Gerald Hosp, Brexit: zwischen Wahn und Sinn

Page 1

Gerald Hosp (*1973) studierte Wirtschaftswissenschaften in Fribourg und dissertierte 2004 zum ­Thema Medien­ökonomik. Seit 2005 ist er Wirtschaftsredaktor der Neuen Zürcher ­Zeitung. Ab Mitte 2007 war er Korrespondent der NZZ und der FAZ mit Sitz in Moskau. Nach einem Zwischenhalt in Zürich wechselte er nach London als Korrespondent für das Vereinigte König­reich. Seit anfangs 2018 ist er wieder in der NZZ-Wirtschaftsredaktion in Zürich tätig.

Als Wirtschaftskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in London hat Gerald Hosp den Weg zum Brexit aus nächster Nähe verfolgt. In seinem Buch analysiert er die Stimmung um das Referendum herum, die historischen, sozioökonomischen und politischen Bedingungen, die zum Brexit-Entscheid führten, und die handels- und geopolitischen Auswirkungen. Ist «Globalbritannien» nur ein Schlagwort oder ein realistisches Ziel? Worin liegt das Kalkül von politischer und wirtschaftlicher Desintegration? Und was müsste im Königreich selbst und seitens der EU unternommen werden, um aus dem Brexit einen Erfolg zu machen?

Brexit: zwischen Wahn und Sinn Eine Klippe für Grossbritannien und Europa

Die Diskussion um den Brexit lief und läuft zwischen Wahn und Sinn ab. Den Briten wird nachgesagt, pragmatisch zu sein und Entscheidungen mit Augenmass zu treffen. So erlag Grossbritannien im 20. Jahrhundert nicht den Schalmeienklängen totalitärer Ideologien, vielmehr hütete London das Feuer der liberalen Demokratie. Es ist eines dieser Klischees, das im Grunde positiv ist und deshalb nicht angezweifelt wird. Umso mehr erstaunt die Heftigkeit der Auseinandersetzung zwischen den Brexit-Gegnern und -Befürwortern. Und umso betroffener verfolgt man das politische Chaos in London nach der Brexit-Abstimmung. In Abwandlung des Spruchs des früheren amerikanischen Aussenministers Dean Acheson, dass Grossbritannien nach dem Zweiten Welt­krieg ein Empire verloren und noch keine neue Rolle gefunden habe, steht das Land davor, die europäische Machtbasis zu verlieren, ohne sich neu in der Welt positioniert zu haben. Auch für die EU bedeutet der Brexit eine grosse strategische Herausforderung. Der britische EU-Austritt bietet eine – wenn auch schmerzhafte – Chance für neue Konzepte der Zusammenarbeit.

Brexit: zwischen Wahn und Sinn

Gerald Hosp

Gerald Hosp

ISBN 978-3-03810-362-2 ISBN 978-3-03810-362-2 9 783038 103622

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro

nzz_brexit_hosp_UG_kompl_abz2.indd 1

26.09.18 10:59


Gerald Hosp (*1973) studierte Wirtschaftswissenschaften in Fribourg und dissertierte 2004 zum ­Thema Medien­ökonomik. Seit 2005 ist er Wirtschaftsredaktor der Neuen Zürcher ­Zeitung. Ab Mitte 2007 war er Korrespondent der NZZ und der FAZ mit Sitz in Moskau. Nach einem Zwischenhalt in Zürich wechselte er nach London als Korrespondent für das Vereinigte König­reich. Seit anfangs 2018 ist er wieder in der NZZ-Wirtschaftsredaktion in Zürich tätig.

Als Wirtschaftskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in London hat Gerald Hosp den Weg zum Brexit aus nächster Nähe verfolgt. In seinem Buch analysiert er die Stimmung um das Referendum herum, die historischen, sozioökonomischen und politischen Bedingungen, die zum Brexit-Entscheid führten, und die handels- und geopolitischen Auswirkungen. Ist «Globalbritannien» nur ein Schlagwort oder ein realistisches Ziel? Worin liegt das Kalkül von politischer und wirtschaftlicher Desintegration? Und was müsste im Königreich selbst und seitens der EU unternommen werden, um aus dem Brexit einen Erfolg zu machen?

Brexit: zwischen Wahn und Sinn Eine Klippe für Grossbritannien und Europa

Die Diskussion um den Brexit lief und läuft zwischen Wahn und Sinn ab. Den Briten wird nachgesagt, pragmatisch zu sein und Entscheidungen mit Augenmass zu treffen. So erlag Grossbritannien im 20. Jahrhundert nicht den Schalmeienklängen totalitärer Ideologien, vielmehr hütete London das Feuer der liberalen Demokratie. Es ist eines dieser Klischees, das im Grunde positiv ist und deshalb nicht angezweifelt wird. Umso mehr erstaunt die Heftigkeit der Auseinandersetzung zwischen den Brexit-Gegnern und -Befürwortern. Und umso betroffener verfolgt man das politische Chaos in London nach der Brexit-Abstimmung. In Abwandlung des Spruchs des früheren amerikanischen Aussenministers Dean Acheson, dass Grossbritannien nach dem Zweiten Welt­krieg ein Empire verloren und noch keine neue Rolle gefunden habe, steht das Land davor, die europäische Machtbasis zu verlieren, ohne sich neu in der Welt positioniert zu haben. Auch für die EU bedeutet der Brexit eine grosse strategische Herausforderung. Der britische EU-Austritt bietet eine – wenn auch schmerzhafte – Chance für neue Konzepte der Zusammenarbeit.

Brexit: zwischen Wahn und Sinn

Gerald Hosp

Gerald Hosp

ISBN 978-3-03810-362-2 ISBN 978-3-03810-362-2 9 783038 103622

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro

nzz_brexit_hosp_UG_kompl_abz2.indd 1

26.09.18 10:59


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 166


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 NZZ Libro, Schwabe AG Lektorat: Marcel Holliger, Zürich Umschlaggestaltung: GYSIN [Konzept + Gestaltung], Chur Gestaltung, Satz: Claudia Wild, Konstanz Druck, Einband: Druckhaus Nomos, Sinzheim Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-362-2 ISBN E-Book 978-3-03810-410-0 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe AG


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 5

Inhalt

Einleitung

7

Wie es dazu kam

15

Als das Vereinigte Königreich im Chaos versank  Das stete Reiben an Europa  Der Niedergang des Empire  Das erste Europa-Referendum  Im Herzen oder am Rand  «Herumreiten auf Europa»  Es reicht nicht  Augenschein: Ein Blick nach Teesside  Wer für den Brexit gestimmt hat  Eine unheilige Allianz

17 21 23 29 35 39 45 49 53 57

Von Globalbritannien und Kleinbritannien

Der arktische Vorläufer  Dunkelrote bis rosarote Linien  Massanzug versus Zwangsjacke  Alte Freunde und neue Verbündete  Der Sprung ins Ungewisse  Augenschein: Der grosse Fang  Was hat die EU je für uns getan?  Kosten, Kosten, Kosten  «Irrelevant für Reformen»  Vom Nutzen eines Schocks  Von Rot zu Blau  Das Dilemma mit dem Trilemma

67 73 76 81 83 93 97 100 103 107 110 119

65

5


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 6

Inhalt

125

Die EU lässt einen nicht mehr los

Verletzte Gefühle und harte Interessen  Chaos in London  Reisende soll man ziehen lassen  Grossbritannien ist nicht die Schweiz, oder?  Der Chequers-Plan und die Prinzipien  Das Dogma der Unteilbarkeit  Chancen für Europa

127 133 138 142 149 155 160

Schlussbetrachtung

165

Anmerkungen

173

Literaturnachweis

175

Quellenverzeichnis

177

Dank

6

183


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 7

Einleitung

«You could unleash demons of which ye know not.» David Cameron, früherer britischer Premierminister


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 8


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 9

In Westminster, rund um den neogotischen Parlamentsbau, pocht das politische Herz des Vereinigten Königreichs. Der Londoner Bezirk ist auch gemeinhin ein Sinnbild für die Verschmelzung von Politikern, Medienschaffenden und Lobbyisten, die sich in einer Blase bewegen. Grossbritannien ist das Paradebeispiel einer repräsentativen Demokratie, in der politische Entscheidungen und die Kontrolle der Regierung nicht unmittelbar vom Volk, sondern von einer Volksvertretung ausgehen. Das Referendum zum Austritt Grossbritanniens aus der EU hat das politische System in zweifacher Weise erschüttert: Erstens durch das Ergebnis an sich und, zweitens, durch die Volksbefragung als selten ge­­ brauchtes Instrument, um eine politische Entscheidung zu treffen. Was sich einst buchstäblich am Rand des politischen Systems befand, ist in die Mitte vorgedrungen. Das Westminster-Parlament ist nicht weit vom Büro von Stuart Wheeler im Londoner Stadtteil Mayfair entfernt. Nähe und Distanz zum Regierungsviertel zeichnen das politische Wirken des hochbetagten Wheeler aus, der im Jahr 2000 für eine der grössten Geldspenden in der Geschichte des Landes an die Konservative Partei verantwortlich war. Er wechselte danach zur Anti-Establishment-Partei United Kingdom Independence Party (Ukip) und engagierte sich für eine der Bewegungen, die für den Austritt Grossbritanniens aus der EU warben. Wheeler half mit, die Finanzierung von «Vote Leave» zu sichern. Der mit spitzbübischem Charme ausgestattete Wheeler hatte sein Geld mit der Gründung eines Unternehmens verdient, das ein Wetten auf Finanztitel erlaubt. Er gilt als passionierter Spieler. Seit mehreren Jahren agitiert er gegen die EU-Mitgliedschaft Grossbritanniens. «Wir haben unser Land erfolgreich geführt, ohne dass wir seit 1066 erobert worden wären», sagte Wheeler mit der festen Überzeugung eines Inselbewohners wenige Monate vor dem Referendum im Juni 2016. Es sei frustrierend anzusehen, dass Grossbritannien von einer nichtgewählten und undemokratischen EU-Kommission gelenkt 9


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 10

Einleitung

werde. Das bevorstehende EU-Referendum sei der Höhepunkt für einen Euroskeptiker wie ihn, meinte Wheeler. Was für die einen ein Höhepunkt war, schätzten die anderen als Tiefpunkt der britischen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Am Anfang des Referendums stand die sogenannte Bloomberg-Rede des damaligen Premierministers David Cameron im Jahr 2013. Cameron wollte damit die Grabenkämpfe in der Konservativen Partei um die Europafrage beilegen. In der Rede stellte er die Idee eines Referendums über einen möglichen Austritt vor. Er versprach der britischen Bevölkerung, sie vor die Wahl eines Austritts oder einer Mitgliedschaft in einer nach britischen Vorstellungen reformierten EU zu stellen. Dass dies ein gewagter Schritt ist, war Cameron durchaus bewusst. Camerons Berater Craig Oliver erinnert sich in einem Buch über die Geschehnisse an ein Gespräch mit dem Premierminister auf dem Weg zur Rede. Oliver fragte Cameron nach einem guten Grund, keine Volksbefragung abzuhalten. Der Tory-Politiker antwortete: «Es könnten Dämonen von der Leine gelassen werden, die man noch nicht kennt.» Und Dämonen wurden losgelassen. Die politische Diskussion auf der Insel entfernte sich nach der Brexit-­ Entscheidung meilenweit davon, Ironie oder gar Selbstironie als Instrument einzusetzen, was sonst übliche Versatzstücke in Grossbritannien sind. Vielmehr wurden vonseiten der hartgesottenen Brexit-Anhänger überall Betrüger, Verräter und Meuterer vermutet, wenn nicht der härteste aller harten Brexits angestrebt würde. Und auf der anderen Seite wurde der tägliche Weltuntergang ausgerufen und jede negative Nachricht für Wirtschaft und Gesellschaft mit dem EU-Austritt in Verbindung gebracht. Positive Meldungen wurden häufig mit dem Zusatz «trotz Brexit» versehen. Das Land bleibt auch nach der Abstimmung mit wechselnden Mehrheiten gespalten. Das Bekenntnis zu einer An­­ schauung wurde wichtiger als die Diskussion über die realpolitischen Auswirkungen, die Leichtigkeit war schnell abhandengekommen. Die Europafrage war aber beileibe kein Schnellzug, der auf einmal durchs Land raste, sondern vielmehr ein Bummelzug, der schon lange Zeit unterwegs war. Als ich im September 2014 den Posten als Wirtschaftskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in London angetreten hatte, war der Gedanke, dass ein EU-Referendum tatsächlich zustande kommen könnte, noch weit entfernt. Gleichzeitig war es der Zeitpunkt eines anderen Referendums in Grossbritan10


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 11

Einleitung

nien, das in den vergangenen Jahren für Furore gesorgt hatte: die Volksbefragung zur Unabhängigkeit Schottlands. Die schottische Bevölkerung sollte die Frage beantworten, ob die seit 1706 bestehende Union mit England aufgelöst werden solle. Zu dieser Zeit erschien das Vereinigte Königreich als ein Hort der politischen Abgeklärtheit. Die Wucht des schottischen Nationalismus wurde in einen direktdemokratischen Rahmen gelenkt, Emotionen wurden in einen Urnengang gepresst. Dass die britische Regierung ein schottisches Referendum zuliess und gelobte, sich an das Ergebnis zu halten, zeugte von einem demokratischen und rechtsstaatlichen Verfahren, das anderen Ländern durchaus Vorbild sein könnte. Dazu gehört auch, dass sich die Bevölkerung mit 55,3 Prozent der Stimmen gegen die Unabhängigkeit ausgesprochen hat. Ein wichtiger Grund für das Ergebnis waren die unabsehbaren wirtschaftlichen Folgen einer Unabhängigkeit. Die Schotten entschieden sich so, wie man es sich erwartet hatte: mit dem Portemonnaie und pragmatisch. Was für das schottische Referendum noch gegolten hatte, wurde zwei Jahre später auf den Kopf gestellt. Die britische Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft deutete zudem auf Grösseres hin. Es erschien, als ob Agenten des Zeitgeists die Geschicke des Referendums führten. Die Brexit-Entscheidung wird häufig im selben Atemzug wie die Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten im Jahr 2016 genannt. In beiden reifen angelsächsischen Demokratien kamen Politiker an die Macht oder wurde für Ansichten gestimmt, die den Nationalstaat in den Vordergrund rückten, die Globalisierung infrage stellten und den sogenannten politischen und wirtschaftlichen Eliten die Legitimation absprachen. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nach der Finanzkrise, die langfristigen Auswirkungen offener Grenzen sowie ein im Untergrund schlummernder Kulturkampf waren Bestandteile eines neuen politischen Cocktails, der in vielen Ländern, durchaus auch erfolgreich, angeboten wurde. Aufgrund des politischen Systems in den Vereinigten Staaten und der Natur eines Referendums hatten die Urnengänge in den USA und in Grossbritannien den Charakter einer Schicksalsentscheidung. Haben Donald Trump und Theresa May nun denselben Stellenwert für eine Renaissance des Nationalstaats wie einst das frühere amerikanisch-britische Duo Ronald Reagan und Margaret Thatcher für eine marktwirtschaftliche Revolution? Ein Vergleich der Trump-Wahl und der Brexit-Abstimmung zeigt neben Gemeinsamkeiten auch grosse Unterschiede. Während der frühere amerikani11


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 12

Einleitung

sche Immobilientycoon «America first» zu seinem Motto gemacht und eine protektionistische Politik an seine Fahnen geheftet hat, sind die Brexit-Anhänger breiter aufgestellt: Sogenannte Thatcher-Liberale denken, dass die EU das Vereinigte Königreich zurückhält und an seiner Entfaltung hindert. Ihre Position ist eher, dass sich das Land der Globalisierung noch nicht weit genug geöffnet habe. Für den EU-Austritt Grossbritanniens stimmten gleichzeitig viele konservative Nationalromantiker, die ein Zeichen setzen wollten gegen Globalisierung, Freihandel und Zuwanderung. Ihnen gemeinsam war die Klammer, die «Kontrolle zurückzubekommen». Die Entscheidung der Briten vom 23. Juni 2016 hinterliess bei vielen Europäern vom Kontinent, besonders bei denen, die sich selbst gerne als anglophil betrachten oder die im Königreich wohnten, ein Gefühl der Ablehnung, der Enttäuschung und der Täuschung. Wie kann nach mehr als 40 Jahren ein Bund aufgelöst werden, der mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft auch ein Bekenntnis zu europäischen Werten ist? Eine Antwort liegt darin, dass für die Briten Appelle an Gemeinschaftssinn und Solidarität, wie sie in Kontinentaleuropa gerne ins argumentative Feld geführt werden, schal klingen. Die europäische Integration ist für die Briten kein Selbstzweck, auch das Hohelied auf die Union als Friedensprojekt hat für ihre Ohren keinen besonderen Klang. Paul Collier, einer der bekanntesten britischen Ökonomen, nannte die EU einen «Traum alter Männer». Die Währungsunion und die Personenfreizügigkeit wertet der Ökonom als Symbolpolitik ab. Dies ist wahrlich kein neues Phänomen, sondern zeigt das schon immer unterkühlte Verhältnis Grossbritanniens zur EU auf. Selbst ein Referendum zur EU-Mitgliedschaft ist keine Besonderheit. Das Land trat erst 1973 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei. Zwei Jahre danach stimmten die Briten bereits über einen Austritt aus dem europäischen Verbund ab. Initiiert hatte das – erfolglose – Referendum die sozialdemokratische Labourpartei. 1984 setzte die damalige Premierministerin Margaret Thatcher den sogenannten Britenrabatt durch: Dem Nettozahler Grossbritannien wurde auf die EU-Beitragszahlungen ein Abzug gewährt. Das Königreich ist zudem weder Mitglied der Währungsunion noch des Schengenraums. Der Oxford-Ökonom Kevin O’Rourke spricht von einem halbherzigen Mitglied und führt dies auch auf das imperiale Vermächtnis zurück. 12


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 13

Einleitung

Die Diskussion um den Brexit lief und läuft zwischen Wahn und Sinn ab. Den Briten wird nachgesagt, pragmatisch zu sein und Entscheidungen mit Augenmass zu treffen. So erlag Grossbritannien im 20. Jahrhundert nicht den Schalmeienklängen totalitärer Ideologien, vielmehr hütete London das Feuer der liberalen Demokratie. Es ist eines dieser Klischees, das im Grunde positiv ist und deshalb auch wenig angezweifelt wird. Wie verträgt sich aber das Bild des kühl abwägenden und auf Zurückhaltung getrimmten Briten mit der hitzig geführten Diskussion um den EU-Austritt? Die aggressiven britischen Boulevardmedien sind Teil eines anderen Grossbritanniens, das grell, hemmungslos parteiisch und auf Konfrontation aus ist. Die Medien sekundieren dabei das auf einem Mehrheitswahlrecht aufbauende politische System, das immer wieder ein Garant für radikale Richtungswechsel ist. So erfolgte in Grossbritannien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein einschneidender Wandel von einem sozialistischen Wirtschaftsmodell zu einer durch Privatisierung und Regulierung angetriebenen Zurückdrängung des Staats. Trotz allem wird dadurch nicht erklärt, wieso ein Teil der Brexit-Befürworter so darauf erpicht ist, jede Brücke zur EU niederzubrennen, auch wenn dies mit einer Attacke auf britische Institutionen verbunden ist, die eigentlich durch den Brexit gestärkt werden sollen. In der Debatte kamen gute und schlechte Argumente dafür auf, dass der Brexit die grosse Befreiung ist oder der Beginn des wirtschaftlichen Niedergangs, dass der Brexit einen Aufbruch in eine neue Welt bedeutet oder einen Rückfall in eine nostalgisch verklärte Vergangenheit. Eines ist gewiss: So mancher Dämon wurde losgelassen.

13


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 14


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 15

Wie es dazu kam

In the nightmare of the dark all the dogs of Europe bark. W. H. Auden


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 16


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 17

Als das Vereinigte Königreich im Chaos versank

«Wir wollen noch ein Referendum», brüllt ein junger, bärtiger Mann ins Megafon. Direkt gegenüber dem Parlament in Westminster in London steht unter dem strengen Blick der Statue des einstigen Premierministers Winston Churchill eine Menge zusammen, einer Selbsthilfegruppe gleich. Das Megafon wird herumgereicht. Jeder, der will, darf über seine Gefühle zum Referendum sprechen, das mit einer Mehrheit für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU geendet hat. Die Volksbefragung, die einen starken Einschnitt in die britische Geschichte bedeutet, ist an diesem Samstag erst zwei Tage alt. Der junge Mann redet sich in Rage: «Ich bin ein stolzer Londoner. Wir sind liberal. Wir lieben die EU. Wir lieben die Migranten.» Die Menge, die vor allem aus Jüngeren besteht, applaudiert. Das Vereinigte Königreich hat am 23. Juni 2016 mit knapp 52 Prozent für den Brexit gestimmt. England und Wales waren mehrheitlich für den Austritt. In der Hauptstadt London, in Nordirland und in Schottland überwogen hingegen die Stimmen für den Verbleib in der EU. Die 15-jährige Jadelyn kommt auf dem Platz vor dem Parlament an die Reihe. Mit zitternder Hand nimmt sie das Megafon und sagt mit leicht verweinten Augen, ihre Zukunft sei zerstört, die Pensionisten seien mit leeren Versprechen und Lügen ge­­ködert worden. Das Zuwanderungsproblem sei aufgebauscht. Im Gespräch erzählt der Teenager mit den blau gefärbten Haaren, dass die Grosseltern für den Brexit gestimmt hätten. Sie hätte nicht wählen gehen können. Um ihren Protest auszudrücken, ist Jadelyn aus Surrey südöstlich von London nach Westminster gekommen. Michael English ist ebenfalls erbost. Der 52-jährige Mitarbeiter einer Reiseagentur sorgt sich um die Zukunft seiner zwei kleinen Töchter. Aus seiner Sicht hat seine ältere Tochter den besten Grund für das Bleiben in der EU geliefert, indem sie einmal gesagt habe: «Ich möchte 17


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 18

Wie es dazu kam

nicht allein sein.» Auch English schiebt den älteren Mitbürgern die Schuld in die Schuhe. Im Londoner Regierungsviertel Whitehall ist keine Europaflagge zu sehen. Stattdessen flattern neben dem Union Jack, dem britischen Hoheitszeichen, Regenbogenfahnen, als ob Grossbritannien einem bunten Bündnis beigetreten sei. Bei den Flaggen handelt es sich um ein Symbol der Lesben- und Schwulenbewegung, die an diesem Wochenende den Höhepunkt der Veranstaltung Pride in London feiert. Eine einsame Europaflagge steht ausgerechnet vor einem altehrwürdigen Pub, dem Barley Mow im Stadtviertel Marylebone. Die Frau hinter der Theke sagt lakonisch, dass man sich noch nicht dazu entschlossen habe, die Flagge wegzuräumen. Dies sei so endgültig. Brexit-Befürworter triumphieren verhalten. Gareth Fielding sagt, er sei mit dem Ergebnis zufrieden, aber nicht voller Freude. Fielding hat ein eigenes Beratungsunternehmen in der Finanzbranche, hat für einige Zeit in der Schweiz gelebt und ist zum Zeitpunkt des Referendums Mitglied der rechtspopulistischen Partei United Kingdom Independence Party (Ukip) gewesen, die den EU-Austritt vorangetrieben hatte. Er hätte es vorgezogen, Teil einer auf einen Handelsblock reduzierten Union zu bleiben, sagt er. Die Zuwanderung sei un­­ kontrollierbar geworden, die Kosten der Union seien gestiegen und die EU-­ Gesetzgeber ausser Rand und Band. Grossbritannien habe immer mehr an Bedeutung verloren. Wenn sich die EU nicht verändern wolle, sei es eben Zeit zu gehen. Der joviale und traditionsbewusste Fielding meint auch, dass es jetzt eine Menge zu tun gebe. Es werde weder schnell noch leicht vonstattengehen. Aus Fielding spricht das Selbstbewusstsein einer Nation, die auf historische Grösse zurückblickt. Was sich in den ersten Tagen nach der Volksabstimmung abspielte, war bereits ein Vorbote für die kommenden stürmischen Wochen, Monate und wohl auch Jahre für Grossbritannien. Das Brexit-Referendum war kein Schlusspunkt in der jahrzehntelangen Auseinandersetzung des Vereinigten Königreichs mit der EU. Vielmehr wurden neue Gräben aufgerissen, die sich schon im Abstimmungskampf zeigten und danach nicht wieder zugeschüttet werden konnten: Alt gegen Jung, wirtschaftlich vernachlässigte Gegenden gegen prosperierende, kosmopolitische Städte, Gutausgebildete gegen Schlechtausgebildete. In den Wochen nach der Volksbefragung gab es mehrere Nachbeben, die 18


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 19

Als das Vereinigte Königreich im Chaos versank Die Abstimmungsergebnisse der Volksbefragung am 23. Juni 2016 Abstimmungsfrage: «Soll das Vereinigte Königreich ein Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen?» Mehrheit für Bleiben oder Verlassen nach Bezirk

Mehrheit für Verlassen Mehrheit für Bleiben

Quelle: House of Commons Library

19


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 20

Wie es dazu kam

das jahrhundertalte institutionelle Gefüge Grossbritanniens aufwühlten. Der konservative britische Premierminister David Cameron, der sich so sicher war, einen EU-Austritt abwenden zu können, gab am Tag nach dem Urnengang seinen Rücktritt bekannt. 14 Monate zuvor, im Jahr 2015, hatte Cameron noch völlig überraschend eine absolute Mehrheit im Unterhaus in der Parlamentswahl errungen. Dieser Urnengang schien ohnehin in einer politischen Parallelwelt stattgefunden zu haben. Keiner der früheren Spitzenkandidaten der grösseren Parteien war 14 Monate später mehr im Amt. Der damalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson und der frühere Justizminister Michael Gove, zwei Galionsfiguren der Brexit-Bewegung aus der Konservativen Partei, machten am Tag nach dem Referendum in einer Pressekonferenz betretene Mienen zweier unsicherer Gewinner. In der Manier eines Shakespeare’schen Königsdramas um Machtwillen, enttäuschte Freundschaft und Betrug zerstörten die beiden einander später gegenseitig ihre Am­­ bitionen, Premierminister zu werden. Die oppositionelle Labourpartei zerfleischte sich so sehr in internen Führungsstreitigkeiten, dass sie selbst in dieser Zeit den Brexit ab und zu von den Frontseiten der Zeitungen verdrängte. Nigel Farage, der flamboyante langjährige Anführer von Ukip, legte in der Stunde seines grössten Siegs das Amt des Parteichefs nieder: «Ich habe alles erreicht, jetzt will ich mein Alltagsleben zurück.» Farage hatte im Abstimmungskampf eine Schlüsselrolle gespielt. Während die Politik zur Verunsicherung und Orientierungslosigkeit beitrug, hiess es vom Gouverneur der britischen Zentralbank, Mark Carney, er sei der «einzige Erwachsene» im Raum. Carney senkte im August 2016 den Leitzins und pumpte mehr Zentralbankgeld in die britische Wirtschaft, um die Märkte zu beruhigen. Zwar hatten sich die konservative Regierungspartei und das politische Establishment wieder relativ schnell gefangen, indem Theresa May bereits Mitte Juli zur Premierministerin ernannt wurde. Das Chaos bestimmte aber weiterhin die Tagesordnung.

20


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 21

Das stete Reiben an Europa

Das stete Reiben an Europa

Von den rund 46,5 Millionen Wahlberechtigten hatten sich am 23. Juni 17,4 Millionen Britinnen und Briten gegenüber 16,1 Millionen für den Brexit entschieden. Hätten sich gut 600 000 anders entschieden, wäre die politische Landschaft auf der Insel im sogenannten Brexit-Sommer nicht umgepflügt worden. Die Differenz kann nicht als knapp bezeichnet werden, aber auch nicht als deutlich. Cameron hätte seinem Ruf alle Ehre gemacht, ein geborener Glückspilz zu sein. Wie schon beim schottischen Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2014 hätte er es geschafft, die Bevölkerung davon zu überzeugen, in seinem Sinn zu stimmen. Es kam aber anders. Die Gründe für die Brexit-Entscheidung sind vielfach und häufig ineinander verwoben: die Spätfolgen der Finanz- und Schuldenkrise, stagnierende Reallöhne, der Eindruck der Flüchtlingskrise und einer als ungezügelt erachteten Einwanderung, die Entwicklungen in der EU, die Auswirkungen der Globalisierung, die Wucht des technischen Wandels, das Gefühl der Ohnmacht, ein Aufstand gegen die Eliten, der Glaube eines Teils der britischen Elite an die britische Einzigartigkeit, die Geschichte und die politischen Institutionen des Landes, die jahrzehntelange Indoktrination der Bevölkerung durch euroskeptische Medien, die glatten Lügen in der Brexit-Kampagne, die Fehler der EU-Befürworter im Abstimmungskampf. Die Brexit-Entscheidung erfolgte nicht zufällig. Die Briten waren schon immer halbherzige Befürworter des europäischen Staatenbunds. Das Land – weder Mitglied der Währungsunion noch des Schengenraums – trat erst 1973 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bei. Zuvor war den Briten der Beitritt zum europäischen Projekt zweimal von den Franzosen versagt worden. Zwei Jahre nach dem Beitritt stimmten die Briten bereits über einen Austritt aus dem europäischen Verbund ab. Initiiert hatte das – erfolglose – Referendum damals die sozialdemokratische Labourpartei. Die Konservativen waren zu dieser Zeit auf der Seite der Befürworter der europäischen Institutionen. Ein bleibendes Bild aus der Kampagne zeigt Margaret Thatcher, die spätere konservative Premierministerin, mit einem Pullover, der mit europäischen Flaggen übersät ist. Thatcher, die von 1979 bis 1990 der britischen Regierung vorstand, än­­ derte später ihre Meinung über das europäische Projekt, das sich zusehends in Richtung politischer Zentralisierung veränderte. Ihre Rede vor dem Europakolleg in Brügge 1988 gilt als Manifest der Euroskeptiker in der Konservativen 21


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 22

Wie es dazu kam

Partei. Die Premierministerin begann in Belgien mit bitterem Humor: Sie über Europa sprechen zu lassen sei in den Augen mancher wohl damit zu vergleichen, Dschingis Khan aufzufordern, über den Wert friedvoller Koexistenz zu reden. Die «Eiserne Lady» erklärte in dieser Rede ihre Version eines Europas, in der kein europäischer Superstaat zu finden ist, sondern vielmehr eine Kooperation der Nationalstaaten im Rahmen des Binnenmarkts. Sie pries die pragmatische Zusammenarbeit und widersprach einer Zentralisierung der politischen Entscheidungen: «Britannien träumt nicht von einer behaglichen, isolierten Existenz am Rand der Europäischen Gemeinschaft. Unser Schicksal liegt in Europa als Teil der Gemeinschaft. […] Die Gemeinschaft ist kein Selbstzweck.»1 In der Brügge-Rede kommen die Vorbehalte Thatchers gegenüber dem real existierenden europäischen Projekt zutage, die auch die Grundfeste für die Euroskeptiker bei den Tories, der Konservativen Partei, bilden: Erstens sah sie durch einen Brüsseler Superstaat ihre marktwirtschaftlichen Reformen gefährdet: «Wir haben den Staat nicht erfolgreich zurückgedrängt, nur um ihn auf europäischer Ebene wiedererrichtet zu sehen […]», sagte Thatcher in der Rede. Zweitens konzentrierte sie sich in ihrer Aussenpolitik auf die Pflege der «speziellen Beziehung» zwischen den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich. Die Sicherheit Europas sah sie durch den Nordatlantikpakt (NATO) und die sicherheitspolitischen Zusagen Washingtons garantiert. Eine europäische Sicherheitspolitik könne dies ergänzen, aber nicht ersetzen, meinte Thatcher. Drittens bezog sie in der Diskussion, ob sich die europäische Vereinigung einem Staatenbund oder einem Bundesstaat annähern soll, klar die Position, dass die Nationalstaaten die treibende Kraft sein sollen. Thatcher erteilte mit diesem Votum vor allem einer vertieften politischen Integration und einer starken Zentralgewalt in Brüssel eine Abfuhr. Diese drei Punkte prägen immer noch das Credo der britischen Euroskeptiker, auch wenn sie in der Nachbetrachtung und angesichts der Forderungen nach einem Austritt als moderat zu bezeichnen sind. In der Sicherheitspolitik und in der Frage der Integration lassen sich in diesem Sinn alle auf Thatcher folgenden – konservative wie auch sozialdemokratische – britischen Regierungen als euroskeptisch bezeichnen. Die beiden Tories John Major und David Cameron wie auch die Labour-Premierminister Tony Blair und Gordon Brown sprachen sich für ein Europa als Staatenbund 22


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 23

Der Niedergang des Empire

aus. Aus dieser britischen Sicht sollen die nationalen Parlamente die Basis der demokratischen Legitimation und der Kontrolle bleiben. Blair sprach sich zwar für einen Beitritt zur Währungsunion aus, er konnte sich gegen seinen Schatzkanzler Gordon Brown aber nicht durchsetzen. London betrachtete vor allem den EU-Binnenmarkt als Juwel in der Zusammenarbeit mit anderen europäischen Ländern. Die britischen Regierungen waren sich auch durchgängig darin einig, dass das Vereinigte Königreich einzigartig sei. So ist zwar die Idee der «Vereinigten Staaten von Europa» auf den früheren britischen Premierminister Winston Churchill zurückzuführen, ausgeführt in der berühmten Zürcher Rede im September 1946. Er sah für die Insel eine Rolle ausserhalb dieses Gebildes vor. Churchill hatte bereits im Jahr 1930 in einem Zeitungsartikel geschrieben: «Wir stehen zu Europa, gehören aber nicht dazu; wir sind verbunden, aber nicht umfasst; wir sind interessiert und assoziiert, aber nicht absorbiert; wir gehören zu keinem einzelnen Kontinent, sondern zu allen.»2 Diese Worte hallen nach. Churchill hatte sich zwar rhetorisch für ein einiges Europa unter Beteiligung des Vereinigten Königreichs eingesetzt, in seiner zweiten Amtszeit als Premierminister in den 1950er-Jahren blieb er jedoch eine Umsetzung schuldig. Das ambivalente Verständnis des Landes zu seiner geopolitischen Lage, das sich in Churchills Worten ausdrückt, prägte auf Jahrzehnte die Beziehung zu den europäischen Nachbarn auf dem Kontinent.

Der Niedergang des Empire

Es ist eine Konstante seit dem 17. Jahrhundert, dass sich Britannien immer wieder in die Geschichte Kontinentaleuropas einmischte und sich dann abwandte, um sich später wieder Europa zuzuwenden. In den Nachkriegsjahren herrschte die Haltung vor, am Rand von Europa, aber mitten in der Welt zu sein. Trotz aller Differenzen einte diese Gesinnung konservative wie Labour-­ Regierungen, auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als alte und neue Ideen zur Zukunft Europas herumzuschwirren begannen. So schrieb Hugh Dalton, ein Mitglied der Labour-Regierung von Premierminister Clement Attlee, im November 1949: «Großbritannien ist nicht einfach eine kleine, dicht bevölkerte Insel vor der Westküste Kontinentaleuropas. Es ist das Nervenzent23


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 24

Wie es dazu kam

rum eines weltweiten Commonwealth, das in jeden Kontinent hineinreicht.» Grossbritannien sei «auch noch das Nervenzentrum einer weiteren weltweiten Vereinigung, nämlich des Sterling-Gebiets, der größten multilateralen Handelszone der Welt, in der alle Transaktionen in einer einzigen Währung und ohne Handelskontrollen zwischen den Mitgliedsstaaten abgewickelt werden», fügte Dalton an.3 Der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahr 1951 zeigten die Briten vor diesem Hintergrund die kalte Schulter. Die sogenannte Montanunion stand am Anfang der EU und war ein vor allem französisches Vorhaben, um Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg einzubinden und die Kontrolle über die kriegswichtigen Güter Kohle und Stahl zu vergesellschaften. Dazu wurde auch eine supranationale Organisation gegründet. London war nicht dazu bereit, Hoheitsrechte an diese Behörde abzutreten. Der damalige Aussenminister Herbert Morrison meinte dazu: «Es hat keinen Zweck, wir können das nicht machen, die Bergleute von Durham würden es nicht leiden.»4 Die Briten wollten ihren Gruben und Stahlwerken keine europäischen Fesseln anlegen. Im Jahr 1948 wurde die Organization for European Economic Co-operation (OEEC), die Vorläuferin der OECD, gegründet, die die Verteilung der amerikanischen Hilfe, die Koordinierung der Aufbaupläne sowie die Liberalisierung von Handels- und Zahlungsströmen in Europa zur Aufgabe hatte. Auch bei der OEEC zeigten sich später Spannungen: Wie konnte es anders sein, als dass Frankreich, der ewige britische Rivale, für eine stärkere Verlagerung von nationalen Kompetenzen auf eine übergeordnete Ebene und die Etablierung der OEEC als supranationales Gebilde einstand. Das Vereinigte Königreich und andere Länder, die für eine Kooperation der nationalen Regierungen plädierten, setzten sich durch. Der britische Plan einer Freihandelszone mit weiterhin eigenen nationalen Aussenhandelspolitiken zwischen Ländern der zuvor ge­­ gründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und den anderen OEEC-Ländern scheiterte im Jahr 1958. Das Vorhaben erhielt in Whitehall, dem Sinnbild der britischen Verwaltung, den Namen «Plan G». Während die EWG als eine Zollunion mit gemeinsamen Aussenzöllen und einer gemeinsamen Aussenhandelspolitik gestaltet war, stellte sich London eine Freihandelszone vor, um die wirtschaftlichen Verflechtungen mit den ehemaligen Kolonien nicht zu gefährden. Statt des Plan G strebte London dann mit der Gründung 24


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 25

Der Niedergang des Empire

der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) 1960 eine Ersatzlösung an. An der EFTA nahmen zunächst Dänemark, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, die Schweiz und das Vereinigte Königreich teil. Im Jahr 1957 hatte London kein Interesse daran, die sogenannten Römischen Verträge zu unterschreiben, die zur Gründung der EWG und zur Europäischen Atombehörde (Euratom) führten. Zu den Unterzeichnern zählten Frankreich, Westdeutschland, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg. Als dann der spätere konservative Premierminister Harold Macmillan einen anderen Weg einschlagen wollte, weil er befürchtete, die Insel gelange wirtschaftlich ins Hintertreffen, wurde den Briten die Mitgliedschaft durch ein Veto des französischen Präsidenten Charles de Gaulle versagt. Nach einem weiteren Veto von de Gaulle gelang dem Vereinigten Königreich später unter dem konservativen Regierungschef Edward Heath im Jahr 1973 der Beitritt, was viele auf der Insel als Niederlage empfanden. Nur gerade zwei Jahre später kam es bereits zum ersten Referendum über die britische Mitgliedschaft am europäischen Einigungsprojekt, das mit einem klaren Votum für den Verbleib endete. Das Vereinigte Königreich war und blieb der widerwillige Europäer. In Bezug auf die Sicherheitspolitik stützte sich London stets mehr auf die 1949 gegründete Nordatlantikpakt-Organisation (NATO) und die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten als auf die europäischen Institutionen. Dass sich Grossbritannien in diesen Jahren in Europa ins Abseits stellte und gleichzeitig auch eine Führungsposition beanspruchte, hing mit dem imperialen Erbe und der wirtschaftlichen Verflechtung des Landes mit den Staaten des Commonwealth zusammen. Die Haltung ist auch ein Resultat des Zweiten Weltkriegs: Das Vereinigte Königreich war die einzige europäische Macht, die, abgesehen von der speziellen Situation Russlands beziehungsweise der Sowjetunion, als Sieger hervorging. Die Insel war weder von Faschisten noch von Nationalsozialisten regiert noch von Deutschland oder Italien besetzt worden. Die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Institutionen des Landes waren intakt geblieben, sie zeigten sich vielmehr widerstandsfähig genug, um die Bedrohung niederzuringen, die vom Kontinent ausgegangen war. Der Franzose Jean Monnet, einer der Architekten der Europäischen Gemeinschaft, meinte einst dazu, Grossbritannien habe sich nicht dazu veranlasst gefühlt, die Dämonen der Geschichte zu vertreiben. Während des Kriegs 25


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 26

Wie es dazu kam

befand sich Grossbritannien auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Danach sah sich das Land immer mehr der Rivalität zwischen den beiden Supermächten ausgesetzt, der es auf die Dauer wenig entgegensetzen konnte. Hinzu kamen die Bewegungen zur Einigung auf dem europäischen Kontinent, der schleichende wirtschaftliche Aufstieg Westdeutschlands und der relative Abstieg Grossbritanniens, die die Bedeutung des Königreichs auf der Weltbühne verminderten. Das britische Weltreich, das dem Land einen besonderen Stellenwert gab, wurde zur Schwäche. Das Land hatte riesige Schulden angehäuft. In den späten 1940er-Jahren war das Vereinigte Königreich, dessen Wirtschaft sich nur langsam von den Kriegsnarben erholte, ständig in militärische Aktionen im Nahen Osten, im östlichen Mittelmeer oder auf dem indischen Subkontinent verwickelt, was eine zusätzliche finanzielle Bürde darstellte. Nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1960er-Jahre fanden die grundsätzliche Auflösung des Empire und die Entkolonialisierung statt. Das symbolische Ende kam mit der Übergabe Hongkongs an China im Jahr 1997. Das Ereignis, das dem britischen Selbstverständnis dieser Zeit den heftigsten Schlag versetzt hatte, war die sogenannte Suezkrise. Ägypten hatte im Jahr 1956 unter Präsident Gamal Abdel Nasser den Suezkanal, der das Mittelmeer mit dem Roten Meer verbindet, verstaatlicht. Die Wasserstrasse war und ist eine wichtige Arterie des Welthandels und des Transports von Erdöl. Der Handel mit dem «schwarzen Gold» in Pfund Sterling war zudem ein Garant für die Goldreserven Grossbritanniens und des auf dem Pfund Sterling beruhenden Währungsblocks. Die Regierungen Frankreichs, in dessen Hauptstadt sich der Sitz der Suezkanal-Gesellschaft befand, und Grossbritanniens, das der grösste Anteilseigner war, protestierten und reagierten: Unter einem Vorwand begannen Paris und London eine militärische Intervention in Ägypten. Trotz militärischer Erfolge kam es zu einem demütigenden Abbruch der Aktion, weil die Vereinigten Staaten mit dem Vorgehen Frankreichs und Grossbritanniens nicht einverstanden waren. Washington fürchtete, dass ein Militärstreich die arabische Welt in die Hände der Sowjets treiben würde, und strebte eine gewaltfreie Lösung des Konflikts an. Die Vereinigten Staaten brachten eine UNO-Resolution ein und versprachen, London bei der Stützung des Pfunds zu helfen, das unter heftigen Druck geraten war. 26


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 27

Der Niedergang des Empire Der Niedergang des Pfunds US-Dollars zu einem Pfund US-$ 6,00 5,00 4,00 3,00 2,00 1,00

2013-01-01

2007-01-01

2001-01-01

1995-01-01

1989-01-01

1983-01-01

1977-01-01

1971-01-01

1965-01-01

1959-01-01

1953-01-01

1947-01-01

1941-01-01

1935-01-01

1929-01-01

1923-01-01

1917-01-01

1911-01-01

1905-01-01

0,00

Quelle: Bank of England

Die Suezkrise war der Todesstoss für die Grossmachtambitionen Londons. Auf der Insel wurde daraus die Lehre gezogen, dass gegen Washington keine Weltpolitik gemacht werden könne. Die spezielle Beziehung wurde umso mehr kultiviert. Diese erwies sich als kompliziert, wie die Ereignisse in Ägypten aufgezeigt hatten. Die Rollen waren zudem verteilt: Washington bestimmte, und London sekundierte. Die Demütigung am Suezkanal war einer der Mosaiksteine, die London dazu veranlassten, Beitrittsgesuche an die Europäischen Gemeinschaften (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EWG und Euratom) zu stellen. Über die Jahre hinweg hatte Washington eine Einbindung des Königreichs in einen europäischen Einigungsprozess stets befürwortet. Frankreich zog aus dem Fiasko den Schluss, dem Vereinigten Königreich – dem von Washington abhängigen «perfiden Albion» – und den Vereinigten Staaten zu misstrauen. Der spätere französische Präsident de Gaulle entwickelte eine unabhängige französische nukleare Abschreckung und löste Frankreich aus der NATO heraus. Erst unter dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy kehrte Frankreich 2009 in die Strukturen des Nordatlantikpakts zurück. Und auch der europäische Einigungsprozess erhielt einen Anschub. Der westdeutsche Kanzler Konrad Adenauer sagte nach dem Suezdebakel zu seinem damaligen französischen Amtskollegen Guy Mollet: «Europa wird Ihre Rache sein.» 27


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 28

Wie es dazu kam

Für das Vereinigte Königreich stellte sich weiterhin die Frage, ob es sich als Weltmacht oder als eine europäische Kraft verstehe. In den Worten des früheren amerikanischen Aussenministers Dean Acheson lautete dies folgendermassen: «Grossbritannien hat ein Empire verloren und noch keine neue Rolle gefunden.»5 London unternahm den Versuch, das imperiale Erbe zu nutzen und mit der Förderung des Commonwealth eine Basis für die künftige Position in der Welt zu legen. Die kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verbindungen zwischen dem Vereinigten Königreich und den ehemaligen Kolonien lassen die Insel tatsächlich über den Rand des europäischen Kontinents herausragen. «England ist insular und maritim, durch seinen Handel und seine Märkte den verschiedenartigsten und häufig weit auseinanderliegenden Ländern verbunden.»6 Diesen Satz prägte nicht ein britischer Traditionalist, sondern de Gaulle. Der ehemalige französische Präsident drückte mit der Charakterisierung seine Ablehnung eines britischen Beitrittsgesuchs aus. Die lose Allianz des Commonwealth war aber nicht das starke Fundament für einen britischen Führungsanspruch. Länder wie Kanada, Australien oder Neuseeland wurden immer selbstbewusster, Kolonien in Afrika und Asien drängten nach dem Zweiten Weltkrieg in die Unabhängigkeit und auf die Ablegung der imperialen Bande. Die Wirtschaftsbeziehungen zu den früheren Kolonien waren für Grossbritannien gleichzeitig ein Vorteil und eine Bürde. Das Commonwealth hatte und hat keine übergeordnete politische Struktur, sondern war vor allem ein Wirtschaftsverbund, der auf einem erleichterten Marktzugang aufbaute. Für Grossbritannien bedeutete dies vor allem die Einfuhr von günstigen Lebensmitteln. Der Landwirtschaftssektor auf der Insel war vergleichsweise klein, was auch mit der Abschaffung von Getreidezöllen im Jahr 1846 als Ausdruck des Freihandels eine bewusste Entscheidung war. Der Streit um die «corn laws» ist ein wichtiges Ereignis für das Selbstverständnis der Freihandelsnation. Statt mit Zöllen wurde die Landwirtschaft in Grossbritannien mit Subventionen, bezahlt vom Steuerzahler, gestützt. Die Struktur des Agrarbereichs in den Ländern der EWG war umgekehrt: Die Bauern waren zunächst durch hohe Zölle und garantierte Mindestpreise geschützt. Eine britische Annäherung an die EWG bedeutete eine klare Absage an die Handelsvorteile der ehemaligen Kolonien. Australien und Neuseeland beispielsweise reagierten stets sehr gereizt, wenn es um die europäische Frage ging. Der britische Vorschlag einer grossen europäischen 28


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 29

Das erste Europa-Referendum

Freihandelszone (Plan G) als Antwort auf die Gründung der EWG war ein Versuch, die Handelsbeziehungen zum Commonwealth mit einer Annäherung an den europäischen Kontinent zu verbinden. Das Vorhaben hätte die Landwirtschaft ausgeklammert. Der britische Historiker Vernon Bogdanor beschreibt, dass es deshalb zwei gegensätzliche ökonomische Systeme gegeben habe: Die EWG stand Grossbritannien und dem Commonwealth gegenüber. Die Briten hofften beide zusammenzuführen – vergeblich. Für die Partner der Römischen Verträge hätte dies bedeutet, das gesamte Konzept der EWG zu verwässern. Beide Seiten gingen davon aus, dass die jeweils andere sich anpassen müsse. Die damalige Diskussion klingt – mit etwas umgekehrten Vorzeichen – wie ein fernes Echo der Vorstellung von «Globalbritannien» nach dem Brexit. Mit dem Begriff soll ein Land beschrieben werden, das sich nicht verschliesst, sondern sich der gesamten Welt öffnet.

Das erste Europa-Referendum

In London machte sich ab den späten 1950er-Jahren immer mehr das Bewusstsein breit, dass das Vereinigte Königreich nicht über die Kraft verfügt, eine Parallelveranstaltung zum sich bildenden Binnenmarkt auf dem europäischen Kontinent zu sein. Die weltwirtschaftliche Bedeutung schwand. Die Bedeutung des Commonwealth nahm schleichend ab. Der Anteil des Königreichs am weltweiten Handel mit Industriegütern sank von gut 20 Prozent im Jahr 1950 auf knapp 7 Prozent im Jahr 1973. Der Handel mit den Ländern der EWG wurde immer bedeutender und näherte sich wertmässig in den 1970er-Jahren dem Warenaustausch mit dem Commonwealth an. In den Nachkriegsjahren fand eine Modernisierung statt, der Wohlfahrtsstaat wurde aufgebaut, die strukturellen Probleme des Landes lagen jedoch tief. Der Ausspruch des damaligen Ministerpräsidenten Harold Macmillan 1957 wurde berühmt: «Seien wir ehrlich, den meisten Menschen bei uns ist es noch nie so gut gegangen.»7 Auch wenn die Aussage im Kern nach Massgabe ökonomischer Zahlen stimmte, klang sie für viele in der britischen Bevölkerung hohl. Später wurde Grossbritannien von einem ungemütlichen Mix, der Stagflation, heimgesucht: von hoher Inflation, einem schwachen Wirtschaftswachstum und hohen Arbeitslosenzahlen. In den 1970er-Jahren tauchte das böse Wort auf, Grossbritannien 29


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 30

Wie es dazu kam

sei der kranke Mann Europas. Zwar war das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in Grossbritannien zwischen 1850 und 1970 höher als dasjenige der Gründungsmitglieder der EWG (ausgenommen Luxemburg). Zwischen 1945 und 1970 war jedoch die britische Wachstumsrate der Wirtschaftsleistung pro Kopf niedriger als in Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien und den Niederlanden. Die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern waren auf der Insel verkrustet. London, die stolze britische Hauptstadt, verlor zwischen 1939 und den frühen 1990er-Jahren rund ein Viertel der Bevölkerung. Nachdem die beiden Beitrittsgesuche 1961 und 1967 abgeschmettert worden waren, hatte der konservative Premierminister Edward Heath im Jahr 1973 mehr Erfolg. Ihm stand in Frankreich nicht mehr de Gaulle, sondern Georges Pompidou gegenüber. Heath gilt ausserdem als der europafreundlichste britische Premierminister der Nachkriegszeit. Damit hatte London aus

Der Anteil des Vereinigten Königreichs am Welthandel gemessen am Wert der Güter und Dienstleistungen in % 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 1850

1870

1890

1910

Anteil am gesamten Güterhandel Anteil am Handel mit Dienstleistungen

30

1930

1950

1970

1990

2010

Anteil am Handel mit Gütern des verarbeitenden Gewerbes Quelle: Bank of England


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 31

Das erste Europa-Referendum

wirtschaftspolitischer Sicht den europäischen Weg eingeschlagen und die Verbindungen zu den Ländern des Commonwealth hintangestellt. Der Historiker Brendan Simms von der Universität Cambridge legt in seinem Buch Britain’s Europe dar, dass die Geschichte der Insel ohnehin nur als Auseinandersetzung mit dem Kontinent verstanden werden könne. Aus seiner Sicht ist auch das Empire eine Folge der Konflikte und Kooperationen des Königreichs in Europa. Wenn die Kolonien (bzw. das Commonwealth) ihren Zweck verloren haben, ist es in dieser Lesart nur folgerichtig, die Beziehungen mit den ehemaligen Kolonien zurückzustufen. So unsentimental ging es jedoch nicht zu. Mit dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft begann auch schon die Diskussion über den Austritt. Mit der Einbindung in den europäischen Integrationsprozess stellte die britische Regierung zunächst einige Weichen: Neben den Vereinigten Staaten (und der NATO) sowie einer starken Position in internationalen Organisationen kam mit der Mitgliedschaft in den Vorgängerinstitutionen der EU eine dritte Säule der Aussenpolitik hinzu. Der Beitritt kann auch als Versuch verEin langfristiger Vergleich Reales Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt, in US-$ zum Kurs von 2011 70 000 60 000 50 000 40 000 30 000 20 000 10 000

1850 1854 1858 1862 1866 1870 1874 1878 1882 1886 1890 1894 1898 1902 1906 1910 1914 1918 1922 1926 1930 1934 1938 1942 1946 1950 1954 1958 1962 1966 1970 1974 1978 1982 1986 1990 1994 1998 2002 2006 2010 2014

0

Schweiz

China

Vereinigtes Königreich

Deutschland USA

Frankreich Quelle: Maddison Project

31


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 32

Wie es dazu kam

standen werden, Grossbritannien vor der Relegation in die zweite geopolitische Liga zu bewahren. Aus wirtschaftspolitischer Sicht war der Schritt ein Bekenntnis oder ein Zugeständnis, dass die wichtigsten Märkte für die britische Wirtschaft in der EWG liegen. Nur zwei Jahre nach dem Beitritt kam es zum ersten Referendum über die europäische Frage. Ein Gemisch aus hehren Prinzipien, aktuellen Problemen, tatsächlichen Unzulänglichkeiten und parteipolitischem Kalkül führte zur Volksbefragung über die britische Mitgliedschaft; was sich in den 1970er-Jahren ereignete, weckt Erinnerungen an die jüngsten Ereignisse um das Brexit-Referendum. Während der Beitrittsverhandlungen wurde klar, dass es nicht viel zu verhandeln gab. Dem Klub der Sechs beizutreten hiess, das Regelwerk und die Konzeption der Europäischen Gemeinschaften zu übernehmen. Irland, Dänemark und Norwegen hatten ebenfalls Beitrittsgesuche gestellt. In allen Ländern gab es dazu Volksbefragungen. Während die Iren und Dänen dafür stimmten, Teil der Europäischen Gemeinschaft zu werden, lehnte dies die norwegische Bevölkerung ab. Im Vereinigten Königreich war das Volk nicht um seine Meinung befragt worden. Ein Jahr nach dem Beitritt verlor Heath die Wahl, und sein Konkurrent Harold Wilson, Labour, kam ans Ruder. Wilson war zwar skeptisch proeuropäisch eingestellt, innerhalb der Partei machte sich jedoch Widerstand breit. Der Premierminister versprach, mit den europäischen Partnern in Verhandlungen zu treten. Mit diesem Resultat im Handgepäck sollte dann die Frage vors Volk gebracht werden, ob das Königreich noch Mitglied der Gemeinschaft bleiben solle. Am 5. Juni 1975 fiel das Ergebnis eindeutig aus: Rund 67 Prozent der abgegebenen Stimmen votierten für ein Bleiben. Die Wahlbeteiligung betrug gut 65 Prozent. Das Resultat war zwar unzweifelhaft, die Diskussion verlief jedoch ähnlich hitzig wie gut 40 Jahre später. Auch damals sprach man von einem geteilten Land. Die schwierige Geschichte des Königreichs mit Europa hängt auch damit zusammen, dass die Strukturen – keine niedergeschriebene Verfassung, der politische Aufbau sowie das Parteien- und Wahlsystem – in vielen Punkten unterschiedlich sind zu den Institutionen auf dem Kontinent. Seit der Glorreichen Revolution im Jahr 1688 verlief die politische Geschichte relativ stabil, im Gegensatz zu vielen europäischen Ländern auf dem Festland, die häufig noch junge demokratische Gebilde sind. Mit der Glorreichen Revolution etablierte sich eine 32


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 65

Von Globalbritannien und Kleinbritannien

To thee belongs the rural reign, thy cities shall with commerce shine; all thine, shall be the subject main, and ev’ry shore it circles thine. Strophe aus dem Lied Rule, Britannia


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 66


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 67

Der arktische Vorläufer

Grossbritanniens Austritt aus der EU ist nicht einzigartig. Bereits Grönland hat sich im Jahr 1982 in einer Volksabstimmung aus den europäischen Institutionen knapp, aber eindeutig verabschiedet. Der europäische Zusammenschluss verlor auf einen Schlag rund die Hälfte seines Territoriums. Ob sich das Vereinigte Königreich Grönland zum Vorbild nimmt, bleibt zu bezweifeln: Ob­­ wohl auf der Insel in der Arktis nur wenige Leute wohnten, die Wirtschaftsleistung klein und die damalige Integration gering waren und der wichtigste Verhandlungspunkt in den Fischereirechten bestand, dauerten die Scheidungsgespräche zwischen Grönland und Brüssel mehr als zwei Jahre. Heraus kam ein Kompromiss: Seit 1985 ist Grönland ein autonomes Überseegebiet Dänemarks, assoziiert mit der EU. Die Grönländer hatten bereits 1972 gegen einen Beitritt zur EWG gestimmt. Es half nichts. Weil die grösste Insel der Welt Teil Dänemarks war, wurde auch Grönland in das europäische Projekt einbezogen. Einige Jahre später führte Kopenhagen die Selbstverwaltung für das Gebiet in der Arktis ein. Dadurch erhielt die Bewegung für ein Referendum über einen Ausstieg aus der EWG vermehrt Auftrieb. Der Status, ohne Mitgliedschaft mit der EU verbunden zu sein, ist nicht aussergewöhnlich: Grönland ist derzeit eines von 25 Überseegebieten, die mit der EU assoziiert sind. Auch wenn diese teilweise einem Mitgliedsland der EU angehören, sind diese Gebiete nicht Teil der Union. Die Liste reicht von Französisch-Kaledonien und Saint-Barthélemy über die holländischen Gebiete Aruba und Curaçao bis hin zu den Britischen Jungferninseln und den Falklandinseln. Ähnlich verhält es sich mit den britischen Kronkolonien Isle of Man, Jersey und Guernsey. Aussergewöhnlich ist, dass sich Grönland in einem Referendum und dann mit anschliessenden Verhandlungen selbstbestimmt für solch einen Status entschlossen hat. Ein Beispiel eines weiteren, aber 67


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 68

Von Globalbritannien und Kleinbritannien

völlig anders gearteten Austritts aus der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist Algerien. Das nordafrikanische Land erlangte 1962 nach einem blutigen Bürgerkrieg die Unabhängigkeit von Frankreich und war deshalb nicht mehr Teil der EWG. Die Abspaltung einer früheren Kolonie bietet sich noch weniger als die Vorgänge in Grönland an, Lehren für den Brexit abzuleiten. Der Austritt Grönlands wurde damals als Kuriosum betrachtet. Der Brexit hingegen wird als Zeitenwende wahrgenommen. Wie auch immer die Einschätzung lautet, beide Ereignisse sind aus übergeordneter Sicht keine Seltenheit. Die Auflösung oder Abspaltung politischer Einheiten, im Fachjargon auch politische Desintegration genannt, gehört zum historischen Lauf der Dinge, genauso wie das Gegenteil, die Integration. Das Römische Reich ist untergegangen, ebenso die Habsburgermonarchie oder das Britische Empire, um nur einige wenige zu nennen. Auch das Instrument der Volksabstimmung ist nicht neu, um über solche Fragen zu befinden. In jüngster Zeit lösten sich die Sowjetunion und Jugoslawien auf, und die Tschechoslowakei trennte sich in Tschechien und die Slowakei auf. Schottland, Katalonien oder Quebec liebäugelten mit der Unabhängigkeit. Auch wenn uns Staaten und politische Gebilde als stabil und beständig vorkommen, sind Grenzen beileibe nicht in Stein gemeisselt: Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es 76 unabhängige Länder auf der Welt, im Jahr 2018 gehören den Vereinten Nationen 193 Staaten an. Das europäische Projekt mit seiner auf Freiwilligkeit beruhenden wirtschaftlichen und politischen Integration und der Aufhebung sichtbarer Grenzen lag bisher quer in der jüngeren geschichtlichen Landschaft. Die EU selbst hat mit dem Artikel 50 in den Lissabonner Verträgen die Möglichkeit einer Desintegration anerkannt. Mit dem Artikel soll ein ge­­ ordneter Übergang gewährleistet werden. Artikel 50 ist vage gehalten und so formuliert, dass die EU-Kommission und die restlichen EU-Länder eine starke Position erhalten. Der Vorteil ist zumindest, dass es überhaupt eine Regelung gibt. So wird ein Zeitraum von zwei Jahren ab dem Austrittsgesuch anberaumt, in dem der «Scheidungsvertrag» verhandelt werden muss. Dadurch gerät vor allem die Seite, die austreten will, in Zugzwang. In dieser Zeit sollen die gegenseitigen Rechte und Verpflichtungen geklärt werden: Welche Rechnungen gilt es zu zahlen, wer übernimmt die Pensionszahlungen für ehemalige EU-Bürokraten, welches Vermögen soll aufgeteilt werden? Ob und in welchem Rahmen 68


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 69

Der arktische Vorläufer

die zukünftige Beziehung geregelt werden soll, wird nur kurz erwähnt. Ironischerweise ist mit dem Diplomaten John Kerr ein Brite der Autor von Artikel 50. Kerr selbst sagte, er habe nie gedacht, dass das Vereinigte Königreich diese Bestimmung einmal anwenden werde. Während des Konvents für eine sogenannte EU-Verfassung im Jahr 2002, als der Artikel 50 konzipiert worden war, kam in Österreich mit der Freiheitlichen Partei Österreichs unter Jörg Haider eine rechtspopulistische Gruppierung in einer Koalition mit der konservativen Österreichischen Volkspartei an die Macht. Österreich wurde zum Buhmann Europas und von den übrigen EU-Ländern mit Sanktionen belegt. Es stand zudem die Osterweiterung der EU an. Kerr, damals Generalsekretär des Konvents, hatte folgende Möglichkeit im Hinterkopf, als der Artikel formuliert wurde: Ein Land, das sich nicht mehr an die Werte der Union halten will, kann gemäss dem heutigen Artikel 7 des EU-Vertrags von den anderen Mitgliedsstaaten daran gehindert werden, weiterhin an EU-Entscheidungen teilzunehmen. Angesichts dieses Strafartikels würde eine autoritäre Regierung möglicherweise austreten wollen. Um dafür ein ordentliches Verfahren zu haben, wurde der Artikel 50 verfasst, der auch als «Diktatoren-Klausel» bezeichnet wird. Dass ein Land aus eigenem Anlass die EU verlassen würde, ohne davor innerhalb der Gruppe geächtet worden zu sein, war offenbar wenig vorstellbar. Eine Abspaltung, ein Austritt oder eine Abkehr erfolgen nie leise oder folgenlos. Auch wenn sich womöglich der Prozess ähnlich langsam und stetig wie bei einer tektonischen Plattenverschiebung entwickelt, zum Zeitpunkt der Sezession oder der Trennung sind die Töne schrill, und die Zukunft ist mit vielen Fragezeichen versehen. Der Status quo hat stets den Vorteil, dass die Unsicherheit gering ist, auch wenn er unbequem sein sollte. Im Fall einer territorialen Abspaltung betritt man im wahrsten Sinn des Worts Neuland. Se­­ zessionsbewegungen und der Wunsch nach Selbstbestimmung sind eine emotionale Angelegenheit, wobei der Kopf nicht zu kurz kommt: In der Regel tendieren eher wirtschaftlich erfolgreichere Regionen dazu, Unabhängigkeit anzustreben. Wohlhabende Landesteile sind in einem Staat meist in irgendeiner Weise Nettozahler, was manchmal als ungerecht empfunden wird. Wirtschaftliches Kalkül ist damit der eigentliche Grund oder giesst noch mehr Öl in ein nationalistisches Feuer. Es verwundert nicht, dass auch Rohstoffreserven ein wichtiger Faktor sein können. Laut den Ökonomen Paul Collier und Anke 69


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 70

Von Globalbritannien und Kleinbritannien

Höffler erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von Sezessionskriegen stark, wenn Rohstoffe einen hohen Anteil an den Exporten haben. In einem britischen Beispiel nahm in Schottland die Unabhängigkeitsbewegung Fahrt auf, nachdem in den späten 1960er-Jahren Erdöl in der Nordsee gefunden worden war. Es sind aber nicht nur reiche Regionen, die sich abspalten wollen. So zählt Schottland trotz der Erdölfunde aus wirtschaftlicher Sicht unter den Regionen des Vereinigten Königreichs zum Durchschnitt. Auch die Autonomiebewegung, die in der Schweiz zur Gründung des Kantons Jura führte, war nicht ökonomisch bestimmt. Und die Brexit-Entscheidung lässt sich ebenso nur teilweise dadurch erklären, dass sich ein – vermeintlich oder tatsächlich – wirtschaftlich prosperierendes Gebiet vom grossen Ganzen abspalten will. Im Fall des Vereinigten Königreichs handelte es sich vielmehr um die Überzeugung, von der EU behindert zu werden. Abspaltungen oder das Widerstreben, Teil eines grösseren Bundes zu sein, können durch den Wunsch nach Selbstbestimmung, durch ein kollektives Empfinden, in der Geschichte benachteiligt worden zu sein, oder durch unterschiedliche Konflikte innerhalb eines Staatswesens beseelt sein. Die Frage nach der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit und den Zukunftsaussichten eines Gebiets ist deshalb manchmal zweitrangig, sie ist vor allem für die praktische Umsetzung von grösster Bedeutung. Ein Blick auf die Landkarten dieser Welt zeigt zunächst, dass die schiere Grösse eines Landes oder einer Region wenig relevant ist für diese Frage: Die Bandbreite zwischen Vatikanstadt und China (nach Bevölkerung) oder Russland (nach Fläche) ist riesig. Wenn man sich Ranglisten zur Wettbewerbsfähigkeit oder zur Wirtschaftsleistung pro Kopf anschaut, lässt sich kein Vorteil von grossen Staaten sehen. Häufig stehen neben den Vereinigten Staaten Länder wie die Schweiz, skandinavische Länder, Stadtstaaten wie Hongkong oder Singapur an der Spitze solcher Listen. Gleichzeitig lässt sich über die vergangenen Jahrzehnte hindurch eine Zunahme an supranationalen Bündnissen wie regionale Handelsabkommen, Verteidigungsallianzen oder eben die EU feststellen. Mit der Frage, ob die Grösse eines Staats von Belang ist und wie politische Grenzen auch wirtschaftlich bestimmt werden, haben sich in jüngster Zeit vor allem der Ökonom Alberto Alesina und seine Koautoren beschäftigt. Alesina geht von einem Zielkonflikt innerhalb eines grossen Staats aus, der öffent70


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 125

Die EU lässt einen nicht mehr los

«You’re only supposed to blow the bloody doors off.» Michael Caine in The Italian Job


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 126


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 127

Verletzte Gefühle und harte Interessen

Es sieht wie eine Pokerrunde aus. Der Einsatz dabei ist ungewöhnlich, denn es geht um die Zukunft Grossbritanniens und der EU. Im Januar 2016 sitzen an einem runden Tisch in London auf Einladung der Denkfabrik Open Europe vorwiegend frühere Regierungsmitglieder verschiedener europäischer Länder und reden sich in Rage. «Es muss einen Unterschied geben, ob man dabei ist oder ob man draussen ist», sagt Enrico Letta, ehemaliger Regierungschef von Italien, in Richtung des britischen Vertreters. Die Politiker wurden geladen, um zwei Konfliktsituationen durchzuspielen: Wie laufen die Verhandlungen zwischen dem britischen Premierminister David Cameron und den übrigen EU-Ländern um die Rolle Grossbritanniens innerhalb der EU ab? Wie sähen die Positionen der einzelnen Länder aus, wenn es tatsächlich zu einem Brexit käme? Damals war der Ausgang des Referendums noch nicht klar. Cameron hatte im Frühjahr des schicksalhaften Jahrs versucht, mit Konzessionen der EU die Briten davon zu überzeugen, für ein Bleiben zu stimmen. Das von Open Europe organisierte «war game» zeigte bereits auf, wie schwierig Verhandlungen in beiden Situationen sind. Die Spieler sollten dabei die Positionen ihrer Regierungen einnehmen und nicht ihre persönliche Meinung vertreten. Für die Briten trat der konservative frühere Aussenminister Malcolm Rifkind in den Ring. Er wiederholte die Verhandlungspunkte Camerons: Erstens soll der Binnenmarkt für Nichteuroländer wie Grossbritannien geschützt werden. Zweitens gilt es, die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu fördern. Drittens möchte die Insel von der Idee einer immer engeren Union entbunden werden, und viertens will London neue Regeln für Sozialleistungen an EU-Ausländer, um die Einwanderung zu bremsen. Migranten aus der EU sollen erst nach vier Jahren Lohnzuschüsse für Niedriglohnjobs erhalten. 127


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 128

Die EU lässt einen nicht mehr los

Die Runde verhandelte das vierte Thema am kontroversesten. Schon der Auftakt war schwer: Zunächst wurden Gefühle, Interessen und Drohungen aufgezählt. Italien schlug eine flexible EU der zwei Kreise vor, Deutschland sah ein Problem beim langwierigen Verändern der EU-Verträge, Frankreich bezeichnete den Brexit als ein Desaster für Grossbritannien. Noëlle Lenoir, die frühere französische Europaministerin, forderte London auf, den Vorschlag zur Einschränkung der Binnenwanderung zurückzuziehen. Ein solcher fördere nur die Fremdenfeindlichkeit. Mehrere Ländervertreter sahen auch die Gefahr einer Verknüpfung mit der Flüchtlingskrise. Rifkind stemmte sich gegen die Argumente mit dem Hinweis, dass Sozialleistungen eine nationale Angelegenheit seien und dass auch andere Länder in diesem Bereich Überlegungen wälzten, die zu einer Einschränkung führten. Im zweiten Szenario lautete die Vorgabe, dass Grossbritannien bereits für einen Austritt gestimmt hätte. Der frühere konservative Schatzkanzler Norman Lamont ging nüchtern vor und schlug ein Freihandelsabkommen ähnlich wie demjenigen zwischen Kanada und der EU vor. Der Zugang der Finanzbranche zum EU-Binnenmarkt könnte durch Zugeständnisse Londons im Agrarbereich erkauft werden. Lamont bot auch Zahlungen in den EU-Haushalt an. Eine Zusammenarbeit solle es in der Aussen- und Sicherheitspolitik geben. Die Vertreter der EU-Länder machten zunächst ihren verletzten Gefühlen Luft, sie sprachen auch davon, keine Vergeltungsmassnahmen einzuführen. Im gleichen Atemzug sagten einige, dass ein Freihandelsabkommen in einer Nach-Brexit-Welt keine Priorität habe. Zuvor kämen noch die Verhandlungen mit Indonesien oder Mexiko an die Reihe. Der frühere EU-Kommissar Karel de Gucht widersprach als Vertreter der EU dieser Meinung. Natürlich habe ein Abkommen mit London höchste Priorität. Für Verhandlungen hätten London und Brüssel laut EU-Verträgen nach dem Referendum zwei Jahre Zeit. Danach wäre Grossbritannien einfach kein Mitglied mehr – mit oder ohne Abkommen. Leszek Balcerowicz, der frühere polnische Zentralbankchef, fuhr eine harte Linie. Um den Zusammenhalt der EU zu bewahren, solle man nicht generös sein. Grossbritannien dürfe keine bessere Regelung als Norwegen oder die Schweiz bekommen. Umkämpft war die Frage um den Zugang der für London wichtigen Finanzbranche zum EU-Markt. Paris und Berlin sahen schon die Stärkung der Finanzzentren auf dem Kontinent. Lamont sagte dünnlippig, dass 128


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 129

Verletzte Gefühle und harte Interessen

sich Finanzzentren durch Marktkräfte bildeten und nicht auf Geheiss von Bürokraten. De Gucht flocht maliziös ein, dass Schottland der Rechtsnachfolger der Insel sein könne, wenn es sich von England abspalte und in der EU bleiben wolle. Die Teilnehmer waren sich zumindest einig, dass mit den Verhandlungen Neuland betreten werde. Aus dem Spiel wurde Ernst. Auf die Verhandlungen zwischen David Cameron und den übrigen Staats- und Regierungschefs der EU über ein neues Verhältnis des Vereinigten Königreichs innerhalb der EU folgten das Referendum mit dem bekannten Ergebnis und dann die Gespräche zwischen der britischen Regierung und der EU-Kommission über die Modalitäten des britischen EU-Austritts. Was sich bereits im «war game» abgezeichnet hatte, setzte sich auch auf offener Wildbahn fort. Den Gefühlen wurde freier Lauf gegeben. Brexit-Gegner inner- und ausserhalb Grossbritanniens machten und machen die fünf Phasen der Trauer durch: Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. Während manche bereits in der fünften Phase angelangt sind, klammern sich andere immer noch daran, dass der Brexit ohnehin rückgängig gemacht werde. Das Trumpfgeheul aufseiten der britischen Euroskeptiker verschwand immer mehr und verwandelte sich schnell einmal in einen Beissreflex gegen jeden und alles. Nach dem Abstimmungserfolg trat eklatant die Leere in der Mitte des Brexit hervor: Es fehlte ein überzeugender Plan. Nur dagegen zu sein reicht in der Regel nicht. Viele Brexiteers radikalisierten sich gar noch. Und EU-Befürworter bestiegen moralisch das hohe Ross, um auf einem Shetland-Pony zu landen. Es verwundert nicht, dass der Brexit von vielen Kommentatoren als Scheidung beschrieben wird, bei der es auch schrill wird und die Fetzen fliegen. Über Nebensächlichkeiten wird mitunter episch gestritten, obwohl eine einvernehmliche Einigung allen das Leben einfacher machen würde. Auch verpassten Chancen wird nachgetrauert: Es lässt sich zumindest argumentieren, dass das Referendum einen anderen Ausgang genommen hätte, wenn David Cameron in den Verhandlungen im Februar 2016 seine Gegenüber davon überzeugen hätte können, dass nur mit einer vorzeigbaren Einschränkung der Einwanderung ein Brexit abgewendet werden könne. Varianten einer Schutzklausel, die bei stark überdurchschnittlicher Migration eine gewisse Begrenzung der Einwanderung zugelassen hätte, waren im Vorfeld besprochen worden, aber schon 129


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 130

Die EU lässt einen nicht mehr los

bald von den europäischen Gesprächspartnern als nicht umsetzbar bezeichnet worden. Stattdessen setzte London durch, an den Schrauben für Sozialleistungen an EU-Ausländer drehen zu können; eine Politik, die sich unter den EU-Gegnern als nicht durchschlagskräftig erwies, die aber für viele EU-Staaten bereits eine Verrenkung darstellte. Ob eine Schutzklausel gereicht hätte, ist fraglich, zumal in einigen britischen Medien das Verdikt über die Verhandlungen Camerons bereits vor dem Beginn der Gespräche gefällt war: Es ist zu wenig. Würde die Trennung von rein rational handelnden Akteuren vollzogen, würde es sich zwar immer noch um ein grosses Tauziehen handeln, es würde sich aber über kurz oder lang ein Ergebnis finden lassen, das beide Seiten zufriedenstellt. Dafür müssten sich London und Brüssel beziehungsweise die übrigen EU-Länder klar werden, was ihre Interessen sind. Grossbritannien hat mit der Brexit-Entscheidung nicht die Geografie abgeschafft. Sowohl die Insel als auch die übrigen EU-Staaten sind weiterhin auf konstruktive Zusammenarbeit angewiesen. Wirtschaftlich sind die Gebiete eng miteinander verknüpft. Sie sind jeweils die grössten Handelspartner; wenn es dem einen schlecht geht, leidet auch der andere darunter. Von einer wirtschaftlichen und politischen Krise des Vereinigten Königreichs profitiert die Rest-EU keineswegs, auch wenn es manchen Ländern attraktiv erscheinen mag, die Zentrale einer amerikanischen Investmentbank aus London wegzulocken oder andere Unternehmen zum Nutzen des eigenen Standorts anzuziehen. Die EU hätte ein Problem mehr: In Europa schlägt man sich bereits mit den Nachwehen der Finanz- und Schuldenkrise und den Auswirkungen auf die Eurozone sowie auf das soziale und politische Gefüge vieler Mitgliedsländer herum. Die Zahl euroskeptischer Regierungen in der Union nahm in den vergangenen Jahren zu. Russland unternimmt alles, um seine Einflusszone in den postsowjetischen Ländern zu stärken und um Wahlprozesse in westlichen Ländern zu schwächen. Brüssel muss sich auch dem Aufstieg Chinas stellen, dem grössten geopolitischen Wandel in den nächsten Jahren und Jahrzehnten. Die Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump sägen an der transatlantischen Allianz. In Nordafrika und im Nahen Osten sorgen Konflikte für Unruhe, die hitzige Debatte um die Flüchtlings- und Migrationspolitik innerhalb der EU schwelt weiter. Genauso wie die Situation Grossbritanniens wird sich auch diejenige der EU in der kommenden Zeit verändern. Das Königreich und die EU-Länder sind nicht nur 130


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 165

Schlussbetrachtung

«Brexit is often characterised as either a catastrophe or a much-needed liberation. Beyond the rhetorical war, the overwhelming likelihood is that it will be neither.» Jonathan Hill, früherer britischer EU-Kommissar


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 166


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 167

Traditionen sind mitunter die Kanalisierung von Aggressionen. Während Pistolenduelle längst vergangenen Zeiten angehören, haben sich in Grossbritannien die Debattierklubs und Debatten in festlichem Rahmen gehalten. «Es ist eine sehr angelsächsische Angelegenheit. In Kontinentaleuropa ist man wohl höflicher», hiess es beinahe entschuldigend zu Beginn der «City Debate» im März 2017, zu der die Organisationen Centre for the Study of Financial Innovation und Chartered Institute for Securities and Investment geladen hatten. Nach einem formellen Dinner sollten mit geschliffenen Worten die Klingen zum allgegenwärtigen Thema gekreuzt werden: zum Brexit. Die Veranstalter traten mit der These auf, dass der Rest der Welt den Verlust Europas aufwiege. Hinter der Frage steht auch, ob es Grossbritannien darauf ankommen lassen kann, lieber gar kein Freihandelsabkommen mit der EU als ein schlechtes abzuschliessen. Jeweils zwei Sprecher für die Pro- und die Kontra-Seite stiegen in den Ring, um die Zuhörerschaft von ihren Argumenten zu überzeugen. Gute Gewinner und Verlierer sehen anders aus. Dabei blieb der sonst ausgeprägte britische Sinn für Humor auf der Strecke. Die sauertöpfische Miene, die der konservative Parlamentarier und prominente Brexit-Befürworter John Redwood jedes Mal aufsetzte, wenn er den Pro-EU-Argumenten zuhören musste, war Ausdruck des Verlusts der Leichtigkeit. Der Abend begann dennoch beschwingt. Die Herren kamen wie in der Einladung vorgeschrieben im Smoking, die Damen in Abendkleidern ins Mansion House. Das im palladianischen Stil erbaute Gebäude aus dem 18. Jahrhundert ist Sitz des Bürgermeisters der City of London, der Verwaltungseinheit innerhalb Londons, die auch einen Grossteil der Finanzbranche beheimatet. Der Toastmaster bat mit bebender Stimme in den Ägyptischen Saal, einen prächtigen Raum, gesäumt von weissen korinthischen Säulen mit vergoldeten Kapitellen. Tischgebet und kollektives Anstossen gehören zum Zeremoniell wie 167


www.claudia-wild.de: Hosp__Brexit__[AK2]/25.09.2018/Seite 168

Schlussbetrachtung

das Klagen übers Essen. Nach dem Portwein trat die erste Kombattantin auf: Helena Morrissey ist eine weibliche Galionsfigur in der City, Mutter von neun Kindern und Multifunktionärin. Sie argumentierte für die These, dass der Rest der Welt genüge. «Wirtschaftlich strauchelt die EU. Wir brauchen sie nicht, um erfolgreich zu sein», sagte Morrissey und erinnerte daran, dass bereits Google, Apple, Facebook und andere Technologiefirmen ihre Präsenz in Grossbritannien auch nach der Brexit-Entscheidung ausbauen wollen. Sicherheit gebe es nie, dafür stehe jetzt die Welt offen, meinte Morrissey in elegantem Kleid mit strenger Miene. Alex Brummer vom Boulevardblatt Daily Mail trat als Zweiter für die Rest-der-WeltFraktion auf. Er betonte die Möglichkeiten, zeichnete ebenso ein düsteres Bild der EU und unterstrich die angelsächsischen Besonderheiten und Verbundenheiten. Brummer schaffte es, so gut wie keinem Klischee auszuweichen. «Wir brauchen uns gegenseitig mehr, als Sie glauben», warf die damalige französische Politikerin Sylvie Goulard ein. Ihr kam die Aufgabe zu, die EU zu verteidigen. Als Einzige brachte sie ein Argument vor, das regelmässig auf taube britische Ohren stösst: die europäische Vereinigung als Friedensprozess. Aber auch an das Portemonnaie appellierte Goulard. Sie erinnerte an die Daumenregel, dass eine Verdoppelung der Distanz zwischen Handelspartnern das Volumen halbiere, und zog die Zuverlässigkeit der Vereinigten Staaten unter Präsident Trump als britischem Allianzpartner in Zweifel. Der EU-freundliche Journalist Hugo Dixon skizzierte ein Bild Grossbritanniens im Alleingang als Bittsteller bei Trump und vernachlässigbare Grösse zwischen Brüssel, Washington und Peking. Wenn kein Freihandelsabkommen mit der EU angestrebt werde, sei dies, als ob man weder den Fünfer noch das Weggli haben möchte, dozierte Dixon. Er stellte aber richtigerweise auch die Ausgangsthese in Abrede. Es gehe nicht um entweder/oder, sondern sowohl um den Zugang zum EU-Binnenmarkt als auch um neue Freihandelsverträge mit anderen Ländern. Die Abstimmung vor der Debatte fiel eindeutig für die Ablehnung der Rest-der-Welt-These aus, nach der Debatte gar eindeutiger. Dem Abend fehlte das Spielerische, und er spiegelte die eher kontinentaleuropäisch als britisch anmutende Verbissenheit der politischen Diskussion. Die Differenzen wurden während des Abends in ein formelles Korsett gesteckt. Der Auszug der Debat168


Gerald Hosp (*1973) studierte Wirtschaftswissenschaften in Fribourg und dissertierte 2004 zum ­Thema Medien­ökonomik. Seit 2005 ist er Wirtschaftsredaktor der Neuen Zürcher ­Zeitung. Ab Mitte 2007 war er Korrespondent der NZZ und der FAZ mit Sitz in Moskau. Nach einem Zwischenhalt in Zürich wechselte er nach London als Korrespondent für das Vereinigte König­reich. Seit anfangs 2018 ist er wieder in der NZZ-Wirtschaftsredaktion in Zürich tätig.

Als Wirtschaftskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in London hat Gerald Hosp den Weg zum Brexit aus nächster Nähe verfolgt. In seinem Buch analysiert er die Stimmung um das Referendum herum, die historischen, sozioökonomischen und politischen Bedingungen, die zum Brexit-Entscheid führten, und die handels- und geopolitischen Auswirkungen. Ist «Globalbritannien» nur ein Schlagwort oder ein realistisches Ziel? Worin liegt das Kalkül von politischer und wirtschaftlicher Desintegration? Und was müsste im Königreich selbst und seitens der EU unternommen werden, um aus dem Brexit einen Erfolg zu machen?

Brexit: zwischen Wahn und Sinn Eine Klippe für Grossbritannien und Europa

Die Diskussion um den Brexit lief und läuft zwischen Wahn und Sinn ab. Den Briten wird nachgesagt, pragmatisch zu sein und Entscheidungen mit Augenmass zu treffen. So erlag Grossbritannien im 20. Jahrhundert nicht den Schalmeienklängen totalitärer Ideologien, vielmehr hütete London das Feuer der liberalen Demokratie. Es ist eines dieser Klischees, das im Grunde positiv ist und deshalb nicht angezweifelt wird. Umso mehr erstaunt die Heftigkeit der Auseinandersetzung zwischen den Brexit-Gegnern und -Befürwortern. Und umso betroffener verfolgt man das politische Chaos in London nach der Brexit-Abstimmung. In Abwandlung des Spruchs des früheren amerikanischen Aussenministers Dean Acheson, dass Grossbritannien nach dem Zweiten Welt­krieg ein Empire verloren und noch keine neue Rolle gefunden habe, steht das Land davor, die europäische Machtbasis zu verlieren, ohne sich neu in der Welt positioniert zu haben. Auch für die EU bedeutet der Brexit eine grosse strategische Herausforderung. Der britische EU-Austritt bietet eine – wenn auch schmerzhafte – Chance für neue Konzepte der Zusammenarbeit.

Brexit: zwischen Wahn und Sinn

Gerald Hosp

Gerald Hosp

ISBN 978-3-03810-362-2 ISBN 978-3-03810-362-2 9 783038 103622

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro

nzz_brexit_hosp_UG_kompl_abz2.indd 1

26.09.18 10:59


Gerald Hosp (*1973) studierte Wirtschaftswissenschaften in Fribourg und dissertierte 2004 zum ­Thema Medien­ökonomik. Seit 2005 ist er Wirtschaftsredaktor der Neuen Zürcher ­Zeitung. Ab Mitte 2007 war er Korrespondent der NZZ und der FAZ mit Sitz in Moskau. Nach einem Zwischenhalt in Zürich wechselte er nach London als Korrespondent für das Vereinigte König­reich. Seit anfangs 2018 ist er wieder in der NZZ-Wirtschaftsredaktion in Zürich tätig.

Als Wirtschaftskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in London hat Gerald Hosp den Weg zum Brexit aus nächster Nähe verfolgt. In seinem Buch analysiert er die Stimmung um das Referendum herum, die historischen, sozioökonomischen und politischen Bedingungen, die zum Brexit-Entscheid führten, und die handels- und geopolitischen Auswirkungen. Ist «Globalbritannien» nur ein Schlagwort oder ein realistisches Ziel? Worin liegt das Kalkül von politischer und wirtschaftlicher Desintegration? Und was müsste im Königreich selbst und seitens der EU unternommen werden, um aus dem Brexit einen Erfolg zu machen?

Brexit: zwischen Wahn und Sinn Eine Klippe für Grossbritannien und Europa

Die Diskussion um den Brexit lief und läuft zwischen Wahn und Sinn ab. Den Briten wird nachgesagt, pragmatisch zu sein und Entscheidungen mit Augenmass zu treffen. So erlag Grossbritannien im 20. Jahrhundert nicht den Schalmeienklängen totalitärer Ideologien, vielmehr hütete London das Feuer der liberalen Demokratie. Es ist eines dieser Klischees, das im Grunde positiv ist und deshalb nicht angezweifelt wird. Umso mehr erstaunt die Heftigkeit der Auseinandersetzung zwischen den Brexit-Gegnern und -Befürwortern. Und umso betroffener verfolgt man das politische Chaos in London nach der Brexit-Abstimmung. In Abwandlung des Spruchs des früheren amerikanischen Aussenministers Dean Acheson, dass Grossbritannien nach dem Zweiten Welt­krieg ein Empire verloren und noch keine neue Rolle gefunden habe, steht das Land davor, die europäische Machtbasis zu verlieren, ohne sich neu in der Welt positioniert zu haben. Auch für die EU bedeutet der Brexit eine grosse strategische Herausforderung. Der britische EU-Austritt bietet eine – wenn auch schmerzhafte – Chance für neue Konzepte der Zusammenarbeit.

Brexit: zwischen Wahn und Sinn

Gerald Hosp

Gerald Hosp

ISBN 978-3-03810-362-2 ISBN 978-3-03810-362-2 9 783038 103622

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro

nzz_brexit_hosp_UG_kompl_abz2.indd 1

26.09.18 10:59


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.