss Caran d’Ache Mitarbeitende entlassen. Kein leichtes Unterfangen für Geschäftsführer Naville, dem das Wohl der Belegschaft sehr am Herzen liegt. Doch es gibt auch Lichtblicke: Der Schweizer Markt wächst weiter. Die Werbekampagnen in Fachzeitschriften und Illustrierten beginnen sich auszuzahlen. Und es gibt eine Weltneuheit, den «Prismalo», der e rste aquarellierbare Farbstift. Caran d’Ache führt ihn 1931 ein. Er wird in 32 Farben angeboten. In roten Schachteln zu 6, 12 und später auch 18 Stiften, deren Deckel eine Karavelle auf dem Meer zeigt. Die Illustration stammt vom österreichisch-schweizerischen Marinemaler Harry Heusser, der an
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42, 43 In einer internen Notiz hielt Arnold Schweitzer fest, dass der Marinemaler Harry Heusser ihn im Büro besucht und vorgeschlagen habe, mit einem Marinesujet für die wasservermalbaren «Prismalo»-Farbstifte zu werben. Heusser legte dann mehrere Entwürfe für die Farbstiftschachtel vor.
den Kunstakademien in Berlin, München und Venedig studiert hat und in Lausanne lebt.2 Der Name «Prismalo» geht auf den französischen Ausdruck «prisme à l’eau» zurück: Trifft Licht auf Wasser, wird es gebrochen und in die Spektral- oder Regenbogenfarben zerlegt. Der Farbstift entzückt nicht nur Künstlerinnen und Künstler, deren Ansprüche er «in glücklichster Weise erfüllt», wie die Firma in ihrem Beipackzettel festhält. Er wird auch Generationen von Schulkindern im Zeichen- und Schreib-
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aber bereits zahlreiche Privatfirmen, unter anderem grosse Maschinenfabriken, dazu übergegangen, in ihren Betrieben nur noch ‹Caran d’Ache›Bleistifte zu verwenden, selbst in ihren technischen Abteilungen. Auch der Kanton dürfte diesem Beispiel folgen und künftig, sowohl zum Schutze der einheimischen Industrie, als auch im Interesse von Ein sparungen, von der Anschaffung von ‹Koh-I-Noor›-Bleistiften Umgang nehmen. Soweit dies nicht bereits geschehen ist, wird die Stadt Zürich dasselbe tun.»5
«Die grosse Fabrik» Trotz der schlechten Wirtschaftslage wird an der Rue de la Terrassière mit Eifer weitergearbeitet, denn der «Fixpencil» und die «Prismalo»-Farbstifte entpuppen sich in der Schweiz als Verkaufsschlager. Eines Tages bittet VR-Präsident Arnold Schweitzer den Mechaniker Conrad Hausmann zu sich ins Büro.Auf seinem Schreibtisch liegen Skizzen. «Ich habe eine Idee», eröffnet er das Gespräch. «Ich möchte unsere Messestände noch attraktiver gestalten. Kinder und Erwachsene sollen sehen, wie aufwendig die Produktion unserer Stifte ist. Und mit welcher Sorgfalt wir sie fabrizieren. Dabei schweben mir mechanisch belebte Szenen vor, die aneinandergereiht die Produktion vor Augen führen. Puppenstubenartig sollen stoffbekleidete Figuren aus Holz die Arbeitsschritte zeigen. Ich habe hier einige Skizzen. Können Sie das bewerkstelligen?» Hausmann sieht sich die Zeichnungen an: Arbeiter schleppen Säcke mit Tonerde, zersägen Holz, kurbeln Maschinen an, legen Minen in genutete Brettchen, Arbeiterinnen bündeln und verpacken die Stifte. «Wie gross haben Sie sich denn das vorgestellt», fragt er seinen Chef. «Nun, ich dachte an 13 Szenen in 13 Werkstätten. Insgesamt 13 Meter lang.» Hausmanns Augen weiten sich. Doch dann beginnen sie zu glänzen. «Das wäre bestimmt einzigartig!» «Ja», erwidert Schweitzer, «legen Sie doch so bald als möglich los. Wir werden das Werk ‹Die grosse Fabrik› nennen.» Fast Tag und Nacht arbeitet Hausmann während Wochen und Monaten in einem Dachstock an seinem Werk, immer wieder begutachtet von Schweitzer, dessen Freude mit jeder neu geschaffenen Szene zunimmt. «Die grosse Fabrik» sorgt bei ihren ersten Präsentationen für grosse Augen: Staunend betrachten die Menschen die beweglichen Figuren, die bis ins kleinste Detail ausstaffiert sind – bis hin zu den Perlmuttknöpfen auf den Bündchen der geschäftigen Arbeiterinnen.
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45 Mit solchen Schaufensterdekorationen sprach Caran d’Ache Kinder wie Erwachsene während Jahrzehnten an.
Und Bären und Hasen … Als Arnold Schweitzer eines Morgens mit einem Teddybären unter dem Arm die Fabrik betritt, weiten sich auch die Augen von Geschäftsführer Naville: «Was willst du denn mit diesem Bären? Deine Kinder sind doch schon bald erwachsen.» «Ich bin auf dem Weg zu Conrad Hausmann. Wir haben da noch eine andere Idee», antwortet er. «Unsere ‹grosse Fabrik› stösst auf derart grosses Interesse, dass wir nun auch unsere Schaufenster, vor allem in den Bahnhofshallen, mit beweglichen Figuren beleben wollen. Diesmal sollen es aber vermenschlichte Tiere sein. Ich denke an Bären, die mit einem Farbstift als Taktstock dirigieren, oder an Hasen, die auf Velos mit Farbstiftspeichen in die Pedalen treten. Glaub mir, das wird bestimmt ein Renner!», fährt Schweitzer fort und verabschiedet sich von ihm. Er hat recht: Als in der Gare de Cornavin, dem Genfer Hauptbahnhof, das erste Schaufenster mit den Caran d’Ache-Automaten gestaltet wird, drücken nicht nur Kinder ihre Nase platt, auch Erwachsene bleiben entzückt stehen, bewundern den trommelnden Bären und den Akkordeon spielenden Igel, die in einer fantasievollen, mit Farbstiftschachteln geschmückten Schweizer Landschaft stehen. Die Automaten sind so erfolgreich, dass Schreibwarengeschäfte und Händler in der ganzen Schweiz die Figuren für ihre eigenen Schaufenster und Werbeveranstaltungen bestellen. Und so dazu beitragen, dass Generationen sie als farbige Kindheitserinnerung behalten werden …6
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47 Im Pack- und Versandraum an der Rue de la Terrassière: Mit einem deutschsprachigen Plakat und Zeichnungen an den Wänden. Die Aufnahme stammt von 1937.
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48  Ein Angestellter an einer Knetmaschine, die 1937 Ton und Graphit zu einem Minenteig verarbeitete.
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porttruppen befördert. Im Jahr darauf erhält er die Prokura und wird zum Sekretär des Verwaltungsrats ernannt, ein Posten, den er aber bereits 1940 an Verwaltungsrat Joseph Reiser verliert. Dieser übernimmt ausserdem von Edmond Naville das Amt des VR-Delegierten. Im selben Jahr kommt es noch zu weiteren personellen Wechseln: So tritt Henri Hubscher nun doch aus dem Verwaltungsrat aus, den auch Jacques Salmanowitz verlässt. Neu nimmt dafür Edouard Christin, Hubschers Schwager, Einsitz im Gremium.10 Joseph Reiser wird zu einer wichtigen Figur in der Caran d’AcheFührung: Der aus dem Berner Jura stammende Doktor der Wirtschaftswissenschaften hat sich als Treuhänder und Bücherexperte in Genf einen hervorragenden Ruf geschaffen. Bestens vernetzt in der Immobilien- und Finanzbranche, führt er mitten im Genfer Geschäftsviertel, an der Rue du Rhône 6, ein Treuhandbüro, das im Jahr 1934 bereits 15 Mitarbeitende zählte. Zusätzlich ist er Inhaber von zwei Beteiligungsgesellschaften, deren Aktienkapital insgesamt 1,5 Millionen Franken beträgt. Und er hält Verwaltungsratsmandate von Firmen, die mit Nahrungsmitteln oder Stahl, Metallen und Uhren-Fournituren handeln.11 Edouard Christins Weg in den Verwaltungsrat der Genfer Bleistift fabrik hingegen führt über die Liebe: Der in Yverdon-les-Bains geborene Arzt hat 1922 in Genf die zweite Tochter von Jacques Hubscher, Hélène, geheiratet. Im waadtländischen Cornaux-Camby wohnend, leitet er das vornehme «Etablissement médical de Mont Riant». Die hoch über Mon treux gelegene Klinik, mit prächtiger Aussicht über den Genfersee und die Savoyer Alpen, bietet gut betuchten Patientinnen und Patienten Ruhe und Erholung.12
Trotz Krieg wird weiterproduziert Mittlerweile hat der Zweite Weltkrieg Nord- und Westeuropa erfasst. Nach Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien und Luxemburg muss auch Frankreich kapitulieren. Deutsche Wehrmachtsverbände sind am 14. Juni 1940 kampflos in das menschenleer wirkende Paris einmarschiert. Mit grösster Sorge beobachten die Geschäftsführung und die Belegschaft von Caran d’Ache die Kriegswirren. Die Produktion des mittlerweile fast 700 Artikel umfassenden Sortiments muss weiter gedrosselt werden, der Fokus liegt noch stärker auf dem heimischen Markt. In Inseraten wird vermehrt dazu aufgerufen, Produkte aus dem eigenen Land zu kaufen: Die Firma schaltet Annoncen mit der Darstellung dreier Farbstifte sowie Tells Armbrust. Dazu kreiert sie den Werbe-
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spruch «Man sagt nicht mehr … ich wünsche e inen Bleistift, man sagt: ich will einen Caran d’Ache.» Denn «der einzige wirkliche einheimische Bleistift heisst Caran d’Ache», wird in einem Firmenporträt betont, das im schweizweit verbreiteten Appenzeller Kalender erscheint. «(…) alle andern schweizerisch klingenden Namen wie Pestalozzi, Lemanic, Aarauer Kraftfarbstift, Alphorn, Patria, Rigi, Pilatus, Matterhorn, Uto usw. sind Masken für ausländische Fabrikate, und werden hauptsächlich von Hausierern verkauft. Also aufgepasst!» Unter den neuen Produkten, die vor und während des Kriegs lanciert werden, befindet sich ein metallenes Utensil, das bald in fast allen Schweizer Schulstuben steht: die Bleistiftspitzmaschine Nr. 455, die später Kultstatus erreichen wird.Das namenlose Eigenfabrikat ist eine Weiterentwicklung einer «sinnreichen, unverwüstlichen Konstruktion», die Caran d’Ache bereits 1935 auf den Markt gebracht hat. Es verdrängt amerikanische Konkurrenzprodukte mit Namen wie «Giant» oder die Spitz- 50 Sie wurde Kult: maschine «Eros» der Koh-I-Noor Bleistiftfabrik L. & C. Hardtmuth aus die Caran d’AcheSpitzmaschine No 455. Tschechien, eine der ältesten Bleistiftfirmen der Welt. Die Lancierung der neuen Bleistiftspitzmaschine unterstützt Arnold Schweitzer mit einer Inseratekampagne in der Schweizerischen Lehrerzeitung, denn «die Schulen sind unsere Türöffner», wie er einem Freund einmal erzählte: «Als wir mit unseren Bleistiften endlich konkurrenzfähig waren, mussten wir zu unserem Leidwesen erfahren, dass eigentlich gar niemand erpicht darauf war, Schweizer Bleistifte zu kaufen. Seit Jahren war das Publikum an die ausländischen Marken gewohnt – und lohnte es sich denn, für etwas, das doch nur Rappen kostete, sich einen anderen Namen einzuprägen? Das war von allen Hindernissen vielleicht das Grösste. Die schweizerische Lehrerschaft und die Schulkinder sind aber bald auf unsere Reklame aufmerksam geworden. Ihr Anteil an der Überwindung dieses Hindernisses ist gross.»14 Natürlich hilft Schweitzer dabei auch nach – indem er etwa den Lehrer Hans Hunziker aus Schaffhausen unterstützt, eine Schrift zu verfassen, die unter dem Titel Der Farbstift in der Schule herauskommt. Darin wird Caran d’Ache als «die Herstellerin der Schweizer Schulfarbstifte»
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71 Für die Verleihung ihres Kunstpreises 1993 liess Caran d’Ache eine kunstvolle Einladungskarte drucken.
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Eine Absage mit Folgen, eine Zusage mit Einschränkungen und ein Rekord
«Das gibt es doch nicht! Jetzt haben wir den höchstdotierten Kunstpreis verliehen, den es in der Schweiz je gab, und Tausende von Franken für Inserate zu dessen Ankündigung ausgegeben – und niemand berichtet darüber! Keine Meldung in der Zeitung, kein Radiointerview, keine Nachricht im Fernsehen. Nichts!» Unwirsch legt Caran d’Ache-Generaldirektor Jacques Hubscher an diesem Donnerstagmorgen die Zeitungen zur Seite und blickt seinen Werbechef Roland Wenger an, den er in sein Büro gerufen hat: «Kannst du dir das erklären?» Wenger war am Montagabend im Studio Bellerive in Zürich dabei gewesen, als der «Prix Caran d’Ache Beaux-Arts» den beiden Zürcher Künstlern Peter Fischli und David Weiss verliehen wurde. In Anwesenheit zahlreicher Gäste und prominenter Kunstschaffenden wie Hans Erni und Max Bill, die anschlies send im noblen Restaurant Kronenhalle das Ereignis feierten. «Ein Keystone-Fotograf war jedenfalls an beiden Orten anwesend. Vielleicht bringen die Zeitungen später noch etwas», antwortet Wenger. «Aber es ist in der Tat sehr enttäuschend. Vielleicht hat es damit zu tun, dass die Preisträger noch nicht so bekannt sind», sucht er nach einer plausiblen Erklärung. «Ich werde mich jedenfalls darum bemühen, dass wenigstens unsere Genfer Zeitungen noch darüber berichten.» Am nächsten Tag – es ist der 2. Juni 1989 – erscheint im Journal de Genève eine 13-zeilige Meldung. Ihr folgt am Wochenende ein grösserer Beitrag, in dem die Preisverleihung gewürdigt wird – mit einem Porträt der beiden Preisträger, das der Genfer Kunstkritiker Philippe Mathonnet als Jurymitglied verfasst hat. Im redaktionellen Begleittext wird erwähnt, dass der Preis mit der «koketten Summe» von 40 000 Franken dotiert ist. Zudem schaltet Caran d’Ache in der letzten Dezemberwoche des Jahrs in den meisten Zeitungen, in denen der Kunstpreis ein Jahr zuvor national angekündigt worden war, erneut ein ganzseitiges Inserat. Darin werden Fischli und Weiss vorgestellt, die im selben Jahr an der 20. «Internationalen Biennale in São Paulo» teilgenommen und unter anderem in Galerien in New York und
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Köln ausgestellt haben. Ihre Werke – von kleinsten Knetfiguren über Filme und Fotografien bis zu riesigen Assemblagen – «widerspiegeln auf optimale Weise jene Auswahlkriterien, die zur Preisvergabe gefordert werden: Originalität und Ausdruckskraft», heisst es im Inserat, das nochmals die Mitglieder der prominent besetzten Jury auflistet. Und in dem betont wird, dass Caran d’Ache mit ihrem Kunstpreis «die Ausstrahlung der Schweizer Kunst fördern» will.1
Ein Bundesrat als Gast Die Arbeiten des zweiten Preisträgers stehen exemplarisch für Originalität und Ausdruckskraft: Es ist der Berner Bildhauer, Eisenplastiker, Illustrator, Filmemacher und Autor Bernhard Luginbühl. Er erhält den «Prix Caran d’Ache Beaux-Arts» für sein Gesamtwerk, «das in der Schweiz einmalig ist und wesentlich zum kulturellen Ansehen des Landes beiträgt», wie es in der Laudatio heisst. Diese Meinung vertritt auch Bundesrat Adolf Ogi, der an der Preisverleihung teilnimmt, die am 25. April 1990 an Luginbühls Wohnort im bernischen Mötschwil stattfindet. Diesmal gibt es auch bei Caran d’Ache strahlende Gesichter, denn zahlreiche Medien berichten über die Preisverleihung – von der NZZ bis zur Schweizer Illustrierten, die ein Foto veröffentlicht, das Bernhard Luginbühl und seinen Freund Jean Tinguely mit überdimensionierten Caran d’Ache-Farbstiften posierend vor seiner Arbeitsstätte zeigt. Das Unternehmen eröffnet im Oktober des selben Jahrs an seinem Sitz in Thônex sogar eine Ausstellung, in der neben einigen kleineren Eisenplastiken vor allem Zeichnungen, Radierungen und Lithografien des Berner Künstlers zu sehen sind.2 Kunstschaffende hat Caran d’Ache auch im Auge, als die Firma 1990 mit «Pablo» eine weitere Neuheit in ihrem Farbensortiment präsentiert: wasserfeste Farbstifte, die sich dank ihrer hohen Deckkraft und samtigen Textur bestens zum Zeichnen, Schraffieren und Schattieren eignen. Den Experten der Entwicklungsabteilung ist es gelungen, für «Pablo» eine Mine zu schaffen, die Farben mit einer aussergewöhnlich guten Lichtbeständigkeit erbringt. Bei der Entwicklung neuer Produkte zieht die Firma öfter erfahrene Künstler bei, deren Ratschläge in die Kreation einfliessen – wie bei den Neopastellen, die mit ihrer hohen Pigmentkonzentration besonders vielseitig einsetzbar und 1990 in 48 Farben erhältlich sind. Und sie bietet Artist-Sets an, die zum Beispiel «Prismalo»-Farbstifte, Gouachewasserfarben und «Neocolor»-Kreiden vereinen.
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Hans Erni gestaltet eine Farbstiftschachtel Caran d’Ache nutzt die Beziehungen, die dank ihres Kunstpreises entstehen, auch für kommerzielle Zwecke: Aus Anlass der 700-Jahr-Feier der Schweizerischen Eidgenossenschaft bringt sie 1991 unter dem Namen «Evolution» eine besondere Kollektion wasserlöslicher Farbstifte für Künstler auf den Markt – in einer schwarzen, vom Schweizer Maler und Grafiker Hans Erni gestalteten Metallschachtel, auf deren Cover spiralförmig ein menschliches Antlitz erscheint. Im Innern liegt ein pergamentartiges Blatt bei. Darauf abgebildet ist ein von Erni unterzeichnetes, handschriftliches Statement, das der Kollektion einen ganz persönlichen Charakter verleiht: «Jeder Augenblick ist Neubeginn, ist Veränderung.Aus der Mitte, wie aus einem 72 Die von Hans Erni Kern windet sich die Spirale. Auf ihrem Weg verwandelt sie Vorhandenes gestaltete Farbstiftschachtel «Evolution». in Neues, Zukunftsträchtiges. In jedem Stadium bildet sie eine spezifische einmalige Harmonie – Evolution.»3
Ein Abgang und zwei Todesfälle Generaldirektor Jacques Hubscher sieht sich aber auch mit schlechten und traurigen Nachrichten konfrontiert: Nach fünf Jahren hat sein Stellvertreter Philipp Bolens das Unternehmen verlassen. Zudem stirbt im Herbst 1992 seine Mutter Odette Hubscher-Och im Alter von 93 Jahren. Und ein Jahr später muss er den Tod seines geschätzten Verwaltungsratskollegen Maurice Reiser verkraften: Die Todesanzeige der Familie erscheint am 29. September im Journal de Genève.4 Reiser hat dem Verwaltungsrat während 30 Jahren gedient. Das Amt des Vizepräsidenten wird seinem Schwager Frank Pfeiffer übertragen.
Ein unerwartetes Finale in Paris Nachdem sich die Resonanz der nächsten zwei Verleihungen des «Prix Caran d’Ache Beaux-Arts» im Schweizer Blätterwald erneut in Grenzen hält – 1991 geht der Preis an den aus Hannover stammenden und zeitweise in Basel wohnhaften Künstler Dieter Roth, 1992 an den Neuenburger,
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73 Nach der Verleihung des 1. Kunstpreises am 29. Mai 1989 feierten Hans Erni (l.) und Max Bill mit den Preisträgern Peter Fischli und David Weiss (hinter ihnen) in der Zürcher «Kronenhalle». 74 Jean Tinguely (l.) und Preisträger Bernhard Luginbühl posierten im April 1990 für die Schweizer Illustrierte mit überdimen sionierten Caran d’AcheFarbstiften.
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75 Eine Illustration auf der Einladungskarte zur Kunstpreis-Feier im Mai 1994 in Paris.
in New York lebenden Olivier Mosset –, sieht sich die Jury veranlasst, 1993 eine Künstlerin mit internationalem Renommee auszuzeichnen: Es ist die französisch-schweizerische Malerin und Bildhauerin Niki de Saint Phalle, die vor allem mit ihren «Nanas» – aus Polyester geformte Plastiken, die mit der Bildsprache der Pop-Art sinnliche, farbenfroh gestaltete, voluminöse weibliche Körper darstellen – zu Weltruhm gekommen ist. Eine der Figuren ist Teil des Strawinski-Brunnens, der vor dem Centre Pompidou in Paris steht und den sie mit ihrem Lebenspartner Jean Tinguely geschaffen hat. Er ist im August 1991 verstorben. Diesmal setzt die Führungsspitze des Genfer Unternehmens alles daran, dass die Preisverleihung zu einem durchschlagenden Erfolg wird: Sie ist auf den Dienstag, 3. Mai 1994 angesetzt. Als «adäquate» Lokalität wählt man die Schweizer Botschaft in Paris: Jacques Hubscher kennt Botschafter Edouard Brunner persönlich. Mit Camions werden Exponate der Künstlerin aus ihren Ateliers bei P aris angeschafft und im bezaubernden Garten der Botschaft platziert – ein prächtiger Bau aus dem frühen 18. Jahrhundert mit prunkvollem Interieur, im 7. Arrondissement gelegen. Einladungen gehen an die «crème de la crème de Paris». Und natürlich an die Presse. Sowie an zahlreiche Freunde der Künstlerin. Doch kurz vor der Preisverleihung kommt die Hiobsbotschaft: Niki de Saint Phalle sagt ihre Teilnahme aus gesundheitlichen Gründen ab. So nimmt ihr Künstlerfreund Pontus Hultén den Preis für sie entgegen – in Anwesenheit von fast 200 Gästen. Der Schwede ist Gründungsdirektor bedeutender Museen wie des Centre Pompidou oder des Museum of Contemporary Art in Los Angeles. Für Jacques Hubscher, welcher der Zeremonie beiwohnt, kommt die Absage Niki de Saint Phalles einem Dolchstoss gleich: Zurück in Genf teilt er seinen Direktoren unmissverständlich mit, dass dies die letzte Kunstpreisverleihung gewesen ist. 5
Neue Luxuskollektionen Jacques Hubscher wendet sich lieber wieder Projekten zu, die rentabler sind – wie den inzwischen lancierten Luxuskollektionen «Genève» oder «Hexagonale». Um das Modell «Genève» zu bewerben, spannt Caran
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d’Ache in ganzseitigen Inseraten, die unter anderem in der NZZ und in der Kulturzeitschrift DU erscheinen, den Bogen sogar zu einem der grössten Komponisten: «Als W. A. Mozart im Herbst 1791 ‹Die Zauberflöte› schrieb, entstand ein Werk mit innerem Glanz, technisch vollkommen und darum zeitlos», hält die Firma fest und fügt hinzu: «Seit 1924 verfolgt Caran d’Ache das Ziel, Schreibgeräte zu schaffen, die so dauerhaft und voller Glanz sind wie ein solches Werk.» Illustriert wird die Annonce mit einem Auszug aus Mozarts Partiturmanuskript, dem ein schwarz lackierter Füllfederhalter mit goldener Schreibfeder aus dem Haus Caran d’Ache beigelegt ist. Die Kollektion «Hexagonale» ihrerseits verkörpert mit ihrer sechseckigen Form die Tradition der Handwerkskunst der Genfer Firma, verbindet sie mit edlen Materialien wie Gold oder Chinalack und adelt sie mit dem heraldischen Lilien-Emblem der «Fleur de Lis». Der China lack ist ein Naturprodukt, das aus dem Saft des Lackbaums gewonnen wird. In China und Japan wird er seit Jahrhunderten als Kunst angewandt, Caran d’Ache zählt zu den wenigen westlichen Herstellern, die ihn als Naturlack verarbeiten sowie blau, schwarz oder rot pigmentieren. Aufgetragen wird er in Handarbeit. Das alles hat natürlich seinen Preis:
76 Der Chinalack wird in Handarbeit aufgetragen. 77 Namhafte Firmen und Institutionen verwendeten Produkte der Genfer Firma als Geschenk, wie diese Doppelseite aus dem LuxusKatalog von 1994 zeigt.
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Foto: Rebekka Schellenberg
Ralph Brühwiler (*1956 in St. Gallen) ist in Genf und Oberuzwil aufgewachsen. Studium der Journalistik in Fribourg, Lokaljournalist bei den Freiburger Nachrichten, später Ressortleiter St. Galler Tagblatt und danach Chefredaktor Der Toggenburger. 1994 Wechsel in den Magazin-Journalismus. Seit 2012 verfasst er biografische Werke – im Auftrag von Privatpersonen, Verlagen oder Firmen. Gestalten ist seine Passion – fotografierend für seinen Kartenverlag und zeichnend für ein interessiertes Publikum. www.ralphbruehwiler.ch
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Ralph Brühwiler
«Eine verblüffende Saga voller Pionier- und Innovationsgeist.» Marina Pondini, Amt für Kultur St. Gallen
Die Caran d’Ache Saga
Drei Genfer Geschäftsfreunde, die eine verrückte Idee haben ; ein St. Galler Börsenmakler, der St. Petersburg fluchtartig verlassen muss und in Genf eine Russin kennenlernt, die ihm für seine neue Firma einen französisch klingenden Namen beschert ; ein Schaffhauser Kaufmann, der in Marseille mit Getreidehandel zum Millionär wird und sein Geld in Genf gut investiert, nachdem er wegen Intrigen aus Frankreich ausgewiesen worden ist; ein Hotel-Portier, der gute Miene macht und Talent zum Zeichnen hat ; ein bedeutender Künstler, der in seiner Villa in Südfrankreich zu Farbstiften und Wachskreiden greift, um nicht nur mit seinen Kindern zu malen ; Diamanten, die eine Füllfeder zum teuersten Stift ihrer Zeit machen ; ein Firmeninhaber, der sehr erfolgreich und sehr diskret ist ; eine Präsidentin, die einmal Astronautin werden wollte und heute das Unternehmen in eine Welt voller Frauenpower führt. Ralph Brühwiler erzählt in seiner Saga die Geschichte, wie aus einer kleinen Genfer Bleistiftfabrik eine Weltmarke wurde : Caran d’Ache.
Ralph Brühwiler
Die
Saga Von Genf in die Welt
NZZ Libro
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