Die frühere Bundesrätin und Vorsteherin des EDA, Micheline Calmy-Rey, plädiert für eine zeitgemässe Interpretation der Schweizer Neutralität. Sie stellt die Frage, was diese in modernen Konflikten oder bei Terrorismus und Cyberattacken leisten kann. Wie vereinbar sind Neutralität und Europäische Union? Das Buch zeigt, inwiefern die Schweizer Neutralität auch als Inspiration für die EU dienen könnte. Ist die Neutralität für die Schweiz noch ein nützliches Instrument oder nur noch ein Mythos?
I S B N 978-3-03810-493-3
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783038 104933
Die Neutralität Micheline Calmy-Rey
Autoren, Diplomaten oder auch Professoren beklagen sich heute über die Omnipräsenz der Neutralität in der politischen Debatte. Wir würden zu viel über die Neutralität sprechen, es wäre an der Zeit, diese etwas zu vergessen. Das Konzept der Neutralität sei veraltet. Sie würde lediglich noch die militärischen Fragen zwischen einem neutralen Staat und einer Konfliktpartei regeln.
Micheline Calmy-Rey
Die Neutralität Zwischen Mythos und Vorbild
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© 2020 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel Übersetzung: Irma Wehrli, Davos Lektorat: Laura Simon, Basel Umschlaggestaltung: Janet Levvet Umschlagfoto: Alex Spichale©CH Media AG Gestaltung, Satz: Marianne Otte, Konstanz Druck, Einband: CPI Books GmbH, Leck Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-493-3 ISBN E-Book 978-3-03810-494-0 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG. ®
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Inhalt 9 Vorwort
9 Die schweizerische Neutralität – eine Inspiration für Europa?
13 Einleitung 17 Das Neutralitätsrecht 18 Die rechtlichen Grundsätze
19 Zeitweilige und dauerhafte Neutralität
21 Ein Paradigmenwechsel: Die Neutralität und das System der kollektiven Sicherheit der UNO 22 Die Charta der Vereinten Nationen 23 Der UNO-Sicherheitsrat
24 Die Neutralität im kollektiven Sicherheitssystem
26 Die Schwäche des kollektiven Sicherheitssystems der UNO 28 Der Multilateralismus als Chance
31 Die Kandidatur der Schweiz für den Sicherheitsrat
6 Inhalt
35 Die Neutralitätspolitik 35 Schweizer Neutralitätspolitik im Lauf der Geschichte
41 Die Herausforderungen 41 Was ist ein Krieg? Ein Begriff wandelt sich
44 Cyberattacken und Neutralität: Erläuterungen von Solange Ghernaouti 47 Die bewaffnete Neutralität: ein Mythos? 50 Die militärische Zusammenarbeit
52 Das Kriegsmaterial-Ausfuhrverbot
57 Neutralität, was ist das? Zwei Positionierungen 57 Die Antwort von Jean Ziegler oder Die Schizophrenie der schweizerischen Aussenpolitk
60 Die Antwort von Roger Köppel oder Der Kampf für die bewaffnete Neutralität
63 Braucht es die Neutralität noch?
Inhalt 7
71 Die Neutralität und die Europäische Union: Sind sie unvereinbar? 77 Unterwegs zu einer neutralen EU? 77 Es braucht Einfluss
81 Es braucht Sicherheit
83 Es braucht Zusammenhalt 88 Es braucht Neutralität
95 Paul Seger Neutralität: für den Krieg erschaffen – wie geschaffen für den Frieden 105 Anmerkungen
Vorwort Die schweizerische Neutralität – eine Inspiration für Europa?
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts ist die Schweiz die wichtigste Militärmacht Europas. 1512 fällt sie in das Burgund ein, belagert Dijon und zwingt dem französischen König ein Friedensabkommen auf. Im selben Jahr besetzt sie die Lombardei und geht 1513 siegreich aus der Schlacht bei Navarra hervor. Doch dann werden die als unbesiegbar geltenden Schweizer zwei Jahre später bei Marignano geschlagen: Die Unstimmigkeiten zwischen den Verbündeten und die Schwäche der übergeordneten Instanz der Tagsatzung hatten eine Einigung über die Anzahl Söldner, die von jedem Bündnispartner zu stellen wären, verhindert. Stattdessen hatten sie auf freiwilliger Basis, ohne feste Kontingente, Truppen abgeordnet. Zu wenige, wie sich im Verlauf der Schlacht zeigen sollte. 1516, ein Jahr nach der Niederlage, unterzeichnet die Schweiz einen Friedensvertrag mit Frankreich. Faktisch verzichten die Eidgenossen damit auf eine militärische Eroberungspolitik. Stattdessen handeln sie bilaterale Abkommen aus, zunächst mit Frankreich, später auch mit den Habsburgern, mit Spanien und Venedig. Sie reagieren auf äusseren Druck, zeigen sich flexibel und verständigen sich mit ihren Partnern, während sie sich gleichzeitig aus der «grossen Politik» heraushalten. Mehr als 200 Jahre lang werden sie eine zurückhaltende Aussenpolitik verfolgen, die man trotzdem nicht selbstbezogen oder isolationistisch nennen kann. Vielmehr geht die Schweiz auf Distanz zu ihren allzu mächtigen Nachbarn, um ihre Unabhängigkeit zu wahren. Man kann dies als pragmatische Haltung bezeichnen, die sich den Umständen anpasst. Daraus wird im 17. Jahrhundert das Prinzip der Neutralität hervorgehen, indem die Eidgenossen die Konsequenzen aus ihrer Lage ziehen: Die Schweiz ist ein Bündnis kleinräumiger Stände mit unterschiedlichen geostrategischen Interessen und einer schwachen Zentralmacht, die eher eine Einigungsinstanz ist als eine Institution, die über echte Entscheidungsgewalt verfügt. Die Eidgenossen verständigen sich 1647 auf den Status der Neutralität
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des Landes, ein Jahr vor der Unterzeichnung des Westfälischen Friedens. Ihre Botschaft lautet: Wir werden niemanden mehr angreifen; wir werden uns höchstens verteidigen, wenn wir angegriffen werden. Dies kommt einem endgültigen Verzicht auf militärische Aggression als Instrument der Sicherheitspolitik gleich. Die Eidgenossen verpflichten sich mit diesem Entscheid dazu, die Durchsetzung ihrer nationalen Interessen nie mehr mit Gewalt zu suchen, und sie tun dies, lange bevor das Völkerrecht den Krieg ächtet. Rückblickend ist dieser Entscheid in einer Epoche, in der der Krieg als legitimes Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen galt, regelrecht revolutionär zu nennen. Dieser historische Rückblick ruft mir eine Konferenz in Erinnerung, an der ich vor einigen Jahren als Aussenministerin teilnahm. Es ging dabei um den Nahen Osten. Ein europäischer Kollege betonte die Wichtigkeit der europäischen Finanzhilfe für das Besetzte Palästinensische Gebiet und beklagte gleichzeitig, dass die Europäische Union bei den Bemühungen zur Beilegung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern keine strategische Rolle spiele. Wie in den Anfängen der Eidgenossenschaft waren auch hier gegensätzliche Interessen der Mitgliedsstaaten und eine schwache Führung am bescheidenen Erfolg der europäischen Aussenpolitik schuld, trotz der beträchtlichen Geldsummen, die mit im Spiel waren. Die Aussenpolitik trägt das Selbstverständnis eines Landes nach aussen. Sie ist idealerweise langfristig und berechenbar, vereint die Positionen der Bürgerinnen und Bürger und berücksichtigt das innenpolitische Geschehen, in dem die verschiedenen Komponenten und Kulturen zum Ausdruck kommen. Die Aussenpolitik der Europäischen Union ist ein Spiegelbild der europäischen Institutionen. Es überrascht daher nicht, dass die Aussenpolitik der EU als Ganzes mit der eines neutralen Landes vergleichbar ist und sich auf Handelsbeziehungen, Entwicklungshilfe, die Achtung des internationalen Rechts und Vermittlung konzentriert. Die Aussenpolitik der Europäischen Union ist weniger aktiv und einheitlich, als man es sich 2010 bei der Verabschiedung des Vertrags von Lissabon erhoffte. Die Union hat im gegenwärtigen geopolitischen Wettbewerb einen schweren Stand. Angesichts des Kampfs der Grossmächte China, Russland und USA um die Weltherrschaft ist sie ohnmächtig. Und ihre Struktur begünstigt sie nicht: Während die EU Geopolitik und Wirtschaft trennt, zögern die Vereinigten Staaten und China nicht, ihre Finanz-
Vorwort 11
und Kapitalkraft und ihre Investitionen für ihre Machtpolitik einzusetzen. In der Union ist die Macht hingegen geteilt, Wirtschafts- und Handelspolitik sind die Domäne der Kommission, während die Sicherheits- und Verteidigungspolitik beim Ministerrat liegt. Diesem gehören die Regierenden der Mitgliedsstaaten an, die sich von unterschiedlichen nationalen Interessen leiten lassen, die durch einige blutleere Regeln nicht angeglichen werden können. Die Europäische Union ist geteilt in Ost und West, sie hat keine Antworten auf die Herausforderung der Migration, und sie ist militärisch schwach. Der Konflikt nach dem Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran hat die Mühen der EU offengelegt, auf dem internationalen Parkett zu handeln. Die Governance der Europäischen Union, wie sie sich aus den Römer Verträgen nach und nach entwickelt hat, sieht sich tagtäglich starkem inneren und äusseren Druck ausgesetzt. Mit ihren über 500 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern ist die EU grösser als Russland und die Vereinigten Staaten zusammen und hat doch Mühe, als eigenständige Macht aufzutreten und auf Dauer eine politische Statur zu erlangen, die den internationalen Herausforderungen, denen sie sich stellen muss, gewachsen ist. Ihre Situation im Clinch zwischen internen Führungsaufgaben und geopolitischer Positionierung in einer bedrohlichen Welt erinnert durchaus an die Schweiz, sowohl in den Lösungsansätzen wie im Rückgriff auf das Prinzip der Neutralität, von ihren Anfängen bis heute. Die Schweiz ist von einer aus der Not geborenen Neutralität, die auf ihrem Sicherheitsbedürfnis beruhte, zu einer aktiven Neutralität übergegangen, die sich auf das Völkerrecht stützt. Die schweizerische Neutralität hat sich entwickelt, um den globalisierten Herausforderungen zu begegnen. Sie ist in der Bundesverfassung verankert, ist zugleich dauerhaft und flexibel, gleichzeitig zeugen der UNO-Beitritt der Schweiz von 2002 und ihre Kandidatur für einen nicht ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat von ihrer Weiterentwicklung. Das Prinzip selbst geht auf die Zeiten vor der Französischen Revolution und der Reformation zurück und steht dabei ausser Frage. In der Schweiz sind, wie in der EU, viele Sprachen und Kulturen zu Hause, und die Neutralität hat es ihr erlaubt, ihren inneren Zusammenhang zu festigen und von der übrigen Welt für eine verlässliche und nützliche Aussenpolitik geachtet zu werden. Könnten dieselben Ursachen nicht auch dieselben Wirkungen haben? Bedenkt man die Mechanismen, die die junge Eidgenossenschaft zu einer
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Politik der Neutralität bewogen, wäre dann letztlich nicht auch ein neutrales Europa vorstellbar? Tatsächlich entsprang die Neutralität in der Geschichte der Schweiz weniger politischem Kalkül als innerer Notwendigkeit.1 Die Eidgenossenschaft ertrug selbstständige Kantone mit eigener Aussenpolitik nur insofern, als diese sich im Konfliktfall in Zurückhaltung übten. Diese Notwendigkeit ist auch heute noch gegeben. Am 14. Dezember 1914 hält der Schweizer Dichter Carl Spitteler, der damals zu den angesehensten deutschsprachigen Schriftstellern zählte, eine Rede vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft. Er wendet sich an seine Landsleute und ruft sie zur Einigkeit auf. Tatsächlich richteten sich damals die Blicke der Deutschschweizer auf Deutschland und die der Romands auf Frankreich, und die Zeitungen übernahmen diesseits und jenseits der Saane die Propaganda der Kriegsparteien. Doch gerade weil sie vom Krieg verschont geblieben seien, sagt Spitteler, dürfen die Schweizer nicht nach fremden Massstäben urteilen, sondern sollen ihren eigenen ethischen und moralischen Wertvorstellungen treu bleiben. Dazu gehören die Neutralität und der Widerstand gegen Kriegshetze.2 Ist es nicht eine solche Einigkeit, die der Europäischen Union in unserer gewalttätigen und vielschichtigen heutigen Welt abgeht? Micheline Calmy-Rey im September 2020
Einleitung Neutral sein sei feige, sagen die einen, und man wolle nicht Partei ergreifen, um von einer nützlichen Gleichgültigkeit zu profitieren. «Wir müssen uns eben die Tatsache vor Augen halten, dass im Grunde kein Angehöriger einer kriegführenden Nation eine neutrale Gesinnung als berechtigt empfindet», stellte schon Carl Spitteler fest. «Wir wirken auf ihn wie der Gleichgültige in einem Trauerhause. Nun sind wir zwar nicht gleichgültig. Ich rufe Ihrer aller Gefühle zu Zeugen an, dass wir nicht gleichgültig sind. Allein da wir uns nicht rühren, scheinen wir gleichgültig.»3 Andere sehen in der Neutralität ein Zeichen von Schwäche, denn die Schweiz sei existenziell darauf angewiesen, dass die umliegenden Grossmächte ihren Neutralitätsstatus fördern und anerkennen. Wieder andere betrachten die Neutralität vor allem als Instrument der nationalen Sicherheit: Denn gäbe es unser Land heute noch, wenn es sich in den beiden Weltkriegen nicht für neutral erklärt hätte? Trotzdem identifiziert sich eine überwiegende Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer mit der Neutralität ihres Landes; sie ist identitätsstiftend. Das zeigte sich mir kürzlich an einem Seminar über internationale Politik an der Universität Genf. Behandelt wird der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien um Berg Karabach. Ein Rollenspiel wird geplant. Doch als die Teams gebildet werden sollen, ruft eine Studentin verunsichert aus: «Ich kann nicht Aserbaidschan vertreten, ich bin doch Schweizerin und folglich neutral!» Tatsächlich zeigt die Jahresstudie der Militärakademie und des Center for Security Studies der ETH Zürich auf, dass 96 Prozent der Befragten dem Neutralitätsprinzip zustimmen. Für 85 Prozent von ihnen ist die Neutralität «untrennbar mit dem Schweizer Staatsgedanken» verbunden, und eine klare Mehrheit ist der Auffassung, dass die Schweiz dank der Neutralität ihre Guten Dienste anbieten kann und sogar für die Rolle der Vermittlerin und Moderatorin in internationalen Konflikten prädestiniert ist.4 Die Studie zeigt, dass die Neutralität in einer vielfältigen Schweiz, die mehrere Kulturen, Sprachen und Religionen vereint, stets dazu dient, den
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inneren Zusammenhalt zu garantieren, und dass der Schweiz in der Staatengemeinschaft eine besondere Rolle zugedacht wird : durch ihr humanitäres Engagement, ihre Guten Dienste und eine Politik des Dialogs und der Friedensförderung. Manche Stimmen – von Autoren, Diplomaten oder Professoren – beklagen sich allerdings auch über die Omnipräsenz der Neutralität in der politischen Debatte. Wir führten die Neutralität zu oft im Mund, und es sei an der Zeit, sie etwas in den Hintergrund treten zu lassen. Das Konzept sei überholt und die Neutralität nicht mehr nützlich. Eigentlich regle sie bloss die militärischen Fragen zwischen einem neutralen Staat und kriegführenden Staaten in einem bewaffneten Konflikt.5 Was könne das Neutralitätsrecht schon ausrichten, wenn es nicht um eine militärische Frage, sondern um den Klimawandel gehe? Was es denn leiste, wenn die kollektive Sicherheit betroffen sei?6 Die Neutralität sei erfunden worden, um nicht in bewaffnete zwischenstaatliche Konflikte hineingezogen zu werden und könne uns heute nicht mehr als Schutzwall gegen die Gefahren der Welt dienen. Denn was könne sie schon gegen terroristische Vereinigungen, Cyberattacken oder binnenstaatliche Gewalt ausrichten? Die Neutralität gibt zu reden. 2006, nachdem Kämpfer der Hamas und der Hisbollah in Gaza und an der libanesischen Grenze israelische Soldaten in Geiselhaft genommen hatten, erhitzt die Frage der Neutralität im Bundesrat die Gemüter. In einer Medienmitteilung prangert das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten klar benannte Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht durch Israel an und verurteilt «die unverhältnismässige Reaktion der israelischen Streitkräfte im Libanon, insbesondere die Blockade der Küsten und die Luftangriffe gegen Ziele in der Hauptstadt Beirut und gegen die Flughäfen des Landes. (…) Das EDA verurteilt auch die Angriffe der Hisbollah auf Wohnsiedlungen im Norden Israels, die ebenso gegen das humanitäre Völkerrecht verstossen (…).»7 Was ist über diese Pressemitteilung nicht alles gesagt und geschrieben worden! Man befand, dass es gegen das Neutralitätsprinzip verstosse, die israelische Haltung zu verurteilen, und als das EDA einwandte, dass im Communiqué auch die Angriffe der Hisbollah auf Siedlungen im Norden Israels verurteilt würden, versuchte man akribisch nachzuweisen, dass die eine Seite stärker verurteilt wurde als die andere. Die Sache war ernst: Mitten in der Sommerpause wurde eine Sondersitzung des Bundesrats einbe-
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rufen, gefolgt von einer neuen Pressemitteilung, in der die Regierung sich lediglich noch besorgt zeigte. In dieser Sondersitzung stimmte der Bundesrat einem passiven Verständnis der Neutralität zu, das jeden Positionsbezug auf der Grundlage von Verstössen gegen das Völkerrecht vermied. Was bedeutet es heute, nach dem Ende des Kalten Kriegs, neutral zu sein? Die Annektierung der Krim 2014, die darauffolgende Ukraine-Krise und die kürzlichen Manöver der NATO haben zum Beispiel in Schweden die Diskussionen über die Neutralität befeuert, ist dieses Land doch sowohl neutral als auch Mitglied der Europäischen Union und damit zwischen dem Westen und Russland hin- und hergerissen. «Neuter» heisst auf Lateinisch «keiner von beiden». Die Neutralität ist demnach ein negatives Konzept und impliziert eine Haltung des Verzichts. Sie gilt nach der zu Zeiten der Kreuzzüge entwickelten Doktrin vom gerechten Krieg als Zeichen des Egoismus. Wie sollte man es rechtfertigen, nicht an der gemeinsamen Anstrengung eines gerechten Kriegs gegen die «Ungläubigen» teilzunehmen? Doch mit zunehmendem Abstand von dieser mittelalterlichen Doktrin wird ein positiveres Verständnis der Neutralität möglich. Sie hüllt sich in Unparteilichkeit, in die Robe eines neutralen Richters, der Recht spricht. Diese Auslegung beruht nicht auf einer angeblichen Gleichgültigkeit, sondern auf einem bewussten Entscheid. Sie bereitet einer aktiven Neutralität den Weg, die mit beherzter Politik Konflikten vorbeugen und sie lösen will. Doch auch diese Interpretation setzt voraus, dass man sich an fremden Auseinandersetzungen oder Kriegen nicht beteiligt.
Die Herausforderungen Was ist ein Krieg? Ein Begriff wandelt sich
Die rechtliche Definition der Neutralität ist eng an die Existenz eines zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikts gebunden. Die Verpflichtungen eines neutralen Staats fangen mit dem Ausbruch eines solchen Konflikts an und hören mit dessen Ende auf. Es liegt primär an den neutralen Staaten selbst, zu entscheiden, ob die kritische Schwelle für die Anwendung des Neutralitätsrechts erreicht ist, kann diese doch nach unterschiedlichen Kriterien definiert werden. Klar ist, dass es sich um einen zwischenstaatlichen Konflikt handeln muss. Aber nicht jedes Scharmützel gilt als Krieg im Sinn des Neutralitätsrechts. Im Unterschied zum internationalen humanitären Völkerrecht, das gilt, sobald ein bewaffneter Konflikt ausbricht, hängt der neutralitätsrelevante Kriegsbegriff von der Heftigkeit, Dauer und dem Ausmass der Feindseligkeiten ab. Im bewaffneten Konflikt zwischen Russland und Georgien vom 8. bis 12. August 2008 zum Beispiel hat die Schweiz wegen der Kürze der militärischen Konfrontation gar nicht über die Anwendung des Neutralitätsrechts entschieden. Sie verfolgte hingegen eine Neutralitätspolitik, die ihr die Aushandlung von doppelten Schutzmachtmandaten erlauben sollte: Heute nimmt die Schweiz die russischen Interessen in Georgien und die georgischen Interessen in Russland wahr. Ebenso ist es Sache des neutralen Staats, die Anwendung des Neutralitätsrechts – und somit den Krieg – für beendet zu erklären. Das kann zu Turbulenzen führen, wie ein entsprechender Beschluss des Bundesrats im Jahr 2003 zeigt. Der Irakkrieg beginnt am 20. März 2003, als eine von den USA angeführte Koalition in das Land einmarschiert. Der Feldzug endet mit der Niederlage der irakischen Armee, der Hinrichtung Saddam Husseins und der Einsetzung einer neuen Regierung. Am 1. Mai ruft Präsident George W. Bush den Sieg der im Irak engagierten Koalition aus. Unter Anrufung des Neutralitätsrechts verbietet der Bundesrat den
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Konfliktparteien, Schweizer Staatsgebiet zu überfliegen. Der Bundesrat verbietet auch den Export von Waffen und Dienstleistungen durch Staatsbetriebe und erlässt zudem eine Bewilligungsplicht für den Export von Rüstungsgütern und private Dienstleistungen an die kriegführenden Länder. Diese Massnahme verhindert, dass in der Schweiz hergestellte Waffen im Irak-Konflikt zum Einsatz kommen. Allerdings ist dem Bundesrat nicht ganz wohl dabei, denn die Schweiz stellt sich damit auf die Seite Frankreichs und Russlands, die als einzige europäischen Länder zum Einmarsch der Irak-Koalition auf Distanz gegangen waren. Man befürchtet eine Verschlechterung der Beziehungen zu den USA und die Nähe zur russischen Position löst eine Polemik aus. Im Mai tagt der Bundesrat, nimmt von der etwas vorschnellen Siegesmeldung des US-Präsidenten Kenntnis und beschliesst ebenso vorschnell und offensichtlich erleichtert das Ende des Neutralitätsrechts und somit auch das Ende des Irak-Kriegs. Eine Pressekonferenz wird anberaumt und ich bin als Aussenministerin beauftragt, den eben getroffenen Entscheid zu erläutern. Doch eigentlich hatte der Bundesrat den Entscheid gar nicht gross diskutiert, was mich in eine schwierige Lage bringt. Vor den Journalisten, die verblüfft feststellen, dass anscheinend die Schweiz über das Kriegsende im Irak entscheidet, wiederhole ich einfach die amerikanische Siegeserklärung in Endlosschlaufe und nenne schliesslich, um die Dringlichkeit des Beschlusses zu begründen, ein Argument, das weder politisch noch juristisch anfechtbar ist: «die Bundesratsferien!» So schwer sich auch entscheiden lässt, was ein Krieg ist, so ist diese Definition doch nötig, damit über die Anwendung des Neutralitätsrechts befunden werden kann. Es wird nämlich erst dann aufgehoben, wenn der Kriegszustand beendet ist. Und was tut man, wenn alles noch komplizierter wird? Wenn Staaten zwar keinen internationalen Konflikt austragen, aber doch im Ausland kämpfen? Frankreich, die USA, Iran, die Türkei, Israel und Russland haben in Syrien interveniert, nicht um gegen einen anderen Staat, sondern um gegen nicht staatliche bewaffnete Gruppen vorzugehen. Eigentlich überlagern sich sogar mehrere bewaffnete Konflikte: Einerseits kämpfen Syrien, Russland und der Iran gegen den Islamischen Staat. Andererseits kommen Frankreich, Grossbritannien und die USA Rebellengruppen zu Hilfe, die gegen das syrische Regime kämpfen. Ein anderes Beispiel, bei dem das Wort Krieg für mehrere sich überlagernde Konflikte verwendet wird, ist Jemen.
Die Herausforderungen 43
Hier handelt es sich um einen Bürgerkrieg, bei dem die schiitischen Huthis bewaffneten Anhängern der jemenitischen Ex-Regierung gegenüberstehen, die von einer von Saudi-Arabien angeführten Koalition aus rund zehn Ländern unterstützt werden. Diese Konflikte stellen keine zwischenstaatlichen Kriege dar und bewirken keinen Rückgriff auf das Neutralitätsrecht. Trotzdem kann man sich fragen, ob die Tatsache, dass die Schweiz mit Staaten, die in solche Auseinandersetzungen verwickelt sind, enge politische und wirtschaftliche Beziehungen unterhält, mit dem Prinzip der Neutralität vereinbar ist. Und es kann noch komplexer werden. Denn auch die digitale Revolution bringt die gängige Kriegsdefinition ins Wanken. Inzwischen weitet sich der Kampfplatz in den Cyberspace aus. An ihrem Gipfel vom September 2014 hat die NATO massive Cyberattacken als kriegerische Handlungen eingestuft, die man mit militärischen Mitteln bekämpfen darf.
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Cyberattacken und Neutralität: Erläuterungen von Solange Ghernaouti
Solange Ghernaouti, Präsidentin der Fondation SGH – Institut de recherche Cybermonde, Direktorin der Swiss Cybersecurity Advisory & Research Group und Associate Fellow am Geneva Center for Security Policy, erläutert: Der Cyberspace umfasst die Gesamtheit der mit dem Internet verbundenen Systeme, die Dienste und Daten samt allen Infrastrukturen der Hardware, Software und der Datenverarbeitung. Er ist wie die Erde, das Meer, die Luft oder das All ein Raum, in dem Individuen, Organisationen und Staaten wirken und ihre Macht entfalten können. Im Cyberspace finden Eroberungen und wirtschaftliche und militärische Auseinandersetzungen statt. In Zukunft werden territoriale Eroberungen auch anhand von digitalen Eroberungen von Daten, ihrer Aufbereitung, Speicherung, Übermittlung und der Beherrschung der Infrastrukturen der Informatik und Telekommunikation gemessen. Wie politisch, militärisch und wirtschaftlich mächtig ein Staat ist, hängt von seiner Fähigkeit ab, das digitale Ökosystem zu kontrollieren, von dem er abhängig geworden ist. Alle Merkmale des Cyberspace sind zugleich Herrschaftsmittel und Angriffsziele. Kein Land ist sicher vor Cyberattacken, die ihm schaden wollen. Das Internet kann dazu herhalten müssen, dem Feind Schaden zuzufügen, ohne ihn physisch zu bekämpfen und in sein Land einzufallen, sondern indem seine wirtschaftliche, wissenschaftliche oder kulturelle Macht beschnitten wird. Die kriegerischen Handlungen im traditionellen Sinn sind schwer nachzuweisen und zu kontrollieren, denn im Cyberspace: –– ––
ist es schwierig, den Feind zu kennen,39 die Quelle von Cyberattacken zweifelsfrei auszumachen und entsprechend zurückzuschlagen; kann dem humanitären und dem Kriegsvölkerrecht nur mit Mühe Nachachtung verschafft werden;
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können Kriegshandlungen bedeutend sein, ganz ohne Soldaten; sind die Opfer sowohl Zivilpersonen als auch Militärangehörige.
Die künstliche Intelligenz kann auch im herkömmlichen Krieg eingesetzt werden, mittels Cyberattacken oder Killerrobotern, doch beherrschen nur eine Handvoll Staaten und grosse private Akteure diese technologischen Waffen. Ähnlich wie von Genozid wird man vielleicht einmal von Techno-Biozid sprechen, wenn die Vernichtungsgefahr für das gesellschaftliche und kulturelle menschliche Ökosystem durch die neuen Technologien zunimmt, die aus dem Zusammenwirken von Nanotechnologie, Biotechnologie, Informatik und der kognitiven Wissenschaften hervorgegangen sind. Historisch gesehen, beruht das Konzept der Netzneutralität («net neutrality») auf dem Prinzip der nicht diskriminierenden Datenübertragung auf dem Netz, sowohl was die Art der verbreiteten Inhalte wie was die Netzteilnehmer betrifft. Das heisst zum Beispiel, dass ein Betreiber alle Datenflüsse (Videos, E-Mails, Websites, Telefonie usw.) gleich behandeln muss, unabhängig von ihrer Art, ihrem Zweck, ihrer Quelle oder ihrem Empfänger. Manche Betreiber möchten aber den Datenverkehr differenzieren und je nach Anwendung unterschiedliche Prioritäten setzen können, sei es für technische Optimierungen oder aus wirtschaftlichen Gründen.40 In Europa ist die Netzneutralität seit dem 30. April 2016 garantiert, und zwar aufgrund der Verabschiedung des Reglements (EU) 2015/2120 am 25. November 2015.41 Man muss jedoch feststellen, dass die Schwergewichte unter den Netzbetreibern in der Lage sind, die Übertragungsinfrastruktur (Kabel, Telekommunikationssatelliten, Router, Server …), die Datenspeicherungs- und Datenverarbeitungsinfrastruktur (Cloud-Computing) und die Dienstleistungsinfrastruktur (Applikationen, Inhalte, digitale Identität, Betriebssystem [OS], vernetzte Objekte, digitale Assistenten …) zu kontrollieren. Darum können sie ihre Nutzungsbedingungen durchsetzen und die Netzneutralität für ihre eigenen Zwecke usurpieren. Überwachung, Spionage, Zensur, gefilter-
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te Inhalte, gezielte Zugänge mit Selektion und Ungleichbehandlung von Diensten und Inhalten, blockierte Datenflüsse und Websites, Entfernung von Websites und so weiter sind im Internet Realität. Wie soll in diesem Netz der Abhängigkeiten von GAFAM (Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft), NATU ( Netflix, Airbnb, Tesla und Uber) und mehr und mehr auch von chinesischen Technologieriesen der Schweizer digitale Sonderfall denn aussehen, wenn es überhaupt einen gibt? Wie soll man in einem Kontext zunehmender Vernetzung und gegenseitiger weltweiter Abhängigkeit der Infrastrukturen und angesichts der Tatsache, dass Daten und Programme über digitale Infrastrukturen fliessen können, auf die die Schweiz keinerlei Zugriff hat, das Konzept der schweizerischen Neutralität im Cyberspace verwirklichen?
Die Herausforderungen 47
Die bewaffnete Neutralität: ein Mythos?
1798 fielen Napoleons Truppen in die Schweiz ein. Dieses Ereignis bewies nicht, dass eine Neutralitätspolitik nichts taugt, zeigte jedoch auf, dass diese nicht ohne glaubhafte abschreckende Mittel auskommt, um das Territorium des neutralen Staats gegen einen militärischen Angriff zu verteidigen. Neutralität bedeutet nicht, dass ein Land auf seine Armee verzichten muss. Ein neutrales Land muss im Gegenteil dazu imstande sein, sich gegen einen Angriff von aussen zu verteidigen. Dies kann zum Beispiel durch kollektive Sicherheitsgarantien im Gegenzug für die Abrüstung des neutralen Staats geschehen oder indem mittels einer richtigen Armee die Verteidigungsbereitschaft aufrechterhalten wird, wie in der Schweiz. Die Schweiz will sich mit allen verfügbaren Mitteln gegen einen allfälligen Angreifer verteidigen und sich gegen jede neutralitätsverletzende Handlung der kriegführenden Staaten auf ihrem Territorium wehren. Dazu muss sie ihnen zum Beispiel das Transitrecht verwehren. Auch ein Überflugverbot ist neutralitätsrechtlich relevant, denn die Schweiz darf ihr Staatsgebiet für keine der Konfliktparteien öffnen, auch nicht ihren Luftraum. Ein neutrales Land muss dazu imstande sein, sein Territorium zu verteidigen, und diese Pflicht ist in der Umsetzung schwierig: Wo sind die Grenzen? Bis in welche Höhe gilt das Überflugverbot? Gilt es auch für Interkontinentalraketen? Geht die Verteidigungspflicht so weit, dass man sich mit einem hochentwickelten Raketenschutzschild ausrüsten muss? Braucht es ein Lenkwaffen- und Atomprogramm wie in Nordkorea, um sich mit militärischen Mitteln gegen einen Angriff von aussen zu verteidigen? Vor einigen Jahren schrieb der Schweizer Autor Daniel de Roulet über den Schweizer Traum von einer Atomwaffe.42 Tatsächlich konnten taktische Nuklearwaffen eine Zeitlang als probates Mittel erscheinen, um für eine vergleichbare militärische Schlagkraft von Kleinstaaten und Grossmächten zu sorgen.43 Bereits am 11. Juli 1958 erklärte der Bundesrat: «In Übereinstimmung mit unserer jahrhundertealten Tradition der Wehrhaftigkeit ist der Bundesrat […] der Ansicht, dass der Armee zur Bewahrung unserer Unabhän-
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gigkeit und zum Schutze unserer Neutralität die wirksamsten Waffen gegeben werden müssen. Dazu gehören die Atomwaffen.»44 Als Hauptstratege der Schweizer Landesverteidigung während des Kalten Kriegs propagierte Divisionär Gustav Däniker nukleare Verteidigungswaffen stark: «Unsere Lage könnte besser sein, wenn wir nicht nur über eine starke konventionelle Armee verfügten, sondern auch über einige Nuklearwaffen.»45 Doch in den 1960er-Jahren beendete die Schweiz ihr Atomwaffenprogramm. Es waren Differenzen zwischen der Armeeführung und den Diplomaten aufgetreten. Letztere waren der Ansicht, dass die Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags vom 1. Juli 1968 und die Einbindung in ein internationales Abkommen für die Sicherheit der Schweiz vorteilhafter wären als der eigenständige Aufbau einer atomaren Verteidigung. Doch die Armee streckte nicht so leicht die Waffen. Es brauchte noch den MirageSkandal (diese Kampfflugzeuge hatte man zu Atomwaffenbombern umrüsten wollen), den Rücktritt von Verteidigungsminister Paul Chaudet und das Scheitern der abenteuerlichen Versuche, im Ausland die nötige Nukleartechnologie zu beschaffen, bis der Atomwaffensperrvertrag 1977 schliesslich ratifiziert wurde. Doch einige Nostalgiker sind dem Traum von einer Schweiz als Atommacht treu geblieben oder möchten mindestens auf den atomaren Schirm der Nachbarn zählen können. Darum kam es 2018 für den Bundesrat nicht infrage, den UNO-Vertrag über das Verbot von Kernwaffen46 zu unterzeichnen, weil man sich mit seinen Nachbarn, die der NATO angehören, nicht überwerfen wollte.47 Bei dieser Gelegenheit entschied sich der Bundesrat für eine neue Strategie: Er wolle eine atomwaffenfreie Welt mit den Atommächten und nicht gegen sie erreichen! Insbesondere befand er, dass eine Unterschrift für die Sicherheit der Schweiz nicht ohne Risiko sei. Tatsächlich könnte die militärische Zusammenarbeit mit der NATO, deren einflussreichste Mitglieder Atommächte sind, davon betroffen werden. Ein Ex-Botschafter und heutiger Politikbeobachter meint sogar: «Die Schweiz kann sich nicht an einen Vertrag binden, der die Sicherheitspolitik ihrer Nachbarn, mit denen sie heute schon militärisch kooperiert, infrage stellt. Man kann sich im Extremfall und angesichts der sich verschlechternden Sicherheitslage in Europa sogar vorstellen, dass die Schweiz sich zu ihrem Schutz an diese Nachbarn oder an ihre Verbündeten in der PfP, in der Partnerschaft für den Frieden der NATO, wenden und allenfalls sogar unter ihren atomaren Schirm fliehen müsste.»48
Die Neutralität und die Europäische Union: Sind sie unvereinbar? Stellen wir uns einmal folgende Situation in gut zehn Jahren vor: Die Schweiz hätte einen Ausweg für ihre institutionellen Probleme mit der EU gefunden. Es bestünde eine enge Partnerschaft, weiterhin im Rahmen der bilateralen Verträge. Als unabhängiger und neutraler Staat im Herzen des europäischen Kontinents sähe sich die Schweiz dennoch vor ein grosses Problem gestellt, nachdem eine Grossmacht in Fernost Frankreich den Krieg erklärt hätte. Im Rahmen der gemeinsamen Verteidigungspolitik, die die Staaten der Europäischen Union miteinander verbindet, sind sie Frankreich Hilfe schuldig. Denn vergessen wir es nicht: Das Ziel der Europäischen Verträge ist und bleibt die stetige Vergemeinschaftung der Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, selbst wenn die EU von diesem Ziel noch weit entfernt scheint. Der UNO-Sicherheitsrat käme in der Folge zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen, ohne eine Einigung zu erzielen, denn trotz einer kürzlichen Reform des Vetorechts wäre es Russland, unterstützt von China, gelungen, ein Eingreifen unter der Ägide der Vereinten Nationen zu verhindern. Ohne Resolution des Sicherheitsrats würde die Lage zu einem «klassischen» zwischenstaatlichen Konflikt eskalieren. Entsprechend müsste die Schweiz das Neutralitätsrecht anwenden und die Verschiebung von fremden Truppen durch ihr Staatsgebiet und den Überflug ihres Territoriums durch Kampfjets oder ballistische Raketen verbieten; sie würde ihre Armee mobilmachen, um ihre Grenzen zu schützen. Doch in welchem Ausmass würde sie dies tun? Könnte sie zu den Positionen ihrer nächsten Nachbarn und Partner auf Distanz gehen?75 Will man die Haltung der Schweiz in Friedenszeiten zum Massstab nehmen, so sind Zweifel erlaubt. Dann schreibt das Neutralitätsrecht der Schweiz zu Friedenszeiten zwar nichts vor, und trotzdem ist die Übereinstimmung mit ihren Nachbarn häufig. Da die EU dieselben Werte teilt, scheint eine ähnliche Positionierung nur logisch: Wir praktizieren den sogenannten autonomen Nachvollzug. Aber ginge die Schweiz in Kriegszeiten wirklich so weit, den Streitkräften
72 Die Neutralität und die Europäische Union: Sind sie unvereinbar?
der Europäischen Union das Transit- und das Überflugsrecht zu verweigern? Eine Antwort erübrigte sich, wenn die Schweiz einen EU-Beitritt ins Auge fassen würde. Dies ist jedoch nicht der Fall. Und müssten die Schweizerinnen und Schweizer sich zur Vereinbarkeit der Neutralität mit einer EU-Mitgliedschaft äussern, wäre sie für eine Mehrheit wohl nicht gegeben, vielleicht weil wir instinktiv eine militärische Beistandspflicht ablehnen, die das Prinzip unserer Neutralität gefährden könnte. Dazu erzählt der Schweizer Botschafter in Deutschland, Paul Seger, gern die folgende Anekdote: Gott erscheint den Bundespräsidenten Deutschlands und der Schweiz. Beide schlagen sich mit drängenden Problemen herum und wollen die Gelegenheit nutzen, sich damit an Gott zu wenden und ihn zur Zukunft zu befragen. Der deutsche Präsident ergreift als Erster das Wort: «Kannst Du mir sagen, Herr, wann die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands endlich beseitigt sein werden?» Gott denkt nach und antwortet: «Nicht während deiner Amtszeit.» Dann kommt der Schweizer Bundespräsident an die Reihe und fragt: «Wann wird die Schweiz endlich der EU beitreten?» Gott denkt wieder nach, lange, und seufzt schliesslich: «Nicht während meiner Amtszeit!» Doch Spass beiseite: Wagen wir eine vorsichtige und rationale Situationsanalyse. Die Europäische Union ist eine supranationale Organisation und ein einzigartiges Friedens- und Integrationsprojekt mit dem Ziel einer einheitlichen Politik ihrer Mitglieder. Dies beinhaltet nicht nur politische, wirtschaftliche oder soziale Themen, sondern auch die Sicherheit und die militärische Zusammenarbeit. Die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Lissabon haben den Willen festgeschrieben, gemeinsam eine europäische Aussen- und Sicherheitspolitik zu begründen und zu entwickeln mit dem Ziel einer gemeinsamen Verteidigung,76 wobei die Mitgliedsstaaten sich dazu verpflichten, «aktiv und vorbehaltlos»77 zum Aufbau einer solidarischen Aussen- und Sicherheitspolitik beizutragen. Der Vertrag über die Europäische Union verlangt überdies: «Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats schulden die anderen Mitgliedsstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen.»78 Und obwohl im folgenden Satz präzisiert wird: «Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedsstaaten unbe-
Die frühere Bundesrätin und Vorsteherin des EDA, Micheline Calmy-Rey, plädiert für eine zeitgemässe Interpretation der Schweizer Neutralität. Sie stellt die Frage, was diese in modernen Konflikten oder bei Terrorismus und Cyberattacken leisten kann. Wie vereinbar sind Neutralität und Europäische Union? Das Buch zeigt, inwiefern die Schweizer Neutralität auch als Inspiration für die EU dienen könnte. Ist die Neutralität für die Schweiz noch ein nützliches Instrument oder nur noch ein Mythos?
I S B N 978-3-03810-493-3
9
783038 104933
Die Neutralität Micheline Calmy-Rey
Autoren, Diplomaten oder auch Professoren beklagen sich heute über die Omnipräsenz der Neutralität in der politischen Debatte. Wir würden zu viel über die Neutralität sprechen, es wäre an der Zeit, diese etwas zu vergessen. Das Konzept der Neutralität sei veraltet. Sie würde lediglich noch die militärischen Fragen zwischen einem neutralen Staat und einer Konfliktpartei regeln.
Micheline Calmy-Rey
Die Neutralität Zwischen Mythos und Vorbild