#GymiZyte. Was es heisst, heute in die Schule zu gehen.

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#GymiZyte 9 783038 104568

ISBNISBN 978-3-03810-456-8 978-3038104568

#GymiZyte

Was es heisst, heute in die Schule zu gehen Katrin Schregenberger, Tobias Ochsenbein, Goran Basic Was es heisst, heute in die Schule zu gehen

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«Manche glauben, das Engagement in politischen und gesellschaftlichen Angelegenheiten bringe nichts. Aber das ist Bullshit.» Mattia, 18 J. Was heisst es, heute ins Gymnasium zu gehen? Die Autoren haben eine Klasse der Zürcher Kantonsschule Enge vier Jahre lang begleitet, vom ersten Schultag bis zur Matur. Das Buch zeigt anhand persönlicher Geschichten von sechs Gymnasiastinnen und Gymnasiasten den Schulalltag, diskutiert die Themen Freundschaft, Liebe, Digitalverhalten und Politik. Ergänzt werden die Porträts durch Interviews mit Experten zu Medienkonsum und kognitiver Entwicklung. Ein faszinierender Bild- und Textband über das Erwachsenwerden.


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel Lektorat: Corinne Hügli, Richterswil Gestaltung, Satz, Umschlag: UFO, Ivan Becerro & Sam Linder, Zürich Druck, Einband: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN 978-3-03810-456-8 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.

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Inhalt 7

VORWORT – Luzi Bernet

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EINLEITUNG – #GymiZyte

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KAPITEL 1 – Der erste Schultag

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INTERVIEW – «Denn sie können nichts dafür!»

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KAPITEL 2 – Die Promotionsangst im Nacken

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KAPITEL 3 – Generation Smombie

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INTERVIEW – Kontrolle über das digitale Leben

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KAPITEL 4 – Ein Schüler nimmt Abschied

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KAPITEL 5 – Was Freundschaft wirklich heisst

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INTERVIEW – Lebenslange Freundschaften sind selten

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VIER JAHRE – Katarina zwischen den Fronten

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ZWISCHENFAZIT – Zwei Jahre unter Dauerstress KAPITEL 6 – Die Kinder des Wohlstands

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VIER JAHRE – Denise und der Drang zur Freiheit

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KAPITEL 7 – Was Gymi-Schüler zur Liebe sagen

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KAPITEL 8 – So denken Gymi-Schüler über Politik

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VIER JAHRE – Cristian und das liebe Geld

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KAPITEL 9 – «Wir sind raus!»

198

VIER JAHRE – Mattia und der Aktivismus

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SCHLUSSFAZIT – Wie sich alles änderte



Luzi Bernet

Vorwort Vier Jahre? So lange? Als Katrin Schregenberger, Tobias Ochsenbein und Goran Basic für die Idee warben, eine auf vier Jahre angelegte multimediale Reportage über Jugendliche zu verfassen, ernteten sie skeptische Blicke und Erstaunen auf der Redaktion. Ausgerechnet zwei junge Kollegen aus der Digitaltruppe, die sich für ein Langzeitprojekt starkmachen? Die aus der Nahperspektive verfolgen wollen, wie sich Jugendliche während ihrer Gymnasialzeit entwickeln? Digitaler Journalismus, muss man wissen, war zu diesem Zeitpunkt für manche Kolleginnen und Kollegen immer noch eine Art Terra incognita, eine journalistische Sphäre, von der man zwar wusste, dass sie ungeheure Sprengkraft für den Beruf des Redaktors entfalten würde – mit der man aber, so lange es eben noch ging, lieber nichts zu tun haben wollte. Und dann noch vier Jahre! Digital: Das war doch gewissermassen «klick und hopp», etwas für den Moment, mit starker Tendenz zur Effekthascherei, jedenfalls ohne die nötige Vertiefung und Gravität. Gewiss, man wusste um die tollen neuen multimedialen Erzählformate, die vor allem aus den USA nach Europa herüberschwappten. Und im Haus NZZ gab es eine traditionelle Offenheit gegenüber der neuen digitalen Welt – immerhin zählte es zu den ersten Medienunternehmen in der Schweiz, die über eine nennenswerte OnlinePräsenz verfügten. Trotzdem: Eine gewisse Skepsis war spürbar, als sich die drei anschickten, eine Zürcher Gymi-Klasse von der Probezeit bis zur Matur zu begleiten. Dann macht halt einmal! Bald ging die Serie an den Start. Die erste Folge kam flott daher, die Lust auf mehr wuchs von Mal zu Mal. Mit Bildern, Videos, Berichten, Experteninterviews und einem eigens für das Projekt aufgesetzten Newsletter kam eine Fülle von Material zusammen, das auf allen NZZ-Kanälen – Print, Online, Social Media – gekonnt ausgespielt wurde. Mit der Zeit lernten die Leserinnen und Leser die Protagonisten der Gymi-Klasse kennen, auf den Bildern sah man, wie sie sich veränderten, wie aus den Mädchen und Buben junge Erwachsene wurden, wie sie sich entwickelten, wie sie über die wichtigen (und unwichtigen) Dinge im Leben dachten, was ihre Träume für die Zukunft waren.

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VORWORT – Luzi Bernet

Die Kollegen hielten durch – die ganzen vier Jahre, obschon sich ihre Arbeit, ihre Funktion, ihre Belastung im Haus NZZ änderte oder sie inzwischen den Arbeitgeber gewechselt hatten. Dabei schafften sie es, nicht nur die anfängliche Zurückhaltung im Haus zu überwinden. Nein, ein Projekt von dieser Grössenordnung bringt zahlreiche Herausforderungen mit sich: Machen die Jugendlichen überhaupt mit? Sind die Eltern einverstanden? Was meint die Schulleitung? Dürfen wir fotografieren und filmen? Was, wenn eine Schülerin oder ein Schüler nicht promoviert wird? Wie gehen wir mit dem Scheitern um? Was soll publiziert werden? Was gehört zur Privatsphäre der Jugendlichen? Dass alle diese Klippen souverän umschifft wurden, gehört mit zu den Wundern dieses Projekts. Allen Beteiligten gebührt deshalb Anerkennung und Dank. Es ist denn auch keineswegs selbstverständlich, dass die Idee aufgegangen ist. Neben ihren handwerklichen, journalistischen Fähigkeiten kamen der Autorin, dem Autor und dem Fotografen auch ihre grosse Sozialkompetenz und emotionale Intelligenz zupass. Alle drei sind sie mit dem Projekt gewachsen. Zum Schluss waren sie so gut und selbstsicher, dass sie sich zur Herausgabe eines Buchs entschlossen haben – und damit für ein Medium, das im Bildungskontext nach wie vor höchsten Stellenwert geniesst. Für die Autoren hingegen ist es einfach ein weiteres Ausdrucksmittel, um ihre Geschichte zu erzählen. Entstanden ist ein Werk, das man nicht nur Pädagoginnen, Eltern, Psychologen ans Herz legen möchte, die sich mit heranwachsenden Jugendlichen beschäftigen, sondern auch allen angehenden und gestandenen Journalistinnen und Journalisten im Land. Denn es zeigt, erstens, wie guter Journalismus in unserer von der Digitalisierung geprägten Welt funktioniert und was er leisten kann. Und es ist, zweitens, ein Zeichen der Zuversicht für einen Berufsstand, der es im Besingen des eigenen Niedergangs zu einiger Meisterschaft gebracht hat. #GymiZyte zeigt: Guter Journalismus lebt! Luzi Bernet, Chefredaktor NZZ am Sonntag

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David Aisha

Mattia Cedric

Katarina

Simon

Sam

Cristian

Nicht auf dem Bild: Denise 9



#GYMIZYTE

Einleitung Von 2015 bis 2019 haben wir Schülerinnen und Schüler eines Gymnasiums – des vermeintlichen Tors zur Schweizer Elite – begleitet. Wie werden aus Kindern leistungsorientierte Erwachsene? Wie beeinflusst das Gymnasium die Entwicklung der Jugendlichen? Und vor allem: Was heisst es, heute in die Schule zu gehen? Diesen Fragen wollten wir in einer aufwendigen vierjährigen Recherche nachgehen. Sieben Protagonistinnen und Protagonisten einer Klasse des Zürcher Gymnasiums Enge gaben uns Einblick in ihr Leben und ihre Gedankenwelt. Während vier Jahren waren wir ganz nahe dabei und konnten beobachten, wie sich die Persönlichkeiten wandelten, wie sich die Dynamik in der Klasse veränderte, wie der Zeitgeist diese junge Generation beherrschte. Wir tauchten tief ein in die Welt der Jugendlichen, begleiteten sie im Klassenlager und im Ausgang, redeten mit ihnen über Liebe, Geld, Politik. Während dieser Zeit blieben wir dran, jeden Monat trafen wir unsere Protagonistinnen und Protagonisten, vielfach einzeln, zuweilen in der Gruppe. Wir mussten uns der manchmal mangelnden Disziplin dieser Jugendlichen stellen, wir mussten nerven, hartnäckig sein und konnten uns so schliesslich Schritt für Schritt ihr Vertrauen erarbeiten. Das Langzeitprojekt #GymiZyte soll die Welt von heutigen Jugendlichen verständlich machen; soll zwischen Jung und Alt, zwischen Eltern und Kindern, Lehrerinnen und Schülerinnen, zwischen Generationen vermitteln. Es hält der Gesellschaft gleichsam einen Spiegel vor, denn das Gymnasium gilt als Brutstätte der heutigen Schweizer Leistungsgesellschaft. Wir betrachteten diese Brutstätte von innen. Dieses Buch rückt gleichzeitig Menschen und Geschichten in den Vordergrund, die im Kleinen für das Grosse stehen und losgelöst voneinander doch Zusammenhänge schaffen. Dieses Buch ist auch ein Stück Zeitgeschichte.

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«Ich würde später gerne auch wie mein Vater im Büro etwas machen, bei einer Bank oder Versicherung.»


K APITEL 1

Der erste Schultag

«Ich gehe ins Gymnasium, weil ich in 20 Jahren ein wohlhabender Familienvater sein will», sagt Mattia, 15 Jahre alt, mit einem Grinsen. Er steht vor der Kantonsschule Enge, einem der grössten Gymnasien des Kantons Zürich mit über 1000 Schülern. Gymnasium, das ist unabdingbare Bildung oder Sprungbrett in die Elite für die einen – für andere ist es schlicht zu teuer. Doch hier geht es für einmal nicht um Bildungsdebatten und Politik, nicht ums Sparen, nicht um Quoten, nicht um den immer stärkeren Andrang von Mädchen: sondern um die Protagonisten, die Schülerinnen und Schüler. Für sie ist der Übertritt ins Gymnasium zugleich ein weiterer Schritt in eine Gesellschaft, in der Leistung hoch gewertet wird. Es ist das Ende der Kindheit. Ein Tor zur Persönlichkeitsentfaltung. Ein bisschen auch immer noch das, was der Kokon für den Schmetterling ist: ein geschützter Raum zum Reifen. Oder es ist schlicht ein Traum: «Meine beiden Geschwister waren im Gymi. Seit ich klein war, wollte ich schon hierher», erzählt Aisha, 15 Jahre alt.

DER EINTRITT

Vom Bahnhof Enge aus geht es zuerst durch den Park. Alte Bäume, viel Beton. So durchschreitet man zuerst den Zauberwald, der Blick sucht den Bau, den man zuerst nicht sieht. Dann Treppen. Aufstieg zum Tempel der Bildung, zum Berg des Wissens. Schritt um Schritt den geraden Linien und rational geplanten Schattenwürfen entgegen. Oben dann endlich der freie Blick. 150 mal 80 Meter Freiheit, in der Mitte die grasbewachsene Hügelkuppe, vier Gebäude an sie herangeschoben, nur zwei überragen das Plateau, eines nennt man Freudenberg, das andere Enge. Wer den Weg zur Kantonsschule Enge in Zürich beschreitet, der geht, so könnte man sagen, im Schnelldurchlauf den Weg der Bildung: von der Suche zum Erkennen zum freien Blick.

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K APITEL 1 – Der erste Schultag

Für die Schüler, die am 17. August 2015 mit dem ersten Schultag ihre Gymi-Karriere gestartet haben, ist das aber nicht von Belang. Manche schlagen sich bereits mit Fragen der Zukunft herum. Etwa der 13-jährige Simon. Er sagt: «Ich würde später gerne auch wie mein Vater im Büro etwas machen, bei einer Bank oder Versicherung.» Drängender sind für die meisten aber zunächst eher praktische Fragen: Wie finde ich in diesem labyrinthischen Bau das Schulzimmer? Wann kriege ich einen Spind, und mit wem muss ich ihn teilen? Das Schulareal der Kantonsschulen Enge (Kurzzeitgymnasium) und Freudenberg (Langzeitgymnasium) des Architekten Jacques Schader gilt als schönstes Beispiel für Schweizer Nachkriegsarchitektur der 1960er-Jahre. Das Gebäude der Enge liegt im Westen. Komplexe Lichtführung ermöglicht, dass in jedem Zimmer Tageslicht von zwei Seiten einfällt. Als ob es sinnbildlich Licht brauchte, um zu reifen. Trotz der vielen Winkel kann der Blick oft frei schweifen. Jedes Schulzimmer hat ein Fenster zum Gang, manche Innenwände sind aus Glas. Transparenz ermöglicht ein Freiheitsgefühl. Räume verschmelzen, sind am Schluss alle verbunden mit der Wandelhalle. Blicke hinaus, Blicke hinein. Transparenz ermöglicht auch soziale Kontrolle.

DIE KLASSE

Einer kommt schon zu spät an diesem Montag Anfang August. Um 7.50 Uhr hat die erste Stunde begonnen. Am Tag, an dem sich eine Gemeinschaft das erste Mal trifft, Schicksalsgemeinschaft für vier Jahre. «Ihr seid nicht hier, um Französisch abzuwählen, sondern um Italienisch aufzuwerten», stellt die Klassenlehrerin klar und schmunzelt. Denn: Die Schülerinnen und Schüler besuchen das Wirtschaftsprofil mit Italienisch statt Französisch als erste Fremdsprache. Das hatte auch sie noch nie, Ivana Di Quinzio, seit 25 Jahren Lehrerin an der Kantonsschule Enge. Vorstellungsrunde: Alle reden zu schnell, zu leise, wollen nicht zu viel preisgeben. Einer ist Handballer. Andere rudern. Manche sind italienischstämmig. Ein paar aus Richterswil. «Wollt ihr noch etwas über mich wissen?», fragt die Lehrerin nach 14


K APITEL 1 – Der erste Schultag

der Vorstellungsrunde. Schon bei der ersten Frage sind viele Hände in der Luft. «Spielen Sie ein Instrument?», fragt einer. «Machen Sie Blitzprüfungen?», ein anderer. Es ist Probezeit – ein halbes Jahr harte Arbeit und Ungewissheit. Wird man bleiben können oder nicht? «Ich versuche in der Probezeit so viel wie möglich zu lernen. Ich versuche immer mehr zu lernen», sagt Cristian, der 14 ist, «immer besser zu werden.» Neue Kleider, neue Schuhe sieht man viele an diesem Tag. Der Start in ein neues Leben, eine neue Klasse, die Möglichkeit, eine neue Identität anzunehmen. «Der Anfang ist sehr intensiv, viele neue Leute, eine neue Klasse, ein neuer Ort», sagt Mattia. 26 Schülerinnen und Schüler zwischen 13 und 17 Jahren, auch einen so grossen Altersunterschied in einer Klasse hatte Di Quinzio noch nie. 6 Mädchen auf 20 Buben, das verspricht Spannung. Alle tragen entweder Nike-Air-Sneakers oder Skaterschuhe – geschmacklich steht sich die Klasse jedenfalls schon nahe. Die Schüler, sie alle bringen die vielleicht wichtigsten Utensilien für die Ausbildung mit: Etuis, Stifte, Geodreiecke. Manche Gruppen bilden sich schon am ersten Tag, in der ersten Stunde. Ein Mädchengrüppli tuschelt. Die Lauten in der Klasse melden sich bereits ungefragt zu Wort, einige flüstern. Die Stimmung ist fröhlich. «Stay weird», verkündet eine Schülerin über ihr Top. Bleib komisch, bleib verrückt. Doch vieles wird sich in diesen vier Jahren verändern.

DER REKTOR

«Es passiert sehr viel», sagt Christoph Wittmer, Rektor der Kantonsschule Enge, am runden Tisch seines Büros an der Westwand des Gebäudes. Über einen Kamm scheren könne man den Wandel aber nicht, den Schüler während ihrer Zeit am Gymnasium durchmachten. Denn gerade das Gymnasium habe neben dem Leistungsauftrag auch die Aufgabe, Raum zu geben, um sich selber, das heisst einzigartig, zu sein. «Gerade in einer Zeit und in einer Stadt, wo Leistungs- und Konformitätsdruck relativ hoch sind und die Ablenkung grösser ist, muss das Gymi den Schülerinnen und Schülern auch Platz lassen.» Musse und Raum ermöglichten auch mehr Leistung und Kreativität. 15


K APITEL 1 – Der erste Schultag

Der Ruf nach einer Ökonomisierung der Bildung, also nach gezielter Ausbildung statt Bildung, stehe im Widerspruch zur persönlichen Reife, die im Maturitätsreglement explizit als Teilziel des Gymnasiums festgehalten wird. Und genau diese Reife ist es, die Wittmer als Verwandlung wahrnimmt. «Wenn die Kinder eintreten, bringen einige noch ihre Flausen mit.» An der Maturfeier dann stünden einem Menschen gegenüber, die ein «Vis-à-vis» böten, die eine Perspektive hätten. Denn, so der Rektor: «Jugend heisst sich treiben lassen. Jugend heisst aber vor allem auch, sich eine Zukunftsperspektive zu schaffen.» Dafür bleiben nun vier Jahre Zeit.

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INTERVIEW – Lutz Jäncke

«Denn sie können nichts dafür!»

Während der vier Jahre im Gymnasium entwickle sich das Gehirn so stark, dass es in dieser Zeit auch einer besonderen Förderung und Unterstützung bedürfe, sagt der Neuropsychologe Lutz Jäncke. Was passiert im Gehirn eines Pubertierenden? Je älter die Kinder werden, desto stärker verkabelt sich das Gehirn. Es dauert relativ lange – etwa bis zum 20. Lebensjahr –, bis sich die Verkabelung eines Erwachsenen einstellt. Der Frontalcortex, das heisst das Stirnhirn, hinkt bei Jugendlichen stark hinterher, was für das jugendliche Verhalten von besonderer Bedeutung ist. Warum? Das Stirnhirn ist verantwortlich für jene Funktionen, die unser Verhalten kontrollieren: Selbstdisziplin, Konzentration, Motivation, Kontrolle unserer Emotionen. Diese Strukturen sind im Alter zwischen 13 und 16 noch nicht ausgereift, entsprechende Mühe haben Jugendliche, sich zu beherrschen, ruhig zu sitzen und aufmerksam zu sein. Darum sage ich immer: Denn sie können nichts dafür! Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sondern sich entwickelnde, noch nicht erwachsene Menschen. Verläuft dieser Reifungsprozess bei allen gleich? Nein. Es spielt eine Rolle, was die Kinder in dieser Zeit tun. Wenn sie die ganze Zeit nur auf dem Sofa sitzen, RTL2 schauen und nur Chips essen, dann brauchen sie keine Aufmerksamkeit, keine Selbstdisziplin, dann werden die Stirnhirnstrukturen nicht aktiviert. Diesen Mechanismus bezeichne ich lapidar als «use it or lose it». Wenn Nervenzellen nicht aktiv sind, bauen sie Verbindungen ab. Brauchen Kinder also einen Input von aussen? Kinder sind sehr verschieden. Es gibt jene, die früher reifen, andere reifen langsamer. Manche Kinder haben bessere genetische Voraussetzungen. Aber eine Sache ist wichtig: Man muss Kindern helfen, sich optimal über die Pubertät 25


INTERVIEW – Lutz Jäncke

hinweg zu entfalten, gerade denen, die keine guten Startbedingungen haben. Denn das Gehirn ist plastisch. Es kann sich anatomisch verändern. Gibt es bei dieser Reifung Geschlechtsunterschiede? Definitiv. Mädchen reifen früher. Bei ihnen beginnt der Umbauprozess des Stirnhirns etwa anderthalb bis zwei Jahre früher. Deshalb sind Mädchen zwei Jahre früher besser in Aufmerksamkeit, Konzentration, Selbstdisziplin. Das heisst, das heutige Schulsystem ist perfekt für Mädchen. Gymnasium und Gymi-Prüfung fallen genau in die Zeit der Hirnreifung. Das könnte dazu führen, dass die Falschen herausselektioniert werden. Das heisst: Kinder, die die Gymi-Prüfung nicht schaffen, würden sie zwei Jahre später bestehen? So ist es. Manche Kinder sind aufgrund eines anatomischen Reifungsrückstands noch gar nicht fähig, den Anforderungen zu folgen. Aber zwei Jahre später können sie es locker. Was läuft falsch? Das Schweizer Bildungssystem ist hoch selektiv. Menschen sind aber entwicklungsfähige Wesen. Und das vergisst man. In einer idealen Welt stelle ich mir ein System vor, das das meiste aus den Kindern herausholt und diese maximal fördert. Die Selektion kommt später sowieso, mitunter auch hart. Während der Schulzeit ist «Friss oder stirb» aber keine Bildungsstrategie. Wie begegnet man Jugendlichen, die in schulischer Hinsicht Mühe haben? Gerade weil sie in diesem Alter leicht ablenkbar und sprunghaft sind, brauchen sie längere Pausen und müssen unterstützt und angeregt werden, dass sie auch einmal 50 Minuten durchhalten. Sie benötigen Verständnis, Begeisterung, menschliche Nähe. Man muss ihnen Ventile bieten.

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INTERVIEW – Lutz Jäncke

Was kann so ein Ventil sein? Die Beschäftigung mit Kunst, Kultur und Sport in der Schule. Sie müssen Emotionen ausprobieren können. Es ist also wichtig, dass man im Gymi nicht bloss Mathematik beigebracht erhält? Genau, die Jugendlichen müssen Emotionen zeigen können und lernen, wo und wie man sie zeigt: Wie reagiert ein Mitmensch auf mich, wenn ich dieses und jenes tue? Deshalb sind auch Philosophie und Geschichte für die Simulation des Verhaltens wichtig. Ziel der Matur ist es auch, starke Persönlichkeiten hervorzubringen. Wie gelingt das? Das Gymnasium ist ein Spielfeld, auf dem sich die Schülerinnen und Schüler tummeln. Man bietet – im idealen Sinn – die Möglichkeiten, sich zu entfalten. Und man bietet jene Reibungspunkte, die es möglich machen, dass man hier reift. Matura heisst ja Reifung. Es geht also um die Bildung der Persönlichkeit. Die Bildung ist heute aber unter Beschuss, zielt viel eher auf Ausbildung ab. Ob frühe Ausbildung besser als persönliche Bildung ist, da bin ich skeptisch. Wie gelangt ein Jugendlicher zu seiner Persönlichkeit? Das ist eine Eine-Million-Dollar-Frage. Wir sind das, was wir glauben, was wir erlebt haben. Wir brauchen Erfahrungen. Unsere Persönlichkeit ist unser Gedächtnis. Das ist der eine Teil unserer Persönlichkeit. Der andere Teil ist die Fähigkeit, die wir haben, mit uns selbst umzugehen. Also, wie wir uns kontrollieren können. Ob wir den Emotionen freien Lauf lassen, ob wir sie in den Griff kriegen können, wie wir die Welt interpretieren, in der wir leben. Welche Rolle spielen bei Pubertierenden die Hormone? In der Pubertät schiessen Hormone ein und entfalten ihre Wirkung. Dann schwirrt da plötzlich Östrogen herum und Testosteron. Dadurch werden (Sexual-)Programme abgerufen, die genetisch gespeichert sind. Und plötzlich beginnen sich die Mädchen für Jungs zu interessieren und 27


INTERVIEW – Lutz Jäncke

umgekehrt. Da sieht man den Menschen in einer biologischen Präzision wie sonst nie. Wieder spielt eine Rolle, dass die Hemmung durch das Stirnhirn noch nicht so stark ist. Deshalb sind Mädchen wählerisch bei der Wahl ihrer potenziellen Sexualpartner, und die Jungs lassen sich wählen. Diese sitzen mit den anderen Jungs herum, geben an und schauen nur aus den Augenwinkeln zu den Mädchen. In der Kumpelgruppe ist man der Starke. Was kann ein Jugendlicher in diesem Alter denn überhaupt schon alles verstehen? Pubertierende haben ein Problem: Sie können – stärker als Erwachsene – überwältigt werden von Dingen, die sie cool finden. Übertrieben gesagt: Jugendliche laufen in diesem Alter Gefahr, Süchte oder intensive Gefühle für alles Mögliche zu entwickeln: für Fernsehen, Fussball, Computerspiele, Musik, Drogen, Essen und Trinken, für Freundinnen und Freunde. Man entwickelt temporär merkwürdige Eigenarten, benimmt sich – aus Sicht der Erwachsenen – komisch, hat komische Frisuren, trinkt zu viel. Hat dieses Alter eigentlich auch etwas Positives? Ja. Zu diesem Zeitpunkt entfalten sich auch Kreativität, die künstlerischen und emotionalen Kräfte. Gleichzeitig muss man die gesellschaftlichen Regelsysteme implementieren. Weil die Emotionen so viel Kraft besitzen, kann man sie nutzen und an diese gesellschaftlichen Regeln anbinden. So könnte man Kinder zum Beispiel für Staatensysteme oder für Werte begeistern. Weil sie mit Emotionen gekoppelt werden können, bleiben diese Sachen dann ein Leben lang im Gedächtnis.

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ÂŤManche wollen, dass du auswendig lernst, andere stellen voll deepe Fragen.Âť


K APITEL 2

Die Promotionsangst im Nacken

«Ein Fünfer!», ruft einer in die Klasse hinein, und zurück kommt Applaus. Es ist laut im Schulzimmer der Klasse W1a mit ihren 20 Buben und 6 Mädchen. Freitagmorgen, 8.45 Uhr, Kantonsschule Enge, Mathestunde, draussen hängt dicker Nebel. Die Schüler witzeln und lachen, wippen und schielen auf die Lehrerin, die gerade die zuletzt geschriebene Prüfung – ein bisschen Algebra, ein bisschen Strahlensatz – verteilt. Ein Zweiter weiter vorne im Zimmer erhält einen Fünfeinhalber zurück und jubelt, als hätte er eben den FC Zürich zum Meistertitel geschossen. Doch es gibt auch die anderen. Die, die plötzlich still werden, den Kopf knapp über dem Pult, und auch die Witze auf einmal nicht mehr witzig finden. Einige rechnen auf ihrer App, der App für die Probezeit, die Noten verwaltet: Wie viel im Minus bin ich jetzt? Ein Schüler streckt lachend drei Finger in die Luft. Lachen verdrängt die Promotionsangst. Lachen lässt vergessen, dass nicht mehr viel Zeit bleibt. Prüfungsrückgabe, eine Welle, die einen zu Boden reisst oder in die Höhe wirft. «Ja, das wäre nicht so schwierig gewesen», sagt nun die Lehrerin, kurze braune Haare, seit 21 Jahren Mathematiklehrerin am Gymnasium, halb im Ernst, halb aus Spass. Sie weiss, was es braucht, um eine Matur zu bestehen. «Im Moment machen wir noch nicht die grosse Mathematik.» Kein Leibniz, kein Gauss oder Bernoulli also, es wird erst einmal das Fundament gelegt. Wie beim Hausbau braucht es, gerade in der Mathematik, einen soliden Unterbau – auch wenn man diesen am Schluss nicht sieht. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann entweder ein Loch graben und aus Platten, Trägern und Stahlbeton ein festes, haltbares Fundament bauen, auf dem einmal dauerhaft eine Villa stehen soll. Oder man nimmt ein paar Holzplatten aus dem Baumarkt und stellt ein klappriges Fertighäuschen drauf, das bei der ersten Erschütterung in sich zusammenfällt. Aber hier baut der Lehrplan, kein Architekt. «So, wir müssen noch die Hausaufgaben besprechen», versucht die Lehrerin die Schülerinnen und Schüler nun wieder zu beruhigen. 31


INTERVIEW – Philippe Wampfler

Kontrolle über das digitale Leben

Der Lehrer und Kulturwissenschaftler Philippe Wampfler erklärt, weshalb die Jugendlichen den Erwachsenen in der virtuellen Welt immer voraus sein werden. Herr Wampfler, warum fahren Jugendliche dermassen auf Social Media ab? Das Prinzip ist dasselbe wie bei Jugendlichen, die ganze Samstage in Einkaufszentren verbringen. Sie wollen sehen und gesehen werden. Schauen, wer sozial interessant sein könnte. Und das sind meistens Bekannte von Bekannten – keine völlig Fremden. Dabei geht es ihnen darum, ein Beziehungsnetz aufzubauen, das unabhängig von demjenigen der Eltern funktioniert. Das heisst, interessant ist nur, wer viele Likes hat? Ja. Und das hat vor allem mit dem Körperbild zu tun. Social Media sind wie die Vervielfachung eines Spiegels. Zentral für Jugendliche ist dabei der Blick der anderen, der hat einen enormen Einfluss: Wie sehen andere mein Profil, was denken sie über mich – vor allem wenn sie mich gar nicht kennen. Wie beeinflussen Social Media das Verhalten der Jugendlichen? Social Media verstärken Tendenzen. Jugendliche, die – im positiven Fall – lebensfreudig sind und gerne Kontakt zu anderen haben, können dank Social Media noch mehr Kontakte knüpfen. Im schlechteren Fall bewirken sie – gerade bei Jugendlichen mit psychischen Problemen – das Gegenteil: Sie bewegen sich in eine Nische hinein, isolieren sich. Sind Social Media überhaupt für etwas gut? Gewisse soziale Kompetenzen werden durch Social Media sehr früh ausgebildet. Jugendliche entwickeln zum Beispiel eigene Formen, mit verschiedenen Kommunikationswegen umzugehen. Viele Lehrer beschweren sich zwar darüber, dass Mitteilungen von Jugendlichen oft keine formellen 56


INTERVIEW – Philippe Wampfler

Anreden enthalten und sehr knapp gehalten sind. Oder im falschen Kanal gesendet werden: per Whatsapp statt per Mail. Spricht man aber mit Jugendlichen darüber, merkt man schnell, dass sie Höflichkeit nicht unbedingt über das Einhalten gängiger Normen definieren, sondern darüber, die Aufmerksamkeit des Gegenübers möglichst wenig zu beanspruchen. Mit ein Grund, wieso Jugendliche nicht mehr telefonieren? Genau. Sie verschicken lieber Sprachnachrichten über Whatsapp, weil die Jugendlichen diese abrufen können, wann immer sie wollen. Ein Anruf dagegen zwingt einen, in diesem Moment abzunehmen. Jugendliche machen sich viel mehr Gedanken darüber, wie die Kommunikation beim Gegenüber ankommt. Liegen die neuen Kommunikationswege allen Jugendlichen gleich gut? Nein. Wenn du dich als Jugendlicher gut verkaufen möchtest, musst du witzig chatten, sprachlich gut rüberkommen. Es gibt Jugendliche, denen fällt das leicht, andere haben Mühe damit. Warum nehmen Jugendliche neue Kommunikationswege so schnell auf – viel schneller als Erwachsene? Weil solche Kanäle – nebst Musik, Mode, Kultur – auch Distinktionsmerkmale sind, so etwas wie die Jugendsprache. Erwachsene ihrerseits haben oft Mühe, neue Kommunikationsformen zu lernen, weil das mit grossem Aufwand verbunden ist. Erwachsene würden oft auch Tipps zum Umgang damit brauchen. Das zeigt sich etwa am Gebrauch von Emojis. Schülerinnen und Schüler geben Lehrpersonen immer wieder das Feedback, dass sie in schriftlicher Kommunikation kühl wirkten, weil sie keine Emojis benutzten. Also müsste der Lehrer oder die Lehrerin anfangen, Emojis zu brauchen. Aber welche? Solche Dinge sind schwierig zu lernen.

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INTERVIEW – Philippe Wampfler

Die Kommunikation wird auch immer visueller. Pessimisten würden dazu sagen: Unsere Kinder verlernen das Schreiben. Vor Snapchat hat man gesagt, nie in der Menschheit hätten Jugendliche so viel gelesen und geschrieben. Weil sie die ganze Zeit am Handy Dinge lesen und schreiben. Das Visuelle, glaube ich, ist eine Ergänzung dazu – eben auch eine Art des Ausdrucks. Social Media – eine heile Welt also? Natürlich nicht. Gefährlich sind Gruppenphänomene: Jugendliche begeben sich in den Social Media rasch an Orte, an denen ihnen nicht mehr wohl ist. An Orte, an denen Manipulation und Missbrauch stattfinden können. Dabei können Jugendliche sehr schnell die Kontrolle über ihr digitales Leben verlieren. Aber man hat nicht den Eindruck, dass Jugendliche wirklich Angst davor hätten. Jugendliche haben immer im Hinterkopf, dass dies oder das passieren könnte. Gerade wenn sie nicht den richtigen sozialen Status haben. Cybermobbing zum Beispiel: Man tauscht sich in einer Whatsapp-Gruppe über jemanden aus, tauscht vielleicht Bilder, um eine Person herabzusetzen oder zu entwürdigen. Das ist etwas Brutales, etwas, das viel mehr Wucht hat als früher ein Mobbingprozess. Kann man überhaupt tragfähige Beziehungen aufbauen über Social Media? Zu merken, was es für eine langfristige Beziehung alles braucht, erschweren Social Media sicher etwas. Man teilt ja schliesslich nur die coolen Sachen, man ist nur mit interessanten Leuten verbunden. Die anderen, die uncoolen Dinge und Personen, sieht man gar nicht mehr. In der Realität muss man aber auch einmal Situationen aushalten können, in denen es vielleicht einer Person nicht gutgeht. Da muss man Unterstützung leisten und nicht sagen: Das ist langweilig, ich chatte jetzt lieber mit jemand Interessanterem.

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INTERVIEW – Moritz Daum

«Lebenslange Freundschaften sind selten»

Der Psychologe Moritz Daum erklärt, warum die Qualität von Freundschaften wichtiger ist als die Anzahl Freunde, was es braucht, um eine gute Freundschaft aufzubauen, und wieso sie dann nur selten bis ans Lebensende halten. Herr Daum, wann beginnen Kinder, Freundschaften zu entwickeln? Kinder entwickeln bereits ab dem zweiten Lebensjahr Vorlieben für andere Kinder. Ob das eine mit dem anderen Kind spielen möchte, hängt vor allem davon ab, ob es in der Nähe wohnt. Und dass dieses Kind lässiges Spielzeug hat. Der Spielkamerad als Individuum ist in der frühen Kindheit noch austauschbar. Ändert sich das in der Pubertät? Ja, in der Pubertät sind Freundschaften mehr an die Person gekoppelt. Neue Aspekte werden wichtig: Ist die Person mir ähnlich? Kann ich ihr vertrauen? Durch grössere Vertrautheit wird aber auch die Verletzlichkeit grösser. Echte Freundschaft ist in der Pubertät also etwas Neues? Freundschaft bekommt in der Pubertät mehr Gewicht. Jugendliche tragen persönliche Dinge in ihre Freundschaften und erwarten von ihren Freunden Engagement. Das Entwickeln von Freundschaften ist aber ein Prozess. Vertrauen kommt nicht von heute auf morgen. Freundschaften sind in der Pubertät fragiler, denn ich verändere mich, die andere Person verändert sich. Das kann in die gleiche Richtung gehen – muss aber nicht. Freundschaft als Familienersatz also? Die Pubertät ist eine Phase im Leben, in der jede und jeder seine Identität sucht. Jugendliche wollen sich von den Eltern abgrenzen, sie brauchen dafür einen geschützten Rahmen, in dem sie Dinge ausprobieren können. Das ist der Freundeskreis. 91


INTERVIEW – Moritz Daum

Ist es besser, viele Freunde zu haben? Die Anzahl Freunde ist weniger wichtig als die Qualität der Freundschaft. Wenn wir wenig Freunde haben, zu denen wir aber mit jedem Problem gehen können, dann ist das mehr wert, als wenn wir 500 Leute haben, die wir zwar kennen, aber bei denen wir nichts deponieren können. Funktionieren Mädchenfreundschaften anders als Bubenfreundschaften? Ja. Mädchen haben intensivere Beziehungen zu Freundinnen, sie haben das Gefühl der Nähe früher als Jungen. Darum ist bei Mädchen – wenn es denn zu einer Krise kommt – auch das Drama grösser. Sie sind stärker betroffen, wenn eine Freundin sie «betrügt». Ironischerweise kann es dadurch sein, dass Mädchen eine Freundschaft auch schneller wieder beenden. Bubenfreundschaften sind dagegen oft etwas oberflächlicher und können insgesamt länger dauern, weil dieses «Beleidigtsein» meist eine weniger grosse Rolle spielt. Wie häufig sind Freundschaften unter Mädchen und Jungen in der Pubertät? Gleichgeschlechtliche Freundschaften sind insgesamt noch häufiger. Gegengeschlechtliche Freundschaften sind fragiler, weil mit der Pubertät auch Sexualität eine Rolle zu spielen beginnt. Das kann, vor allem wenn eine Person mehr fühlt als die andere, zu einer starken Veränderung der Freundschaft führen – im schlimmsten Fall zu einem Abbruch. Generell nehmen Freundschaften zwischen den Geschlechtern ab der Pubertät aber eher zu – auch weil man mehr vom anderen Geschlecht erfahren will. Was braucht es, um eine gute Freundschaft aufzubauen? Es braucht Offenheit, um bei der anderen Person Vertrauen zu schaffen. Wenn es uns schwerfällt, auf Leute zuzugehen, reduzieren wir die Möglichkeiten, mit anderen in Kontakt zu kommen und Freundschaften zu schliessen. Der Aspekt der Ähnlichkeit spielt ausserdem eine wichtige Rolle: Zwei Schüchterne finden sich eher, weil sie sich besser ineinander hineinversetzen können. 92


INTERVIEW – Moritz Daum

Helfen da Social Media? Social Media können hilfreich sein. Wir können dort, ohne dass andere sehen, dass wir rot werden, schriftlich gewisse Dinge ausprobieren. Erfolgserlebnisse in der virtuellen Welt können dazu ermuntern, auch in der realen Welt auf Leute zuzugehen. Aber Social Media bergen auch Gefahren: Jemanden zu beschimpfen, ist online einfacher. Sind Freundschaften übers Internet oberflächlicher? Warum? Früher unterhielten wir Brieffreundschaften zu Personen, die wir nicht unbedingt gekannt haben. Wir können auch durch schriftliche Kommunikation sehr vertrauensvoll werden: etwa, indem wir Dinge schreiben, die wir sonst niemandem erzählen würden. Trotzdem bleibt eine Internetfreundschaft eindimensional, da man sich zum Beispiel nicht in den Arm nehmen kann. Als Teenager glaubt man fest an lebenslange Freundschaften. Gibt es die? Feste, lebenslange Freundschaften, von sehr früh in der Kindheit bis ins ganz hohe Alter, kommen relativ selten vor. In unserem Leben gibt es ständig Ereignisse, die unser soziales Geflecht verändern: Wir beginnen ein Studium, beenden es, fangen einen Job an, wechseln den Job, ziehen um. Wir pflegen also unser Leben lang vor allem Zweckfreundschaften? Zum Teil pflegen wir Zweckfreundschaften – aber nicht nur! Nehmen wir als Beispiel das Gymnasium: Dort ist man über Jahre mit den gleichen 20 Leuten zusammen, pflegt aber unterschiedlich enge Freundschaften. Mit dem einen Kameraden bespricht man die Hausaufgaben, mit dem anderen verbringt man seine Freizeit. Irgendeinmal ändern sich die Interessen, der eine studiert Informatik, der andere Kunst. Im Studium bilden sich dann wieder neue Freundschaften. Sowohl der Kontext, in dem wir leben, verändert sich, als auch wir selbst – ein Leben lang.

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INTERVIEW – Moritz Daum

Sind Freundschaften, die wir in der Pubertät haben, die gleichen wie solche, die wir mit 60 Jahren noch haben? Ältere Menschen legen mehr Wert auf die Qualität einer Beziehung und investieren mehr, um sie aufrechtzuerhalten. Mit 70 Jahren ist es nicht mehr so einfach, neue Freunde zu finden. Jugendliche hingegen sagen sich: «Mein Gott, ich habe ja noch andere Freunde!» Sind Freunde Teil der Identität? Die Umwelt beeinflusst stark, wie wir uns entwickeln. Wir können durch falsche Freunde auf die schiefe Bahn geraten. Eine Freundschaft kann aber genauso einen positiven Einfluss haben: Wenn mein bester Freund viel Sport macht, steckt mich das vielleicht an. Beeinflusst es die Persönlichkeitsentwicklung, wenn wir immer mit den gleichen Leuten zusammen sind? Je eingeschränkter unser Freundeskreis ist, desto kleiner ist auch das Spektrum an Informationen, mit denen wir uns «füttern». Das kann Effekte auf die Persönlichkeit haben. Wie überwindet man Krisen in einer Freundschaft? Da habe ich kein Geheimrezept. Der Mensch verändert sich ein Leben lang. Und doch gibt es Freunde, die wir längere Zeit nicht sehen, und es ist beim Wiedersehen so, als hätte man sich erst gestern das letzte Mal getroffen. Ich glaube, es ist dieses vertrauensvolle gegenseitige Verständnis, mit dem man auch Krisen überwinden kann.

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ÂŤMan kann sich fragen, wieso ich meine Familiengeschichte aufarbeite, man kann ja auch einfach darĂźber schweigen.Âť


VIER JAHRE

Katarina zwischen den Fronten

Breitschultrig und in Bomberjacken sitzen die drei Jungs da und starren Katarina an. Sie referiert an diesem Februarmorgen über die Bombardierung Serbiens durch die Nato im Jahr 1999. Präsentiert ihre Maturarbeit, in der sie mit Zeitzeugeninterviews dem Geschichtsverständnis der Beteiligten auf den Grund gehen wollte. Denn: Die Geschichte Serbiens ist auch Katarinas Geschichte. Und die vier Jahre Gymnasium haben Katarina zu dieser Geschichte hingeführt. «Nur das eine Mal hat mein Vater darüber geredet», erzählte Katarina ein Jahr früher, sie war in der dritten Klasse und die Matur noch weit weg. Während eine Brise über den Zürichsee fuhr, erinnerte sich Katarina an das eine Mal, als serbische Freunde ihre Familie besuchten. Wie da plötzlich über den Krieg geredet wurde. Wie Geschichten, die Jahrzehnte lang verschwiegen, plötzlich an die Oberfläche gespült wurden. «Sie haben darüber geredet, wie das war, als die erste Bombe fiel. Die zweite. Was die Bomben alles weggerissen haben. Über die Krater, die sie hinterlassen haben.» 96


Kapitel XY

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VIER JAHRE – Katarina zwischen den Fronten

Als sie ihrer Mutter zum ersten Mal von der Idee erzählte, die Maturarbeit über den Krieg zu schreiben, war diese nicht begeistert. «Meine Mutter sagt: Wenn du dich aus dem Dreck herausgekämpft hast, dann einen guten Anzug anhast und dich jemand fragt, was du am liebsten machst, sollst du nicht sagen: im Dreck kämpfen.» Doch Katarina überzeugte ihre Familie. Für sie war die Maturarbeit der Endpunkt einer Suche nach sich selbst. Ein Teil dieser Suche, die so typisch ist für Teenager. Wer bin ich und weshalb? Sie füllte mit der Arbeit eine Lücke in ihrer Identität. Mithilfe ihres Vaters suchte sie Zeitzeugen in Serbien, die mit ihr reden würden. Reden über das Schweigen. Katarina wollte mit Zeugen von beiden Seiten sprechen, mit serbischen und albanischen. Doch nur serbische waren dazu bereit. Im Sommer 2018 flog Katarina also nach Serbien. Dorthin, wo sie jeden Sommer verbrachte. Wo ihre Familie Katarinas 18. Geburtstag mit gegrilltem Schwein, Festbänken und 70 Gästen – jedoch ohne ihre Freundinnen und Freunde – gefeiert hatte. Dorthin, wo sie, als Kind in den Ferien, im grossen Obstgarten ihrer Grosseltern frische Früchte pflückte. Wo sie «die Schweizerin» genannt 98


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wurde. Jetzt flog sie hin, um in die Vergangenheit zu schauen. Sie war ein anderer Mensch als vor vier Jahren. Nicht mehr ein plapperndes Mädchen, sondern ein reifer Mensch, der sich mit Coolness schmückte und eine Mission hatte. Durch ihre Familiengeschichte wurde Katarina ein Geschichtsbewusstsein in die Wiege gelegt – darin ist sie vielen ihrer Mitschüler und Mitschülerinnen voraus. «Man kann sich fragen, wieso ich das tue, man kann ja auch einfach darüber schweigen», sagte Katarina. «Es gibt solche, die sagen, dass die Menschen aus der Geschichte nicht lernen. Ich frage: ‹Wieso nicht?›» Katarina glaubt an die Macht der Geschichte: «Meine Generation hat den Krieg nicht erlebt. Bevor wir zu den Waffen greifen, erzählen es uns lieber die, die es erlebt haben.» In den vier Jahren ist der Glaube an das Gute im Menschen in Katarina gewachsen. Auch wenn sie die Welt realistischer sieht als damals. Wissen, das ist für sie der Schlüssel zu einer friedlichen Welt. Dass Katarina ihre eigene Familiengeschichte in der Maturarbeit aufarbeitete, liegt vielleicht auch daran, dass sie dieser Geschichte nicht aus100


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VIER JAHRE – Katarina zwischen den Fronten

weichen kann. Die Schülerin interessiert sich nicht für ethnische Unterschiede, sie trägt keinen Hass in sich. Sie wird damit aber ständig konfrontiert, ob sie will oder nicht. «Manchmal vermute ich, dass mich jemand nicht mag, weil ich Serbin bin», erzählt sie. Im Ausgang zum Beispiel, wenn jemand frage, woher sie komme. Und wenn sie dann sage, dass sie in der Schweiz geboren sei, aber ihre Eltern aus Serbien kämen, der Gesprächspartner sich aus dem Staub mache. Oder sage: «Du bist viel zu hübsch für eine Serbin.» Katarina sieht sich als Vermittlerin, die zwei Sprachen spricht, zwei Mentalitäten versteht. Zwischen Jung und Alt, zwischen Schweizer und Serben auch. Dabei gerät sie zwischen die Fronten, wie an jenem Februarmorgen, als sie ihre Maturarbeit präsentiert. Kaum ist sie fertig, hebt einer der drei Jungs in der vordersten Reihe die Hand. «Wieso sind unter den Befragten nur Serben?» «Ich wollte nicht Partei ergreifen», antwortet Katarina, «auch wenn es so scheint. Aber von der Gegenseite wollte niemand mit mir reden.» Die Jungs schweigen düster.

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VIER JAHRE – Katarina zwischen den Fronten

«Ich hatte das Gefühl, dass sie nicht zugehört haben, sondern mit einer vorgefertigten Meinung gekommen sind», sagt Katarina nach der Präsentation. «Das hat mich schon etwas eingeschüchtert, aber man kann es ihnen nicht vorwerfen. Sie haben die Meinung von ihren Eltern so übernommen.» Die wütende, ungerechte Einseitigkeit, die Kinder beherrscht und auch so manchen Erwachsenen, hat sich bei Katarina zu Gutmütigkeit gewandelt. Zu dem abstrakten Gedanken, dass jeder seine eigene Perspektive hat. Vier Jahre Gymnasium: Das hat Katarina toleranter gemacht.

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ÂŤHave you experienced any really life-changing moments during your time here?Âť


K APITEL 9

«Wir sind raus!»

Das ist der Anfang vom Ende. Die letzte Woche Unterricht an der Kantonsschule Enge hat für die Schülerinnen und Schüler begonnen. Nach vier Jahren Leben im Dreiviertelstundentakt. Nun stehen die Maturprüfungen an. Schliesslich die Maturfeier. Und dann erst einmal: nichts.

DIE LETZTE ENGLISCHLEKTION

Es ist Pause, kurz nach 9.30 Uhr. Wie jeden Tag in dieser letzten Woche sind die Maturanden und Maturandinnen aus den Abschlussjahrgängen verkleidet. Das Motto des heutigen Tags lautet: Pool-Party. Die Stimmung ist wie in einer All-inclusiveFerienanlage irgendwo in Spanien laut und fröhlich. Die Jungs tragen Seitenscheitel, halboffene Hemden, farbige Badehosen und Luftmatratzen unter dem Arm. Die Mädchen zeigen sich in Bikinis, mit hawaiianischem Halsschmuck aus Blumen, an den Füssen Badeschlappen. Die Schülerinnen und Schüler sind in Festlaune, begrüssen sich mit Handschlag, umarmen sich und singen. Einer schwimmt mit seiner Luftmatratze im Hausbrunnen. Sie johlen, weil sie das dürfen. Weil sie jung sind und bald frei. 9.45 Uhr, ein letztes Mal Englischunterricht. Die Klasse W4a bestand am Anfang aus 26 Schülerinnen und Schülern, jetzt sind es noch 19: 5 Mädchen und 14 Jungs. Sie sehen das Ende und wollen raus hier. Die Klasse war bereits vom ersten Schultag an ein wilder Haufen, sie galt nicht als besonders fleissig. Das hat sich in den vier Jahren nicht gross geändert und sich bis in die letzte Schulwoche durchgezogen. Die Schülerinnen und Schüler machen nach der Pause den Eindruck, als hätte die letzte Open-Air-Bar wegen Polizeistunde eben schliessen müssen – dabei wollten sie doch feiern, endlich feiern. An der Wandtafel hat jemand in Grossbuchstaben «Gib mir eifach d’Matura!» hingeschrieben. Aber die Klasse hat noch ein paar wenige Lektionen vor sich. Das Thema der letzten Englischlektion lautet: «A reflection on the time spent at Kantonsschule Enge». Zum letzten Mal hören sie den Fragen des Lehrers zu: «Have you 175


K APITEL 9 – «Wir sind raus!»

experienced any really life-changing moments during your time here?» Vier Jahre Gymnasium komprimiert in eine Frage, die noch einmal alles nach oben spült, das Erlebte und Gehörte. Die Schülerinnen und Schüler danken dem Lehrer und sagen, was sie denken. Ein Schüler sagt: «Hier habe ich gelernt, dass es verschiedene Menschen gibt mit unterschiedlichen Idealen und Ansichten. Ich habe das zu akzeptieren und damit umzugehen gelernt. Auch ist es mir heute – anders als am Anfang der Schulzeit – egal, was andere über mich denken.» Eine Schülerin sagt: «Ich bin jetzt stärker und habe gelernt, mich selber wertzuschätzen, Nein zu sagen. Ich muss anderen nicht mehr gefallen.» Ein Schüler sagt: «Ich habe meine Stärken und Schwächen – gerade auch während der Maturarbeit – viel besser kennengelernt. Und ich habe im Lauf der Jahre gelernt, mich weniger unter Druck zu setzen.» Noch 30 Sekunden, dann ist die letzte Englischstunde vorbei. Eine Schülerin sagt: «Ich bin dankbar, in dieser Klasse gewesen zu sein. Am Anfang hatte ich keinen einzigen Freund. Jetzt habe ich 18.» Es klingelt, die Klasse klatscht dem Lehrer zu, und alle werden ein bisschen wehmütig.

WIE TRÄUME SICH ÄNDERN – CRISTIAN

Grosse, blaue Augen, kindliche Züge, unsicher und etwas schüchtern: Cristian war einer der Kleinsten, als er das Gymnasium begann. Ein 14-Jähriger, der fleissig war und gern Fussball spielte. Fünfmal die Woche trainierte er beim FC Red Star Wollishofen und träumte von einer Profikarriere. Diesen Traum hat er begraben, nicht zuletzt wegen des Lerndrucks. Denn wenn Cristian etwas anpackt, dann tut er es richtig. Er büffelte viel und ackerte hart. «Ich bin in den letzten Jahren effizienter geworden und habe gelernt, den Druck auszuhalten. Am Anfang war es streng, jede Woche Prüfungen, das war ich nicht gewohnt. Aber man lernt, mit allem umzugehen.»

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K APITEL 9 – «Wir sind raus!»

Ehrgeizig, wie Cristian ist, strebt er mit der Matur eine Karriere an. Er träumt vom eigenen Lohn, von Vermögen und Konsum. Man kann solche Träume naiv nennen. Aber Cristian weiss, was es heisst, zu arbeiten und zu geschäften. In all seinen Ferien half er im Familienunternehmen aus, im Restaurant seiner Eltern. Und er, der Styler der Klasse, immer die coolsten Sneakers und Klamotten, hat sich auf der Social-Networking-Plattform Instagram ein kleines Business aufgebaut. Er hat Kleider verkauft und den Geschäftsmann geübt. Er hat sich beworben für ein Traineeprogramm bei einer Grossbank – und die Stelle erhalten. «Natürlich wäre ein Studium noch immer eine Option, zum Beispiel BWL. Aber wenn ich sehe, was mein Bruder, der eine Lehre absolviert, an Zeit und Geld zur Verfügung hat, dann ist es schon geil, direkt in einen Job einzusteigen», sagt er. Aus dem scheuen Buben ist ein junger Mann geworden, einer, der weiss, was er will.

DIE SCHULE DES LEBENS – DENISE

Am ersten Schultag wusste Denise noch nicht, dass sie im letzten Schuljahr diejenige sein würde, die die Abschlussparty des ganzen Jahrgangs organisiert. Sie hat dafür ihr erstes eigenes Bankkonto eröffnet. Der Schritt zur Bank ist für sie gleichzeitig der Schritt ins Erwachsenenleben. Sie wird die Nacht vor dem letzten Schultag als Organisatorin verbringen, mit geschminkten Katzenaugen, hoch geschnittenem Kleid und etwas angespannt. Die letzte Party muss perfekt werden. Am ersten Schultag war Denise noch unbeschwerter. Sie hat ihr Innerstes nicht jedem gezeigt. Sie schlüpfte gerne in andere Rollen, schminkte sich für Halloween-Partys als Harlekin oder amüsierte sich mit Snapchat-Filtern. Am Ende schien es manchmal, als komme ihr diese Leichtigkeit abhanden, als könne sie die Matur kaum erwarten, als wirke sich der Stress stärker aus, auch der Ehrgeiz. Denn für Denise bedeutet die Matur das Ende ihrer Odyssee durch das europäische und schweizerische Bildungssystem. «Ich bin einfach froh, dass ich endlich etwas in der Hand halte», sagt sie. Das Gefühl, sich immer älter zu fühlen, wie sie einmal sagte, wird sie vielleicht nun los. 177


K APITEL 9 – «Wir sind raus!»

Für sie, die Älteste in der Klasse, bedeuteten die vier Jahre immer auch, Wurzeln zu schlagen. Von Wien war sie zuerst nach Kroatien gezogen, dann in den Aargau, von da schliesslich nach Zürich. In der Kanti Enge schloss sie engere Freundschaften als jemals zuvor. Ihre Freunde haben sie verändert, sie selbstbewusster gemacht. Im Gymnasium hat sich ihr Denken gewandelt. «Ich bin heute weniger festgefahren, denke weniger in Schwarz und Weiss. Ich wäge zuerst alle Argumente ab, bevor ich urteile», sagt sie. Jetzt, mit der Matur in der Tasche, will die Klassenbeste zuerst einmal Geld verdienen, im Restaurant und an der Bar. Und danach wahrscheinlich Recht studieren. Nur etwas vermisst Denise: Wien. Das Grossstädtische, das Lebendige. Ihre Zukunft sei offen, sagt sie. Sie ist neugierig. Geht sie ins Ausland, oder bleibt sie in der Schweiz? Denise weiss es noch nicht.

DIE LETZTE PARTY

LSD-Party – LSD steht für «last school day»: Es ist die Nacht vor dem Maturstreich, dem letzten regulären Schultag, Dienstagabend 23 Uhr, vor dem Klub Kaufleuten in Zürich. Ein letztes Mal den Verstand verlieren vor den Prüfungen in einer Woche. Die Schüler und Schülerinnen der Abschlussjahrgänge sind überall, heute wollen sie die Nacht erobern. Es ist laut und riecht nach Alkohol und Zigaretten. Im Wissen um das baldige Ende bekommt alles noch einmal eine Bedeutung: die Gespräche, die Kleidung, wie man sich benimmt. Denn einige wird man vielleicht nachher nie wieder sehen. Jede Klasse hat ihr eigenes Motto, alle sind verkleidet, und so laufen an diesem Abend jede Menge Mafiosi, Kanalreinigerinnen und Häftlinge herum. Die Schülerinnen und Schüler stossen an auf Bruderschaft und Schwesternschaft, bis sie sich im Dunkeln des Klubs aus den Augen verlieren. Vier Jahre lang lebten sie ein mehr oder weniger unbeschwertes Leben, mussten sich nur mit Schulstoff und Lehrkräften herumschlagen. Jetzt wird ihnen bewusst, dass das alles endet. Es ist bereits nach Mitternacht, vorne im Raum tanzen sie, hinten knutschen sie. Der Alkoholvorrat liegt draussen irgendwo im 178


K APITEL 9 – «Wir sind raus!»

Gebüsch. «Oh my God, habt ihr die Journis noch immer am Hals?», fragt jemand aus einer anderen Klasse zwei Schülerinnen der W4a. Dann trinken sie Shots und tanzen weiter. Um kurz vor 2 Uhr ist der Saal halb leer. Draussen vor dem Eingang liegen die einen auf Bänken, andere sitzen am Boden und reden. Um 3.15 Uhr ist die Party zu Ende, die Klubbetreiber knipsen die Boxen aus und das Licht an. «Die sind voll asozial drauf, wir wollten doch die ganze Nacht feiern», sagt einer. Einige ziehen weiter an den See. Andere gehen direkt in die Aula der Schule, wo sie in der Turnhalle ein Nachtlager haben. Noch zwei Stunden schlafen. Denn kurz nach 7.30 Uhr, im Blut noch Restalkohol oder bereits mit Kater, müssen sie wieder parat sein für den Maturstreich. Sie werden die jüngeren Schülerinnen und Schüler mit Wasserpistolen nass spritzen und mit Wasserballons bewerfen, wie dies die Maturanden jeweils vor ihnen getan haben. Sie werden Lehrer rappen und tanzen lassen und Power-Point-Karaoke vortragen. Sie werden farbige Ballone im Schulhaus verteilen und ein Transparent ausrollen, auf dem in grossen Lettern steht: «We outta here in 1 day!» Draussen in einem Tag.

DIE PHILOSOPHIE DAHINTER – KATARINA

Katarina gibt sich in den letzten Tagen an der Kanti Enge gewohnt cool. Vergessen ist das Mädchen mit Brille, das ohne Ende plapperte, Grimassen schnitt und sorglos ihr Innenleben preisgab. Katarina ist in den vier Jahren stiller geworden, vorsichtiger, misstrauischer. Katarina wurde im Gymnasium etwas zur Philosophin. Sie, die nie Mühe hatte mit dem Schulstoff, die sich in der Jugendorganisation Jungwacht Blauring engagiert, kleine Kinder liebt und Hausaufgabenhilfe gibt – sie stellt sich immer öfter Grundsatzfragen. «Dadurch, dass ich viel gelernt habe, sehe ich auch mehr Schlechtes in der Welt. Da kann man sich schon fragen: Wäre es besser, das alles nicht zu wissen?» Sie erinnert sich, wie sie als Kind in einer Scheinwelt lebte, wie jedes Kind. Wie die Eltern sie wegschickten, wenn im Fernsehen aus Kriegsgebieten berichtet wurde. «Ich bin aus dieser Scheinwelt aufgewacht», sagt sie. 179


K APITEL 9 – «Wir sind raus!»

Vielleicht ist es auch das Wirtschaftsprofil dieser Klasse, das Katarina mit der Zeit nachdenklich stimmte. Wirtschaft sei spannend und wichtig, sagt sie, aber auch menschenfremd: «Mir fehlt das Idealistische.» Das habe man der Klasse immer angemerkt. So toll diese sei, so sehr sie diese liebe – der Wettbewerb sei stärker als in anderen Klassen. «Wir haben zum Beispiel nur selten Zusammenfassungen ausgetauscht. Es hiess dann eher: ‹Selber schuld, wenn du nichts gemacht hast.›» Und dann ist da dieser Gegensatz. Katarina, die Philosophin, trifft in der Schule immer wieder einmal auf Katarina, die Coole, die ihre Gedanken oft für sich behält. Die «Alter, geh mir nicht auf die Eier» sagt, eine Gangster-Kappe trägt und am liebsten über Musik und Festivals redet, als sei es ihr lästig, so viel zu denken. Ob sich das im Studium ändert? Sie hat sich bereits für Psychologie im Hauptfach und Erziehungswissenschaften im Nebenfach eingeschrieben. Wenn Katarina aufs Gymnasium zurückschaut, sagt sie: «Mir ist ein Lichtlein aufgegangen.» Als Bürgerin und Bürger müsse man sich selber mit seinen Taten als Teil der Gesellschaft erkennen. Zu begreifen, dass Menschen Dinge aus einem bestimmten Grund täten, bedeute, sozial gereift zu sein. «Ich verzeihe einem Menschen einen Fehltritt jetzt eher – weil ich erkannt habe, dass wir alle nur Menschen sind. Irgendwo ist auch meine Menschenliebe gewachsen.»

MEHR ENGAGEMENT – MATTIA

Die letzte Nacht vor dem letzten Schultag, LSD-Party – Mattia verbringt sie in ungewohnter Aufmachung: schwarzer Smoking, schwarze Schuhe, silbriges Kreuz um den Hals, Designer-Sonnenbrille. Seine wilden Locken hat er für einmal streng nach hinten gegelt. Der Bub mit Flaum im Gesicht und Schalk in den Augen von damals ist nicht wiederzuerkennen. Er ist in den vier Jahren zum prominenten Kopf der Schülerorganisation geworden und hat beim Klimastreik ganz vorne mitgemacht. Mattia, der mit den Haaren, kennt man auf dem Pausenhof. Mattia ist immer offen, einer für alle, sie kommen zu ihm, wenn sie etwas wissen müssen, sie klopfen ihm auf die Schulter, um Hallo zu sagen: 180






DAS TEAM

Die Autorin, der Autor und der Fotograf

Katrin Schregenberger (*1988) stieg während des Studiums der Geschichte an der Universität Zürich in den Journalismus ein. Nach dem Masterabschluss mit Fokus auf Oral History absolvierte sie Praktika bei den Schaffhauser Nachrichten, dem Bund, Dow Jones Newswires und der NZZ. 2013 trat sie in die Nachrichtenredaktion der NZZ ein. 2017 wurde sie vom Branchenmagazin Schweizer Journalist für die «30 talentiertesten Journalisten unter 30» nominiert. Seit Juli 2019 ist sie Leitende Redaktorin beim Schweizer Wissenschaftsmagazin higgs. Tobias Ochsenbein (*1986) studierte Geschichte und Medienwissenschaft an der Universität Basel. Seit März 2014 ist er in der Nachrichtenredaktion der NZZ – seit 2019 als deren Leiter – tätig. 2017 wurde er vom Branchenmagazin Schweizer Journalist für die «30 talentiertesten Journalisten unter 30» nominiert. Goran Basic (*1983) absolvierte sein Studium der Fotografie an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK. Nach einem einjährigen Volontariat bei der NZZ trat er 2015 fix in deren Fotografenteam ein. Seit 2019 ist er wieder als freischaffender Fotograf tätig.

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#GymiZyte 9 783038 104568

ISBNISBN 978-3-03810-456-8 978-3038104568

#GymiZyte

Was es heisst, heute in die Schule zu gehen Katrin Schregenberger, Tobias Ochsenbein, Goran Basic Was es heisst, heute in die Schule zu gehen

NZZ Libro NZZ Libro

«Manche glauben, das Engagement in politischen und gesellschaftlichen Angelegenheiten bringe nichts. Aber das ist Bullshit.» Mattia, 18 J. Was heisst es, heute ins Gymnasium zu gehen? Die Autoren haben eine Klasse der Zürcher Kantonsschule Enge vier Jahre lang begleitet, vom ersten Schultag bis zur Matur. Das Buch zeigt anhand persönlicher Geschichten von sechs Gymnasiastinnen und Gymnasiasten den Schulalltag, diskutiert die Themen Freundschaft, Liebe, Digitalverhalten und Politik. Ergänzt werden die Porträts durch Interviews mit Experten zu Medienkonsum und kognitiver Entwicklung. Ein faszinierender Bild- und Textband über das Erwachsenwerden.


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