Clement Guitton: Schweizer Nachrichtendienst seit der Fichenaffaere

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führte zu einer gründlichen Durchleuchtung der nachrichtendienstlichen Politik der Schweiz. Vieles hat sich seither verändert. Noch immer begegnet man aber diffusen Vorstellungen vom Wesen unseres Nachrichtendiensts: Er überwache alle Bürger, was er tue sei streng geheim, er stelle sich über das Gesetz. Der Politanalyst Clement Guitton wirft einen nüchternen Blick auf die letzten 30 Jahre – auf die vergessene Rolle des Parlaments beim Fichenskandal, die Gründung zweier ziviler Nachrichtendienste und ihre spätere Zusammenlegung. Er analysiert die prägenden politischen Kräfte und konkrete nachrichtendienstliche Aktivitäten und wagt eine neue Prognose.

Clement Guitton Der Schweizer Nachrichtendienst seit der Fichenaffäre

1989 kam die Fichenaffäre ans Licht und

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Clement Guitton Der Schweizer Nachrichtendienst seit der Fichenaffäre Was er kann und was er darf

ISBN 978-3-03810-333-2

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NZZ Libro


Autor und Verlag danken der Bibliothek am Guisanplatz BiG für die freundliche Unterstützung.

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Lektorat: Simon Wernly, Langenthal Umschlag: TGG Hafen Senn Stieger, St. Gallen Gestaltung, Satz: Gaby Michel, Hamburg Druck, Einband: Memminger MedienCentrum, Memmingen Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ins­besondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Verviel­fältigung auf anderen ­Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Ur­heberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich ver­gütungspflichtig. Zuwiderhandlungen ­unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-333-2 ISBN 978-3-03810-379-0 (E-Book)

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«Man weiss nie, was daraus wird, wenn die Dinge verändert werden. Aber weiss man denn, was daraus wird, wenn sie nicht verändert werden?» Elias Canetti

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Inhalt

Vorwort Kapitel 1:

1984

Kapitel 2:

Die Fichenaffäre (1989 – 1999)

Kapitel 3:

Eine Lösung für die Nachrichtendienste (1999– 2001)

Kapitel 4:

Die Eskalation der Koordinationsprobleme (2001 – 2008)

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Kapitel 5:

Die Zusammenführung (2008 – 2010)

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Kapitel 6:

Der Nachrichtendienst des Bundes (2010 – 2015)

153

Kapitel 7:

Der Snowden-Effekt

182

Kapitel 8:

Eine neue Ära und erweiterte Kompetenzen (2015 –)

204

Kapitel 9:

Und in zehn Jahren?

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Struktur der Schweizer Nachrichtendienste

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Verzeichnis der Abkürzungen und einiger Fachbegriffe Quellenverzeichnis Anmerkungen Der Autor

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Vorwort

Ein Buch über die Schweizer Nachrichtendienste zu schreiben, ist aus vielerlei Gründen kein einfaches Unterfangen. Erstens liegt die Beurteilung nachrichtendienstlicher Tätigkeiten am Schnittpunkt vieler akademischer Disziplinen. Das gilt auch für dieses Buch, in dem ich die politischen Kräfte analysiere, die die nachrichtendienstliche Politik der Schweiz während der letzten 30 Jahre gestaltet haben. Vor allem die Fächer Jura, Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie fallen mir als hilfreich für eine solche Analyse ein. Ich promovierte in Internationalen Beziehungen, einem Fach, das der Politikwissenschaft unterstellt ist. Ich bin also weder Historiker noch Jurist, und auch wenn ich so sorgfältig wie möglich recherchiert habe, kann ich nicht garantieren, jedes Detail erschöpfend ausgelotet zu haben. Zweitens ist das Thema «Nachrichtendienst» emotional besetzt. Noch heute und besonders bei jenen Menschen, die von der Fichenaffäre betroffen waren, kann das Thema starke Gefühle hervorrufen. Ich war damals noch zu jung und habe die Fichenaffäre und viele der in diesem Buch erwähnten Veränderungen nicht bewusst miterlebt. Dadurch habe ich aber die besondere Chance, diese Entwicklungen nüchtern und ohne allzu viele Emotionen zu betrachten. Mir ist bewusst, dass viele Menschen diese Ereignisse ganz anders bewerten als ich. Ich habe versucht, ihren Argumenten in diesem Buch Raum zu geben und sie zu gewichten. Eine besondere Herausforderung war für mich die Geheimhaltungspflicht. Ich war von 2014 bis 2016 als Analyst beim Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) tätig. Die Quellen für dieses Buch sind jedoch allesamt öffentlich zugänglich. 9

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Insbesondere stellt das Buch in keiner Weise eine offizielle Stellungnahme von Institutionen dar; die Analyse ist vor allem eine persönliche Interpretation der nachrichtendienstlichen Politik seit 1989. Schreibt man ein Buch über ein sehr aktuelles Thema, liegt eine weitere Schwierigkeit im schnellen Takt der Veränderungen. Seit ich beim Verlag die erste Manuskriptfassung einreichte, hat sich vieles ereig­net: Neue «Skandale» um Daniel M. sind aufgetaucht, der lang­ jährige Direktor des Nachrichtendiensts, Markus Seiler, hat eine neue Stelle als Generalsekretär im Aussendepartment (EDA) angetreten. Ein Bericht über die Aufsicht des NDB sowie über eine neue Cyber-Stra­ tegie für die Schweiz standen bei Manuskriptabgabe kurz vor der Ver­ öffentlichung. Zum Fall Daniel M.: Am 28. April 2017 wurde Daniel M. von der deutschen Polizei verhaftet. Die deutschen Behörden beschuldigten ihn, den Schweizer Behörden persönliche Informationen über einen Notar und drei deutsche Steuerfahnder übergeben zu haben, die von Schweizer Banken gestohlene Daten beschafft hätten. Sie warfen ihm zudem vor, eine Informationsquelle in die Finanzverwaltung Nordrhein-Westfalen geschleust zu haben. Die deutschen Behörden hätten davon erfahren, weil die Schweizer Bundesanwaltschaft ihnen die Information a priori versehentlich geschickt hätte. Gesicherte Fakten liegen bis heute nicht vor. Dennoch wurde Daniel M. bereits im November 2017 vom Oberlandesgericht Frankfurt zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 22 Monaten und einer Bewährungsauflage von 40 000 Euro verurteilt. Nachdem er sechs Monate im Gefängnis verbracht hatte, durfte er den Gerichtssaal als freier Mann verlassen. Was noch aussteht, ist eine Stellungnahme der Schweizer Behörden zum Fall. Der Bericht der Geschäftsprüfungsdelegation des Parlaments, des Hauptaufsichtsorgans über den Nachrichtendienst, wird voraussichtlich im März 2018 erscheinen – gleichzeitig wie dieses Buch. Die Reaktion der Medien im Fall Daniel M. ist exemplarisch dafür, wie ungeklärte Fälle politisiert und als sensationelle Erzählungen aufgemacht werden können. Der Fokus der Berichterstattung vermittelte ein verzerrtes Bild von der Arbeit des Nachrichtendiensts. Zum einen 10

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gehörte Informanten zu haben und sie für interessante Informationen zu bezahlen bis September 2017 zu den wenigen Beschaffungsmitteln, die dem Nachrichtendienst des Bundes zur Verfügung standen. Und zwar zu jenen, die nicht so umstritten waren wie Kabelaufklärung oder Cyber-Angriffe. Zum andern veröffentlichte der NDB am selben Tag, als die Presse über Daniel M. zu berichten begann, seinen jährlichen Lagebericht. In der Welt der Nachrichtendienste ist dieser Bericht einzigartig, da nicht die Öffentlichkeit der primäre Kunde von Nachrichtendiensten ist, sondern es sind die Entscheidungsträger. Nur sehr wenige andere Nachrichtendienste in der Welt legen ihre Einschätzungen der aktuellen Bedrohungslage so umfassend und offen dar, wie es der Schweizer Nachrichtendienst tut. Liest man diesen Bericht, dann versteht man, wie der Nachrichtendienst des Bundes funktioniert. Er sollte mehr Gewicht haben für die Beurteilung der Leistungen des Nachrichtendiensts des Bundes als ein einziger, für die Arbeit der Sicherheitsbehörden nicht repräsentativer Fall. Nach der Abstimmung über das neue Nachrichtendienstgesetz hatte der Ständerat 2015 eine Motion eingereicht, um zu prüfen, «ob und wie eine Aufsicht über den Nachrichtendienst des Bundes aus­ serhalb der Bundesverwaltung eingerichtet werden soll und wie diese auszugestalten ist». Der Bericht lag Guy Parmelin vermutlich Ende Dezember 2017 vor, seine Schlussfolgerungen daraus sind noch nicht bekannt. Im Frühjahr 2018 soll der Bund auch veröffentlichen, wie er seine Cyber-Strategie fortsetzen will. Die Veröffentlichung wäre für Dezember 2017 geplant gewesen, musste aber um drei Monate verschoben werden, da die Kantone sich darüber beklagten, dass sie nicht in die Vernehmlassung involviert wurden. Bekannt ist bisher lediglich, dass es dabei nicht mehr nur um kritische Infrastrukturen gehen wird, sondern auch um kleine und mittelständische Unternehmen sowie Privatper­ sonen. Bei der Realisierung meines Buchprojekts haben mehrere Personen eine sehr wichtige Rolle gespielt. Zeynep Dilek hat mir bei der Bearbeitung der ersten Manuskriptfassung grossartig geholfen. Dafür bin ich ihr sehr dankbar. Besonders danken möchte ich den Mitarbeitenden 11

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von NZZ Libro für ihre freundliche Begleitung und ihre professionelle Arbeit. Und ohne die ständige Unterstützung meiner Lebenspartnerin Juli gäbe es dieses Buch nicht. Sie hat mein Manuskript immer wieder gelesen, mit mir unzählige Diskussionen darüber geführt und mich ermutigt, wenn Zweifel mich lähmten. Ihr gilt mein herzlichster Dank. Clement Guitton, Januar 2018

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Kapitel 1:

1984

Der Roman 1984 von George Orwell, veröffentlicht 35 Jahre vor dem titelgebenden Jahr, ist wohlbekannt.1 Besonders berühmt ist die Figur des

«Grossen Bruders», das Symbol für eine Welt, in der der Staat die technische Fähigkeit besitzt, alle Gedanken der Bevölkerung zu erfahren und zu kontrollieren. Dieses mächtige Bild hat in vielen Ländern zu Analogien geführt, auch in der Schweiz. Im November 1989 bot sich ein solcher Vergleich an, als ein Skandal die Schweiz erschütterte: die Fichenaffäre. Ein parlamentarischer Ausschuss gab bekannt, dass der Staat – genauer die Bundespolizei – im Laufe der Jahre über zahlreiche Schweizer Bürger Karteikarten (sogenannte Fichen) angelegt hatte. Der eigentlich eher oberflächliche Bericht stürzte die Schweizer Politik in eine Krise mit weitreichenden Folgen, die noch heute zu spüren sind. Zu dieser Zeit hatte die Bundespolizei teilweise die Rolle eines Inlandsnachrichtendiensts inne und war der Bundesanwaltschaft angegliedert. Der für die Bevölkerung wahrnehmbare Skandal war jedoch, dass es sich bei vielen beobachteten und fichierten «Personen von Interesse» um Personen handelte, die lediglich ihre Bürgerrechte wahrgenommen hatten.2 Den Anfang markierte für den parlamentarischen Ausschuss ein ganz anderes Ereignis. Die Affäre begann im Herbst 1987 mit einer Ermittlung gegen Jean und Barkev Magharian wegen Geldwäscherei.3 Diese Ermittlung führte die Polizei zur Firma Shakarchi Trading. Mitglied des Verwaltungsrats dieser Firma war Hans W. Kopp, der Ehemann der ersten Bundesrätin Elisabeth Kopp, die dem Eidgenös­sischen Justiz- und Polizeidepartement vorstand. Elisabeth Kopp erfuhr von der Ermittlung und rief am 23. Oktober 1988 ihren Ehemann an, um 13

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ihn über die laufende Untersuchung gegen die Firma wegen Geldwäscherei zu informieren.4 Kurz danach, am 12. Dezember, musste Elisabeth Kopp wegen der Informationsweitergabe an ihren Ehemann unter dem Druck der Medien zurücktreten. Die Affäre ging jedoch weiter. Eine Parlamentarische Untersuchungskommission sollte genauer abklären, was geschehen war. Während ihrer Untersuchung kam die Kommission mit einigen der 900 000 archivierten Fichen der Bundespolizei in Kontakt, von denen ein Drittel Schweizer Bürgerinnen und Bürgern zuzuordnen war. Mit der Veröffentlichung des Berichts bekam die Bun­desanwaltschaft den Namen «Dunkelkammer der Nation» und der Staat jenen vom «Grossen Bruder Schweiz».5 Viele Jahre später wurde der Begriff erneut benutzt, aber dieses Mal in Zusammenhang mit Edward Snowden. Ab Juni 2013 veröffentlichten die Zeitungen gestohlene Unterlagen der amerikanischen Behörde «Signal Intelligence», der Nationalen Sicherheitsbehörde (NSA).6 Laut einer Analyse von The Wall Street Journal hatte die NSA Zugriff auf 75 Prozent des weltweiten Internetdatenverkehrs.7 Dieser Anteil könnte für Amerikaner sogar noch höher sein. Edward Snowden, der die Unterlagen gestohlen hatte, behauptete bei seinem ersten Auftritt, dass «die NSA auf die Kommunikation aller Leute [in den USA] abzielt».8 Auch der Journalist Glenn Greenwald, dem Snowden die Unterlagen übergeben hatte, beschrieb in seinem Buch, wie übermächtig die USA seien und wie sie dadurch alles sammeln und Massenüberwachung betreiben könnten.9 Diese Massenüberwachung betreffe auch die Schweiz, wenn man Snowdens Aussage wörtlich nehme. «Fingerprints [eine Technik, mit der ein Gerät identifiziert und schliesslich lokalisiert werden kann] wurden genutzt, um eine uninformierte Menge von Leuten zu überwachen, deren Kommunikation über bestimmte Wege die ganze Schweiz durchquert», sagte er in einem Interview.10 Hatte er übertrieben, oder hatte die NSA tatsächlich Zugang zum gesamten Schweizer Datenverkehr?11 Leider lässt es sich nicht einfach überprüfen, ob die Aussagen aus den gestohlenen Unterlagen des Snowden-Fundus stimmen. Telekommunikationsbetreiber brauchen viel spezifischere technische Details, wenn sie einen Angriff auf ihr System feststellen wollen. In den meisten 14

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Fällen sind diese Details aber nicht vorhanden, da die Aussagen und Unterlagen unvollständig sind. Ein anderes Hauptproblem ist, dass die Daten aus dem Kontext gerissen sind. Es ist gut möglich, dass Präsentationen und Unterlagen nur mit dem Ziel aufbereitet wurden, einen Vorgesetzten zu beeindrucken, ein höheres Budget zu verlangen oder eine Projektidee vorzustellen.12 Man kann deshalb nicht sicher sagen, was der Realität entspricht. In diesem Sinne könnte Snowden mit seinen Aussagen oder Greenwald mit seinen Beschreibungen die Fähigkeiten der amerikanischen Nachrichtendienste überschätzt haben. Datenpublikationen wie die von Snowden und Greenwald haben aber sicher dazu geführt, dass die USA als «Grosser Bruder» bezeichnet werden. Nicholas Kristof, ein Kolumnist bei der New York Times, fragte mit Humor: «Ich frage mich, ob die NSA dem George-Orwell-Nachlass für ihr Inlandsüberwachungsprogramm eine Konzessionsgebühr bezahlen muss.»13 Selbst Edward Snowden bewies Selbstironie bei einer Konferenz, bei der sein Gesicht auf einen riesigen Bildschirm projiziert wurde. Er fand, er sehe aus wie der «Grosse Bruder».14 Andere Journalisten, auch in der Schweiz, stellten sich die Frage: «Leben wir jetzt im Jahr 1984?»15 Ein Journalist der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), Marc Tribelhorn, beschloss 2014 seinen Artikel über die Fichenaffäre mit den Worten: «Der Grosse Bruder hat sich 1989 nicht gänzlich verabschiedet.»16 Für ihn war die Fichenaffäre sogar «ein orwellsches Monstrum» gewesen.17 Ger­hard Schwarz, der Direktor des geachteten politikwissenschaft­ lichen Forschungsinstituts Avenir Suisse, beschrieb es 2015 ganz ähnlich: «Der gros­se Lauschangriff, den wir in den letzten Jahren erlebt haben, macht die Beschreibungen Orwells zu harmlosen Geschichtchen.»18 Ist das wirklich so? Die Analogie zwischen 1984 und der Fichenaffäre ist in verschiedener Hinsicht falsch gewählt. Erstens ist Orwells Romanwelt viel nuancierter ausgestaltet, als sie oft dargestellt wird. Zweitens ist die Analogie irreführend, da das Gesellschaftssystem der Schweiz nur sehr wenig mit dieser fiktiven Welt gemeinsam hat. An dieser Stelle lohnt es sich, sich in Erinnerung zu rufen, welche Art von Gesellschaft Orwell in seinem Buch beschrieben hat. 15

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Die Orwell’sche Gesellschaft in 1984

Bei Orwell besteht die Gesellschaft aus drei Ebenen. Ganz oben stehen die Mitglieder der Inneren Partei (2 Prozent der Bevölkerung). Sie treffen die politischen Entscheidungen und haben einen guten Lebensstandard. Darunter folgen die Mitglieder der Äus­seren Partei (13 Prozent), die die Entscheidungen der Inneren Partei umsetzen. Und letzt­ lich gibt es die Proles (85 Prozent), den Rest der Bevölkerung, der keine politische Macht besitzt. Es ist wichtig, diese Dreiteilung der Gesellschaft in Bezug auf mögliche Analogien zwischen der Schweiz und 1984 zu verstehen, da sie häufig verwendet werden. In Orwells Werk wird nur eine Ebene ständig überwacht, und zwar jene der Mitglieder der Inneren Partei. «Ein Parteimitglied lebt von der Geburt bis zum Tod unter den Augen der Gedankenpolizei», schrieb Orwell.19 Bei den anderen Ebenen bleibt es unklar, ob sie wirklich ständig unter Überwachung stehen, es ist aber eher unwahrscheinlich. Die Mitarbeitenden werden überwacht, weil ihre Arbeit kontrolliert werden muss, um sicherzustellen, dass sie nicht gegen das System rebel­ lieren und subversive Agenten werden.20 Die Proles jedoch werden als für den Staat uninteressant beschrieben. Aus­serdem haben die anderen Länder im Buch – es gibt nur zwei andere, gegen die abwechselnd Krieg geführt wird – auch ein ähnliches System.21 Der Roman 1984 beschreibt nicht eine Welt von «Totalüberwachung» von allen, sondern nur von denjenigen, die für den Staat tätig sind. Ein treffenderer Analogieschluss zum Buch wäre dann möglich, wenn die Mitarbeitenden der Bundesverwaltung ständig kontrolliert würden, wohingegen der Rest der Bevölkerung davon verschont bliebe. Der zweite wichtige Grund, weshalb sich die Schweiz nicht für Analogien mit Orwells Buch eignet, ist, dass die Überwachung zu systematischer Folterung führt. Die physischen Schmerzen, die als Sanktionen durch das Ministerium für Liebe verhängt werden, sind zentral für die Welt in 1984 und erklären die Angst der Protagonisten. Orwell widmet den Schrecken des Ministeriums für Liebe fast ein Drittel des Buchs. Die Beschreibung der drei anderen Ministerien – das Ministerium für Frieden, das sich mit Krieg beschäftigt, das Ministerium für Wahrheit, das dafür zu sorgen hat, dass die Vergangenheit mit der Par16

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teilinie übereinstimmt, und das Ministerium für Überfülle, das für den Hungertod verantwortlich ist – nimmt relativ wenig Raum ein.22 Das physische Leiden ist hier also die stärkste Form von Kontrolle. Ja, die Parteimitglieder werden durch die «Totalüberwachung» eines «Gedan­ kendelikts» überführt, namentlich eines subversiven Gedankens. Rele­ vant sind die Folgen: Folter und sogar Tod. In der Schweiz kam es ­weder 1989, als die Fichenaffäre ausbrach, noch in neuster Zeit zu sys­ tematischer Folter. Die Überwachung der Parteimitglieder ist ebenfalls weitreichend. Ein Teil dieser Überwachung wird durch die Gedankenpolizei ausge­ übt. Sie kontrolliert auch die Sexualität der Mitglieder: Demnach sei der Zweck einer Ehe nur, «Kinder für die Dienste der Partei zu zeugen». Hier stellt Orwell klar, dass dies ausschliesslich die Parteimitglieder be­ trifft. «Delikt war Promiskuität zwischen Parteimitgliedern», schreibt er.23 Der Grund für eine solche Einschränkung liegt nahe, nämlich, dass die Parteimitglieder ihre ganze Energie in die Partei investieren müssen und nicht in das Liebesspiel.24 Auch hier hinkt eine Analogie, denn es ist kaum vorstellbar, dass die Mitarbeitenden der Bundesverwaltung heut­ zutage ihre Sexualität nicht ausleben können, wie sie dies wünschen. Ein anderes Werkzeug der Partei zur Gedankenkontrolle ist die Sprache: Eine neue Sprache, «Neusprech», mit der «Gedankendelikte buchstäblich unmöglich» sind, «weil es keine Wörter mehr [gibt], um [die Gedanken] auszudrücken».25 Es geht bei Orwell darum, uner­ wünschte Wörter aus der Sprache zu eliminieren. Die Partei führt «Neusprech» durch die Medien ein, aber auch durch das Neuschreiben ­alter Bücher. Eigentlich wird hier auch die Vergangenheit ständig neu verfasst, Bücher und andere Dokumente werden vernichtet, damit kei­ nerlei Beweise von einer anderen Zeit übrig bleiben. «Wer die Ver­ gangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft, wer die Gegenwart kon­trolliert, kontrolliert die Vergangenheit», lautet die Parteiparole.26 Eben­­­so bekennt sich die Partei nie dazu, ihre Doktrin oder Politik ge­ wechselt zu haben, was dazu führt, dass ältere Medienartikel auch sehr häufig neu geschrieben werden müssen.27 In diesem Sinn hat die Histo­ rie in 1984 aufgehört zu existieren: «Es gibt nur eine endlose Gegen­ wart, in der die Partei immer recht hat.»28 17

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In dieser Gesellschaft ist es unmöglich, sich eine kleine persönliche und individuelle «Welt» zu bauen. Sogar das Führen eines Tagebuchs kann die Todesstrafe nach sich ziehen.29 Dasselbe gilt für das Schminken oder Tragen hochhackiger Schuhe.30 Es handelt sich um eine Gesellschaft, in der Säuberungswellen zu den regelmässig genutzten Regierungsmechanismen gehören.31 Diejenigen, die zweifeln, werden sofort «vaporisiert»: Sie verschwinden einfach, und ihre Namen werden aus Büchern oder Artikeln gelöscht. Die Gesellschaft wird dominiert durch den «Grossen Bruder». Obwohl der Begriff «Grosser Bruder» heutzutage oft mit «Überwachung» gleichgesetzt wird, steht er in 1984 auch noch für etwas anderes: für ­einen Diktator und einen Persönlichkeitskult. Der Grosse Bruder ist unfehlbar und allmächtig. Jeder Erfolg, jede Errungenschaft, jeder Sieg, jede wissenschaftliche Ent­ deckung, alles Wissen, alle Weisheit, alles Glück, alle Tugenden werden unmittelbar seiner Führerschaft und Inspiration ­zugeschrieben.32 Zwar können Analogien hilfreich sein, um Sachverhalte zu verdeut­ lichen. Die Unterschiede zwischen der Schweizer Gesellschaft und 1984 überwiegen aber: Folter wird in der Schweiz nicht systematisch aus­ geübt, es herrscht kein Diktator, der Staat kontrolliert weder die Sprache noch die Presse, die Mitarbeitenden der Bundesverwaltung können ihr privates (Liebes-)Leben frei gestalten, sie haben die Wahl, sich zu schminken oder ein Tagebuch zu führen. Aus­serdem befindet sich der Staat nicht ständig in einem Kriegszustand. Falsche Analogien mit Orwells Roman bergen eine gros­se Gefahr. Zwar ist die Auseinan­ dersetzung mit 1984 hilfreich, um sich eine Art von Gesellschaft vor Au­­gen zu führen, vor der gewarnt werden muss; jedoch sollten entsprechende Vergleiche nur mit undemokratischen und tyrannischen Staaten angestellt werden, in denen Gewalt tatsächlich systematisch gegen die Bevölkerung eingesetzt wird. Wendet man die Analogie aber auf demokratische Länder an, dann verliert sie ihre Kraft und Relevanz, wenn es darum geht, Länder zu beschreiben, die systematisch Folter betreiben. 18

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Der staatliche Einsatz von technologischen Möglichkeiten, um die Kommunikation in der Bevölkerung abzuhören, macht den Staat nicht automatisch zu einem machthungrigen Gebilde, wie es Orwell beschreibt. Im Grunde genommen ist es sogar umgekehrt: Die Verbreitung der Kommunikationssysteme, insbesondere des Internets, führt sogar zu einer Entfernung von einem totalitaristischen Staatssystem. Durch den Zugriff auf jegliche Informationen können sich die Menschen besser informieren, und es wird schwieriger für einen Staat, ein einziges Narrativ zu erschaffen. Transparenz als Folge der Snowden-Affäre

Die Frage, ob wir wirklich wie im Roman 1984 leben, stellte sich neulich bei der Publikation der Snowden-Folien. Seitdem ist aber festzustellen, dass viele Länder sich zu mehr Transparenz bezüglich ihrer Nachrichtendienste entschieden haben, unter anderem die USA, Deutschland und das Vereinigte Königreich.33 Lange Zeit sahen die Entscheidungsträger auch keine Notwendigkeit, der Bevölkerung die nachrichtendienstliche Politik zu erklären: Es galt das etwas freche Argument, dass die Nationalsicherheit geheim zu halten sei. Politiker und Aktivisten fragten auch nicht zu viel nach. Aber mit zunehmenden Vorwürfen gegen die Nachrichtendienste sehen sich mehrere Regierungen dazu gedrängt zu erklären, was die Nachrichtendienste eigentlich leisten und wie sie zur Politiksicherheit des Landes beitragen. Entscheidungsträger hoffen, mit mehr Transparenz ein höheres Verständnis innerhalb der Bevölkerung zu fördern, aber gleichzeitig wollen sie die Menschen auch beruhigen. Sie wollen zeigen, dass Mechanismen bereits im Einsatz sind, um Missbrauch aufzudecken und zu bestrafen. Die amerikanische NSA hat Ende 2014 klassifizierte Berichte veröffentlicht, die Missbräuche der letzten zwölf Jahre, begangen durch ihre eigenen Mitarbeitenden, offenlegten; beispielsweise hatte ein Mitarbeiter der NSA die technischen Möglichkeiten ausgenutzt, um seine Frau auszuspionieren.34 Diese Offenheit seitens der NSA ist erstaunlich und zeigt, dass sich die Mentalität einer Organisation gewandelt hat, die einst so geheim war, dass sie lange Zeit als «No-Such-Agency» beti19

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telt wurde. Die Politik der Offenheit betraf auch viele aktuelle Ereignisse. Ein anderes Beispiel betrifft die US Navy Seals, die den Terroristen Osama Bin Laden in Pakistan im Mai 2011 töteten.35 Statt mehrere Jahre zu warten, hat der Direktor der nationalen Nachrichtendienste, James Clapper, angekündigt, dass eine Veröffentlichung der gesammelten Dokumente im Interesse der Öffentlichkeit wäre, und hat damit Transparenz in noch laufende aktuelle Angelegenheiten gebracht. Das Vereinigte Königreich ist auch bezüglich der «signal intelligence» offener geworden, ein Thema, das normalerweise noch heikler und geheimer ist als andere nachrichtendienstliche Themen. Ein Grund dafür ist, dass «signal intelligence» die Kommunikationen von anderen Ländern umfasst, und dies sogar in gros­sen Mengen. Da Nachrichtendienste ihre Fähigkeiten selbstverständlich geheim halten möchten, würden Enthüllungen über ihre «signal intelligence»-Operationen viel über ihre allgemeinen Beschaffungskanäle verraten. Der britische par­ lamentarische Ausschuss für nachrichtendienstliche Aufsicht hat aber eine der Snowden-Enthüllungen bestätigt: die Existenz von Tempora.36 Tempora ist ein Programm des britischen Pendants der NSA, der Government Communications Headquarters (GCHQ). Das Programm erlaubt den Briten, transatlantische Kabel anzuzapfen und die unverschlüsselten Kommunikationen vieler Länder indirekt zu lesen und zu analysieren. Eine solche Bestätigung durch Organisationen, die sich so lange von der Öffentlichkeit ferngehalten hatten, kann in der Öffentlichkeit für Überraschung sorgen. Jedoch zeigt diese Offenheit auch den Willen zu mehr Transparenz. Die Nachrichtendienste möchten auf der einen Seite zeigen, was sie tun, nämlich die Bevölkerung schützen, und auf der anderen Seite auch vorführen, wie sie es tun.37 Damit wollen sie der Bevölkerung gleichzeitig demonstrieren, dass sie keine Bedrohung für die Bevölkerung selbst darstellen.

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Transparenz in der Schweiz

Die Schweiz geht ähnlich vor – sowohl strategisch als auch praktisch. «Der NDB [Nachrichtendienst des Bundes] ist gegenüber der Öffentlichkeit so offen wie möglich», ist in der Sicherheitsstrategie 2010 zu le­­sen.38 Der Entscheid für Offenheit (insbesondere im Vergleich zu ande­­ ren Ländern) ist als die Beendigung der «Phantastereien und Falsch­annahmen im Hinblick auf seine Mittel und seinen Handlungsspielraum […]» zu verstehen.39 Es gibt nicht nur Phantasien über Nach­ richtendienste in der Schweiz, sondern auch viele Missverständnisse und Misstrauen. Dass der Nachrichtendienst «sich zunehmend in die Dunkelkammer zurückzieht» oder nicht transparent genug sei, ist oft im Blick, der populären Boulevardzeitung, zu lesen.40 Ist es wirklich so? Der Nachrichtendienst hat sein Ziel, transparent zu sein, in vieler­ lei Hinsicht umgesetzt. Zum Beispiel werden jedes Jahr verschiedene Medien zu einer Pressekonferenz eingeladen, bei der die Arbeit des Nachrichtendiensts in einem Bericht vorgestellt wird. Ferner wurden die Medien 2016 zu einem Treffen mit den Direktoren der Nachrichtendienste von Deutschland, Österreich und der Schweiz eingeladen. Das war das erste Mal, dass die Medien zu einem solchen Anlass ein­ geladen wurden.41 Die Beziehung zwischen den Schweizer Nachrichtendiensten und den Medien war nicht immer so offen, wie es Peter Regli, der frühere Chef des militärischen Nachrichtendiensts (Untergruppe Nachrichtendienst) 2001 schrieb: «Der Nachrichtendienst arbeitet in der Stille. Er veranstaltet keine Pressekonferenzen.»42 Der Inlandsdienst war es aber vor der Zusammenlegung im Gegensatz zum Auslandsdienst gewöhnt, einen jährlichen Bericht über die innere Sicherheit der Schweiz zu veröffentlichen.43 Diese Praxis ist auch nach der Zusammenlegung 2010 erhalten geblieben.44 Der Nachrichtendienst ist somit offener geworden, nicht nur wegen Snowden. Ein weiteres Beispiel für den Wunsch nach Transparenz hängt mit einer Veröffentlichung im März 2015 zusammen. Damals wurde die ­genaue Anzahl der nachrichtendienstlichen Mitarbeitenden nicht bekannt gegeben. Seit der Gründung des Nachrichtendiensts des Bundes 2010 war aber sein Budget für das Personal und für Sachkredite öffent21

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lich bekannt. Das erlaubte bereits eine grobe Einschätzung seiner Grösse. Ein Journalist des Blicks wollte detailliertere Informationen zu diesen Zahlen erfahren und stellte dazu ein Ersuchen unter dem Öffentlichkeitsgesetz auf. Der Nachrichtendienst verweigerte dies, aber das Bundesverwaltungsgericht bestätigte, dass die Preisgabe der Anzahl keine konkrete Bedrohung für den Nachrichtendienst und seine Mit­ arbeitenden darstellen würde. So erfuhr die Öffentlichkeit, dass im Jahr 2015 272 Mitarbeitende beim Nachrichtendienst des Bundes und 84 bei der Kantonalpolizei (die auch nachrichtendienstliche Tätigkeiten wie «human intelligence» ausführen) tätig waren.45 Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts wurde so begründet, dass insbesondere Details – wie die Zahl der Mitarbeitenden bei der Beschaffung – noch geheim bleiben würden. Dadurch wurde der Nachrichtendienst ein Stück transparenter gemacht – auch wenn nicht die Rede davon sein kann, dass er in der Vergangenheit so «dunkel» war. Wie erwähnt, wurden seit der Gründung des Nachrichtendiensts des Bundes 2010 das Gesamtbudget (ungefähr 69 Mio. CHF 2014; für 2018 sind wegen des neuen Nachrichtengesetzes 86 Mio. CHF vorge­ sehen sowie 12.4 Mio.  CHF für den kantonalen Nachrichtendienst) und sogar das Budget für das Personal (43 Mio. CHF 2014, 53.1 Mio. CHF 2018) preisgegeben.46 Auch 2003 und 2010 wurde die Anzahl der Mit­ arbeitenden des Inlandsnachrichtendiensts bekannt gegeben (110 und dann 140 beim Dienst für Analyse und Prävention und 70 bei der Kantonspolizei).47 Jüngst wurde ebenso veröffentlicht, wie viele neue Stellen beim Nachrichtendienst eingerichtet wurden. Nach den Terroranschlägen in Paris im Januar 2015 wurden ihm weitere sechs Stellen zugewiesen, nach den Anschlägen im November 2015 zusätzlich 23, die aber auf zwei Jahre befristetet sind.48 Anfang 2016 ist das Personal damit auf knapp unter 300 gestiegen, während es in den Kantonen auf über 100 angewachsen sein dürfte. 2017 hat der Bund keine offiziellen Zahlen bekannt ge­ geben, aber das Budget für die Personalkosten ist seit 2016 um rund 10 Prozent gestiegen. Die Anzahl Stellen könnte daher inzwischen bei rund 330 liegen. Gerechtfertigt wird der Stellenausbau mit dem neuen Nachrichtendienstgesetz. Als 2015 im Nationalrat das neue Bundesge22

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setz über den Nachrichtendienst diskutiert wurde, sagte Bundesrat Ueli Maurer, für eine richtige Umsetzung des Gesetzes benötige man weitere 80 Stellen.49 Die Schweiz erweist sich hier nicht nur als transparenter, sondern trägt auch dazu bei, einen Mythos zu entkräften: den der Totalüber­ wachung. Stefan Thöni, Mitglied der Piratenpartei, äus­serte sich dazu wie folgt: «Wir werden zu jeder Zeit und willkürlich vom Bund überwacht», und fügte dann hinzu, dass «der Geheimdienst […] ein un­ kontrollierbarer Überwachungsapparat» sei.50 Allerdings zeigt die geringe Zahl der Mitarbeitenden die beschränkte Handlungsfähigkeit des Nach­richtendiensts und beweist infolgedessen die Unmöglichkeit, gros­se Menschenmengen zu überwachen.51 Auf jede überwachte Person müssten mehrere Mitarbeitende angesetzt werden. Aber mit der realen Anzahl von Mitarbeitenden erscheint es völlig illusorisch, von einer Total­überwachung der 8 Millionen Einwohner der Schweiz zu reden. Ein letztes Beispiel für die erhöhte Transparenz seitens des Schweizer Nachrichtendiensts ist, dass er Ende 2014 den ungewöhnlichen Schritt gemacht hat, Details über «dschihadistisch motivierte Reisende» zu veröffentlichen. Seit November 2014 berichtet der Nachrichtendienst auf der Website des VBS darüber, wie viele Schweizer insgesamt seit 2001 nach Syrien, Afghanistan und in den Irak gereist sind; ebenso berichtet er, wie viele zurückgekehrt oder gestorben sind.52 Weitere Anga­ben zu Identität, Alter, Geschlecht, Nationalität und Wohnsitz dieser Personen gibt der Nachrichtendienst nicht bekannt. Nun wissen die Schweizer Medien von den regelmässigen Updates der Website, wobei der Nachrichtendienst nicht dazu verpflichtet ist, diese Zahlen jedes Mal zu verkünden. Dies ist einzigartig für einen Nachrichtendienst, dessen Kunden offiziell andere Bundesämter und Entscheidungsträger sind, nicht aber die Öffentlichkeit. Lange Zeit hatten die Nachrichtendienste die Öffentlichkeit nicht berücksichtigt. Die verschiedenen Initiativen für mehr Transparenz zeigen, dass der Nachrichtendienst anerkennt, wie wichtig die Haltung der Bevölkerung gegenüber dem Nachrichtendienst ist. Die öffentliche Meinung kann die Kraft haben, bedeutende Veränderungen zu bewirken. Die nun folgenden Kapitel werden dies umfassend beweisen. 23

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Kontrollorgane

Diese Initiative für mehr Transparenz zeigt klar, dass der Nachrichtendienst nicht mit dem Begriff «Dunkelkammer» bezeichnet werden kann. Geheim ist er immer noch, und es ist naheliegend, dass er über seine Tätigkeiten und Kenntnisse Stillschweigen bewahren und sich damit von Kritik fernhalten will.53 Der Hang zur Geheimhaltung ist im Allgemeinen ein grundlegender Wesenszug der Bürokratie. Der einflussreiche Soziologe Max Weber geht sogar so weit zu schreiben, «der Begriff des ‹Amtsgeheimnisses›» sei eine Erfindung der Bürokratie.54 Somit ist jede Bürokratie ein «Feind» der Demokratie. Jedoch ist es durch den Einsatz besonderer Aufsichtsbehörden möglich, die Balance zwischen notwendiger Geheimhaltung und Demokratie wiederherzustellen, um den Verwaltungsaufgaben, die die Bevölkerung betreffen, verantwortungsvoll nachzukommen. Die Aufsichtsbehörden stellen sicher, dass die Verwaltung gesetzeskonform handelt. In der Schweiz hat der Nachrichtendienst des Bundes, wie der ehemalige Direktor Markus Seiler mitteilte, «weltrekordverdächtig viele Kontrolleure». Dies ist möglicherweise zwar nicht wirklich «weltrekordverdächtig», aber er hat zumindest mehr als alle anderen Ämter der Schweizer Bundesverwaltung.55 Diese Kontrolleure schaffen Transparenz gegenüber Entscheidungsträgern, dem Parlament oder in einigen Fällen gegenüber der Öffentlichkeit mit der Veröffentlichung von Berichten. Dabei ist zu bemerken, dass Markus Seiler nicht der erste Chef eines Schweizer Nachrichtendiensts ist, der diese Meinung vertritt. Auch vorher schon haben dessen Chefs kundgetan, dass ihr Dienst schon stark genug kontrolliert werde; parallel hat die Anzahl von Kontrollorganisationen stets zugenommen. 2001 befand Peter Regli, der frühere Chef, «der schweizerische Nachrichtendienst steht immer unter Kontrolle».56 Ferner fügte er hinzu: «Ich wage die Behauptung, dass er der weltweit am besten kontrollierte Nachrichtendienst überhaupt ist.»57 Auch 2004 sagte der Direktor des zivilen Strategischen Nachrichtendiensts, Hans Wegmüller: «Man kann mit Fug und Recht sagen, dass der SND [Strategischer Nachrichtendienst] heute im europäischen Vergleich einer der bestkontrollierten Nachrichtendienste ist.»58 Der Vorsteher des Verteidigungsdepartements, Samuel Schmid, beschrieb 24

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2008, als die beiden zivilen Dienste unter seinem Dach zusammen­ geführt wurden, die Lage der Aufsicht so: «Ich glaube nicht, dass es ein Land in der Welt gibt, in dem die parlamentarische Oberaufsicht gleich viele Einsichtsrechte betreffend den jeweiligen Strategischen Nachrichtendienst hat – oder betreffend den Auslandsnachrichtendienst, wie es anderswo heisst – wie in der Schweiz.»59 Wegmüller wiederholte 2011 noch einmal angesichts der vielen Veränderungen bei Nachrichtendiensten: «Heute gehört der schweizerische Nachrichtendienst zu den am besten kontrollierten Diensten der Welt.»60 Die folgenden Kapitel werden detaillierter behandeln, vor welchem Hintergrund diese Aussagen zu verstehen sind und welche Prozesse für die Wahrnehmung einer funktionierenden Aufsicht existieren. Kurz­ ge­fasst lässt sich sagen, dass der Nachrichtendienst eine strikte interne Kontrolle über die Eintragung von Schweizer Bürgern in Datenbanken hat und durch einen parlamentarischen Ausschuss überwacht wird. Zudem entstand nach der Fichenaffäre 1992 die Geschäftsprüfungsdelegation, die den Nachrichtendienst viel eingehender prüfen kann als die sonst in der Verwaltung üblichen Kontrollorgane. Die Geschäftsprüfungsdelegation darf insbesondere alle Unterlagen des Nachrichtendiensts verlangen.61 Insgesamt sind elf verschiedene Instanzen mit der Kontrolle der Tätigkeiten des Nachrichtendiensts beschäftigt. Dieje­ nigen, die trotzdem von einer Totalüberwachung sprechen, beweisen damit nicht nur gegenüber dem Nachrichtendienst ihre misstrauische Haltung, sondern prinzipiell gegenüber allen Organen des Staates. Die Frage bleibt: Worauf ist dieses Misstrauen gegenüber dem Nachrichtendienst zurückzuführen? Verschiedene Skandale haben dazu beigetragen, in der Bevölkerung falsche Vorstellungen von den Nachrichtendiensten zu erwecken. Die Medien liessen, vermutlich aus Sensationsgier, die Nachrichtendienste gern in ein schlechtes Licht rücken, selbst wenn die Fakten noch nicht geprüft oder nicht repräsentativ waren. Auch Parlamentarier waren ähnlich schnell dabei, die Nachrichtendienste zu verurteilen. Dies zeigt nicht nur ihre Ungeduld, um auf ernüchternde und geprüfte Fakten zu warten, sondern auch ihre verzerrte Meinung von den Nachrichtendiensten.

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Thesen des Buchs

Die These, die in diesem Buch vertreten wird, ist daher: Das Misstrauen ist auf ein Defizit beim Verständnis der Geschichte der Schweizer Nachrichtendienste zurückzuführen. Schuld an diesem Defizit sind auch die Wissenschaftler. Was auf Englisch «intelligence studies» genannt wird, nämlich die Analyse des Werts und der Politik des Nachrichtendiensts, bleibt in der Schweiz nahezu fast inexistent.62 Dieses Defizit hat verhindert, den Beitrag der Nachrichtendienste zur Sicherheitspolitik zu verstehen. Dieser Beitrag ist für die Bevölkerung nicht sichtbar, da auch das Ausmass der Bedrohung in der Schweiz nicht so gross ist wie in anderen, weniger stabilen Ländern. Aber man muss potenzielle Bedrohungen wie Terrorismus oder verbotener Nachrichtendienst – besonders in einer Stadt wie Genf, in der sehr viele internationale Organisationen ihren Sitz haben – immer ins Kalkül ziehen, auch wenn solche Bedrohungen eher latent vorhanden sind. Daher ist es wichtig, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, um die gegenwärtige Lage besser zu verstehen und um zu vermeiden, dass sich die in der Vergangenheit gemachten Fehler wiederholen. Denn diese Möglichkeit besteht in der Tat.63 Das augenfälligste Beispiel dafür, dass der Nachrichtendienst, mit seiner Geschichte und in seiner Rolle, nicht verstanden wurde, spiegelt sich in der Behauptung Erik Schönenbergers, einem Mitarbeiter der Aktivistengruppe «Digitale Gesellschaft», wider, der noch im Februar 2015 sagte: «Die Aufgaben des zivilen Nachrichtendiensts sollen durch die Bundesanwaltschaft wahrgenommen werden.»64 Damit würde aber genau die Situation von vor 1989 wiederhergestellt werden, als die Teilungsprinzipien zwischen Nachrichtendienst und Strafverfolgung nicht klar eingehalten wurden. Alle Fortschritte wieder zurückzubauen, die seither mühsam gemacht wurden, wäre ein Schritt, der der liberalen Schweizer Gesellschaft nicht zu empfehlen ist. Ebenso augenfällig ist eine gewisse Neigung, extreme Meinungen zu vertreten. Dies gilt für die Piratenpartei, die es noch 2014 als erstrebenswert und politisch realisierbar betrachtete, den Nachrichtendienst der Schweiz abzuschaffen.65 Dieser Ruf hatte zwar nicht sehr viel Stosskraft und kam aus den Reihen einer Minderheit, aber dieser Mangel an 26

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Nuance ist leider kein Einzelfall. Das gilt auch für einen Vortrag des deutschen Literaten Manfred Schneider an einer von der NZZ organisierten Konferenz. Schneider formulierte hier drei Annahmen: (1) «Alles» und «jedes» steht unter Überwachung, was jetzt, laut Schneider, als banal gilt, (2) wir wissen nichts über nachrichtendienstliche Tätigkeiten und (3) der Nachrichtendienst nimmt keine «Rücksicht auf rechtliche Begrenzung».66 Diese drei Vorurteile erwiesen sich als falsch, werden aber in der Debatte über den Nachrichtendienst oft wiederholt.67 Aus­ serdem warf ein Diskussionsteilnehmer, der deutsche Journalist Peter Glaser, an der Konferenz ein, dass kein Staat es geschafft habe, seinen Nachrichtendienst unter Kontrolle zu halten. Diese vier Thesen sind eindeutig als Übertreibung zu sehen und zeigen den gros­sen Mangel an empirischer Forschung zu diesem Thema. Es ist nicht sinnvoll, alle Nachrichtendienste in einen Topf zu werfen: Jeder Nachrichtendienst muss im Zusammenhang mit der politischen Kultur des Landes und seiner Geschichte verstanden werden. Aus diesem Grund wird dieses Buch erläutern, warum Personen nicht einfach grundlos überwacht werden können und weshalb es generell nur selten zu Überwachungen kommt. Ferner wird behandelt, dass ­bereits in der Schweiz eine gros­se Menge von Dokumenten über die Nachrichtendienste veröffentlicht sind, und schliesslich, wie eng die rechtlichen Grenzen zwischen Exekutive, Parlamentariern und der Bevölkerung kon­trolliert werden. Aus­serdem gibt es eine zusätzliche Schwierigkeit bezüglich des Verständnisses der Geschichte der Schweizer Nachrichtendienste: Diese Geschichte ist weit entfernt davon, einfach und linear zu sein. Nach der Fichenaffäre kam es zu häufigen Kurswechseln. Zahlreiche Struktur­ veränderungen haben zu Verwirrung geführt und Fragen aufge­worfen. Heute gibt es in der Schweiz nur noch einen zivilen Nachrichtendienst, wohingegen die meisten anderen Länder zwei haben: einen für das Ausland und einen für das Inland.68 Diese Fusion war das Ergebnis eines langen Prozesses. Erst 1999 wurde die Bundespolizei aus der Bundesanwaltschaft ausgegliedert, eine Trennung von Investigation und Strafverfolgungsbehörde, die die Parlamentarier schon nach der Auf­ klärung der Fichenaffäre verlangt hatten. Ein Jahr später, im Mai 2000, 27

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kam es zu einer weiteren Trennung: Innerhalb der Bundespolizei gab es eine Investigationseinheit und eine Einheit für den Nach­rich­ten­ dienst. Mit ihrer Trennung wurde der Dienst für Analyse und Prävention (DAP) geschaffen. Dieser Dienst sollte in den kommenden Jahren für den Inlandsnachrichtendienst zuständig sein. Drei Monate nach dieser Trennung erfolgte eine weitere Veränderung: Im September 2000 entschied man, einen neuen Auslandsnachrichtendienst einzurichten (den Strategischen Nachrichtendienst, SND), der aus der militärischen «Untergruppe Nachrichtendienst» stammte. 2009 wechselte der Dienst für Analyse und Prävention vom Justizdepartement zum Ver­tei­di­gungs­ departement. Keine vier Monate nach dieser Umstellung beschloss der Bundesrat überraschenderweise, noch einen Schritt weiter zu gehen und die zwei Nachrichtendienste zusammenzulegen (s. Grafiken ab S. 244). Die Strukturierung der Nachrichtendienste geht weit über eine reine Organisation der Arbeit der Bundesverwaltung hinaus. Sie spiegelt eine besondere Wahrnehmung der Sicherheitslage aus Sicht der politischen Elite wider; sie verdeutlicht, wie die Balance zwischen Privatsphäre und Sicherheit aussieht. Die zahlreichen Umstrukturierungen werfen viele Fragen auf: Warum haben die strukturellen Wand­ lungen stattgefunden? Was haben sie zur Sicherheitspolitik des Landes beigetragen? Standen diese Umwandlungen der nachrichtendienstlichen Struktur im Einklang mit der übergeordneten Schweizer Sicherheitspolitik (z. B. Reformen der Armee, der Polizei)? Wie wirkten die politischen Kräfte? Aus­serdem gingen diese organisatorischen Veränderungen mit anderen wichtigen konzeptionellen Umwandlungen einher. Eine davon betraf die Fusion: Sie war mit der Annahme verbunden, dass die Trennung zwischen inländischen und ausländischen Bedrohungen irrelevant geworden war. Diese Erklärung dient oft als Grund für die Fusion, obwohl der Prozess viel komplexer war. Das Buch fasst diese Fragen zusammen, und zwar: Wie hat sich die Rolle der Nachrichtendienste nach der Fichenaffäre entwickelt? Die in diesem Buch gegebene Antwort soll dazu beitragen, den gegenwärtigen Nachrichtendienst facettenreicher zu sehen, als es die Analogie mit 1984 oder James-Bond-Klischees vermögen. Durch eine kritische historische Analyse soll ein besseres Verständnis der heutigen Nachrichten28

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dienste des Bundes erreicht werden. Es besteht eine Pflicht, diese Geschichte zu studieren: die Debatte und Argumente der Vergangenheit besser zu erklären, um die Debatte in der Zukunft in die richtige Richtung zu leiten. Methodologie und Referenzen

Um Antworten zu finden, stützt sich das Buch auf offene Quellen, insbesondere auf veröffentlichte Amtsberichte und Zeitungsartikel. Das Buch beinhaltet viele Referenzen, in dem Bestreben zu beweisen, dass schon sehr viele Informationen an die Öffentlichkeit gelangt sind. Nur zu oft betonen Beamte, dass eine Information bereits klassifiziert sei und dass sie deshalb dazu keine Fragen beantworten könnten.69 Überklassifizierung ist die Regel, nicht die Ausnahme – und das nicht nur in der Schweiz.70 Allerdings sind der Öffentlichkeit mehr Informationen zugänglich als vermutet. Ein anderes Argument dafür, unterschiedlichste und zahlreiche Referenzen zu erfassen, ist, dass dadurch die wissenschaftliche Basis verbreitert werden kann, um die Thesen, die in diesem Buch aufgestellt werden, zu untermauern. Der Punkt ist gewissermassen ironischer Natur: Es gilt als eine goldene Regel der Nachrichtendienste, die Quelle der Information unter keinen Umständen zu verraten und sie unter allen Umständen zu schützen. Für zwei Schweizer Departemente werde ich der Einfachheit halber eine verkürzte Bezeichnung verwenden: Das Eidgenös­sische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport wird einfach Verteidigungsdepartement genannt, das Eidgenös­sische Justiz- und Polizeidepartement schlicht Justizdepartement. Der Verzicht auf den vollständigen Namen dient lediglich der Vereinfachung.71 Alle Quellen werden durch eine sogenannte «process tracing»-Methodologie bearbeitet. Alle Kurswechsel sind die Folge eines Prozesses, und «process tracing» versucht, sachlich zu prüfen, welche Variable diesen Prozess kausal beeinflusst hat. Mit anderen Worten: Für jede relevante Variable müssen Beweise vorgebracht werden, die belegen, dass sie den Prozess wirklich beeinflusst haben. Dabei soll die Beschreibung des Prozesses im Fokus stehen. 29

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Struktur des Buchs

Das Buch hat neun Kapitel, in denen jeweils eine komplexe These behandelt wird. Das zweite Kapitel wird beweisen, dass die Fichenaffäre kein Skandal hätte werden sollen. Das Parlament beliess es bei der Feststellung, dass es nicht viel über die Tätigkeit der Bundesanwaltschaft im Bereich Datensammlung wusste; im Parlament herrschte ein Konsens darüber, dass der Bundesanwaltschaft zu vertrauen sei, und daher liess man ihr eine gros­se Entscheidungs- und Umsetzungsfreiheit. Insbesondere präsentierten einige Parlamentarier Informationen als Enthüllungen, obwohl sie selbst als Mitglieder des Parlaments schon Jahre zuvor darüber informiert worden waren. Das dritte Kapitel analysiert die Entflechtung der Bundespolizei aus der Bundesanwaltschaft im Jahr 1999. Kurz danach folgte die Schaffung eines zivilen strategischen Nachrichtendiensts. In diesem Kapitel wird argumentiert, dass diese zwei wichtigen Kurswechsel in der nachrichtendienstlichen Politik nicht zusammen und nicht als Teil einer umfassenden Strategie betrachtet wurden. Das vierte Kapitel vertieft die Problematik der Koordination, auf die sich das Parlament zwischen den Jahren 2000 und 2010 stark fokussierte. Nach der Umstrukturierung hätten die neuen Nachrichtendienste Zeit benötigt, um ein institutionelles Gedächtnis aufzubauen. Aber ohne ihnen die Zeit für den Aufbau ein solches Gedächtnis einzuräumen, forderte das Parlament schon sehr bald weitere Veränderungen. Der Bundesrat war nicht einverstanden mit dem Kurs des Par­ laments und weigerte sich, weitere Veränderungen umzusetzen. Mit seinen Vorschlägen zeigte das Parlament zumindest ein erneuertes ehrliches Interesse am Beitrag der Nachrichtendienste zur Sicherheit des Landes. Diese Unnachgiebigkeit seitens der Parlamentarier bezüglich der Struktur des Nachrichtendiensts erklärt zum Teil auch den Schritt von 2009: Der Bundesrat entschied sich schliesslich dazu, die beiden Dienste zusammenzulegen. Das fünfte Kapitel berichtet über diesen Prozess und die Probleme, die die Zusammenlegung behoben hat. Ferner ergründet es, ob die Fusion erfolgreich war. 30

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Das sechste Kapitel legt ein Augenmerk auf den neuen Nachrichtendienst des Bundes. Es präsentiert seinen Aufbau, seine Prozesse und die Struktur seiner Aufsicht. Das siebte Kapitel wird zwei neue Herausforderungen, vor denen der Nachrichtendienst des Bundes steht, vertiefen: die Folgen der Enthüllungen von Snowden für die Schweiz und die Spionageabwehr von Cyber-Angriffen. Ob «human intelligence» oder «signal intelligence» Priorität haben sollte, ist auch eine Kernfrage des Kapitels. Das achte Kapitel wird das neue Gesetz für den Nachrichtendienst vorstellen, das dessen Kompetenzen und Beschaffungsmittel erweitert und in das deshalb beträchtliche Erwartungen gesetzt sind. Das Gesetz wurde mit breiter Unterstützung angenommen in einer Zeit, als die Snowden-Enthüllungen eine gewisse Gegenreaktion gegen Nachrichtendienste in den Vereinigten Staaten und unter anderem in Deutschland bewirkt haben. Damit sandten das Parlament und danach die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger aber ein klares Signal: Das Land braucht einen starken und weniger beschränkten Nachrichtendienst. Seit der Fichenaffäre, nach der viele an der Berechtigung von Nachrichtendiensten stark zweifelten, hat sich also einiges geändert. Letztlich wird das neunte Kapitel in die Zukunft blicken und Vorschläge für die nächsten zehn Jahre vorstellen.

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Kapitel 2:

Die Fichenaffäre (1989 – 1999)

Die Fichenaffäre begann im November 1989. Aber selbst 26 Jahre spä­ ­ter ist sie noch nicht in Vergessenheit geraten. Am 16. März 2015 wurde über ein neues Gesetz für den Nachrichtendienst im Parlament debattiert, dem schliesslich zugestimmt wurde. Während der Debatte äus­ serte sich der kürzlich verstorbene Nationalrat Daniel Vischer von den Grünen dazu: Erstmals seit dem Fichenskandal, erstmals seit 1989 wird nun in neuer Qualität ein Überwachungssystem installiert, was damals in den 90er-Jahren nicht mehr für möglich gehalten wurde.1 Ähnliches findet sich 2010 in einem Artikel des Tages-Anzeigers: «Der inländische Nachrichtendienst hat nichts aus dem Fichenskandal gelernt – oder nichts lernen wollen.»2 Die Fichenaffäre hat offensichtlich sehr viel Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Ämtern hervorgerufen. Aussagen wie die eben zitierten finden sich häufig. Darin sind zwei Hypothesen enthalten, die sich ständig wiederholten, wenn über die Affäre gesprochen wurde: dass die Fichen als Teil eines Überwachungssystems das Privatleben der Bürger beeinträchtigt haben und dass den Nachrichtendiensten nicht vertraut werden kann. Diese Hypothesen werfen folgende Fragen auf: Wie funktionierte dieses sogenannte Überwachungssystem zur Zeit der Fichenaffäre wirklich? Und was konnte man daraus lernen – oder anders formuliert, was waren die Auswirkungen der Fichenaffäre? Dieses Kapitel wird zeigen, dass ein Teil der Verantwortung für die Affäre bei den Parlamentariern liegt, was sehr oft vergessen wird. Die 32

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Parlamentarier waren sich ihres Mangels an Kenntnissen über den Staatsschutzapparat durchaus bewusst, sie änderten aber nichts daran. Die Parlamentarier nutzten die Fichenaffäre, um sich in die nachrichtendienstliche Arbeit einzumischen. Diese wurde dadurch erschwert, vor allem die des inländischen Nachrichtendiensts. Auf der anderen Seite blieben die Beschränkungen für die Arbeit des Auslandsnachrichtendiensts fast unverändert. Als die Fichenaffäre ausgelöst wurde, gab es nur einen zivilen Nachrichtendienst und zwei weitere militärische Nachrichtendienste. Diese Aufteilung war ungewöhnlich. Es gab einen Dienst für das Inland inner­halb der Bundesanwaltschaft. Ein anderer war für militärische ­Bedrohungen aus dem Ausland zuständig und beim Eidgenös­sischen Mi­li­tärdepartement angesiedelt, der Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr (UNA). Letztlich gab es noch eine eher geheime Einheit, «Pro­jekt 27» (oder P-27) genannt, die für das Ausland zuständig war und die aus­serhalb der Bundesverwaltung rangierte, jedoch trotzdem der Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr unterstellt war.3 Letztlich liegt der Schutz der inneren Sicherheit nicht nur in der Verantwortung des Bundes, sondern auch der Kantone.4 Das bedeutet, dass alle Kantone zu dieser Zeit ihre eigene Nachrichtendienstabteilung für inländische Bedrohungen hatten (und immer noch haben). Die Bundesanwaltschaft zur Zeit der ­Fichenaffäre

Bevor es nun konkret um die Fichenaffäre geht, ist es nötig, die Geschichte und Funktion der Bundesanwaltschaft zu analysieren, da sie eine zentrale Rolle in der Affäre spielte. Eine Abteilung der Bundes­an­ waltschaft hatte die Rolle inne, die heutzutage am ehesten mit der des Nachrichtendiensts vergleichbar wäre: die politische Polizei. So wurden jene Politiker bezeichnet, die die Verantwortung für alle Vorgänge innerhalb der Bundesanwaltschaft tragen sollten.5 Da die politische Polizei aus­serhalb des Strafverfolgungsprozesses operierte, muss­te definiert werden, welche Gruppen eine Bedrohung für die Nationalsicher­heit darstellten. Gewählte Politiker, namentlich der Bundesrat, definierten 33

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diese Gruppen.6 (In der Praxis hat nach der Fichenaffäre die Bundes­ anwaltschaft einen gros­sen Anteil der politischen Verantwortung ge­ tragen – mehr darüber weiter unten.) Die Bezeichnung «Polizei» ist aus heutiger Sicht irreführend, da diese Polizei präventiv (und nicht reak­tiv) operierte, wenn also lediglich ein Verdacht bestand und noch bevor ein Delikt begangen wurde. Die Bundesanwaltschaft ist Teil der Exekutive und somit dem Justizdepartement unterstellt. Ihre Verantwortung ist es, Menschen vor Gericht zu bringen, die eine Bedrohung für den Staat darstellen. In dieser Hinsicht hat sich die Bundesanwaltschaft die Jahre hindurch mit verschiedenen Themen beschäftigt. Zum Beispiel lag ihr Fokus Ende des 19. Jahrhunderts auf Anarchisten und in den Jahrzehnten vor 1989 auf Kommunisten (offiziell war die Schweiz zwar während des Kalten Kriegs neutral, aber in der Praxis sah sie eine Bedrohung «aus dem Osten»).7 Seit 1979 umfassten die generellen Aufgaben der Bundesanwaltschaft die «Massnahmen zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung; Handhabung der politischen Fremdenpolizei; Fahndungs- und Informationsdienst im Interesse der inneren und äus­seren Sicherheit des Landes; Erfüllen der Aufgaben des Sicherheitsdiensts der Armee in Friedenszeiten».8 Als die Bundesanwaltschaft gegründet wurde, hatte sie nicht viel Macht. 1895 zählte sie drei Mitarbeiter.9 Trotzdem hatten verschiedene Parlamentarier dem Bundesanwalt im Juni 1889 schon sehr be­deutungsvolle Kurznamen gegeben. Dies spiegelte wider, wie viel Macht die Parlamentarier dem Bundesanwalt zuschrieben: «Bun­ des­oberpolizeidienst», neuer «Landvogt», und jemand mit Sinn für Humor rief dem Bundesanwalt sogar ein «Habemus papam» zu.10 Anfang des 20. Jahrhunderts wuchsen die Aufgaben der Bun­desanwaltschaft und ihre Ressourcen. 1935 brachte die rechtliche Grundlage, die es der Bundesanwaltschaft erlaubte, einen Polizeidienst unter ihrer Führung aufzubauen: den Polizeidienst der Bundesanwaltschaft, auch Bundespolizei genannt.11 Mit der Bundespolizei vereinte die Bundesanwaltschaft zwei Tätigkeiten, die manche Parlamentarier als inkompatibel betrachteten: jene des Staatsanwalts und jene des obersten Polizeichefs. Diese zwei Tätigkeiten in einem Amt zu kombinieren, wurde mit dem Hintergedanken 34

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Der Autor

Dr. Clement Guitton (* 1988) ist politischer Analyst mit Erfahrung im privaten und öffentlichen Sektor. Er hat sich bei einer Consulting-­ Firma, beim Verteidigungsdepartement (VBS) und bei der UNO mit neu entstehenden Risiken auseinandergesetzt. Heute arbeitet er als Analyst für politische Risiken bei einer Rückversicherung. Er ist Autor des Buchs Inside the Enemy’s Computer (Oxford University Press, 2017).

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führte zu einer gründlichen Durchleuchtung der nachrichtendienstlichen Politik der Schweiz. Vieles hat sich seither verändert. Noch immer begegnet man aber diffusen Vorstellungen vom Wesen unseres Nachrichtendiensts: Er überwache alle Bürger, was er tue sei streng geheim, er stelle sich über das Gesetz. Der Politanalyst Clement Guitton wirft einen nüchternen Blick auf die letzten 30 Jahre – auf die vergessene Rolle des Parlaments beim Fichenskandal, die Gründung zweier ziviler Nachrichtendienste und ihre spätere Zusammenlegung. Er analysiert die prägenden politischen Kräfte und konkrete nachrichtendienstliche Aktivitäten und wagt eine neue Prognose.

Clement Guitton Der Schweizer Nachrichtendienst seit der Fichenaffäre

1989 kam die Fichenaffäre ans Licht und

Autor:

Titel:

Untertitel:

Clement Guitton Der Schweizer Nachrichtendienst seit der Fichenaffäre Was er kann und was er darf

ISBN 978-3-03810-333-2

www.nzz-libro.ch

Verlag:

NZZ Libro


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